[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 56: Quo vadis? ---------------------- Quo vadis?   „Ryuzaki“, hallte Wataris Stimme aus dem Lautsprecher, nachdem sich L auf einen der Drehstühle vor die Computerfront gehockt und über das Mikrofon bei seinem Mittelsmann Meldung gemacht hatte. „Laut FBI wurde von den Vereinigten Staaten bestätigt, dass sich zurzeit Insassen im Gefängnis befinden, die unseren Anforderungen genügen sollten. Bisher wurde über sie nichts in der Öffentlichkeit bekannt gegeben, sodass auch Kira keine Kenntnis von ihnen besitzen sollte. Sie haben sich zu unserem Experiment bereit erklärt.“ „Sehr gut, Watari. Machen Sie sich jetzt bitte auf den Weg.“ „Was soll das?“, raunte Matsuda fragend seinen Kollegen zu, als wüssten sie im Gegensatz zu ihm hinreichend über die Umstände Bescheid. „Was hat er vor?“ Sogar unter der steinernen Fassade verfinsterte sich Lights Miene. Er war gemeinsam mit seinem Partner in den Hauptüberwachungsraum zurückgekehrt und stand nun direkt hinter ihm, in unheilvoller und zugleich euphorischer Erwartung. „Wir werden das Heft ausprobieren“, erklärte L konsequent, „um seine Funktionstüchtigkeit zu verifizieren. Zu diesem Zweck habe ich Watari mit verschiedenen Ländern verhandeln lassen.“ Er tippte mit seinem Kaffeelöffel auf die offenen Seiten des Death Notes. „Wir verwenden dieses Notizbuch zur Vollstreckung der Todesstrafe.“ „Das ist unmöglich!“, rief Aizawa daraufhin empört. „Wir wissen doch auch so, dass es funktioniert!“ „Wer soll denn derjenige sein, der einen Namen einträgt?!“, schaltete sich Matsuda aufgebracht ein. „Der wäre doch in alle Ewigkeit dazu verdammt, im Rhythmus von dreizehn Tagen unaufhörlich weitere Menschen in den Tod zu schicken!“ L blieb völlig unbeeindruckt. Mit einer Hand ließ er seinen Löffel über dem Death Note hängen, die andere hob er mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger zu einem scheinbaren Siegeszeichen in die Luft und erläuterte: „Deshalb werden uns zwei Insassen zur Verfügung gestellt. Derjenige, der den Namen des anderen Verurteilten einträgt, wird jemand sein, der sowieso hingerichtet werden soll. Beiden wurde ein Angebot unterbreitet. Falls der Eine durch das Heft nicht sterben respektive der Andere nach dreizehn Tagen noch leben sollte, wird ihnen demgemäß die Todesstrafe erlassen.“ Anhand dieses Vorhabens war für Light eindeutig der Beweis geliefert, dass L seinen ursprünglichen Verdacht nach wie vor nicht aufgegeben hatte. Wenn ihn die anderen Mitglieder der Sondereinheit nicht davon abbringen konnten, dann war sein Schicksal hiermit besiegelt. Tatsächlich redeten die untergebenen Polizisten in allgemeiner Ablehnung beharrlich auf ihn ein. Der Chefinspektor blieb derweil schweigend im Hintergrund stehen, obwohl Zwiespalt und Betroffenheit überdeutlich sein Gesicht zeichneten. Nach langem Überlegen mischte er sich schließlich an L gerichtet in die Auseinandersetzung ein. Sein Tonfall klang dabei auf väterliche Weise ermahnend. „Ryuzaki, auch wenn es Todeskandidaten sind, es sind trotzdem Menschen, mit deren Leben wir bei einem solchen Vorgehen spielen, als wären sie rein gar nichts wert. Ist dir das klar?“ Erstaunt registrierte Light den ungewohnt vertrauten Ton, den sein Vater dem Meisterdetektiv gegenüber an den Tag legte. Dieser antwortete ruhig und emotionslos: „Yagami-san... es gibt weit mehr Leben, über die wir uns jetzt Gedanken machen sollten.“ „Gibt es keinen anderen Weg?“ Die Frage stand dräuend mitten im Raum wie ein Schiff auf offener See zwischen Skylla und Charybdis. Unbewegt starrte L auf den Monitor und jenen in altenglischer Schrift geschriebenen Buchstaben. Light hielt den Atem an und meinte sogar hören zu können, wie die feinen Knochen von Rems Skelettstruktur unter ihrer Anspannung leise knackten. L jedoch schwieg. „Opfer sind wohl unvermeidlich“, lenkte Herr Yagami endlich aus tiefstem Ernst ein. „Aber wenn das Notizbuch ausprobiert wird, dann möchte ich Zeuge sein. Das ist meine Bedingung.“ „Vater.“ Light traute seinen Ohren nicht und auch Rem schien abwägend zu zögern. Offenbar zweifelte sie noch, ob ein Eingreifen unumgänglich war oder wann der richtige Moment dafür gekommen sei. Warum verschwendete sie unnötig Zeit? Wollte sie etwa möglichst wenig Zeugen anwesend wissen oder hatte ihr die Situation nicht genügend verdeutlicht, dass Misa in höchster Gefahr schwebte? „Danke für Ihr Zugeständnis“, erwiderte L schlicht und gab damit zum Vorschlag des älteren Mannes seine Zustimmung, ohne seinen ins Leere laufenden Blick zu heben oder sich aus seiner Erstarrung zu lösen. „Ich werde nach Amerika fliegen“, erklärte Herr Yagami daraufhin fest. „Ganz allein?“, fragte Light kritisch. „Lass mich mit dir kommen, Vater.“ „Nein, du bleibst hier bei Ryuzaki.“ Der Chefinspektor legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter und lächelte entschlossen. „Keine Sorge, er ist zwar nicht sehr zuverlässig, aber ich werde Matsuda mitnehmen.“ „Ich mag unzuverlässig sein“, rief dieser eifrig, „aber ich kann gut mit Waffen umgehen.“ „Ach, und wie sieht es hier oben aus, Matsuda-san?“, fragte Aizawa sarkastisch, wobei er mit dem Zeigefinger gegen die Stirn seines Kollegen tippte. „Geistig unbewaffnet. Ich weiß nicht, ob es so klug wäre, ihn allein mit dem Chef auf die Reise zu schicken. Mogi-san und ich sollten besser helfen. Es wissen nur sehr wenige von dem Notizbuch des Todes und das sollte vorerst auch so bleiben. Ich bin dafür, dass so viele Eingeweihte wie möglich zum Schutz dieses Heftes abgeordnet werden.“ „Sie haben Recht“, gestand Herr Yagami seinem Untergebenen zu. „Wir dürfen nicht zulassen, dass eine dermaßen tödliche Waffe in falsche Hände gerät.“ „Einverstanden“, bestätigte L das Gesagte und fegte mit einer Handbewegung die zerstreuten Pandakekse vom Death Note.   Der schwarze Umschlag des Buches hob sich kaum von der anthrazitfarbenen Polsterung des Stahlkoffers ab, in welchem es soeben verstaut wurde. Klackend schloss Herr Yagami den Deckel über dem Death Note. Nur er selbst sowie der Meisterdetektiv kannten den Zahlencode, um den Koffer zu öffnen und an seinen todbringenden Inhalt zu gelangen. Alle Anwesenden versammelten sich um den breitflächigen Arbeitstisch in der Mitte des Raumes, auf dem ein Plan der japanischen Großstadt ausgebreitet war. „Zuerst gehen Sie zum Tokyo Bay Heliport“, instruierte L das Team der Polizisten, während er an die genannte Stelle auf der Karte ein hellgrünes Konpeito legte, eines jener kugelförmigen Zuckerstücke, das durch seine abstehenden Hörnchen wie ein kleiner Stern aussah. „Von Yokota wird sie ein Militärflugzeug nach Washington bringen. Alles Weitere hat Watari für Sie in die Wege geleitet.“ „Verstanden.“ Mit Handschellen befestigte Herr Yagami den Koffer an seinem Handgelenk und nickte den Umstehenden zu. „Ich verabschiede mich.“   Im Konvoi fuhren die mit verdunkelten Scheiben ausgestatteten Automobile aus der Tiefgarage heraus. Von den Kameras eingefangen waren sie bald aus dem Blickfeld der Bildschirme im zentralen  Überwachungsraum verschwunden, in dem sich jetzt nur noch die beiden jüngsten Mitglieder der Sonderkommission befanden. Rem hatte sich in einiger Entfernung zu den beiden Männern in den Hintergrund zurückgezogen und observierte die Szenerie aus ihren schlitzförmigen Pupillen. Auf seinem Stuhl sitzend rollte sich L weg von der langgezogenen Armatur, hinüber zu dem großen Arbeitstisch, um nach seiner Tasse zu angeln. „Endlich allein, Light-kun.“ Er starrte seinen Hauptverdächtigen über den Rand der Kaffeetasse an. „Jetzt gibt es nur noch uns beide.“ „Was hast du vor?“ Herablassend verschränkte Light die Arme vor der Brust und begegnete dem stechenden Blick mit kühler Selbstsicherheit. L hatte keine Hemmungen, seinen Plan nun, da außer ihnen niemand mehr anwesend war, zu offenbaren. „Watari wird gleich mit Amane Misa hier auftauchen.“ „Das war ja klar.“ Abfällig stieß Light die Luft zwischen seinen Zähnen aus, als könne er nicht glauben, dass L sich noch immer mit solchen Unsinnigkeiten beschäftigte. Rem studierte indes misstrauisch zuerst den Detektiv, dann schaute sie warnend auf Light hinab, der mittlerweile fragte: „Warum Misa?“ „Aus irgendeinem Grund war bei ihr die 13-Tage-Regel außer Gefecht gesetzt.“ L stellte seine Tasse ab, erhob sich lässig vom Stuhl und trottete, die Hände in den Hosentaschen, zum Sofa hinüber. „Zwei Kiras, zwei Notizbücher und die Tatsache, dass Amane die Briefe an die Polizei geschickt hat, ferner ihre unverhohlene Sympathie für Kira.“ In seiner üblichen Haltung ließ L sich auf den Sitzpolstern nieder. „Und kaum wird Amane freigelassen, beginnen die Morde von vorn. Nur ein Dummkopf würde so viele Indizien ignorieren, nicht wahr, Light-kun? Glücklicherweise bin ich kein Dummkopf oder wohlwollend genug, um diesen Hinweisen nicht nachzugehen. Da du mich so gut kennst, ist dir das sicher bewusst. Ich bin davon überzeugt, dass Amane Misa der zweite Kira ist und dass sie sich jetzt im Besitz des zweiten Notizbuchs befindet. Das ist derzeit die einzig logische Schlussfolgerung.“ „Wenn das so wäre“, widersprach Light gefasst, „hätte sie deinen Namen dann nicht gleich aufgeschrieben, nachdem sie freigelassen wurde?“ „Unter der Prämisse, dass sie während der Inhaftierung ihre Erinnerungen verlor, gilt das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für meinen Namen, sollte sie ihn vorher gekannt haben. Immerhin wurde sie sofort nach unserem ersten Treffen festgenommen und hatte keinerlei Gelegenheit, ihn einzutragen. Vermutlich kann sie sich einfach nicht erinnern.“ Light senkte schmunzelnd den Kopf. „Stimmt, Frauen sind so vergesslich.“ „Ich werde ihr Gedächtnis etwas auffrischen“, erklärte L trocken, „und ihr mein Gesicht einfach noch einmal zeigen.“ „Ryuzaki, aber…!“ „Sobald sie mich sieht“, unterbrach der Detektiv seinen Ermittlungspartner, „wird sie versuchen, mich mit dem Notizbuch zu töten. Du willst mir doch helfen, oder? Dann halte sie fest, sobald sie meinen Namen zu schreiben beginnt. Ganz einfach.“ „Ganz einfach?“, griff Light skeptisch die Formulierung auf. „Ist das nicht ein bisschen knapp? Wie viel Zeit kann man schon brauchen, um einen Namen aufzuschreiben? Ist deiner etwa so lang?“ „Das kommt darauf an“, meinte L mit einem kindlichen Lächeln, „inwieweit dieses Heft einen zweiten, dritten und vierten Vornamen benötigt.“ „Ja, sicher.“ Light verdrehte spöttisch die Augen und erhaschte dabei zufällig einen Blick auf Rem, die abwechselnd die beiden Männer scharf musterte und abzuwarten schien, ob Misas vermeintlicher Beschützer die Intentionen des Meisterdetektivs noch zu entkräften vermochte. „Wir müssen es tun“, postulierte L entschieden, „um an das zweite Notizbuch zu gelangen.“ „Misa könnte deinen Namen rein theoretisch überall aufschreiben.“ „Hier sind in allen Ecken Kameras, die jeden Zentimeter des Gebäudes erfassen. Wenn sie etwas unternimmt, wird uns das nicht entgehen.“ „Vielleicht bringt sie das Buch gar nicht mit.“ „Sie wird. Das ist die beste Gelegenheit für sie, mich zu töten. Denkst du etwa, Amane würde durch zu langes Warten ein neuerliches Scheitern riskieren? Ich bin mir sicher, sie wird es sofort tun, um nicht Gefahr zu laufen, wie beim letzten Mal vorher geschnappt zu werden. Das Risiko ist ihr mittlerweile garantiert zu hoch. Je schneller sie mich umbringt, desto besser.“ Der Schlagabtausch zwischen den beiden Männern verebbte. An seine Stelle trat ein unangenehm spannungsgeladenes Schweigen, dem die Todesgöttin lauernd beiwohnte, ohne dabei ihre Aufmerksamkeit von Light abzulenken. Dieser seufzte kapitulierend. „Einverstanden, Ryuzaki. Ich werde Misa aufhalten und dann werden wir sie gemeinsam dazu bringen, uns zu verraten, wer der erste Kira ist.“ „Dieses Mal allerdings“, fügte L schneidend hinzu, „wenn wir den Beweis haben, dass sie mich töten wollte, werden wir Amane Misa zum Sprechen zwingen müssen. Egal mit welchen Mitteln.“ „Darum geht es dir also in Wirklichkeit.“ Abschätzig sah Light seinen Gegner an, während er im Augenwinkel die Bewegungen von Rems Silhouette nicht außer Acht ließ. „Jetzt verstehe ich, warum du meinen Vater in die Staaten geschickt hast.“ Er atmete tief ein, als fiele es ihm schwer, die folgenden Worte auszusprechen. „Wenn wir Misa noch einmal hierher holen, kann es sein, dass sie diesmal dabei sterben muss.“ „Korrekt“, antwortete L ungerührt. „Aber wie dein Vater sagte, sind Opfer unvermeidlich. Wir haben keine Wahl.“ Die Göttin des Todes trat bedrohlich einen Schritt vorwärts. Als L dies bemerkte, wandte er ihr seinen schräg gelegten Kopf zu und fragte arglos: „Stimmt was nicht, Shinigami?“   Anhand der Kameraübertragung konnten die beiden Ermittler beobachten, wie der Rolls-Royce des Meisterdetektivs die Einfahrt zur Tiefgarage herunterkam. Der ergraute Herr hinter dem Steuer überwand die standardisierten Sicherheitsvorkehrungen, indem er durch das Autofenster eine Schalttafel bediente, bevor er seinen Fingerabdruck scannen ließ. Watari parkte den Wagen direkt vor dem Eingang des unterirdischen Aufzugfoyers. Danach öffnete er im Stil eines Chauffeurs die hintere Fahrzeugtür. Auf dem Monitor war erkennbar, wie Misa aus der Limousine stieg, sich auf ihren schwarzen Plateauschuhen aufrichtete und ihren ältlichen Begleiter etwas fragte, was dieser dem Anschein nach höflich bejahte. Hierauf nickte die blonde Fernsehikone mit einem unbefangenen Lächeln. Auch Watari lächelte freundlich. Misa zupfte ein wenig ihren Tüllrock unter der schwarzen Lederjacke zurecht, bevor sie sich hinter dem alten Mann in das Innere des Gebäudes begab. Mit einer Hand umklammerte sie den Henkel einer rüschenbesetzten Tasche. Das Geschehen auf dem Bildschirm betrachtend fragte Light ruhig: „Ryuzaki, was wird passieren, wenn ich dich nicht retten kann?“ „Hört mein Herz auf zu schlagen, wird ein spezieller Sensor es sofort registrieren und Yagami-san darüber informieren.“ L hob eine Hand, an deren Zeigefinger ein klippartiges Gerät befestigt war, von dem aus ein Kabel bis hin zu einer Apparatur verlief, die scheinbar seine Vitalfunktionen überprüfte. Auf einem der linken Monitore verbildlichte eine leuchtende Schnur aus geraden und gezackten Linien seine Herzfrequenz. „Sollte ich sterben, wird dein Vater das Death Note verbrennen und es demnach für immer zerstören.“ „Aber was ist mit der letzten Regel?“, fragte Light alarmiert. „Wenn wir das Buch vernichten, werden wir alle dabei draufgehen.“ „Ich habe die anderen Mitglieder bereits über diese Gefahr aufgeklärt. Sie wissen Bescheid. Jeder einzelne von ihnen ist allzeit bereit, dieses Risiko einzugehen. Selbst Aizawa, der ungern seine Frau und seine Tochter im Stich lassen würde, meinte, ein solches Opfer sei es wert, solange dadurch die Welt von dieser unglückseligen Waffe befreit werden könnte. Und was dich anbelangt...“ L sprach ohne Schuldbewusstsein und lächelte dabei unangemessen optimistisch. „Du erfährst es eben jetzt von mir. Mach dir keine Sorgen, Light-kun. Es wird schon alles gut gehen.“ „Ich fasse es nicht, dass du sie da mit hineinziehst“, stieß Light mit einem verständnislosen Kopfschütteln aus. „Ich war immer bereit, mein Leben hierfür zu geben. Da wir jedoch alle das Death Note berührt haben, lässt du den anderen bei deinem Plan überhaupt keine Wahl.“ Und demzufolge ließ er auch Kira keine Wahl. Sobald L tot war, musste Light von jenen Menschen, die ihm am wichtigsten waren, gezwungenermaßen noch einen weiteren innerhalb kürzester Zeit töten. L sagte nichts dazu und trank stattdessen teilnahmslos seinen Kaffee. „In Ordnung“, willigte Light schließlich ein. „Da ihr alle bereit seid, euer Leben aufs Spiel zu setzen, werde ich es euch gleichtun. Wenn du richtig liegst, Ryuzaki... dann lass uns Misa fangen und sie als zweiten Kira überführen, selbst wenn es uns oder ihr das Leben kosten sollte.“ Voller Hass bohrte sich Rems katzenhaft verengte Pupille in den Nacken des jungen Mörders, während ihre Gelenke knirschten wie ein festgezurrter Galgenstrick um den Hals eines Erhängten. Das war das letzte Zeichen. Der letzte Beweis. Damit war bestätigt, dass Yagami Light vor niemandem Rücksicht nahm, weder vor seiner Familie noch vor seinen Freunden und erst recht nicht vor Misa. Rem wusste, was dieser bösartige Mensch, der ein Gott sein wollte, von ihr verlangte. Und sie verstand, was sie nun zu tun hatte. „Sie kommen“, sagte Light tonlos, als die Kameraübertragung aufzeigte, wie der alte Mann und das blonde, unschuldig wirkende Mädchen den Fahrstuhl betraten. Kurz spähte Light zu der Todesgöttin hinüber und nickte ihr kaum merklich zu. Gehorsam setzte sie sich in Bewegung. Im Vorbeischreiten verursachte Rem keinen einzigen Laut. Nahezu andächtig ließ sie die beiden Männer zurück. Während Lights Blick abwesend und starr am Geschehen auf dem Bildschirm haftete, hob L die leere Kaffeetasse schräg in die Luft über seinen geöffneten Mund, um ihr womöglich noch einen letzten Tropfen zu entlocken. Seine andere Hand verkrampfte sich um das kleine, elektronische Gerät an seinem Finger. Aus dem Augenwinkel bemerkte L, wie jenes kreidebleiche, infernalische Geschöpf sich von ihnen entfernte und durch die Wand in den Nebenraum glitt. Vierzig Atemzüge, vierzig Herzschläge, vierzig Schritte des tickenden Uhrzeigers, Sekunde um Sekunde bis zum Tod. Noch waren die Sekunden stark und feierlich betont und jede, die von der Uhr heruntersprang, rief: sie sei das Leben, das unerträgliche, unerbittliche Leben. Die Fahrstuhltüren schoben sich beiseite. Der Fuß des alten Mannes suchte nach Gleichgewicht auf dem schwankenden Grund, die faltige Hand vergraben im Anzugstoff direkt über seinem Brustbein. Doch die Welt geriet aus den Fugen. „Watari?“ Als der alte Mann im Flur vor dem Fahrstuhl zusammenbrach, erfasste kaltes Grauen den Meisterdetektiv. In diesem Moment, da L den Namen seines engsten Vertrauten rief, klang seine Stimme ungemein jung und verletzlich. „Watari!?“ Ein verschlagenes Lächeln zierte Lights Lippen. Also erledigte Rem praktischerweise auch das gleich für ihn. Damit kam seine stärkste Figur zum Zug, seine machtvolle Dame auf dem weiß und schwarz gekachelten Schachbrett dieses Spiels, um seine Feinde zu beseitigen, erst den Gefolgsmann, dann den König und endlich... Schachmatt. „Shinigami?“, flüsterte L fragend. Der Löffel zwischen seinen Fingerspitzen zitterte, vibrierte leicht und entglitt anschließend, wie in Zeitlupe, seinem Halt. Leergefegt von jedem Gedanken, sein Kopf ein Vakuum, sein Herz in Aufruhr, sah Light seinen Partner fallen. Ohne eine bewusste Entscheidung oder Kontrolle darüber geriet sein Körper in Bewegung. Er stürzte nach vorn, um L aufzufangen und ihn gleichsam davor zu bewahren, hart auf dem Boden aufzuschlagen. Am Schulterblatt spürte Light die Hand seines Freundes, die sich krampfhaft in seinen Rücken grub und an seiner Kleidung zerrte. Im Todeskampf klammerte L sich an ihn, wie er sich kurz zuvor noch in Ekstase an ihn geklammert hatte. „Du hast...“, sprach er mühsam, „den Shinigami...“ „Rem ist ein gutmütiger Todesgott“, erklärte Light sanft und hielt L schützend in seinen Armen. „Ich habe deinen Namen nicht gebraucht. Aber so nehme ich dir wenigstens nicht alles, mein Freund.“ „Light.“ „Du musst mich verstehen. Ich kann nicht anders.“ Boshaft, verwirrt und entrückt lächelnd schaute Kira auf seinen Todfeind herab. Nein, du kannst mich nicht besiegen. Du kannst es nicht. Nicht einmal du hast es geschafft. L spürte einen dumpfen Schmerz an seinem Handrücken, der offenbar daher rührte, dass sein Arm kraftlos auf den Boden gefallen war. Sein Kopf und all seine Gliedmaßen waren plötzlich so fürchterlich schwer. Es fühlte sich an, als würde ihm jemand gewaltsam die Augenlider niederdrücken. Was von nun an geschah, entzog sich seinem Einfluss. Würde Light aufgehalten werden können? Würde er… L konnte nicht mehr klar denken. Er hörte nur noch diesen ohrenbetäubenden Glockenklang und eine zarte Stimme aus der Stille. Wehr dich nicht dagegen. Lass dich fallen. Schlaf ein. Nun endlich kannst du schlafen. Schlafen... „Sayonara, L.“ Und so starb L, der größte Detektiv der Welt. Und mit ihm starb der letzte Funken Menschlichkeit in Yagami Light. Denn der alte Gott war besiegt. Ein neuer Gott war geboren. Jede Sekunde, die sie aneinander gekettet waren, hatte die Einsamkeit noch deutlicher hervortreten lassen. Wie viele Tage und Wochen ihnen auch geblieben waren, es hatte nicht gereicht. Selbst wenn sie ein ganzes Leben gehabt hätten. L konnte Kira nicht aufhalten. Er konnte Light nicht retten.   Salz ist die Essenz des Lebens. Kein Mensch kann ohne Salz überleben, es ist für unsere Existenz lebensnotwendig. Doch in zu hoher Konzentration kann Salz tödlich sein. Allein die Menge macht das Gift und alles wird im Übermaß zur letalen Dosis. Das gilt für Macht genauso wie für Freude oder Trauer. Auf Zucker hingegen kann man verzichten, weil er zum Überleben nicht notwendig ist. Er ist kein Grundstoff, sondern ein Suchtmittel. Von Zucker kann man niemals genug bekommen. Das Einzige, was Zucker einem Menschen geben kann, ist das Gefühl, glücklich zu sein. Light wusste, wie sich diese Erkenntnis anfühlte. Jedes Mal war das Verlangen danach stärker geworden, drängender und unbezwingbarer, je häufiger er den Zucker von Ls Lippen gekostet hatte. Doch nun hatte er seine Sucht bekämpft. Es blieb ihm fortan nichts weiter übrig, als die Entzugserscheinungen zu überwinden. Alle Hindernisse, jede Gefahr und jedes Streben nach Glück, alles war aus dem Weg geräumt. Nichts konnte ihm jetzt noch etwas anhaben. Niemand konnte ihn erreichen, ihm nahekommen. Niemand konnte ihn verletzen. Light würde von nun an überleben. Existieren. Aber er würde sich nie wieder am Leben fühlen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)