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Salz und sein Preis

Salz und sein Preis

 

„Nein, natürlich nicht.“

Atemlos antwortete Light mit einem falschen Lächeln und verfluchte sich im selben Moment für seine Unachtsamkeit. Um zu gewinnen und Light als Kira zu entlarven, würde L sich sogar töten lassen, das wussten sie beide. Weil er sich dennoch nicht verraten wollte, glitt Light mit den Fingern den Hals seines Freundes entlang bis in dessen Nacken, zog ihn am Hinterkopf zu sich und küsste ihn stürmisch. L durfte sich nicht noch einmal so leicht von ihm entfernen. Er durfte ihm auf keinen Fall entrinnen. Er durfte nicht. Er konnte nicht! Kira würde es nicht zulassen. Dafür hätte er jede Ausrede gelten lassen, die sich sein Kopf unentwegt aufs Neue zurechtspann, um sein eigenes Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen.

Sofort wurde seine heftige Zuwendung von L erwidert. Aus jenem plötzlichen Impuls konnten keine Zweifel erwachsen, aber auch keine Zärtlichkeit. Ihr Kuss glich anfangs eher einem Kampf, in dem keiner unterliegen wollte. Light biss unsanft in Ls Unterlippe, bevor er wieder dessen Zunge suchte, herausforderte, zurückdrängte. Obwohl er Zucker hasste, liebte er diesen süßen Geschmack von L, seine Lippen, die sich ein bisschen spröde, aber trotzdem weich anfühlten, seinen Geruch, seine Haut, seine Stimme. Light spürte das dichte Haar zwischen seinen Fingern und die angewinkelten Beine rechts und links seines Körpers, die ihn eng umschlangen. Ihm wurde schwindlig davon. Es machte ihn verrückt. Er wollte mehr.

L vertiefte den Kuss in zunehmender Verzweiflung und zog seinen jungen Partner mit Händen und Füßen näher an sich. Ungestüm zerrte er an dem durchnässten Hemd, das Light aufgeknöpft über einem schwarzen Shirt trug, streifte es ihm von den Schultern, bevor seine spinnenhaften Finger nach vorn zu dessen Brust und tiefer wanderten. Zwischen ihren aneinandergeschmiegten Unterkörpern rieb L mit sanftem Druck über den Hosenstoff im Schritt seines Freundes, sodass dieser mit stockender Atmung den Kuss löste. Ungläubig schloss Light die Augen. Was passierte hier? Was taten sie nur? Resolut machte sich L an der Gürtelschnalle zu schaffen, während der Andere seine Handlungen abwechselnd erlaubte oder rabiat unterband, um selbst die Oberhand zu gewinnen. Als L bereits den Gürtel und die oberen Hosenknöpfe geöffnet hatte, langte Light nach dessen Handgelenken, hielt ihn grob zurück und streifte ihm im Gegenzug das weiße Shirt über den Kopf, bevor er sich seines eigenen klammen Oberteils entledigte. Die zwei Kleidungsstücke landeten achtlos auf dem Boden. Durch das Regenwasser waren die Körper der beiden Männer noch immer durchnässt und ausgekühlt. Vielleicht ein wenig zu brutal presste Light seinen Freund an sich, um dessen nackte Haut auf der eigenen zu spüren. Er merkte, wie L sich gleichfalls an ihn klammerte und ihm dabei schmerzhaft die Finger in den Rücken bohrte. Doch es reichte nicht. Es reichte einfach nicht.

„Ich habe Angst“, wisperte Light gedankenlos, erneut die Lippen seines Feindes suchend, „dich zu verlieren, L.“

„Ist das so?“

Kaum konnten sie sagen, wann ihr Kuss plötzlich nicht mehr auf siegreiche Inbesitznahme abzielte, sondern zugleich auf vertrauensvolle Hingabe. Light öffnete Knopf und Reißverschluss der ausgewaschenen Jeans, bevor er L, der sich an ihm festhielt, stärker an sich drückte und dessen Becken leicht anhob, um ihn von der letzten Kleidung zu befreien. Dieser zog ihn daraufhin sofort wieder an sich, verringerte den Abstand zwischen ihnen, der sie zu weit voneinander entfernte. Dabei glitt er mit den Fingerkuppen das Rückgrat seines Freundes entlang hinab über dessen Lenden, schob ihm mit Händen und Fersen die Hose von den Hüften. Ungeduldig schüttelte Light die restlichen Sachen von seinen Beinen, ließ sich erneut in die Arme schließen und in einen weiteren sehnsüchtigen Kuss verwickeln, warmer Atem auf der Haut, Zucker auf den Lippen und unter den Händen ein unkontrollierbarer Herzschlag. Viel zu lange, so kam es beiden vor, hatten sie darauf verzichten müssen, den Körper des Anderen unmittelbar zu spüren, durch kein störendes Stück Stoff getrennt.

„L...“ Unentwegt flüsterte Light den Namen seines gehassten Freundes, seines geliebten Feindes, jenen Namen, der unaufhörlich in seinen Gedanken kreiste. „L... ich will...“

Er bekam kaum Luft. Den Kuss unterbrechend ermahnte er sich vergeblich, nicht weiterhin übermäßig hastig, sondern langsamer, gelassener zu atmen. Warum scheiterte er daran? Warum scheiterte er an sich selbst? Es kam ihm vor, als würde sein stechendes Herz sich anschicken, seine Rippen wie die Gitterstäbe eines Gefängnisses aufzustoßen. Rastend sank Light mit dem Kopf gegen die Stirn seines Gegenübers. L schien es ähnlich zu gehen. In den dunklen Augen lag das gleiche Gemisch aus Panik, Sehnsucht und Zuneigung. Aus nächster Nähe begegneten sich ihre Blicke.

Bevor Light wirklich begreifen konnte, schenkte L ihm ein bestätigendes Nicken, nur ganz leicht und zurückhaltend, doch es genügte, um jenen unbedacht sagen zu lassen:

„Komm, ich halte dich.“

L schlang die Beine noch fester um ihn, legte seine Hände in dessen Nacken, sodass Light ihn von der Kommode herunterheben und zum Bett tragen konnte, wo sie gemeinsam in die Laken fielen. Wie im Rausch versuchten sie, mit jeder Faser ihres Seins den Anderen wahrzunehmen, das fremde Ich nicht mehr fremd sein zu lassen, während sie einander fieberhaft küssten, berührten, umarmten, niederrangen, den nackten Körper des Anderen mit dem eigenen erspürend. Unvermindert prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben und malte schlierenartige Schatten auf ihre erhitzte Haut. Es misslang, das Geschehen wieder unter Gewalt zu bringen. Light schaffte es nicht, den Affekt zu kontrollieren. Was war los? Wollten sie nicht endlich zur Vernunft kommen? Konnten sie es nicht?

Ohne zu wissen, wie ihm geschah, rollte sich L über ihn, schob sich zwischen Lights gespreizte  Beine, bevor dieser aufbegehren konnte, langte nach dessen Handgelenk und hielt es direkt neben ihren Gesichtern fest. Reglos betrachteten die beiden Männer einander in dieser Lage, wobei L mit ostentativer Gewissenhaftigkeit über die edle Armbanduhr strich, die Light auch jetzt noch trug. Sein Daumennagel fand die Einkerbung des Verschlusses und öffnete ihn. Geflissentlich wurde das funktionale Schmuckstück vom Handgelenk gelöst und auf den Nachtschrank gelegt. Die braunen Augen stahlen sich zu der Uhr hinüber, glänzendes Metall, ein poliertes Ziffernblatt, niemals zum Stillstand kommende Zeiger und im Kern jenen winzigen Fetzen des Todes, den jedes zeitmessende Instrument in seinem Inneren verbarg. Obwohl es lediglich eine Uhr war, die ihm abgenommen wurde, als sei es der letzte Fremdkörper zwischen ihren entblößten Leibern, fühlte sich Light plötzlich entwaffnet.

Während sein Blick noch an der Armbanduhr haftete, merkte er benommen, wie er in den Kniekehlen gepackt wurde, das auf ihm lastende Gewicht seines Freundes, Hände, die über die Innenseite seiner Oberschenkel und zwischen seine Beine glitten. Zu keinem klaren Gedanken fähig schloss Light die Augen. Er blendete das Bild dieser Uhr, Mordinstrument und Symbol für das Zerrinnen der Zeit an sich, aus und ließ die Berührungen geschehen, wehrte sich nicht dagegen, als L die Knie von unten gegen seine Oberschenkel drückte, sodass Light seine Fußballen auf dessen Hüften abstützte. Erschrocken aufkeuchend krallte er sich im Stoff der Bettdecke fest, als er neben Ls stimulierendem Griff auch die Finger von dessen zweiter Hand wieder spürte, die vorsichtig in ihn eindrangen. Benebelt schüttelte Light den Kopf, wollte protestieren, den Anderen in seinem Handeln stoppen. Als sich die Finger tief in ihm zu bewegen begannen, gemeinsam mit dem Rhythmus seiner Stimulation, konnte Light nicht anders, als flach atmend den Kopf in den Nacken zu werfen, verzweifelt darum bemüht, dieses unerträglich intensive Gefühl aufzuhalten. Niemand sonst hätte das mit ihm tun dürfen. Nein, selbst seinem einzig wirklichen Freund durfte er das nicht erlauben. Gerade ihm durfte er es nicht erlauben. Denn gerade das Bewusstsein darum, dass es L war, dessen Hände er an und in sich spürte, behutsam und fest zugleich, machte ihn vor Verlangen wehrlos. Für L hätte er sogar seinen letzten Halt aufgegeben und sich fallen gelassen, sich ihm hingegeben. Doch das durfte nicht passieren. Er durfte die Kontrolle nicht verlieren.

„Nein...“, brachte Light erstickt hervor, unterbrochen von einem mühsam zurückgehaltenen Stöhnen. Er stemmte seine Hände gegen Ls Schultern, versuchte ihn von sich zu schieben. Dieser schien den schwachen Protest allerdings zu ignorieren.

„Hast du...“, sagte Light angestrengt. „Hast du nicht gemeint, du wolltest mich zu nichts zwingen?“

„Es kommt mir nicht so vor, als müsste ich dich zu irgendetwas zwingen, Light.“

Zärtlich küsste L seinen Oberkörper, leckte über sein Schlüsselbein und seine Kehle, wobei er ihm die Beine durch den Druck seiner Arme noch stärker in eine angewinkelte Position nötigte. Jede seiner Berührungen war zu sanft, zu schmerzvoll, zu innig. Light kam es vor, als würden ihn seine eigenen Empfindungen innerlich verzehren. Sein Puls raste. In seinem Kopf drehte sich alles. Hitze breitete sich bis in den letzten Winkel seines Inneren aus. Das lief ganz und gar nicht, wie er sich das vorgestellt hatte. Wenn er nicht bald etwas unternahm, war es zu spät.

Als er spürte, wie sich die Finger aus ihm entfernten, die Erregung des Anderen an der eigenen erfühlend, gewann das Entsetzen die Oberhand über seine Ergebenheit.

„Es reicht“, stieß Light bestürzt hervor, „hör auf.“

„Was ist?“, flüsterte L milde in sein Ohr. „Hast du davor etwa auch Angst?“

Auf eine Antwort verzichtend spannte Light unter einigem Kraftaufwand seinen Körper an, um die Fußballen aufsetzen und sich abstützen zu können. Tatsächlich gewährte ihm L jene stumm erbetene Freiheit. Manchmal, das dachte Light daraufhin so boshaft wie liebevoll, war der Meisterdetektiv, der für Außenstehende vorgeblich weder Takt noch Skrupel besaß, eben doch weitaus gutmütiger, als die meisten ihn einschätzten. Gutmütiger als der ganze Rest dieser unwichtigen Menschen, die ihren Tod im Gegensatz zu ihm verdient hatten. L verdiente den Tod nicht. Stattdessen musste sich der Tod eigentlich erst ihn verdienen, denn L war zum Sterben viel zu wertvoll. Aber ebendieser Wert machte sein Ableben auch umso kostbarer, umso mehr verlockend.

Sich aufrichtend trafen sich erneut ihre Lippen, ihre Hände, ihre Haut. Derweil versuchte Light in seinem wirren Verstand eine Möglichkeit zu erarbeiten, wie er die Macht zurückerlangen konnte, um sich selbst nicht durch die eigene Fügsamkeit zu hintergehen. Warum war es auch so verflucht schwierig, L zu bändigen? Kurzentschlossen fasste Light ihn bei den Schultern, drehte ihn mit dem Rücken zu sich und küsste sacht seinen Nacken, wobei er ihn auf harmlose Weise von hinten mit den Armen umfing. L schien nichts zu ahnen, widersetzte sich nicht, als sich fremde Hände und Beine zwischen seine Schenkel schoben und ihm die Oberarme in den Rücken gezogen wurden, wo sein Partner sie in den Armbeugen festhielt. Als Light sich sicher sein konnte, L an den sehnigen Muskeln über dem Ellbogen ausreichend im Griff zu haben, glitt er zielgerichtet mit der freien Hand nach vorn zu dessen Körpermitte. Ohne Gegenwehr ließ sich L zurück gegen Lights Brust sinken, gab sich arglos und hingebungsvoll dessen Berührungen preis. Dieser küsste den schwarzen Haarschopf, die Schläfe unter jenen weichen Strähnen, die ihn leicht an Hals und Wange kitzelten.

Jedwede Reaktion beachtend intensivierte Light seine Bemühungen, bis er schließlich merkte, wie L seine Haltung straffte und schonend seine Arme befreien wollte. Das Einzige, was er damit unter dem verstärkten Griff an seinen Armbeugen bewirkte, war eine Hemmung seiner Blutzufuhr. Nachgebend legte L seine Hände rechts und links seines Körpers auf die Oberschenkel seines Freundes, doch als sich seine Atmung weiter beschleunigte, tat Light dies auch mit seiner Stimulation. Erneut versuchte L sich loszumachen. Ohne Erfolg.

„Warte...“, bat er beinahe stimmlos. „Light, ich...“

„Schon okay.“

Die sonst so gleichgültige Stimme derart unbeherrscht und rau zu hören, genau zu spüren, wie L sich an ihm festklammerte, sich in seinen Armen aufbäumte, jagte eine erneute Welle der Erregung durch Lights Körper und ließ ihn gleichfalls hektisch atmen. Noch bevor sich L hätte fangen können, wurde er hinab auf das Bett befördert. Im nächsten Augenblick landeten seine Beine auf Lights Schultern. In dieser Position war der Meisterdetektiv, Kiras einstiger Jäger und Gejagter, ihm ausgeliefert. Außer Atem, noch immer stoßweise um Luft ringend, starrte er Light ein bisschen beleidigt an.

„Das war gemein von dir.“

„Tut mir leid.“ Light lächelte, sowohl siegesgewiss als auch entschuldigend. „Ist das in Ordnung für dich?“

„Egal wie, ich will einfach nur...“ L zögerte, presste abwägend die Lippen aufeinander, als dächte er skeptisch darüber nach. „Es spielt keine Rolle, Light“, sagte er dann in unerschütterlicher Selbstverständlichkeit. „Ich würde alles tun.“

Light konnte nur noch verlieren, wenn er aufgab. L dagegen musste gerade deshalb verlieren, weil er nicht aufgab. Darum ließ er los. Denn noch war keiner von beiden tot. L wollte spüren, dass er noch am Leben war. Hass, Zuneigung, Angst und den zerreißenden Schmerz, den das Gefühl des Lebens mit sich brachte. Er wollte nur jenen einen Menschen vollkommen spüren und sich vergewissern, dass auch dieser noch nicht tot war.

„Ruhig“, flüsterte Light stockend. „Ganz ruhig, L. Verkrampf dich nicht so.“

„Entschuldige.“

„Nein, schon gut. Ich will dir nur nicht wehtun.“

„Sicher, dass du das nicht willst?“

Light lachte leise und antwortete nicht.

Endlich hatte er, wonach es ihm die ganze Zeit verlangte. L musste spüren, wie Kira in ihn eindrang, ihn in Besitz nahm. Er hatte es nicht nötig, den Meisterdetektiv unter seine Gewalt zu zwingen, weil dieser sich dem Gott der neuen Weltordnung willig hingab. Nun hatte Kira vollends über L obsiegt. Er besaß alles von ihm, bestimmte sein Leben und bald auch seinen Tod, vereinnahmte sein Denken, sein Herz und nun auch seinen Körper. L hätte Kira niemals widerstehen können.

Dennoch suchte Light vergeblich nach Verachtung in den schwarzen Augen. Was er fand, war eine Mischung aus Trauer und Hingabe. Was hatte sich Kira in seinem Gegner erhofft? Hass? Angst? Das Eingeständnis einer Niederlage? Vermeintliche Wut stieg in Light auf, veranlasste ihn dazu, sich noch härter in den Anderen hineinzustoßen. Doch die Gewalt war nur ein Ausdruck seiner unhaltbaren Zuneigung und Verzweiflung.

Zugleich trafen die fordernden Bewegungen in L einen Punkt, der diesen seinen verfluchten, niemals stillstehenden, immer arbeitenden Verstand vergessen ließ. Er gab sich diesem schmerzhaften Gefühl hin, das wie ein Großbrand durch seinen Körper tobte, und spannte dabei unbeabsichtigt sämtliche Muskeln an. Dadurch entlockte er dem Anderen ein entsetztes Keuchen. Augenblicklich hielt Light inne, um die aufkommenden Emotionen zu unterbinden, die ihn seine Kontrolle verlieren lassen konnten. Seine Kontrolle? Hatte er die überhaupt noch? Light biss sich auf die Unterlippe und konzentrierte sich darauf, seine Atmung, seinen Pulsschlag, das ganze Chaos in seinem Inneren zu beruhigen. Er schloss die Augen und versuchte sich keinen Millimeter mehr zu bewegen.

„Light“, flüsterte L schwer atmend, „hör nicht auf.“

L wollte weder seinen Partner noch das Gefühl, das dieser in ihm auslöste, so schnell verlieren, umschlang ihn stärker mit seinen Beinen, glitt mit den Händen dessen Rückgrat hinab, um ihn an den Lenden festzuhalten, und begann, soweit möglich, gezielt seinen Unterkörper zu bewegen. Er konnte nur erahnen, was er Light damit antat. Das durfte nicht geschehen. Niemand durfte Kira ein Gefühl aufzwingen, dem er sich nicht freiwillig aussetzte. Als sich Light aggressiv und panisch von L loszumachen versuchte, legte dieser eine Hand in seinen Nacken und zog ihn unnachgiebig zu sich hinab, um ihn innig zu küssen.

„L, was...?“, keuchte Light halb wütend, halb verzweifelt auf die Lippen seines Feindes. „Nein, ich kann nicht...“

„Wieso nicht?“ Ein erneuter stechender Blick aus den schwarzen Augen brachte Light in Erklärungsnot, obwohl beide wussten, dass es keine Antwort geben würde. L hielt seinen jungen Partner erstaunlich gut fest, seine Hände lagen schwer wie Bleigewichte auf Lights Rücken, sodass ihm keine Chance mehr blieb, seinen eigenen Gefühlen zu entkommen. Abwehrend griff Light in seinen Nacken, um dort die Hand von sich zu lösen. Obwohl ihm dies gestattet wurde, hatte er darüber hinaus keine Kraft mehr. Sein Körper schien jeden Widerstand aufzugeben. Nach Halt suchend verhakte er seine schweißnasse Hand mit der seines Freundes und sank mit dem Kopf auf dessen Schulter. Direkt an seinem Ohr flüsterte L kaum hörbar:

„Bitte... zerstöre mich. Töte diese erbärmliche Schwäche in mir.“

In diesem Moment gab Light auf. Alle Zweifel über Bord werfend steigerte er seinen Rhythmus erneut, seine Brutalität, seine Zärtlichkeit. Er wurde grausam und sanft zugleich. Er sehnte sich danach, seinem vertrauten Feind wehzutun, ihm mehr Schmerzen zuzufügen, als er ertragen konnte, um ihm zu vermitteln, wie er selbst sich fühlte. Er wollte L vernichten, ihn mit all seiner Leidenschaft, seinem Hass und seiner Liebe zerbrechen, wie auch er selbst an seinen Gefühlen zerbrach. Er wollte ihm Halt spenden, wo er selbst unter seinen Füßen nach dem Halt suchte, den er längst verloren hatte. Zum ersten, einzigen und letzten Mal wollte er jenen Menschen spüren, den er und der ihn mit seiner bloßen Existenz in den Tod trieb. Sie suchten gemeinsam nach Kontrollverlust in der tödlichen Umarmung des Anderen. Warum hatte Light diesen wünschenswerten Schmerz nicht gefühlt, als er noch ein unbedarfter Schüler gewesen war? Das Leben hatte ihn angeekelt und gelangweilt. Es war völlig bedeutungslos gewesen, nur ein Staubkorn unter unzähligen anderen. Allerdings sollte es diesem Staubkorn bestimmt sein, in das Getriebe der dekadenten Welt zu geraten. Erst mit dem Death Note gab es endlich ein Ziel. Erst mit dem Kampf gegen L erhielt alles einen Sinn. Light wusste nun, was es bedeutete, am Leben zu sein. Was es bedeutete, den Tod zu bringen und dabei jedes Mal ein bisschen mehr zu sterben. Er hasste sich selbst für das, was sein Körper, was der letzte Rest seines noch nicht getöteten, menschlichen Geistes empfand. Wie konnte er so die Kontrolle verlieren? Nie zuvor hatte er einen anderen Menschen derart intensiv gespürt. Doch wie konnte ein einzelner Mensch es schaffen, dass ein Gott das Leben mehr spürte als die Unsterblichkeit? War Light vielleicht selbst nur ein Mensch? Lächerlich! Was war das Individuum und das Glück des Einzelnen schon wert im Vergleich zu der Ungerechtigkeit der Welt? Wieso nur erschienen ihm plötzlich seine Ideale so unbedeutend und klein? Er wollte doch nur die Menschen beschützen. Er musste sie schützen, weil niemand sonst dazu in der Lage war. Und dafür musste er sich selbst aufgeben. Aber im Augenblick war es egal. Nur für diesen Augenblick. Nur dieses letzte Mal noch. Durfte er das überhaupt? Es war doch nicht falsch, was er tat? Was wollte er eigentlich? Was war richtig? Hatte er verloren? Nein, es konnte keine Niederlage sein. Ganz im Gegenteil, es war ein Sieg. Mit jener letzten Schlacht, der letzten Selbstaufgabe, ließ er seine schwache menschliche Hülle zurück und legte endgültig ein göttliches Gewand an. Er unterwarf den Gott der alten Weltordnung und machte ihn sich zum Untertan. Er machte ihn sich zu Eigen. Er erniedrigte ihn. Er schaffte es nicht. L schaffte es nicht, ihn zu besiegen. Er musste verlieren. Er musste L verlieren. Er wollte nicht mehr. Nicht mehr als das. Light wollte nur diese blasse Haut berühren, bis seine Fingerspitzen für immer taub waren. Er wollte die rissigen Lippen küssen, bis er auf seinen eigenen gar nichts mehr fühlte, wollte mit Salz für das süße Gift bezahlen, das ihn am Leben hielt, bis er ganz zum Schluss keinen Zucker mehr schmeckte. Niemals wieder. Er konnte nicht weiter. Er konnte nicht...

„...das Letzte zerstören, das von Bedeutung ist“, vernahm Light den Klang seiner brüchigen Stimme. „Ich könnte es nicht.“

L fixierte unentwegt das Gesicht seines Freundes, um jedes Detail von dessen Mienenspiel in sein Gedächtnis einzubrennen. Mühsam atmend blickte er hinauf und sah über sich auf einmal wieder den gutherzigen Jungen von damals, unbedarft und durch seine Ideale geschwächt, angreifbar und noch voller Unschuld. Lights Lippen zitterten. In seinen Augen lag die Last seiner Selbstaufgabe, als er bebend sagte:

„Jede deiner Schwächen würde ich tragen und auslöschen, L. Aber ich würde dich niemals zerstören wollen... bitte versteh mich.“

„Sag nichts mehr.“ L wollte nicht hören, was nur halb Wahrheit, halb Lüge war.

„...trage... so sehr“, flüsterte Light zusammenhangslos, „...ertrage... nicht.“

Er hielt die Hand seines Freundes, die ineinander verschränkt war mit seiner eigenen, derart fest umklammert, bohrte seine Fingernägel rücksichtslos in dessen Handrücken, dass es L so vorkam, als würden ihm die Gelenke brechen. Kein Zentimeter durfte sie mehr voneinander trennen. Kein Unterschied durfte mehr zwischen Kira und L bestehen. Kein Unterschied zwischen L und Light.

„Was ist los?“ L lächelte hilflos und strich behutsam ein paar der braunen Haarsträhnen aus jenem jugendlichen Gesicht, das selbst in völliger Verzweiflung schön aussah. „Wo bist du nur? Light, hörst du mich? Bleib hier. Bleib bei mir. Lass mich dir helfen.“

Ihn mit seiner freien Hand im Nacken festhaltend drückte L den Jüngeren an sich, starrte empor in die Leere, die sich bedrohlich näherte und sie unaufhaltsam einhüllte. Indem sie zur Kapitulation nicht bereit waren, gaben die beiden Gegner auf und begrüßten gemeinsam die kommende Sinnlosigkeit, die sie bereits jetzt zu ersticken begann. Die beiden Feinde streckten die Waffen, indem sie diese geladen und entsichert aufeinander richteten und warteten, bis der Erste fiel. Aber dicht an seinem Ohr vernahm L noch das leise Flüstern seines einzigen Freundes:

„Vergib mir, L. Ich liebe dich so sehr. Bitte vergib mir.“

Die Konturen der Umgebung flackerten. Was hatte er gesagt? Vielfach überlagerten sich die Worte, die er eben gehört hatte, in seinen Ohren, bevor L sie endlich verstand. Light wirkte wie umnachtet, als wäre er in seiner eigenen leeren Welt gefangen, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Er bemerkte gar nicht, was er sprach. Stattdessen schien er mit aller Kraft gegen irgendwelche unsichtbaren Dämonen, gegen seinen düsteren Begleiter anzukämpfen, um den Verstand nicht zu verlieren.

Und zum ersten Mal glaubte L ihm vorbehaltlos.

Doch er wünschte sich, von all den Wahrheiten, um die er Light so häufig bat, hätte er nicht gerade diese eine hören müssen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der Kapitelname ist inspiriert von Patricia Highsmiths gleichnamigem Roman „Salz und sein Preis“, auch unter dem Titel „Carol“ bekannt.
2. Der „düstere Begleiter“ (Dark Passenger) ist eine Anspielung auf die Fernsehserie „Dexter“. Komplett anzeigen

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