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Apotheose

Apotheose

 

Unaufhörlich fiel dichter Regen hinab auf das Meer der millionenschweren Stadt. Hochhäuser, Radiotürme und Baukräne stachen grotesk ihre Spitzen in den stählernen Himmel. Von oben sah Tokyo unter der Flut aus Gebäudekomplexen aus wie entvölkert, als sei sich keine dieser in Seenot befindlichen Seelen der eigenen Existenz und Sterblichkeit bewusst. Doch zwischen den anonymen Menschenmassen hörte man manchmal ein Flüstern aus den Löchern in der Menge. Hinter dem Rauschen des Regens ertönte ganz deutlich ein Glockenklang, das Geräusch von beruhigender Stille.

Jemand rief nach ihm. Zuerst dachte L, sein Gehör würde ihm einen Streich spielen. Den Kopf zur Seite wendend erkannte er jedoch, dass es Light war, der nach ihm rief. Dieser stand unter dem Dachvorsprung bei der Treppenhaustür und wartete auf eine Reaktion. L legte eine Hand an die Ohrmuschel, um mit der Geste zu vermitteln, dass er nicht verstanden hatte.

„Was machst du denn hier draußen, Ryuzaki?“, sagte Light etwas lauter. Auch wenn der tosende Regen die Worte fast verschluckte, konnte L sie anhand der Lippenbewegung ausmachen. Trotzdem legte er lächelnd eine Hand ans Ohr und wiederholte seine Geste. Ob Light wohl aufgeben würde? Oder war es ihm das wert, um seinem vermeintlichen Freund sogar jetzt keine Ruhe zu gönnen? Geh zurück, Light. Ich will jetzt nicht mit dir reden. Lass mich allein. Der Meisterdetektiv nahm an, sein Gesichtsausdruck müsste gewiss einiges über seinen emotionalen Zustand verraten, auch wenn er nicht wusste, was sein junger Tatverdächtiger darin zu lesen vermochte. L war schließlich selbst nicht klar, ob er dessen Gesellschaft mied oder danach verlangte. Was auch immer Light zu sehen glaubte, es veranlasste ihn dazu, ohne langes Zögern in den starken Regen hinaus und seinem Partner entgegen zu treten.

„Was machst du hier draußen, Ryuzaki?“

Wieder diese jungenhafte, unbedarfte Stimme, mit der Light sicherlich schon etliche Menschen um den Finger gewickelt hatte. Man wollte ihm unweigerlich Vertrauen schenken. Ein Dämon hinter der Maske aus schönen Lügen.

„Ich weiß nicht recht“, antwortete L gedankenverloren und konzentrierte sich erneut auf jenes Geräusch zwischen den Regentropfen. „Das Glockengeläut ist heute ungewöhnlich laut.“

Light musterte ihn irritiert und folgte dem abwesenden Blick des Meisterdetektivs, der nicht zum ersten Mal von dieser merkwürdigen Sache sprach. Was konnte er damit nur meinen?

„Ich höre nichts“, stellte Light kühl fest.

L reagierte gleichermaßen verwundert. Wie konnte man dieses Geräusch missachten? Oder war es möglich, dass man es vielleicht gar nicht wahrnahm? Es war ein Klang, der ihn an seine Kindheit erinnerte, an London und den Big Ben, aber auch an die Glocken der Kathedrale von Winchester, jenes Schlagen der Zeit und das Spiel des Wechselläutens, das man deutlich vom Waisenhaus aus hörte. In Begleitung dieser Erinnerung überkamen L zugleich Heimweh und Fernweh. Er hatte es noch nie gemocht, seine schützenden vier Wände zu verlassen, allerdings tauschte er sie oft und gern gegen andere ein, mit der Außenwelt bloß mittels elektronischer Geräte verbunden und durch Watari, der wie ein Schatten zu keiner Zeit von seiner Seite wich. Doch selbst England fühlte sich nie richtig nach einem Zuhause an. L reiste lieber von einem Ort zum nächsten. Solange er sich nicht mit einem Fall beschäftigte, gab es etwas, das diesem Gefühl von Heimweh vermutlich am ähnlichsten war. Dieses Etwas, das manche Menschen empfanden, wenn sie stundenlang aus dem Fenster eines Fahrzeugs heraus die vorbeiziehende Landschaft beobachteten, wenn sich bei Nacht die Lichter der Großstadt im Wasser spiegelten oder wenn ein trommelnder Regenschauer den Klang der Stille verbarg. Es war das Bewusstsein, sich nirgends als in der Fremde zu Hause zu fühlen.

Dennoch unterschied sich das hiesige Geräusch von den Kirchenglocken, die L normalerweise vernahm. Es entsprach keinem musikalischen Zusammenspiel, sondern eher einem Solo. Ein hohles, blechernes Ausklingen, das zu vibrieren, zu sirren schien. Unerbittlich, ganz anders als ein bloßer Uhrenschlag. Nur das stetige Hämmern dieses einzelnen Tons. Dieser einzigen Glocke.

„Ich frage mich, was das ist“, sagte L zerstreut. „Vielleicht eine Hochzeit? Oder irgendeine Zeremonie? Oder vielleicht...“ Die Totenglocke? Jenes gusseiserne Instrument, das in der Kirchturmspitze neben seinen Brüdern und Schwestern ruhte, meistens unbewegt und stumm. Nur zum Abschied, als letztes Geleit und zum Gedenken an einen Verstorbenen, erhob diese Glocke ihre Stimme.

„Ryuzaki, was redest du da?“, riss ihn Lights Frage aus seinen Gedanken. „Du bist völlig durchnässt, merkst du das nicht? Geh wieder rein.“

„Entschuldige“, entgegnete L etwas unbeholfen und verwirrt. Er hatte nicht mitbekommen, wie er abdriftete. „Alles, was ich sage, hat wohl keinerlei Inhalt. Du solltest am besten nichts darauf geben.“ Betreten senkte er den Kopf. Von seinen herabhängenden, pechschwarzen Haaren tropfte unablässig das Wasser, durchtränkte seine ohnehin schwere Kleidung. Light betrachtete den Meisterdetektiv ernst, der verloren im strömenden Regen stand. Der Anblick bescherte ihm ein übermächtiges Gefühl, das er selbst nicht benennen konnte, nicht einmal als positiv oder negativ. Lächelnd schloss Light die Augen und genoss die Hilflosigkeit seines Freundes, die Genugtuung über seinen eigenen Sieg und den Schmerz über die unentrinnbare Niederlage seines Feindes. Zwischen den ganzen widersprüchlichen Emotionen blieb zum Schluss nur ein einziges Gefühl eindeutig und klar: seine unhaltbare, unerträgliche Zuneigung für L.

„Stimmt, du redest sehr viel Unsinn, Ryuzaki“, erwiderte Light schließlich mit Milde und Hochmut. „Würde man alles ernst nehmen, käme man nie an ein Ende. Ich weiß das mittlerweile nur zu genau.“

„Äh... ja, entschuldige.“

L starrte hinab auf die glatte Fläche aus Wasser und Beton zu seinen Füßen. So musste er dem Anderen wenigstens nicht ins Gesicht schauen. Am Ende hatte er keine Wahl mehr. Er konnte nur danebenstehen und zusehen, wie sich Light zerstörte. Dabei wollte er diese eiskalte Innigkeit und den sanften Hass in dessen Augen gar nicht sehen. Er konnte es nicht ertragen. Andererseits sollte er wohl dankbar für jeden Funken Ehrlichkeit sein, der ihm entgegengebracht wurde, und sei er auch noch so unbarmherzig. Lächelnd hob L den Kopf.

„Ich glaube, dahingehend sind wir einander ziemlich ähnlich, Light-kun.“ Unverwandt hielt er den Blick seines jungen Freundes fest. „Hast du denn vom Tag deiner Geburt an jemals die Wahrheit gesagt?“

L wusste mit absoluter Gewissheit, welche Antwort er erhalten würde. Er kannte diese wohlüberlegten, kalkulierten Worte zur Genüge. Nichtsdestotrotz reichte ihm der kurze Moment des Schweigens, jener Bruchteil einer Sekunde, in welchem er es schaffte, den Riss in Lights Maske ausfindig zu machen und hinter dessen Fassade zu gelangen. Die Erkenntnis, die er dabei gewann, machte L unsagbar müde. Auf einmal fühlte er sich viel älter, als er eigentlich war.

„Jeder Mensch lügt“, erklärte Light gelassen, nachdem er sich gefangen hatte. „Niemand kann sich davon freisprechen und auch ich bestreite nicht, dass ich manchmal lüge. Wer könnte so perfekt sein, es nicht zu tun? Aber ich würde immer versuchen darauf zu achten, nicht die Gefühle eines Menschen mit meinen Worten zu hintergehen oder ihm Schaden zuzufügen. Wenn du eine Antwort von mir haben willst, Ryuzaki, das ist sie.“

L schmunzelte bitter.

„Ich wusste, dass du das sagen würdest.“

Nicht einmal jetzt konnte Light ihm einen Gefallen tun und ehrlich sein. Erstaunlicherweise verursachte diese Tatsache, trotz der vorigen Gewissheit, in Ls Brust einen Schmerz, auf den er nicht vorbereitet war und der stärker zu sein schien, als dass er es allein hätte bewältigen können. Eine interessante Erfahrung. Wahrscheinlich war es besser, nicht dagegen anzukämpfen. Ein letztes Mal wollte er sich dieser undefinierbaren Traurigkeit hingeben. Die Namen und Worte, die einst hinter ihm standen, waren ohnehin längst verstummt. Nichts davon konnte ihn weiterhin schützen. Alles schwieg.

Nur die Totenglocke verkündete bittersüß den Grabgesang.

Schweigend suchten und trafen sich die Blicke der beiden Kontrahenten, die über die zukünftige Gerechtigkeit der Welt entscheiden sollten. Keiner von ihnen war jetzt noch bereit, sich abzuwenden. Hätte L sich umgedreht, um zurückzuschauen, dann wäre nichts mehr übrig geblieben. Die Jagd war an ihr Ende gelangt, weil der Ausgang seine Bedeutung verlor. So wenig wie eine Niederlage hätte ihn jetzt noch sein ursprüngliches Ziel glücklich machen können. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er nichts mehr wünschen konnte, nichts erhoffte, nichts mehr wollte. Kaltes Wasser strömte über die Fugen des Helikopterlandeplatzes in das Gitternetz der metallischen Verkleidungen, hinaus mit all dem Unrat, über den Rand des Daches und hinab in die Straßen der Stadt. Es war seltsam, fast schon komisch. Denn irgendwie schien zusammen mit dem Regen alles zu verschwinden. Alles löste sich auf, was die beiden Männer einst zu sein versuchten, aber niemals hätten sein können: Rivalen, Mitstreiter, Feinde, Freunde. Nichts von alldem konnten sie wirklich füreinander sein und doch waren sie am Ende dieser Kette aus Selbstbetrug und Fremdverleugnung füreinander alles. Den letzten Rest wusch nun der Regen hinfort, als hätte es ein Vorher oder Nachher nie gegeben. Übrig blieb, reingewaschen von jeglicher Falschheit, lediglich ein einzelnes allumfassendes Gefühl, das sie wechselseitig in den Augen des Anderen erkannten. Gefangen in ihrer Situation hätte in jenem Moment kein Wissen schlimmer sein können als diese Erkenntnis.

Warum wirkte der Weg vor ihren Füßen plötzlich so schmal, so überraschend kurz? Gleich darauf fiel es L ein. Bevor Kira ihn zwang, aus seinem Schutzwall herauszutreten, hatte er sich ja immer versteckt. So fühlte man sich wohl, wenn es keinen Ausweg mehr gab.

Ironisch lächelnd schüttelte der Meisterdetektiv den Kopf. Es war genug. Er musste nicht zusehen, wie die letzte Bedeutung im Rinnstein ertrank, nachdem er in Light dieselben Zweifel und Gefühle erkannt hatte, die er selbst seit Wochen zu verdrängen versuchte.

„Lass uns zurückgehen“, sagte er deshalb zu seinem Widerpart, dem Grund für das bisher unbekannte Gleichgewicht, das beide durch ihre Beziehung zueinander hatten erfahren dürfen und welches sie bald unwiderruflich verlieren mussten.

 

Auf den Steinstufen bildeten sich kleine Pfützen, die sie von dem Herbstregen mit hereingetragen hatten. Lights Schuhe standen auf dem oberen Treppenabsatz, genauso durchweicht wie seine Socken. Die konnte er für heute wohl vergessen. Von seiner triefenden Kleidung tropfte noch immer das Wasser, obwohl er sie, so gut es ging, am Eingang zum Treppenhaus ausgewrungen hatte. Er war genervt, aufgewühlt und noch immer verwirrt von der letzten Nacht, dem derzeitigen Stand der Ermittlungen und dem Verhalten des Meisterdetektivs. Was zum Teufel war los mit L? Zynisch dachte Light, dass er anscheinend nicht der Einzige war, der hier langsam den Verstand verlor.

„Oh, du hast einiges abbekommen“, bemerkte L dem Anschein nach betroffen. Er stand schräg hinter Light, der auf den Stufen sitzend damit beschäftigt war, seine Haare zu trocknen und abwertend entgegnete:

„Das ist deine Schuld.“

„Du hast Recht. Tut mir leid.“ Die Entschuldigung klang ehrlich, doch Light wollte nicht darauf hereinfallen. Das emotionale Chaos in seinem Inneren machte es ihm schon schwer genug, seine Beherrschung und Distanz zu wahren. Er musste die Kontrolle behalten, über sich selbst, über den Fortgang dieser Geschichte, aber vor allen Dingen über L und seine konfusen Gefühle zu ihm. Sonst konnte er sich gleich freiwillig ans Messer liefern.

Eine sanfte Hand umschloss sein Fußgelenk und ließ Light erschreckt hochfahren.

„Was tust du da, Ryuzaki?!“

„Ich will dir nur helfen“, erklärte dieser ohne Hintergedanken. „Es ist meine Schuld, dass du dich jetzt in diesem Zustand befindest. Lass mich als Wiedergutmachung deine Füße reinigen.“

„Du... du musst das nicht tun.“

„Das ist schon in Ordnung. Ich werde sie auch gleich massieren.“ Auf den Treppenstufen kniend fuhr L gleichmütig mit einem Handtuch über Fußgewölbe und Ferse seines Freundes. „Du weißt, ich bin gut darin.“ Was auch immer er damit meinte, Light wurde unwillentlich daran erinnert, wie er vor einer schieren Ewigkeit von L auf das Bett niedergedrückt worden war, damit dieser ihm den Rücken massieren konnte. Obzwar nur diffus und nicht vollständig bewusst, doch Light hatte schon damals bemerkt, dass er das Gefühl von Ls Händen auf seiner Haut als weit intensiver empfand, als es eine normale Freundschaft ihm gestattete. Wann hatte das alles bloß seinen Anfang genommen? An welchem Punkt hätte er es noch aufhalten können?

Er versuchte seiner Stimme einen belanglosen Anstrich zu verleihen, als er entgegnete:

„Tu, was du nicht lassen kannst.“

„Verstanden, Light-kun. Das werde ich.“

Die Zurückhaltung, mit der L den nackten Fuß zwischen seinen Händen behandelte, verwandelte sich schnell in leichte Gewalt. Er verstärkte den Druck seines Daumens an den empfindlichen Stellen von Lights Fußsohle, sodass dieser unbeabsichtigt zusammenzuckte und sein Bein zurückziehen wollte. Jedoch hielt L ihn ungerührt fest und meinte beruhigend:

„Du wirst dich daran gewöhnen.“

Reflexartig schluckte Light schwer, um den Schmerz und die Trockenheit in seiner Kehle zu vertreiben, obwohl ihm das schon lange nicht mehr gelang. Es kam ihm vor, als würde L ihn mit seiner Geste der Hilfsbereitschaft, dem mit Sorgfalt erwiesenen Dienst, nicht nur dort berühren, wo Light tatsächlich dessen Hände spürte. Seit damals hinterließ jede Berührung, jeder Blick und jedes Wort von L ein Brennen auf und unter seiner Haut, gegen das er sich nicht wehren konnte.

Einige Tropfen benetzten die Oberseite seines Fußes. Aufmerksam werdend schaute Light hinab und betrachtete seinen Gefährten tiefgründig. Weinte L etwa? Nein, das war nur das Wasser, das von seinen Haarspitzen tropfte.

„Du bist doch selbst ganz nass, Ryuzaki“, gab Light jungenhaft und sanft von sich, wobei er rasch nach dem Handtuch neben sich griff. Behutsam fing er das Wasser auf, trocknete jenes dichte, schwarze Haar, das er so sehr lieben gelernt hatte.

„Entschuldige“, sagte L leise.

Light hätte über den Anblick triumphieren können. L zu Kiras Füßen, gebeugt und bald besiegt. Doch es passte so wenig zu dem, was sich ihm bot, dass er nicht einmal daran dachte, seinen Feind in üblicher selbstherrlicher Denkweise derart zu desavouieren. L sah in diesem Moment nicht aus wie ein Unterworfener oder ein Diener. Er strahlte keinen Spott, nicht einmal Zynismus, sondern allenfalls Fürsorglichkeit aus. Als würde er alles unter den Schutz seiner Fittiche nehmen wollen. Genau wie Kira.

„Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht“, hörte Light seinen Todesgott flüstern, „und Gott ist in ihm verherrlicht.“

Zuerst deutete Light die Worte anders, als habe sich L dem Plan Gottes gefügt, gleichsam Kira als Gott anerkannt. Aber dann drängte sich ihm ein anderes Bild auf, die Apotheose des göttlichen Sohnes und die Reinigung seiner Nächsten. Beim letzten Abendmahl hatte Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen. Auch Judas, demjenigen, der ihn verraten sollte. Zu diesem Zeitpunkt wusste Jesus bereits, dass er sterben würde.

L wusste es.

Mit dieser Erkenntnis kam sich Light nur für die Dauer jenes kurzen Moments vor wie Judas.

Sogar jetzt machte sich L noch über ihn lustig, dachte er grimmig und amüsiert zugleich. Doch war es das wirklich, was dieser ihm zeigen wollte? Sie fühlten beide, dass es innerhalb kürzester Zeit vorbei sein konnte. L schien keine Furcht, sondern allenfalls Bedauern darüber zu empfinden. In seiner melancholischen Gelassenheit, als sähe er dem Tod ohne Angst entgegen, wirkte er trotz Haltung und Position unbestreitbar erhaben. Er wirkte erwachsen, aber gleichzeitig auch so erschreckend jung und verletzlich. Gerade jetzt besaß er eine ganz eigene Art von faszinierender Anziehungskraft. Light wandte unruhig den Kopf zur Seite. Gerade jetzt wollte er L mehr als jemals zuvor.

Dann durchbrach dessen tonlose Stimme erneut die Stille zwischen ihnen.

„So einsam... bald getrennt voneinander zu sein.“

Nicht verstehend schaute Light seinem Freund offen und direkt in die Augen. L betrachtete das hübsche, fast schuldlose Gesicht. Light vermittelte einen Eindruck von Unbescholtenheit, als würde er nicht begreifen, was ihm gerade gesagt worden war. Das Licht tränkte sein Haar in goldbraune Farbe, sodass es aussah, als umgäbe sein Haupt ein Heiligenschein. In diesem Augenblick, so fiel L mit schmerzlichem Erstaunen auf, sah Light wirklich aus wie ein Gott.

Das Mobiltelefon klingelte. Nach einem kurzen, zögerlichen Innehalten stand L auf und holte das Gerät aus seiner Hosentasche.

„Ja?“

Auch Light erhob sich. Misstrauisch begutachtete er Ls gekrümmten Rücken, wobei er sich darauf konzentrierte, etwas von der Unterhaltung mitzubekommen, die jener wahrscheinlich mit Watari führte.

„Verstanden“, beendete der Detektiv das Telefonat knapp und legte auf. „Lass uns gehen, Light-kun.“

Unheilvolle, euphorisierende Panik strömte über Lights Nacken, erfüllte jeden Winkel seines Inneren. Sollte es jetzt ein Ende finden? Würde es gleich für immer vorbei sein? Wollte er das wirklich akzeptieren? Wie in Trance folgte Light seinem Freund. Seinem Feind. Seinem...

Durcheinander schüttelte er den Kopf, trat hinter L in den Fahrstuhl und hatte, ohne sich darüber richtig im Klaren zu sein, dessen Handgelenk bereits umschlossen, bevor dieser den Knopf für die Etage betätigen konnte, auf welcher sich der Hauptüberwachungsraum befand.

„Warte“, hörte Light sich sagen. Seine Augen suchten blindlings nach Ls glanzlosen Pupillen. In beidseitigem Erschrecken hielten sie einander mit den Blicken fest, wandten sich nicht ab, ließen sich nicht los.


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die einzige Aussage, die Ryuk in diesem Kapitel von sich gibt, stammt aus dem Johannesevangelium, Vers 13, Absatz 31-35.
2. Inspiriert haben mich während des Schreibens unter anderem „Nur ein Tag“ von Zeraphine, „Die Löcher in der Menge“ von ASP und „Falls Apart“ von Hurt. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  -BloodyCross-
2013-08-29T20:14:11+00:00 29.08.2013 22:14
Oh man... Ich liebe deinen Schreibstil noch immer ;A;
I-wie... Was jetzt droht... Mein armes Fangirl-Herz *lach* Man fiebert richtig mit... Ich finde es toll, dass du dich so an die Fakten hältst und ach...trotzdem würde ich mir ein anderes Ende wünschen... *sfz* Da hofft man einmal, aber dann wird es wahrscheinlich trotzdem tragisch enden... Ein großes Lob... Ich bewundere dich wirklich :3 Du schaffst es Emotionen in mir hervorzurufen mit den Worten die hier stehen... Einfach toll :3
Von:  DarkAngel_91
2013-08-26T08:58:47+00:00 26.08.2013 10:58
Wow... Du kannst so gut schreiben... Besonders gut gefallen hat mir das Kapitel, als sich L vor Light versteckt hat und Light verrückt zu werden drohte, bzw. sich seine Verrücktheit aufgrund seiner Einsamkeit überhaupt erst zeigte... Ich habe während dieses Kapitels an meinem eigenen Verstand gezweifelt, alles bisherige in Zweifel gezogen und kurz geglaubt, L sei tatsächlich schon lange tot und Light (und der Leser
Antwort von:  DarkAngel_91
26.08.2013 11:21
Ja, das passiert wenn man vom Handy aus einen Kommentar schreiben will *grins*
... (und der Leser) haben sich L und alles drum herum nur eingebildet... Einfach unglaublich, ich will mehr davon lesen! Ich fürchte jedoch, dass es nun bald zu einem Ende kommt, einerseits freue ich mich darüber, zu erfahren, wie es ausgeht, andererseits fühle ich mich am Ende einer Geschichte immer so leer, weil ich weiß, dass danach nichts mehr kommt... Mir ist nicht so recht bewusst, wie ich es finden soll, dass L wohl offenbar doch stirbt und es kein Happy End geben wird. Einerseits fände ich es passend, da du den Anime/Manga trotz allem treu bleibst. Andererseits bin ich eine hoffnungslose Romantikerin und hoffe dennoch darauf, dass sich die Geschichte noch drehen wird und doch irgendwie alles gut wird und die beiden zueinander finden, und das nicht nur für eine Nacht. Aber vermutlich willst du das jetzt noch gar nicht wissen, sondern erst, wenn es so weit ist... Trotzdem, ich habe mir gestern Abend beim Einschlafen bzw. kurz davor mal wieder 1.000 verschiedene Möglichkeiten überlegt, wie das ausgehen könnte >.<

Ich kenne zwar die meisten deiner Zitate, Anspielungen und Metaphern nicht, aber Der Herr der Fliegen kenne ich! Ich fand die Verbindung sehr gelungen und es hat wieder das Gefühl hochbeschworen, dass ich damals beim Anschauen des Filmes und Lesen des Buches hatte: Schockiertheit, Angst, Unverständnis, Hilflosigkeit. Vermutlich noch viel mehr, was ich nicht in Worte zu fassen vermag... Es passte so gut auf die Situation...

Eine Frage brennt mir immer mehr auf den Lippen: kannst du Japanisch? Warst du schonmal in Japan (ziemlich sicher 'ja', du kennst dich sehr gut aus) und wenn ja, wie oft und wie lange?

Liebe Grüße,
Deine treue Leserin


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