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Leviathan

Leviathan

 

Stumm harrte die Todesgöttin in einer düsteren Ecke des Raumes aus. Sie vernahm mit wenig Interesse die Auseinandersetzung der beiden Gegner, eines von vielen Streitgesprächen unter den etlichen Diskussionen und Unterhaltungen, die sie immer und immer wieder führten. Was hatten die Menschen nur davon, permanent im Konflikt miteinander zu stehen? Die Anspannung zwischen jenen zwei hier anwesenden Kontrahenten war ständig greifbar, zumindest seitdem Rem den Situationen beiwohnte. Sicher war es davor nicht anders gewesen. Wie hielten sie das nur aus? War es nicht ermüdend? Zermürbend?

Rem war nicht mehr gewillt, an den komplizierten Gefechten zwischen L und Kira teilzuhaben. Sie mochte keinen von beiden. Yagami Light hasste sie mittlerweile sogar. Misa hingegen war so erfrischend ehrlich. Ihre Liebe war echt und nicht von Hass verfälscht.

Als die Todesgöttin durch die Wand in ein Nebenzimmer glitt, blieb ihre Abwesenheit vollkommen unbemerkt, denn keiner der beiden achtete auf ihr Verschwinden. L und Light waren zu sehr voneinander vereinnahmt. Ungebrochen sahen sie sich herausfordernd in die Augen, der Meisterdetektiv vorgebeugt und auf die Stuhllehnen rechts und links von seinem Partner gestützt. Nach einer Weile richtete er sich jedoch auf und reagierte mit einiger Verzögerung auf Lights vorige Aussage.

„Vielleicht.“ L ging zwei Schritte rückwärts und schob die Hände erneut in seine Hosentaschen. „Aber das sollte jeder selbst entscheiden dürfen.“

„Du kannst niemanden selbst entscheiden lassen“, widersprach Light. Er blieb zurückgelehnt sitzen, mit verschränkten Armen und einem ernsten Gesichtsausdruck, den er nun ganz offen zeigte. „Sonst würden wir in einer Anarchie leben. Wir brauchen Gesetze und ein Justizwesen und Menschen, die entscheiden, was mit einem Verbrecher geschieht. Unsere Anwälte versuchen zwar die Hintergründe in einer Art zu vermitteln, dass mildernde Umstände durchaus in Betracht gezogen werden können, aber Ungerechtigkeit ist keine Farce oder Illusion, sondern ein Teil der menschlichen Geschichte und Persönlichkeit. Verbrecher werden zu Recht verurteilt, in manchen Ländern, wie bei uns hier in Japan, sogar zum Tode. Wenn unser System so entscheidet, muss ein Verbrecher sich fügen. Er kann ohnehin nicht entkommen. Und auch diese Entscheidung wäre dann vom Menschen gemacht und ist fehlbar.“

„Inwiefern ist Gewaltanwendung für die Gerechtigkeit denn zu billigen? Die Maxime, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist sicherlich eine mögliche Form davon, allerdings...“ L wandte den Kopf zur Seite, in Richtung der Front aus zahlreichen Monitoren. In ihrem künstlichen Licht, das in die Dunkelheit geworfen wurde, wirkte seine ganze Gestalt noch farbloser als sonst. „Wie ich bereits sagte, dann müsste Kira einen tausendfachen Tod sterben. Die Begriffe von Recht, Gerechtigkeit, Urteil und Strafe sind im Wesentlichen miteinander verknüpft, doch beinhalten sie mitunter sehr differierende, sogar gegensätzliche Bedeutungen. In den seltensten Fällen entsteht die Gültigsprechung eines Rechtsverhalts aus voriger Überlegung und Präjudiz, sondern eher aus Reflexion und Konvaleszenz.“ Schweigend lauschte Light den Worten des Meisterdetektivs, die wie zumeist vom surrenden Geräusch der Computerprozessoren aus dem Hintergrund begleitet wurden. Manchmal redete L so verworren und konfus, dass selbst Light daran zweifelte, ob das Gesagte überhaupt Sinn ergab. Häufiger jedoch war alles, was er äußerte, klar strukturiert und gut verständlich, solange man in der Lage war, ihm zu folgen. Mehr noch als Inhalt und Deutlichkeit seiner Worte mochte Light allerdings den ruhigen Klang von Ls tonloser Stimme.

Seinerseits auf den Detektiv fixiert, wie es jener wenige Minuten zuvor noch umgekehrt auf ihn war, gab Light zur Antwort:

„Ob man einen Verbrecher mit dem Tode bestraft und ob es richtig ist, das zu tun, wird durch den Staat entschieden, der diese Art der Strafe billigt. Hast du nicht selbst gesagt, du wolltest Kira zum Schafott geleiten, Ryuzaki?“

„Ja, in der Tat, das habe ich gesagt.“ L zog eine Hand aus der Hosentasche und legte nachdenklich einen Finger an die Lippen, während er hinab auf einen der Computerbildschirme starrte, als wäre dort mehr zu sehen als jene aus den Nachrichten und der NPA-Datenbank zusammengestellte Liste aller bisher verschonten Verbrecher. Unbewusst heftete Light seinen Blick auf den Daumen, mit dem sich L gedankenversunken über die Unterlippe strich. „Erinnerst du dich auch daran, was ich dir geantwortet habe, als du mich vor einigen Wochen darauf angesprochen hast? Du meintest damals, dass dich mein Vorgehen ziemlich beeindruckt hätte.“

Light entsann sich genau. Er hatte dies seinem Partner zugestanden, weil er zu dem Zeitpunkt nicht wusste, dass er durch die genannte Ankündigung und Bloßstellung bei jener lange zurückliegenden Fernsehübertragung mehr gedemütigt worden war als jemals zuvor. Und das von einem Menschen, den er damals noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte, geschweige denn persönlich kannte.

„Ich erinnere mich“, offenbarte Light in ruhigem Ton. „Provokation. Mehr hast du dazu nicht gesagt.“

„Erstaunlich, dass dir das so gut im Gedächtnis geblieben ist.“

„Wieso sollte es nicht?“ Light senkte irritiert die Brauen. „Deine Strategie in diesem Fall war von Beginn an provokativ, wahrscheinlich weil du Kira zum Agieren bewegen wolltest, um ihn aufspüren zu können.“

„Das stimmt“, gestand L geistesabwesend, den eindringlichen Blick seines Partners nicht bemerkend. „Das habe ich gerade eben aber nicht gemeint. Ich wollte nicht auf meine Antwort dir gegenüber ansprechen, sondern auf meine Wortwahl bei der damaligen Fernsehübertragung.“ L wirkte in sich gekehrt, als er sich nun über die trockenen Lippen leckte und mit der Hand nachdenklich durch sein dichtes, schwarzes Haar fuhr. Light zwang sich, zur Seite zu schauen, spähte jedoch kurz darauf erneut in das Gesicht des anderen Mannes, betrachtete die Linie seines Kinns, den Hals, die leichte Erhebung des Kehlkopfs und Ls Schlüsselbein, welches unter dem Kragen des weißen Oberteils verschwand und nur noch sacht als Schatten zu erkennen war. Sich abwendend griff Light nach seiner Kaffeetasse, um einen Schluck daraus zu trinken, bevor er sie wieder vorsichtig abstellte. „Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis ich dich zum Schafott geleiten darf.“ Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, als L aus dem Augenwinkel zu ihm hinüberschaute. „So habe ich Kira damals provoziert und daran konntest du dich noch gut erinnern, Light-kun.“

„Wie gesagt“, gab dieser leise, unterschwellig sogar auf bedrohliche Art zurück, „das hat wohl ziemlich Eindruck bei mir hinterlassen.“

„Wirklich?“, fragte L monoton, ohne dass es nach einer ernst gemeinten Frage klang, nicht einmal so, als hätte er die Worte des Anderen tatsächlich vernommen. Er senkte die Hand und berührte mit den Fingerspitzen die Tischplatte vor dem Computerbildschirm, welchen er nun erneut versunken anstarrte. Light folgte jener Bewegung mit den Augen. Die Ärmel von Ls Oberteil waren relativ knapp bemessen, sodass außer der sehnigen Hand mit den langen Fingern auch sein dünnes Handgelenk und bis zum Saum die helle Haut des restlichen Armes zu sehen war. „Über alles Folgende mache ich mir keine großen Gedanken, Light-kun. Wenn ich an einem Fall arbeite, will ich ihn erfolgreich beenden, indem ich den Täter dingfest mache. Es ist nicht meine Aufgabe, ihn zu bestrafen. Und eigentlich interessiert mich das auch gar nicht, weil es mir nur darauf ankommt, das Problem zu lösen.“ Während er L zuhörte, ließ Light seinen Blick dessen Arm hinauf wandern, über die knochigen Schultern und entlang an den Stofffalten seiner viel zu weiten Kleidung, die den schlanken, drahtigen Körper nur erahnen ließ, der sich darunter verbarg. Light schaute zu Boden, nahm dann seine Kaffeetasse erneut auf und nippte daran, während er sich auf Ls Worte zu konzentrieren versuchte. „Es liegt keineswegs an Skrupeln oder falschem Mitgefühl, falls du das denkst, Light-kun, sondern allenfalls an einer ethischen Analyse meinerseits. Ich halte die Todesstrafe nämlich nicht für eine Bestrafung im eigentlichen Sinne. Schließlich soll eine Strafe bewirken, dass sich das Verhalten einer Person ändert. Der Tod raubt dem Menschen jedoch all seine Möglichkeiten, jede Chance zur Besserung. Wieso sollte jemand darüber urteilen dürfen, was Verbrecher empfinden, ob sie vielleicht ihre Taten bereuen oder ob sie einen guten Grund dafür hatten? Meines Erachtens ist das keine Strafe, sondern Rache und Selbstherrlichkeit.“

Light suchte eine vielleicht weit tiefergehende Bedeutung hinter Ls Worten, fand jedoch nur die Unergründlichkeit seiner pechschwarzen Augen. Die darunter liegenden dunklen Schatten zeugten von Müdigkeit, nichtsdestotrotz verminderten sie die Ausstrahlung des Meisterdetektivs in keiner Weise. Ungewollt erinnerte sich Light daran, wie dünn und weich sich Ls Haut an dieser Stelle angefühlt hatte. Er räusperte sich, stellte mit Sorgfalt seine Tasse neben der Tastatur ab und erwiderte dann bedacht:

„Nein, es geht nicht um Bestrafung, sondern um den Druck auf die allgegenwärtige Präsenz von verbrecherischem Potenzial. Kein kluger Mensch straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit in Zukunft nicht gefehlt werde.“

Eine Pause verstrich, bis L eine Vermutung äußerte, die er schon seit längerem hegte, noch immer ohne seinen Hauptverdächtigen dabei anzusehen.

„Kira versteht es als Notwendigkeit, einen Gott zu mimen, weil die Menschen einen Führer oder Gott haben wollen. Es war für ihn von höchster Bedeutung, dass man seine Anwesenheit bemerkte. Wahrscheinlich hat er deshalb, obwohl ihm mit dem Death Note zahllose, unauffälligere Varianten des Tötens zur Verfügung standen, die Verbrecher größtenteils durch Herzversagen sterben lassen, um ein Zeichen zu setzen und auf sein Tun aufmerksam zu machen.“ In Lights Innerem verbreitete sich Aufregung, eine Gänsehaut jagte über seinen Nacken, als er vernahm, wie präzise L seine Gedanken erriet. „Stillschweigende Urteilsvollstreckungen hätten keinen Nutzen besessen. Hingegen fungieren die Morde, durch das Wissen um einen vermeintlichen Gott, als zu erwartende Sanktion. Kira benutzt seine eigene Identität, die Bedrohung durch einen Massenmörder, als prophylaktische Maßnahme.“

„Wenn man dich so reden hört“, meinte Light mit einem atemlosen Lächeln und um Fassung bemüht, „könnte man meinen, du wärst auf seiner Seite.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Light-kun.“ Ls Stimme klang gleichgültig, doch sein Freund kannte ihn zu gut, um nicht die Ironie darin herauszuhören. „Kira achtet zwar sehr genau darauf, gerecht zu handeln und nur diejenigen zu töten, die es verdient haben, aber wenn etwas oder vielmehr jemand seinen Plan gefährdet, kann er auch ziemlich erbarmungslos sein.“

„So wie L“, rutschte es Light heraus. Er sah, wie der Detektiv jetzt, ohne dass er den starren Blick von den Verbrechernamen auf dem Computer abwandte, ganz leicht und bitter lächelte. Dieser Gesichtsausdruck verwirrte Light. Warum wirkte L so, als plagte ihn ein Schmerz, gegen den er nichts ausrichten konnte? Light betrachtete das nur dem Anschein nach emotionslose Gesicht des Detektivs. L wirkte so blass, seine gekrümmte Gestalt so erschöpft, dass Light für einen kurzen Moment den absurden Wunsch verspürte, aufzustehen und seinen Freund festzuhalten, damit er nicht fallen konnte. Zum wiederholten Mal langte Light nach der Kaffeetasse, obwohl er wusste, dass sie längst leer war. Zu seinem eigenen Erstaunen versuchte er mit seinen folgenden Worten L aufzumuntern. „Obwohl es manchmal gegen meine Moral verstoßen hat, haben uns deine unkonventionellen, meinetwegen auch erbarmungslosen Methoden oft vorangebracht. Sonst hätten wir vielleicht gar nichts erreicht, die Opferzahl hätte am Ende sogar noch höher ausfallen können. Selbst ich kann das nicht leugnen, Ryuzaki.“

„Der Zweck heiligt also doch die Mittel?“

Light fragte sich, ob er in eine Falle getappt war. Trotzdem erwiderte er:

„Wovon die Bürger eines Staates gelenkt werden, das ist das Kollektiv. Jeder ist nur ein Teil der verschiedenen Instanzen, so wie L zum Beispiel ein Teil der Gerechtigkeit ist, selbst wenn diese Instanz von einer Einzelperson verkörpert wird. Im Kollektiv entfällt die individuelle Einstellung, also auch die Frage nach dem fehlenden Mitleid eines Einzelnen. Kennt denn der Frost des Winters Erbarmen oder die Schwerkraft? Natur und Leben treten immer als Richter auf, doch sie wurden bisher noch nicht verurteilt. Genauso sagt man, Gottes Wege seien unergründlich und niemand soll in diesem Fall und im Glauben an das Gute von Ungerechtigkeit sprechen dürfen. In der Gesellschaft gleicht der Wille des Volkes einer Naturgewalt. Auf sich allein gestellt sind Menschen viel zu egoistisch, um sich nicht gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.“

Schmunzelnd schüttelte L den Kopf, legte ihn dann schief und erwiderte endlich den Blickkontakt, womit er das unangenehm intensive Kribbeln in Light weiter verstärkte.

„Egoismus kommt demnach vor der Nächstenliebe, nicht wahr, Light-kun? Wie heißt es so schön? Erst das Fressen, dann die Moral. Aber meinst du denn, dass eine Welt, die auf Angst basiert, besser ist als eine, die auf das zwar fehlbare, jedoch vertrauensvolle Mitleid der Menschen baut?“

„Gerade du redest von Vertrauen?!“ Light war aufgestanden, knallte dabei seine Tasse viel lauter auf den Tisch als gewollt und begegnete auf gleicher Höhe seinem Feind oder Freund oder was auch immer L für ihn war. „Gerade du mit deiner Vorsicht und Distanz, zurückgezogen hinter deinen persönlichen Grenzwall, weil du genau weißt, dass unsere menschliche Gesellschaft ein Schlachtfeld ist, auf dem nur der Stärkere gewinnt und die Schwächeren untergehen!“ Erstaunt starrte ihn L mit weit aufgerissenen Augen an, doch Light vergaß völlig, seinen Worten rechtzeitig Einhalt zu gebieten. „Du weißt doch genau, dass ich Recht habe! Wir Menschen befinden uns in einem ständigen Kriegszustand. Jeder ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht und wird von Angst, Misstrauen, der Gier nach Ruhm und der gegenseitigen Konkurrenz getrieben. Alles andere wäre bloß Selbstbetrug. Man kann nicht an den Verstand oder das Mitleid der Menschen appellieren. Die Angst muss alle anderen Gefühle überragen, um wahres Glück zu erlangen. Die Angst vor Sanktionen, vor der ungewissen Bestrafung treibt den Menschen dazu, nicht ausschließlich nach seinem eigenen Vorteil zu handeln. Er hält sich an Regeln und seine vermeintliche Moral. Die Vernunft sagt uns letztendlich, dass ein Zusammenleben klüger ist. Den Rest erledigen gutmütige Gefühle, die heutzutage nur noch wenige schwache Menschen in ihrem Inneren tragen. Das sind diejenigen, die immer den Kürzeren ziehen, die von der Gesellschaft wegen fehlender Skrupellosigkeit ausgeschlossen werden, und diese Menschen muss man beschützen vor der Ungerechtigkeit, die sich immer mehr überall Bahn bricht. Was ist Staatenbildung denn anderes als Gewalt und bloße Willkür? Kira hat das Kind nur beim Namen genannt.“

Lights übliche kühle Beherrschung hatte sich im Laufe seines Redeschwalls in ein seltsames Gemisch aus Zorn, Euphorie und Verzweiflung verwandelt. Jedoch wich die Eindringlichkeit seiner Rede nun, da er seine Worte zu einem Abschluss brachte, einem kaum wahrnehmbaren Erschrecken darüber, wie viel er soeben von sich preisgegeben hatte.

Derweil beobachtete ihn L voller Faszination und begeisterter Neugier. Jetzt zeigte sich auf seinen Lippen ein kleines Lächeln, während er einen Finger an den Mund legte und sagte:

„Willkommen zurück, Mr. Hyde.“

Lights Herz raste. Warum war das plötzlich geschehen? L hatte ihn doch gar nicht derart stark provoziert, dass es einen solchen Ausbruch gerechtfertigt hätte. Oder etwa doch?

„Du hast so oft von mir gefordert, mich in die Rolle von Kira hineinzuversetzen“, hörte Light sich mechanisch erklären. Er schüttelte dazu entschuldigend den Kopf und lächelte schwach. „Ich versuche nur, dir zu helfen, Ryuzaki.“ Light hatte selten eine so bescheuerte Begründung aus seinem eigenen Mund gehört. Ob L ihm das wohl abkaufte? „Ich glaube, ich bin wahrscheinlich einfach müde“, fügte er hinzu und wich jenen durchdringenden schwarzen Augen aus. „Am besten, ich mache für heute Schluss mit der Arbeit.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Es ist ja auch schon spät. Du solltest ebenfalls nicht mehr so lange wach bleiben, Ryuzaki.“ Eigentlich wusste Light gar nicht, wie spät es war, weil ihm die Zeigerstellung auf dem Ziffernblatt irgendwie unverständlich vorkam.

Nur ein letztes Mal noch an diesem Abend. Nur ein paar Sekunden musste er es noch durchstehen und die Nähe zu L aushalten. Light überwand sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Und obwohl es ihm die Kehle zuschnürte und in seinem Inneren Tumult herrschte, setzte er eine gleichmütige, freundliche Miene auf und verabschiedete sich.

„Wir sehen uns dann morgen.“

Damit wandte er sich um und verließ mit ruhigen Schritten den Raum. Er bekam nicht mit, dass L hinter ihm leise sagte:

„Lauf ruhig weg, Light.“

 

Er musste sich entziehen, brauchte Abstand von dieser verdammten, aufdringlichen Person mit dem schwarzen Haar und der blassen Haut. Bedächtig zog Light die Sicherheitskarte durch den Schlitz der Entriegelung. Daraufhin erklang jener bekannte Signalton. Er öffnete die Tür, trat hindurch und schloss sie geruhsam hinter sich.

Endlich war er wieder in seinem Zimmer. Endlich war er wieder allein.

Ein paar Schritte ging Light in den Raum hinein, dann blieb er in dessen Mitte stehen. Zwanghaft versuchte er seine Atmung zu beruhigen, tief und langsam ein- und auszuatmen. Die Knöchel seiner Hände schmerzten, weil er sie zu Fäusten geballt hatte. Er hob sie an, um sie betrachten zu können, und bemerkte auf den Innenflächen die Abdrücke von Fingernägeln. Seine Hände zitterten noch immer.

Hinter ihm ertönte das grelle Signal der Türentriegelung. Vor Entsetzen straffte sich Lights Rücken, seine Augen weiteten sich, sein Atem stockte, doch drehte er sich nicht um.

„Light-kun, eines wollte ich noch gern wissen.“

„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht einfach in mein Zimmer kommen“, raunte jener unheilvoll und merkte gleichzeitig, dass er wie ein Kind klang. Warum konnte ihn dieser Bastard nicht einfach in Ruhe lassen?

„Erinnerst du dich daran, was du vor mehreren Wochen zu mir gesagt hast?“, überging L den Protest ungerührt. „Wer nicht lügen kann, weiß nicht, was Wahrheit ist.“

Light öffnete den Mund, um langsam und geräuschlos Luft holen zu können. Durch die Unterdrückung seiner Atmung pochte sein Herz schmerzhaft hektisch gegen seine Rippen wie ein eingesperrter Vogel. Er schloss kurz die Augen, versuchte vergeblich die Anspannung seines Körpers zu lösen und drehte sich dann genervt herum.

„Ja, was ist denn damit? Ryuzaki, müssen wir das wirklich jetzt noch besprechen?“

„Ich wollte dich nur darauf hinweisen“, erklärte L gelassen und schob seine Sicherheitskarte zurück in die Hosentasche, „dass das auch im Umkehrschluss zutrifft.“ Nervös beobachtete Light, wie sich die Fingerspitzen des Anderen ganz sacht auf das Material der Tür legten und diese allmählich von innen zudrückten, bis sie mit einem verhaltenen Klacken im Schloss einrastete. „Wer die Wahrheit nicht kennt, Light-kun, der kann auch nicht lügen.“

„Es reicht“, hörte sich Light sagen. L wusste es, wusste es ganz bestimmt. Er war durch seine Kombinationsgabe und die tausend verräterischen Anzeichen seines Hauptverdächtigen darauf gestoßen, dass dieser seine Erinnerungen verloren haben musste. Und er wusste mit Sicherheit auch, dass Light heute wieder wie damals derjenige war, für den er ihn von Anfang an hielt. „Ich weiß, worauf du hinauswillst, Ryuzaki.“

Mit gesenktem Kopf starrte Light den Meisterdetektiv bedrohlich aus seinen braunen Augen an und setzte sich in Bewegung, bevor er sich zu Besonnenheit ermahnen und davon abhalten konnte. Er sah die Überraschung in den sonst tot erscheinenden Augen, während er L an den Schultern packte und zurückdrängte. Jener gab einen kurzen Laut des Schmerzes von sich, als er rückwärts gegen die Kommode gestoßen wurde, an deren Kanten er sich reflexartig festhielt. L beugte sich nach hinten, dennoch kam Light ihm gefährlich nahe, hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest und sagte ihm mit kalter Stimme direkt ins Gesicht:

„Ja, ich bin Kira.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der Titel und einige Inhalte des Kapitels verweisen auf Thomas Hobbes.
2. Seneca formulierte die Aussage und bezog sich damit auf Platon, dass niemand klug strafen würde, weil eine Verfehlung geschehen sei, sondern damit in Zukunft keine weitere geschehe.
3. Erst das Fressen, dann die Moral, meinte Bertolt Brecht.
4. Ls Redensart gegen Ende beruht auf dem Werk „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson. Komplett anzeigen

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