[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 38: Nostalgie und Widerwille ------------------------------------ Nostalgie und Widerwille   Menschen sind dumme Wesen, die ihr wahres Ich nicht offen zeigen. In der menschlichen Gesellschaft gibt es nur sehr wenige, die einander wirklich vertrauen. Light saß, obwohl es eigentlich zu früh und draußen noch relativ dunkel war, vollständig angezogen auf dem Bett in seinem grell erleuchteten Zimmer. Er hatte es mittlerweile geschafft, seine Empfindungen zu betäuben, Beherrschung und Selbstdisziplin zurückzuerlangen. Sein kaltes Herz war wieder stumm. Die Anzeige des Digitalweckers auf dem Nachttisch zeigte das heutige Datum an, den ersten November. Nachdenklich wendete Light die elektronische Sicherheitskarte in seinen Händen herum. Es war nicht seine eigene, sondern die Karte zu dem Zimmer, welches er vorher bewohnt hatte. Das Zimmer, in dem sich jetzt nur noch L befand. Funktionierte diese Karte überhaupt noch? Konnte es nicht sein, dass der Detektiv sie hatte sperren lassen? Hatte er seinem Hauptverdächtigen nur deshalb zugestanden, sie zu behalten? Andererseits war es unsinnig, ihm den Zutritt zu verwehren. Light konnte schließlich schlecht hinüberspazieren und L im Schlaf erwürgen, auch wenn er die Vorstellung zuweilen ganz verlockend fand. Er fragte sich, was das alles bedeuten sollte. War diese Karte etwa ein Vertrauensbeweis? Genervt atmete er aus und ließ sich zurück auf das Bett fallen. Eine Weile blieb er reglos liegen, starrte an die Decke und schließlich zu der glasartigen Halbkugel, hinter der sich, wie in allen anderen Räumen auch, eine Überwachungskamera befand. Ob sie eingeschaltet war oder nicht, konnte Light nur vermuten. Korrekterweise hatte L dazu gar keine Befugnis mehr, allerdings scherte er sich sowieso nie um die Einhaltung von Richtlinien oder Abmachungen. Es war kein Wunder, dass man zu ihm kein Vertrauen fassen konnte. Genau diesen Umstand hatte Light damals schließlich genutzt, um einen Keil zwischen den Meisterdetektiv und die Polizei zu treiben. Auf der einen Seite konnte man ohnehin niemandem vertrauen, von dem man weder das Gesicht noch den Namen kannte, sodass es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis man von L eine Enthüllung verlangte. Damit wurde auch für Light die erste Möglichkeit geboten, an seinen Gegner heranzukommen. Auf der anderen Seite musste L wohl oder übel damit beginnen, die Beamten und deren Familien unbemerkt durch das FBI beschatten zu lassen, weil Kira durch seine Reaktion, das geänderte Tötungsmuster, absichtlich jenes bereits präsente Misstrauen geschürt hatte. Indem er die Verbrecher exakt im stündlichen Abstand hatte sterben lassen, machte er L deutlich, dass er seine Morde beliebig lenken konnte. Es ging Light zu dieser Zeit jedoch nicht in erster Linie darum, die Theorie, Kira sei ein normaler Schüler, ad absurdum zu führen. Vielmehr wollte er L offensiv zeigen, dass er bestens über den Stand der Ermittlungen Bescheid wusste. Und damit rückte er sich selbst in die Schusslinie. Ein Lächeln huschte über Lights Lippen, als er sich jetzt ins Gedächtnis rief, wie diese ganze Geschichte ihren Anfang genommen hatte. Rein theoretisch hätte er sich damals auch unauffällig verhalten können, dann wäre ihm der Meisterdetektiv womöglich sogar nie auf die Schliche gekommen. Allerdings hätte in diesem Fall auch Light keinen einzigen Schritt näher an L herantreten können. Mit Sicherheit wollte dieser ihn damals, bei ihrer im Fernsehen ausgestrahlten, ersten öffentlichen Auseinandersetzung, genau aus diesem Grund provozieren. Nach einer solchen Demütigung und Kriegserklärung konnte und wollte sich Light diesem Kampf nicht mehr entziehen. Wie weit hatte er bis zum jetzigen Zeitpunkt schon gehen müssen? Die langweilige Gleichförmigkeit der vorüberziehenden Tage hatte sich in das komplette Gegenteil verkehrt. Was brachte es, das alles Revue passieren zu lassen, sich immer wieder bewusst zu machen, dass nicht das Death Note, sondern die Bekanntschaft mit L in jeder Hinsicht der Eintönigkeit und Leere ein Ende gesetzt hatte? Würde es überhaupt noch aufregend sein, wenn L besiegt war? Konnte es nicht sein, dass dies alles, wenn L nicht mehr da war, seinen Reiz verlor? Es kam Light so vor, als würden sich die Gedanken in seinem überfüllten Kopf unentwegt im Kreis drehen. Zu viel war passiert. Viel zu viel. Er entsann sich, dass in seiner Schulzeit das Erscheinen von Kira zum häufigsten Gesprächsthema im Klassenzimmer geworden war. Jeder zerriss sich das Maul darüber. Light erinnerte sich an das Gerede zweier seiner Mitschüler, mit denen er damals oft nach Hause gegangen war. Lachend hatte er sich den Unterhaltungen angeschlossen und mit ihnen spekuliert und gefachsimpelt, obwohl es ihm eigentlich auf die Nerven ging. Es war einfach nur ermüdend. Unglaublicherweise war das alles schon fast ein Jahr her. Jetzt konnte er sich nicht einmal mehr an die Namen der beiden Mitschüler erinnern, obwohl er mit ihnen viel unternommen und sie pro forma als Freunde bezeichnet hatte. Light hob eine Hand, um sein Gesicht vor dem grellen Licht der Deckenstrahler abzuschirmen, während er die Zeichen und Zahlen auf der Sicherheitskarte in seiner anderen Hand betrachtete. In der Schule, in der Universität, bei der Arbeit seines Vaters, überall war Light schon immer beliebt gewesen. Doch wenn er ehrlich war, hatte er keinerlei Freunde, die ihm mehr bedeuteten als jeder andere auch. Alle waren sie gleich. Sie langweilten ihn bloß und waren so unendlich leicht zu blenden und zu manipulieren, so vorausschaubar und stupide. Die Menschen heuchelten Mitgefühl, dabei wollten sie sich eigentlich nur selbst inszenieren. Aus den Brettern der Gesellschaft hatten sie eine Bühne erbaut, auf der jeder herumstolzieren konnte, um sich dafür bewundern zu lassen, wie gut er seine Rolle spielte. Wer beim Publikum nicht ankam, wurde belächelt oder kritisiert, von der Bühne heruntergestoßen und ausgeschlossen. Diese armen Existenzen verweilten irgendwo am Rande der Gemeinschaft, freiwillig zurückgezogen hinter die Mauern ihrer eigenen Wohnungen oder weggesperrt in Einrichtungen, die man extra für solche Unbelehrbaren eingerichtet hatte, damit sie von den normalen Menschen ferngehalten wurden und diese nicht mit ihrer unpassenden Art belästigten. Light wusste, wie das Spiel lief, wie man sich am besten integrierte und durch das richtige Erscheinungsbild, die richtige Ausstrahlung auf seine Umgebung die entsprechende Anziehungskraft ausübte. All jene weniger charismatischen Personen in seinem Umfeld fühlten sich von ihm angezogen, umschwärmten ihn wie Motten das Licht. Sie liebten ihn für das Bild, das er ihnen zeigte, nicht für das, was dahinter lag. Sie würden niemals das lieben, was er wirklich war. L war anders. L ließ sich nicht von seinem perfekten Auftreten täuschen, war dafür viel zu clever, viel zu interessant. Er kümmerte sich nicht darum, was andere von ihm dachten. Und diese Idioten, die jenes nach außen gekehrte Lügengespinst von Light bewunderten, spotteten gleichzeitig über die Erscheinung, die L ihnen bot. Dabei war ihnen nicht bewusst, dass dieser sie mühelos durchschaute. In wenigen Sekunden hatte er sie analysiert, katalogisiert und als unbedeutend abgeheftet. Es war offensichtlich, wie schnell L das Interesse an jemandem verlor. Demgemäß nahm der Meisterdetektiv nur Kriminalfälle an, die ihm spannend genug erschienen. Er konnte sich mit überschwänglicher Begeisterung auf die Sezierung eines Täterprofils stürzen. Doch sobald er das Problem gelöst hatte, wurde es für ihn wieder uninteressant. Seit dem Aufeinandertreffen mit Kira hatte sich das geändert. L war keine andere Wahl geblieben, als sich in den letzten Monaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, all seinen Kräften und nicht zuletzt seiner eigenen, als Köder fungierenden Person nur auf diesen Fall zu konzentrieren. Zermürbt von den eigenen Überlegungen, Erinnerungen und Fragen drehte sich Light auf die Seite, nach wie vor fixiert auf die Sicherheitskarte in seiner Hand. Er wollte, dass der scharfe Verstand des Meisterdetektivs an nichts anderes mehr dachte, nur an Kira und den Kampf gegen ihn, ihre feindliche und freundschaftliche Auseinandersetzung, ständig aufs Neue beidseitig überrascht von den vielen übereinstimmenden Gedanken und trotzdem fasziniert vom Unterschied ihrer Persönlichkeit. Sein Gegner und Mitstreiter sollte an keinen anderen Menschen mehr denken können. L sollte es genauso ergehen wie ihm selbst.   Der gewohnte Signalton begleitete das Öffnen der Tür. Blassgraues Morgenlicht fiel schwach in den Raum. Nicht länger zögernd trat Light ein und schloss die Tür leise hinter sich. Sie funktionierte wirklich noch. Die Sicherheitskarte funktionierte. Dennoch hatte er nicht erwartet, den Detektiv schlafend vorzufinden. Ohne das Licht anzuschalten, ging Light beinahe lautlos auf Socken durch das Zimmer hinüber zum Bett, obwohl er sich keine besondere Mühe gab, nicht gehört zu werden. L war sicher trotzdem wach, auch wenn er jetzt so unbewegt und still auf dem Laken ruhte. Beide Decken waren unordentlich übereinander im Bett verteilt und verbargen nur halb seinen Körper. Wie immer hatte er die angewinkelten Beine in einer unbequem wirkenden Haltung zur Seite gelegt, während er mit dem Oberkörper flach auf dem Rücken lag, die eine Hand auf dem Bauch, die andere entspannt neben dem Kopf. Genauso wie das Licht des gestrigen Abends ließ das Morgenlicht seine Haut unnatürlich blass erscheinen, zusätzlich verstärkt durch die schwarzen Haare, die ihm wirr und vom Schlaf zerzaust ins Gesicht fielen. Unter den geschlossenen Lidern zeichnete sich dunkel der Schatten seiner Augenringe ab. Als schön konnte man Ls Aussehen nicht gerade beschreiben. Misa hatte beim ersten Aufeinandertreffen gesagt, er sähe cool aus, einige Kommilitonen in der Universität formulierten es eher als verschroben. Für Light wirkte der Meisterdetektiv wie aus einem skurrilen Puppentheater entsprungen. Mit dieser schlechten Körperhaltung, als hinge er an Marionettenfäden. Mit seinen großen, dunklen Augen, die stets totenstarr und leer waren. Mit diesen spinnenartigen, feinen Fingergliedern, den rissigen Lippen und der weißen Porzellanhaut. Nachdem Light eine Weile stumm vor dem Bett gestanden und seinen dem Anschein nach schlafenden Feind betrachtet hatte, setzte er sich schließlich neben ihn an den Bettrand, den Blick weiterhin nicht von ihm lösend. „Ryuzaki?“, sprach Light mit gedämpfter Stimme. Keine Reaktion deutete darauf hin, dass L ihn gehört hatte. Stattdessen vernahm man nur tiefe, gleichmäßige Atemzüge, bei denen sich seine Brust unter dem weißen Stoff seines zerschlissenen Oberteils hob und senkte. Mit grimmiger Gewissheit dachte Light, dass der Detektiv natürlich genau wusste, wie man sich schlafend stellte. Er hob eine Hand und berührte mit der Rückseite seiner Fingerknöchel behutsam Ls Wange, bevor er vorsichtig mit dem Daumen den von Schlafmangel zeugenden Schatten unter seinen Wimpern nachzeichnete. Merkwürdig, dass sich die Haut an dieser Stelle so dünn und weich anfühlte. Doch noch immer öffnete jener die Augen nicht. Kurzentschlossen strich Light flüchtig hinab über Ls Kiefer und umfasste, während ihm sein Herz hart von innen gegen die Brust schlug, mit einer Hand den bloßen Hals seines Feindes. Ein wenig konsterniert fragte er dann ganz leise: „Hast du denn keine Angst mehr, L?“ Wieder folgte nicht die erwartete Reaktion. Der Detektiv schien friedlich und furchtlos zu schlafen. Dabei wirkte er gerade jetzt so unglaublich angreifbar, auf unangenehme und erschreckende Weise verletzlich. Den Hals seines Gegners mit zitternder Hand umschließend spürte Light überdeutlich, wie unter der warmen Haut das Blut in Ls Adern pulsierte. Sofort löste er sich von ihm und stand auf. Skeptisch starrte er hinab auf den reglosen Körper seines Freundes, dann drehte er sich kopfschüttelnd um und ging Richtung Tür. Vorher blieb er jedoch neben der nahegelegenen, niedrigen Kommode stehen. Er holte etwas aus seiner Hosentasche, begutachtete es zweifelnd und verharrte einen Moment, bis eine Stimme ihn unmerklich zusammenzucken ließ. „Nein, habe ich nicht, Light-kun.“ Ohne sich umzuwenden zog Light seine Hand von der Kommode zurück. Ruhigen Schrittes setzte er sich wieder in Bewegung. Ein paar Sekunden später durchdrang die dichte Stille im Zimmer nur das Geräusch einer sich schließenden Tür. Aufrecht im Bett sitzend schaute L müde zur Kommode hinüber und erkannte dort, unauffällig im blaugrauen Morgenlicht, die Umrisse einer elektronischen Sicherheitskarte.   In Bezug auf die Ermittlungen ging dieser Tag genauso monoton und ereignislos vorüber wie die vorherigen. Noch hatten sie keine weiteren Aktivitäten von Kira feststellen können. Light arbeitete, um Ablenkung bemüht, die endlosen Aktenberge durch, in denen das Fahndungsteam einen neuen Ansatzpunkt zu finden hoffte. Natürlich wusste er, wie sinnlos das alles war. Auch L beteiligte sich nur äußerst halbherzig an diesen Ermittlungen. Stattdessen beschäftigte er sich lieber mit der Todesgöttin Rem, die seinen Fragen jedoch geschickt auswich, obwohl er sie fortwährend bedrängte. In Lights Innerem nahmen Anspannung und Nervosität schleichend überhand. Die Sekunden rannen ihm durch die Finger wie Wasser. Am späten Nachmittag gab L schließlich seine Befragung auf. Über das Mikrofon wandte er sich an Watari mit der Bitte um ein Go-Brett. Er nannte ihm die Lounge in der Nähe der Konferenzräume eine Etage tiefer, daraufhin erhob er sich ohne weitere Anmerkung an die restlichen Anwesenden. Light schaute ihm abwägend hinterher, wohingegen die in ihre Aufgaben vertieften Polizisten nur wenig Notiz davon nahmen. Wahrscheinlich würden einige von ihnen, zumindest Matsuda und Mogi, heute wieder in den Privaträumen des Gebäudes übernachten. Während L noch vorm Fahrstuhl stand und darauf wartete, dass dieser vom Erdgeschoss aus oben angelangte, entschied Light kurzerhand, sich ihm anzuschließen. L verfolgte weiter die Etagenanzeige über der Fahrstuhltür, doch umspielte jetzt, da sein Freund neben ihn trat, ein kleines Lächeln seine Mundwinkel.   Einvernehmlich hatten die beiden jungen Männer kaum ein Wort gewechselt. Sie saßen einander in einem der westlich möblierten Zimmer gegenüber, unpassenderweise ein großes hölzernes Go-Spiel auf dem Glastisch zwischen den Sofas aufgebaut. Der eingeschaltete Fernseher warf flimmerndes Licht auf ihre Gesichter. L hatte die beiden Behälter, in denen sich die weißen und schwarzen Steine befanden, zur Seite geschoben. Einige Zeit verbrachte er damit, etliche Bonbontüten zu öffnen, sie auf dem Tisch zu entleeren und die runden Süßigkeiten einzeln aus ihren viereckigen Verpackungen zu holen. Er sammelte sie in zwei Teetassen, in der einen jene grünen Bonbons, die nach Matcha schmeckten, in der anderen diejenigen mit Milchteegeschmack. Nachdem er fertig war, schob er die mit den hellgelben Milchteebonbons gefüllte Tasse zu Light hinüber, damit dieser sie an Stelle eines Goke und die Süßigkeiten als Go-Steine benutzen konnte. Während sich der Student ohne Protest an der Partie beteiligte, gesellte sich Watari in seiner stummen, stets würdevollen Art zu ihnen, um die leeren Plastikverpackungen, die auf und um den Tisch herum verstreut lagen, diskret wegzuräumen. Höflich nickend verschwand er nach kurzer Zeit wieder. So unerklärlich es Light auch erschien, doch seine innere Unruhe war im Laufe des Tages von ihm abgefallen. Er fühlte sich ausgeglichen, allerdings nicht durch den Zwang, den er gedanklich auf sich selbst ausgeübt hatte, sondern dank der Zurückhaltung seines Freundes. Von Beginn an leicht ersichtlich standen ihnen für ihr Go-Spiel zu wenig Bonbons zur Verfügung, sodass sie ohne Agehama spielten, also ohne die gegnerischen Steine zu sammeln. Weil L viele von den Milchteebonbons aß, die er von Light gefangen nahm, besaß dieser irgendwann nichts mehr, womit er hätte setzen können. Darum beendeten sie gleichmütig ihr Spiel, ohne es zu einem Ergebnis geführt zu haben. Die Zeit schritt voran, es war Abend geworden und Light hatte sich an den Esstisch gesetzt, der unweit von der Sitzgruppe stand. Während er frittierte Garnelen, Reis und Misosuppe mit eingelegtem Tofu aß, schaute er abwechselnd von L, der mit den restlichen Matchabonbons auf dem Go-Brett mittlerweile eine Art Schiffeversenken spielte, zum Fernseher hinüber, wo gerade eine dieser schrillen Quizshows lief, alle paar Minuten unterbrochen von Werbung, die fast noch bunter und überdrehter war als die eigentliche Sendung. Den Blick gleichfalls auf den Fernseher geheftet fragte L schließlich teilnahmslos: „Wie lange muss man eigentlich in Japan bleiben, um diese Shows zu verstehen?“ „Um aus eigener Erfahrung zu sprechen, Ryuzaki, achtzehn Jahre reichen jedenfalls nicht dafür aus.“ Verhaltenes Schmunzeln. Light mochte dieses meist stimmlose Lachen seines Freundes. Er beendete seine Mahlzeit und setzte sich hinüber auf das Sofa. „Das werde ich sicher vermissen“, stellte L scheinbar desinteressiert beim Schalten durch die Kanäle fest. „Japanische Süßigkeiten und die vielen Gegensätze dieses Landes, einerseits die Verrücktheiten, andererseits die engstirnige Disziplin und Höflichkeit.“ „Aber England ist doch auch bekannt für seine Höflichkeit, oder nicht?“ „Bestimmt nicht so. Siehst du?“ L deutete auf den Bildschirm. „Selbst die Nachrichtensprecherin verbeugt sich bei ihrer Begrüßung.“ „Das ist bei uns üblich, ein Zeichen des Respekts. Auch unser Zugpersonal verbeugt sich beim Betreten und Verlassen eines Abteils.“ „Ich lasse mich lieber mit dem Auto chauffieren. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind mir hier eindeutig zu überfüllt.“ „Dafür muss man sich auf unseren Straßen allerdings vor Taxifahrern in Acht nehmen.“ „Kein Problem, Light-kun, ich habe vorgesorgt.“ Das helle Klingeln eines Glöckchens. Zwischen zwei seiner Finger hielt L ein rotblau besticktes O-Mamori in die Luft, ein in Japan als Talisman verwendeter kleiner Stoffbeutel, der mit Schutzzaubern versehen wurde. Es gab sie überall an diversen religiösen Stätten wie Tempeln oder Schreinen zu kaufen. Auf diesem hier konnte Light mit leichter Belustigung die Schriftzeichen für Sicherheit im Straßenverkehr erkennen. „Willst du denn gleich wieder abreisen, sobald der Fall gelöst ist?“ „Jetzt werde ich die nächsten zehn Tage sicher erst einmal bleiben.“ „Wieso gerade zehn Tage?“ „Das fragst du noch? Am elften November ist Pocky-Day.“ Verstehend nickte Light, auf den Lippen ein leichtes Lächeln tragend, das im Widerspruch zu dem mulmigen Gefühl in seinem Magen stand. Bis dahin, weit vor dem Ablauf dieser zehn Tage, würde Misa ihr Death Note längst ausgegraben haben. Light fror ein wenig. Von seinem Nacken breitete sich die Kälte über seinen gesamten Körper aus. „Weißt du, Ryuzaki, bevor du abreist, könnte ich dir noch mehr von Japan zeigen.“ „Das... würde mich freuen, Light-kun.“ „Wir könnten nach Hakone fahren und uns den Fuji ansehen. Dort kann man gekochte Eier essen, die im Schwefelwasser der heißen Quellen zubereitet wurden. Die sehen ganz schwarz aus.“ „Wirklich? Ich habe gehört, es gäbe dort sogar Eis mit Eigeschmack.“ „Ja, das stimmt.“ „Eine sehr merkwürdige Vorstellung.“ Knisterndes Rascheln. L legte eine Chipstüte auf den Tisch, begleitet von einer offenen Geste. Light bemerkte, dass es die Geschmacksrichtung Consommé war. Er nickte zum Dank, rührte die Tüte jedoch nicht an, während er L mit leiser Stimme versicherte: „Du hast Recht, es klingt gewöhnungsbedürftig, aber eigentlich ist es ganz in Ordnung. Schmeckt ein bisschen nach Eierlikör, bloß ohne Alkohol.“ „Woher willst du denn wissen, wie Eierlikör schmeckt, Light-kun? Du bist doch noch gar nicht volljährig.“ „Wie ist es mit alkoholfrei?“ „Alkoholfreier Eierlikör? Du schwindelst doch.“ Leises Lachen, das in Lights Kehle schmerzte. L knabberte an einem Pocky-Stab. Flimmerndes Licht fiel auf seine blassen Gesichtszüge. In zehn Tagen, dachte Light. In zehn Tagen war L vielleicht schon tot. „Sobald das hier vorbei ist, fahren wir nach Hakone. Einverstanden, Ryuzaki?“ „Einverstanden. Lass uns das machen.“ „Und dann kannst du das Eis selbst probieren.“ Eine unaufhörliche Flut an Stimmen und Geräuschen drang gedämpft aus den Lautsprecherboxen des Fernsehers. Light starrte vor sich auf den Tisch. Auf dem Go-Brett lagen die restlichen Bonbons und warfen lange Schatten über das Spielfeld. Das waren vermutlich die letzten Trümmer der versenkten Schiffe. „Light-kun... alles okay bei dir?“ „Ja, alles bestens.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)