[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 34: Nachher wie vorher ------------------------------ Nachher wie vorher   „Das kapiere ich nicht.“ Sich am Kopf kratzend verzog Matsuda verständnislos das Gesicht. „Wie kann es denn sein, dass Kira die gleiche Person ist wie am Anfang, wir aber trotzdem keine Ahnung haben, wer genau sich dahinter verbirgt? Das ergibt doch keinen Sinn. Irgendeine Spur müssten wir dann doch haben.“ „Es muss so sein“, sagte L entschieden und verteilte mit der Gabel die kleinen Blöcke seines Baumkuchens gleichmäßig auf dem gesamten Teller. „Es kann nicht anders sein. Denn wie unwahrscheinlich die Lösung auch erscheinen mag, wenn alle Unstimmigkeiten ausgemerzt wurden, ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit.“ „Man kann gar nicht alle Etwaigkeiten ausfindig machen und ausmerzen“, widersprach Light, wobei er sich mit verschränkten Armen in seinem Stuhl zurücklehnte. „Es gibt keine absolute Wahrheit. Hast du nicht selbst zugegeben, dass du aus diesem Grund mit Wahrscheinlichkeiten rechnest und nicht mit absoluten Werten, Ryuzaki?“ „Wenn man einen Kriminalfall zu lösen versucht, bezeichnet man das angestrebte Ziel nun einmal als die Wahrheit.“ Der Detektiv fing an, eine Tube mit Schokoladensoße über den Kuchenstücken auszudrücken. „Sobald Beweise dagegen sprechen, muss man die entsprechenden Kausalketten für ungültig und falsch erklären, auch wenn sie logisch wirken. Auf der anderen Seite sollte man etwas Unwahrscheinliches nicht als undenkbar abstempeln, nur weil es noch keine Verbindung in der Kausalkette, keine Indizien gibt.“ „Also, bewiesen ist zum Beispiel“, schaltete sich Matsuda eifrig ein, „dass Light-kun und Misamisa es nicht gewesen sein können, sonst wären sie jetzt tot.“ „Wie der Name schon sagt“, erwiderte L trocken, „zeichnet sich ein Beweis dadurch aus, dass er bewiesen wurde.“ Nachdem er den gesamten Baumkuchen in Schokoladensoße ertränkt hatte, sodass die einzelnen Stücke nur noch anhand leichter Erhebungen unter der schwarzbraunen Masse zu erahnen waren, stellte er die zu zwei Dritteln geleerte Flasche beiseite. „Wie in unseren empirischen Wissenschaften kann man Bedingungen festlegen und untersuchen, daraufhin Schritt für Schritt erforschen, welche Aussagen zutreffen, Theorien aufstellen und abschließend deren Gültigkeit überprüfen. Die Vorgehensweise ist immer dieselbe. Sie kann zu einem Abschluss kommen und in dem münden, was wir für die Wahrheit halten. Diese Wahrheit trifft solange zu, bis irgendwann das Gegenteil bewiesen wird.“ „Meines Erachtens“, gab Light zu bedenken, „sind aber Natur- und Geisteswissenschaften inkommensurabel.“ „Sind sie das?“, fragte L und suchte mit der Gabel nach den ertrunkenen Kuchenstücken auf seinem Teller. „Wie gut, dass wir hier jemanden haben, der die Zweige unseres wohlgeordneten Wissenschaftssystems so präzise definiert auseinander halten kann. Und ich dachte schon, es wäre in beiden Bereichen normal, mehrere einander widersprechende Wahrheiten gleichzeitig gelten zu lassen.“ „Touché.“ Lächelnd gestand Light dem Anderen diesen Punkt zu. Er mochte den leichten Sarkasmus in Ls Stimme, den dieser meist eher mit gespieltem Erstaunen als mit Bissigkeit äußerte. Der Meisterdetektiv schob sich unbeeindruckt ein schokoliertes Baumkuchenstück zwischen die Lippen und sprach mit vollem Mund etwas undeutlich weiter. „Derart komplex ist zum Beispiel auch die Psychologie. Wir sprachen darüber schon einmal, als es um die Determination des Menschen ging und deren scheinbaren Beleg durch das Experiment von Libet, der ja eigentlich das genaue Gegenteil beweisen wollte.“ „Das stimmt, durch das Ergebnis widersprach Libet seinen eigenen Thesen, aber die Erkenntnis, die er daraus zu gewinnen glaubte, ließe sich ebenso widerlegen, indem man davon ausgeht, dass ein Mensch bei solch einfachen Handlungsabläufen, wie es das Bewegen eines Fingers ist, eine Entscheidung bereits vor der Tat gefällt hat. Experimente gibt es natürlich in beiden Wissenschaftszweigen, mit mehr oder minder eindeutigen Ergebnissen. Der Unterschied besteht vielleicht darin, dass man in der Naturwissenschaft nach Kausalität sucht und in der Geisteswissenschaft nach Korrelation.“ „Jetzt geht das schon wieder los!“ Die beiden Gesprächspartner schauten verdutzt zu Matsuda hinüber, der sich mit beiden Händen angestrengt den Kopf festhielt, als könne er damit eine unbekannte Gefahr abwenden. Chefinspektor Yagami räusperte sich, während Aizawa seinem Kollegen den Rücken tätschelte und ihn sich hinsetzen ließ, indem er ihn auf das Sofa drückte. „Standbymodus, Matsuda-san. Einfach abschalten“, beschwichtigte Aizawa den jungen Polizisten und murmelte dann noch kaum vernehmlich: „Seit ich weg war, hat sich offenbar rein gar nichts geändert.“ Als wäre nichts geschehen, fuhr Light fort: „Nur weil die Geschichte der Physik gezeigt hat, dass wir einen Fortschritt im Wissen erlangt haben, heißt das nicht, dass wir uns der Wahrheit annähern.“ „Eben darum darfst du nicht vergessen, dass auch die Geisteswissenschaften ähnliche Konzepte bieten, Light-kun.“ L spießte ein weiteres Kuchenstück auf, das ihm allerdings sofort wieder von der Gabel rutschte, sodass er umständlich danach fischen musste. „Wie beispielsweise das teleologische Konzept der Geschichte, wonach der Staat und die Gesellschaft sich permanent verbessern und zum perfekten Zustand der Gerechtigkeit tendieren würden.“ Während Light den Detektiv bei seiner Angeltour beobachtete, nickte er verstehend und räumte ein: „Der Unterschied besteht vermutlich in der Klarheit oder eben Schwammigkeit der jeweiligen Aussage, obwohl ich zugeben muss, dass man mit Mitteln der Logik tatsächlich auf beiden Seiten arbeiten kann.“ „Und eben diese Mittel sind nur auf den ersten Blick eindeutig. Erweitert man das Spektrum, dann gibt es nicht mehr nur das Offensichtliche, sondern noch etliche andere, manchmal verquere Antworten, die ebenfalls stimmen, wenn man den absurden Parameter unter der Oberfläche entdeckt, mit dem die Kette wieder funktioniert.“ „Du meinst also, man könne auf diese Weise mit einem ähnlichen Denken alle Prozesse der Welt begreifen. Darum gibt es für dich keinen qualitativen Unterschied zwischen den Erkenntnissen der Natur- und Geisteswissenschaft.“ „So viel schwammiger ist das Zweite nämlich gar nicht, Light-kun. Auch physikalische Experimente können kompliziert sein, mit vielen Störfaktoren. Dagegen sind zum Beispiel Wahlvoraussagen als Teil der Politik- oder Sozialwissenschaften schon ziemlich genau, mitunter sogar leichter vorherzusagen als mancher Ausgang eines komplizierten physikalischen Prozesses.“ „Der Unterschied ist begriffstheoretisch“, stellte Light erneut fest, „was uns wieder zur Inkommensurabilität beider Bereiche führt, aber sicher nicht dazu, einer Wissenschaft mehr Wahrheitsanspruch zuzusichern.“ „Das mit dem Standby klappt nicht!“ Matsuda stöhnte gequält auf und brachte mit den Händen seine Haare durcheinander. „Den Eindruck hatte ich bisher gar nicht“, kommentierte Aizawa ungerührt. „Kommt mir eher so vor, als würden manche Leute immer im Leerlauf funktionieren.“ „Hey!“, wollte Matsuda gerade protestieren, doch sein Vorgesetzter unterbrach ihn ungeduldig. „Wir sollten uns besser mit den Akten und Datenbanken beschäftigen.“ Herr Yagami schob zwei Stapel mit Dokumenten, die er soeben fertig geordnet hatte, über den Tisch. „Das ist schließlich nicht wenig. Und es ist noch nicht einmal alles vollständig. Dafür werden wir eine Menge Zeit benötigen. Aizawa, Sie übernehmen die Krankheitsfälle seit Kiras Auftauchen. Konzentrieren Sie sich auf junge Menschen, besonders auf solche unter zwanzig Jahren. Und Sie, Matsuda, nehmen sich die Unfälle vor.“ „Ja, Chef.“ Kleinlaut ließ Matsuda den Kopf hängen. Währenddessen waren der Meisterdetektiv und sein einstiger Hauptverdächtiger weiterhin in ihr Gespräch vertieft. Light sprach mittlerweile von den verschiedenen wissenschaftlichen Hilfsmodellen. „Es mag zwar sein, dass sich die Biologen einen deutlicheren Begriff von einer Aminosäure machen können, wenn sie aus Draht und farbigen Kugeln ein Molekülmodell zusammenbasteln, was uns hilft die Phänomene in der Vorstellung zu ordnen. Doch ein buchstäbliches Modell des wirklichen Soseins der Dinge ist es nicht.“ „Das würde ich auch nicht behaupten wollen, Light-kun. Nur kann man diese Herangehensweise auch überall sonst anwenden. Meinetwegen wäre es auch möglich, etwa mit Hilfe von Flaschenzugrollen, Hebeln, Kugeln und Gewichten ein Modell der Volkswirtschaft anzufertigen. Jede Verminderung des Gewichtes G, also der Geldmittel, bewirkt eine Abnahme des Winkels I, der Inflationsrate, sowie eine Zunahme der Anzahl A von den Kugeln in der Schale, was wiederum für die Anzahl der Arbeitslosen steht. Auf diese Weise erhalten wir zwar die richtigen Eingabedaten und eine zutreffende Endwiedergabe, doch niemand wird behaupten wollen, dass es keinen Unterschied zwischen diesem Modell und der wirklichen Volkswirtschaft gäbe.“ L ließ das letzte überlebende Baumkuchenstück durch die Schokoladensoße gleiten wie ein Boot durch tiefes Wasser, bevor es in seinem Mund verschwand. „Trotzdem scheint mir die Art der Herangehensweise verschieden zu sein“, setzte Light zu einer Erklärung an, wobei er L dabei zuschaute, wie er seinen Teller ableckte. „Auf der einen Seite das Aufstellen von Thesen und auf der anderen Seite die Experimente. Sozialwissenschaftliche Probleme können diskutiert werden. Man kann sich darauf einigen, wie schlüssig eine These ist und ob man sich ihr anschließen will. Das ist meiner Meinung nach allerdings nicht mit einem Beweis gleichzusetzen, wohingegen Wissenschaftler, die unabhängig voneinander daran arbeiten, die Naturereignisse zu begreifen, sich auf eigentlich differierenden Wegen mit ihren Erkenntnissen sogar gegenseitig in die Hände spielen können, wie das beim Zischen aus dem All und der Feststellung der im Weltraum herrschenden Wärme der Fall war.“ „Ist das denn möglich?“, warf Matsuda erstaunt fragend ein. Ein paar der von ihm zu bearbeitenden Akten ruhten nun unbeachtet auf seinem Schoß. „Ich dachte, im All würde Vakuum herrschen und die Temperaturen wären am absoluten Nullpunkt.“ „Nun, das ist soweit auch richtig“, erläuterte Light. „Einige Experimente sprachen aber gegen diese Theorie. In der Anfangszeit der transatlantischen Funkübertragung traten allerhand atmosphärische Störungen auf. Die Quellen dieses Rauschens konnten ermittelt, aber nicht immer beseitigt werden. Einige rührten von Gewitterstürmen her. Man entdeckte jedoch auch eine Art Zischen, das aus dem Zentrum der Milchstraße kam. Es gab also im Weltraum Quellen der Radiostrahlung, die ebenfalls zu den vertrauten atmosphärischen Störungen beitrugen. Um dieses Phänomen zu untersuchen, bauten die Physiker Penzias und Wilson ein Radioteleskop, um die vermuteten Energiequellen zu ermitteln. Sie stießen dabei auf einen geringen Energiebetrag, der überall im Weltraum in gleicher Verteilung aufzutreten schien.“ „Eine Entdeckung, die ihnen später den Nobelpreis einbringen sollte“, fügte L hinzu. Er war inzwischen damit beschäftigt, auf seinem Teller mit der restlichen Schokoladensoße Sterne zu malen. Light nickte seinem Partner zu und fuhr fort: „Es war, als wiese alles, was im All existiert und selbst keine Energiequelle darstellt, eine Temperatur von ungefähr 4°K auf.“ „Das wirkte aber nicht besonders sinnvoll“, warf L ein. „Genau. Darum taten sie alles, um eventuelle Instrumentenfehler ausfindig zu machen.“ „Taubenmist auf dem Teleskop etwa.“ „Doch nachdem sie jede erdenkliche Störquelle ausgeschaltet hatten, blieb trotzdem noch eine Resttemperatur von 3°K. Es widerstrebte ihnen, ihre Ergebnisse zu veröffentlichen.“ „Weil eine völlig homogene Hintergrundstrahlung überhaupt nicht nachvollziehbar war.“ Während sich die beiden Männer gegenseitig den Ball zuspielten, ruckte Matsudas Kopf offenen Mundes hin und her in die Richtung des jeweils Sprechenden. „Zum Glück geschah es gerade zu der Zeit“, erklärte Light weiter, „da sie sich dieses sinnlosen Phänomens sicher wurden, dass ein paar Theoretiker aus Princeton einen Vorabdruck zirkulieren ließen, in dem in rein qualitativer Terminologie folgender Gedanke dargelegt wurde: im Falle der Entstehung des Weltalls aus einem Urknall müsse im ganzen Weltraum eine gleichförmige Temperatur auftreten, nämlich die Resttemperatur jener ersten Explosion.“ Im Zuge der Formulierungen seines jungen Partners leckte L die Sterne vom Teller, weshalb er nur einen undefinierten, zustimmenden Laut von sich gab. „Außerdem würde man dieser Energie in Gestalt von Radiosignalen auf die Spur kommen. Die experimentellen Arbeiten von Penzias und Wilson standen also bestens in Einklang mit einer Theorie, die ansonsten reine Spekulation geblieben wäre. Sie hatten nachgewiesen, dass die Temperatur des Universums fast überall ungefähr drei Grad über dem absoluten Nullpunkt liegt.“ „Die Restenergie der Schöpfung“, fasste L zusammen und stellte den blanken Teller vor sich auf den Tisch. Light schloss die Ausführung mit den Worten: „Es war der erste wirklich zwingende Grund, an diesen Urknall zu glauben.“ „In diesem Fall ist es gelungen, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, aber um die Lücken zu füllen, würde man auch so immer einen Weg finden“, meinte L, den Blick nun auf seinen Freund fixiert. „Um eine Anomalie mit der Theorie in Einklang zu bringen, werden einfach irgendwelche Dinge postuliert oder hinzugedichtet, damit es wieder aufgeht. Das ist ein in der Physik durchaus üblicher Schritt, damit die Gleichungen dem Phänomen nicht widersprechen. Man entnimmt dem gegebenen Vorrat einige Standardelemente und fügt sie den betreffenden Gleichungen hinzu, ohne dass man wüsste, warum es mit der einen Größe klappt und mit der anderen nicht. Zum Beispiel führte die Bahnanomalie des Uranus zur Annahme eines weiteren Planeten, sodass man im 19. Jahrhundert auf Neptun stieß. Die Wissenschaftler haben in der Hinsicht ziemlich gute Immunisierungsstrategien gegen jeden Zweifel entwickelt. Erstaunlicherweise wird in den Schullehrbüchern dieses Wissen der Physik so vermittelt, als wäre es wirklich so und als würden keinerlei Unstimmigkeiten zwischen den jeweiligen Theorien bestehen.“ „Eine solche Vorgehensweise kann aber auch gehörig in die Hose gehen.“ „Genauso ist es, Light-kun. Das führte nämlich auch zu der Annahme des Planeten Vulkan, um die Bahnanomalie von Merkur zu erklären. In diesem Fall hatte man allerdings kein Glück, denn den Planeten Vulkan gibt es nicht. Die Relativitätstheorie konnte jedoch diese Anomalie von Merkur im Gegensatz zur Newtonschen Theorie erklären. Gleiches gilt übrigens für die Postulierung Dunkler Materie oder Schwarzer Löcher. Nichts davon ist belegt. Es sind nur Hilfshypothesen zur Erklärung der Galaxiebewegungen, denn auch mit Einsteins Theorie können diese bisher nicht erschlossen werden. So stellt sich die Frage, was leistet die Wissenschaft überhaupt? Beschreibt sie die Welt, wie sie ist? Versucht sie uns die Welt begreifbarer zu machen, ohne Wahrheitsanspruch zu erheben? Gibt sie uns Erklärungen an die Hand, um die Realität für uns nutzbar zu machen? Wahrheit und Realität können sich nach der Praktikabilität richten. Ist die Newtonsche Theorie nun also falsch oder nicht, wenn sie sich nur danach richtet, wie sie für die Realität nutzbar gemacht werden kann?“ „Okay, ich verstehe, was du meinst, Ryuzaki. Die sogenannte richtige Wissenschaft kann auf diese Weise schwer von den Pseudowissenschaften abgegrenzt werden und die Erkenntnisse über die Natur schwer von denen des Geistes. Was unterscheidet dann noch Gott, Weltenergie oder Zauberkraft von der Vermutung einer Dunklen Materie?“ „Ich kann nicht mehr!“, rief Matsuda entnervt. Er verfrachtete den Stapel Akten von seinem Schoß auf die Tischplatte und legte erschöpft seinen Kopf oben auf den Dokumententurm. Die zwei Gesprächspartner achteten nicht auf ihn. Sie hielten ihren Blickkontakt fortwährend aufrecht. Vertieft in die Unterhaltung sagte Light schließlich, zu einem Konsens gelangend: „Mit der Quantenmechanik hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die Naturwissenschaft davon distanziert, eindeutige Aussagen über die Realität der Welt machen zu können. Die alten Theorien funktionieren nach wie vor und werden auch verwendet. Physik ist nicht linear, sie strebt nach Vernetzung aller Theorien, doch die Hauptrichtungen lassen sich kaum in Einklang bringen. Es sind unterschiedliche Herangehensweisen zur Erklärung der Welt. Die Eindeutigkeit von Theorien und die Wahrheit der Hypothesen werden eher populärwissenschaftlich stark gemacht. Ein Buch, eine Studie oder eine Reportage muss sich nun mal verkaufen und kann besser das Verständnis des Konsumenten ansprechen, wenn nicht lauter Unstimmigkeiten und Fragen das klare Bild verwischen und die Deutlichkeit der eigentlichen Erkenntnis hemmen.“ „Dass eine Theorie anerkannt wird, liegt nicht daran, dass sie völlig schlüssig, wahr oder ohne Lücken ist“, lenkte L affirmativ ein. „Das bestimmt eher ihre Praktikabilität, ihre Nützlichkeit, also einfach die Tatsache, dass sie funktioniert. Wir können die Welt nur so begreifen, wie sie uns erscheint. Nach dem Prinzip des Instrumentalismus sind Theorien richtig, wenn wir sie benutzen können, und nur diese Nützlichkeit ist entscheidend.“ „Bedeutet das etwa, Newton hatte doch Recht?“, fragte Light rhetorisch. „Müssen wir Einstein beiseiteschieben, weil wir im normalen Alltag mit seinen Annahmen nicht viel anfangen können? Das führt am Ende unabwendbar zur pessimistischen Metainduktion. Theorien haben sich oft als falsch herausgestellt. Warum sollten wir also glauben, dass wir in Zukunft eine richtige Theorie finden könnten?“ „Nun, Light-kun, eines wissen wir dennoch mit Sicherheit. Entweder ist es wirklich so...“ Jetzt lächelte L seinen Freund verschmitzt an. „Oder nicht.“ Obwohl verblüfft blinzelnd, antwortete Light sofort: „Scharf kombiniert, Sherlock.“ „Danke, Watson. Meine Deduktion ist wie immer brillant, ich weiß. Damit haben wir also eine Tautologie. P oder nicht P. Eine schöne Gleichung, die immer zutrifft.“ „Was bedeutet das jetzt?“, fragte Matsuda verwirrt, aber immer noch schlaff mit dem Kopf auf seinen Akten liegend. „Das bedeutet“, entgegnete Light ernst, „wir können ein äußerst erfolgreiches Resumé ziehen.“ „Genau“, stimmte L zu, „unsere Erkenntnis ist erstens richtig, zweitens falsch und drittens im Prinzip egal.“ Light musste lachen. Es entwich ihm unbekümmert und ehrlich. Er merkte nicht, wie der Detektiv ihn daraufhin interessiert musterte. Und er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal vor einer anderen Person, abgesehen von L, ein Lachen nicht gespielt hatte. „Du musst ihn töten.“ Ryuks Stimme, die nur er selbst hören konnte, rann wie eisiges Wasser seinen Nacken hinab. Unangekündigt blitzte diese Tatsache in seinen Gedanken auf. Er musste L töten. Einen unbeschwerten Moment lang hatte Light es vergessen. „Wie könnt ihr nur einfach so weitermachen, nach allem, was passiert ist?“, nuschelte Matsuda verständnislos. „Ihr ändert euch wohl nie.“ Light schwieg und starrte nachdenklich zu Boden. Es stimmte. Es hatte sich rein gar nichts geändert. Es änderte sich generell nie etwas, was auch immer zwischen L und ihm geschah. Sobald die beiden jungen Männer im Team unter den anderen Ermittlern waren, kehrte alles zur scheinbaren Normalität zurück. Sie verhielten sich wie Komplizen bei der Durchsetzung desselben Ziels, rational im Austausch ihrer Überlegungen, respektvoll im Umgang miteinander, distanziert in Bezug auf ihre Gefühle füreinander. Mehr als das war nach außen nicht erkennbar. Sie blieben Feinde, die Freunde spielten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)