[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 30: Fassade ------------------- Fassade   Vierzig Sekunden und er würde wieder vollständig sein. Krampfhaft hielt Light sich an seinen Erinnerungen fest. Er umklammerte das Death Note und versuchte, sein altes Ich nicht zu verlieren. Doch wer war dieses alte Ich? Der Gott einer neuen Weltordnung, der bei vollem Bewusstsein seine Erinnerungen abgegeben hatte und sie schon im nächsten Moment wieder verlieren konnte? Oder der junge Mann, der an der Seite des Meisterdetektivs gegen sich selbst gekämpft hatte? Wo war der Schüler, der einstmals auf dem Schulhof gestanden und überlegt hatte, ob er dieses schwarze Notizbuch aufheben sollte, das vom Himmel gefallen war? Noch dreißig Sekunden und Kira kehrte zurück. Doch Light blieb, wer er war. Selbst ohne Erinnerungen war er nie etwas anderes gewesen, hatte niemals seine Ideale hintergangen. Im Moment band nur das Heft in seinen Händen ihn an diesen Teil seiner Persönlichkeit. Was geschah, wenn er losließ? Es schien, als würde sich Kira zwischen den Seiten und Zeilen dieses unscheinbaren Mordinstrumentes verbergen. Warum lag es dann so leicht in seiner Hand? Warum wog es nicht tausend Namen schwer? Noch zwanzig Sekunden und jede einzelne dehnte sich zur Ewigkeit. Es war viel zu leicht. Viel zu leicht konnte ihm alles aus den Fingern gleiten, würde man ihm das Death Note wegnehmen, ihn gleichsam entwaffnen. Obwohl es kaum schmerzte, spürte Light ein Pulsieren und Pochen in seiner Fingerspitze, wo er mit der verborgenen Nadel in das Fleisch gedrungen war, um einen Tropfen seines eigenen Blutes hervorzulocken. Auf dem herausgerissenen Stück Papier, das er in seiner Armbanduhr versteckt hatte, stand mit Blut gezeichnet der Name von Higuchi Kyosuke. Noch zehn Sekunden. Kira war die Summe der vergessenen Erinnerungen. Die Summe der zahllosen Opfer. Mit dem Berühren des Death Notes kehrte alles zu Light zurück. Er musste sich nur vergegenwärtigen, was er absichtsvoll verloren hatte. Wenn das ausreichte, um sich wiederzufinden, warum sah er dann all diese fremden Bilder? Wieso erinnerte er sich an Dinge, die in der Zwischenzeit geschehen waren? Es wäre besser gewesen, die Erfahrungen einzutauschen, den Punkt seiner alleinigen Gefangenschaft zu rekonstruieren und jede nachfolgende Erinnerung auszulöschen. Um einen Teil von sich zurückzugewinnen, hätte ein anderer sterben sollen. Jener Teil musste zerstört werden, der in der Vergessenheit entstanden war. Nur noch ein Bruchteil der letzten Sekunde war übrig. Das kaum merkliche Zittern seiner Hände wurde von einer diffusen Angst verursacht, die nicht allein von der Möglichkeit herrührte, dass ihm jemand gegen seinen Willen das Heft entriss. Denn zugleich musste sich Light eingestehen, dass für ihn in der Gefahr eine schwer fassbare Versuchung lag, die ihn mit dem Gedanken spielen ließ, das Death Note von sich aus loszulassen. „Higuchi! Ryuzaki, Higuchi ist...!“ Draußen auf der Straße entstand Aufruhr. Im grellen Scheinwerferlicht der Polizeiwagen bewegten sich schemenartig die Silhouetten mehrerer Menschen. Frontstrahler blendeten, behinderten die freie Sicht und warfen lange Schatten auf den nächtlichen Asphalt. Doch zwischen den Händen und Helmen der Männer war deutlich zu erkennen, wie Higuchi unter Schmerzen zusammenbrach. „Was passiert da mit ihm?!“, rief Light entsetzt, Panik und Unwissenheit vorschützend. Auch L verfolgte beunruhigt das Szenario, das sich außerhalb des Hubschraubers abspielte, ohne eingreifen zu können. Die Fixierungen über Augen und Mund des Hauptverdächtigen lösten sich unter dessen qualvoll verzerrten Gesichtsmuskeln. Speichel rann aus seinem Mundwinkel, während sein Körper sich aufbäumte und der Kopf zum Himmel gewandt nach einer letzten Fluchtmöglichkeit suchte. Doch in Higuchis weit aufgerissenen Augen lag bereits die Erkenntnis des eigenen Todes. Nach außen hielt Light eine perfekte Fassade aufrecht, innerlich allerdings triumphierte er, als er Higuchi sterben sah. Damit ging das Death Note wieder in den Besitz des rechtmäßigen Eigentümers über. Der Mord an dem vorigen Kira, jenem böswilligen und selbstsüchtigen Platzhalter, war nur ein erster Schritt. Als nächstes war Ryuzaki an der Reihe, sich dem Todesurteil zu stellen. Der Meisterdetektiv L würde durch Kiras Macht sterben. Für Light war dies der höchste, der ultimative Sieg, den er erringen, und das größte Opfer, das er erbringen konnte. Niemand sonst sollte die Befugnis haben, über L zu richten. Nur Light durfte ihm das Leben entreißen, das ihm ohnehin schon längst gehörte. Der Gedanke ließ ihn erzittern. Berauscht schaute er hinab auf die wenigen Tropfen getrockneten Blutes, die auf seinen Fingerspitzen einen braunen Film hinterlassen hatten. Endlich klebte wieder Blut an seinen Händen.   Der Rest der Nacht verging in Phasen des Wartens einerseits und aufreibenden Informationsaustauschs andererseits zwischen der Sonderkommission und der japanischen Polizei, die sich unerwartet eingeschaltet hatte, sowie dem Krankenhaus, in das Higuchi transportiert worden war. Natürlich war das gesamte Ereignis, jenes Aufgebot an Hubschraubern und Einsatzfahrzeugen, von der Öffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben. Der leitende Chefinspektor, der mittlerweile den Posten von Yagami Soichiro bekleidete, versuchte die Nachrichtenstellen mit schwammigen Aussagen zu besänftigen. Währenddessen bestätigte das Gutachten der Ärzte, was sie alle schon vermutet hatten: Higuchi Kyosuke war an Herzversagen gestorben. Nachdem die Ermittler weit nach Mitternacht wieder in das Fahndungszentrum zurückgekehrt waren, entließ L sie mit dem Hinweis, man dürfe nun keine unbedachten Entscheidungen treffen oder übereilte Aktionen in die Wege leiten. Proben des Death Notes waren bereits mit höchster Dringlichkeitsstufe in ein Labor gegeben worden, wo man es auf seine Beschaffenheit untersuchte. Am nächsten Abend sollten die Ergebnisse vorliegen. All dem hatte der Todesgott, der sich überraschenderweise in menschlicher Sprache verständigen konnte, größtenteils schweigend beigewohnt. Er meinte, er müsse in der Nähe des Death Notes bleiben, stelle aber keine Gefahr für die Anwesenden dar. L nahm das Zugeständnis mit Genugtuung hin, da dieses monströse Wesen nach dem Ableben Higuchis sein einziger Anlaufpunkt für eine Befragung war. Doch diese Nacht hatte ihnen bereits genügend Antworten geliefert. Alles Weitere wurde auf den nächsten Tag verschoben, wenn das Denken wieder in wachen, geordneten Bahnen verlief. Light spürte Nervosität in sich aufsteigen. Er hatte gehofft, sobald sie das Death Note in Händen hielten und untersuchten, würde der Verdacht von ihm abfallen und zu der sofortigen Beendigung seiner Gefangenschaft führen. Im Großen und Ganzen war Lights Plan fabelhaft verlaufen, als hätte er alle Akteure wie Marionetten in seinem persönlichen Theater bewegt. Dennoch gab es ein paar Kleinigkeiten, die er sich anders erhofft hatte. Jemand, der gewiefter und schwerer auffindbar gewesen wäre als Higuchi, hätte ihm sicherlich mehr Zeit verschafft. Zwei Monate waren einfach nicht genug, um Ls Vertrauen zu gewinnen. Er hatte gehofft, noch länger gemeinsam mit dem Meisterdetektiv auf der Suche zu sein, so wenige andere Ermittler wie möglich zu involvieren, bis sie ganz zum Schluss, im Moment des vermeintlichen Triumphes, nur zu zweit das Death Note berührten. Das wäre der Idealfall gewesen. Light war nicht so blauäugig, dass er tatsächlich erwartet hätte, es würde in diesem Ausmaß reibungslos ablaufen. In anderer Richtung jedoch war er, bevor er sich in Ls Obhut begeben und seine Erinnerungen verloren hatte, mit seinen Vermutungen nicht weit genug gegangen. Ununterbrochen an L gebunden zu sein, sogar mit Handschellen an ihn gekettet zu werden, etwas Derartiges war ihm in dieser Form nicht in den Sinn gekommen. Es war nicht nur eine rabiate, unkonventionelle Vorgehensweise, es entbehrte noch dazu jeglicher Logik. Eine allumfassende Beobachtung war seines Erachtens sowieso nicht durchführbar. Der Mord an Higuchi, den Light völlig unbehelligt beging, während L direkt neben ihm saß, war der beste Beweis dafür. Warum also war L so weit gegangen? Das Geräusch der sich schließenden Tür sperrte sie zum wiederholten und hoffentlich zum letzten Mal in diesen kargen Raum. Light hatte nicht mehr viel gesprochen, nur ein paar belanglose Bemerkungen fallen gelassen, um die freundschaftliche Fassade aufrechtzuerhalten. Er durfte sich keine Blöße geben, sonst keimte in L womöglich der Verdacht auf, es habe sich etwas geändert. Wie immer löste der Detektiv die Handschellen, damit Light sich umziehen konnte. Dieser entledigte sich daraufhin seiner Sachen, während er abwechselnd vor sich auf den Boden sowie hinaus aus dem Fenster starrte, wo eine Wolkenwand aus finsterem Grau und Orange über der kaum mehr erleuchteten Stadt das Ende der Nacht und den baldigen Morgen ankündigte. Was hinter den Glasscheiben lag, konnte Light nur deshalb erkennen, weil nichts weiter als die Nachttischlampe eingeschaltet war, welche lediglich eine schwache Reflexion des Innenraumes auf den Fenstern hinterließ. Light wusste, dass er sich abzulenken versuchte. Das unangenehme Gefühl der Aufregung war mittlerweile, da er sich mit L allein in ihrem gemeinsamen Zimmer befand, übermächtig geworden. Er wollte den Anschein vermitteln, in kriminalistische oder ähnliche Überlegungen versunken zu sein, doch in Wirklichkeit bemühte er sich vergeblich darum, jeden Gedanken und jedes Bild zu verdrängen, das seinen Verstand verwirrte und die Fassade bröckeln lassen konnte. Glücklicherweise war auch L nicht allzu gesprächig. Wenn er Light schon nicht seine Anwesenheit ersparte, so verschonte er ihn doch wenigstens mit jenen verhassten eindringlichen Fragen. Nachdem sie aus dem Bad zurückgekehrt waren und L sich bereits auf seine Seite des Bettes gelegt hatte, blieb Light noch einen Moment unentschlossen davor stehen. Er streckte seine Glieder, als wollte er die verkrampften Muskeln entspannen. Es machte ihn wütend, dass diese Anspannung nicht physischer, sondern psychischer Natur war, dass er mit jenem lächerlichen Gebaren sein Zögern zu verbergen versuchte und dass es ihm überhaupt so vorkam, als beherrschte ihn eine innere Blockade. Warum hatte L in ihrem Zimmer nur dieses verfluchte Bett aufstellen lassen? Die Kette war lang genug, zwei Einzelbetten hätten völlig gereicht. Und warum hatte Light nicht von Anfang an dagegen protestiert? Was sollte dieser Schwachsinn? Müdigkeit vortäuschend ließ er sich scheinbar erschöpft auf das Bett fallen. „Wer hätte gedacht, dass es so spät werden würde“, sagte er leichthin, weil eine plötzlich auftretende Besorgnis ihn davor warnte, durch seine Schweigsamkeit möglicherweise suspekt zu wirken. „Jetzt sind wir der Lösung des Falles so nah. Ich würde am liebsten sofort wissen, was es mit diesem merkwürdigen Heft auf sich hat.“ „Alles zu seiner Zeit“, antwortete L tonlos. „Warum so ungeduldig?“ Zuerst wollte Light es dementieren und versichern, er sei gar nicht ungeduldig, um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle sich schnellstmöglich von L losmachen. Dann allerdings rief er sich ins Gedächtnis, wie er vermutlich ohne seine Erinnerungen reagiert hätte. „Bist du etwa nicht gespannt, wie es jetzt weitergeht, Ryuzaki?“ Das Erstaunen in seiner Stimme war perfekt gespielt. „Stimmt ja, du hast schon zahlreiche Fälle gelöst, nicht wahr? Im Gegensatz zu dir besitze ich kaum Erfahrungen in dieser Richtung. Trotzdem finde ich, dass der Kira-Fall schon ziemlich außergewöhnlich ist.“ Light atmete tief durch und legte die nötige Entschlossenheit sowohl in seine Stimme als auch in seinen zur Decke gewandten Blick. Er wusste genau, dass L ihn beobachtete. „Ich kann nicht verzeihen, was mein Vater alles durchmachen musste. Und nicht nur er, so viele Unschuldige sind in diese Sache hineingezogen worden. Wir werden dem Ganzen ein Ende setzen. Ganz sicher.“ Damit wandte sich Light seinem Ermittlungspartner zu und lächelte ihn zuversichtlich an. Wie immer zeigte L keine Reaktion, anhand derer man hätte erkennen können, ob er das Trugbild durchschaute oder nicht. Light ließ sich davon jedoch nicht beirren, wünschte ihm knapp eine gute Nacht und löschte das Licht.   Wie hatte er nur all diese Nächte ausgehalten? Zwei Monate des ständigen Zusammenseins lasteten tonnenschwer auf ihm. Er war müde, doch zugleich wollte er sich nicht dem Schlaf überlassen. Seine Befürchtungen, dessen war er sich sicher, waren nicht unbegründet. Light blieb völlig reglos im Bett liegen. Er hatte L den Rücken zugewandt und versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen. Immer wieder durchfuhr es ihn eiskalt, wenn er sich vorstellte, dass der Andere nicht schlief und ihn stattdessen mit seinem starren Blick unentwegt musterte. Vielleicht hatte sich Light an diesem Abend doch mit einer seiner Handlungen verraten. Vielleicht war sich L darüber im Klaren, dass er Kira nicht entlarven konnte. Vielleicht wusste er, dass es nur noch ein einziges Mittel gab, um Kira aufzuhalten. Fast spürte Light tatsächlich den stechenden Blick jener schwarzen Augen im Nacken, die Mordlust und den Wunsch zum Sieg. Im nächsten Moment schon konnten sich Ls langgliedrige Finger auf seine Schulter legen, nach vorn streichen, um an der Linie des Schlüsselbeins entlang den Weg zu Lights Kehle zu finden. L würde sanft seine kalten Hände um den Hals seines Freundes legen, sein gesamtes Gewicht auf dessen Körper verlagern und unnachgiebig zudrücken, um mit jedem schwächer werdenden Atemzug den letzten Rest an Machtgier, Besessenheit und Verlangen aus Light herauszupressen. Bestürzt musste Light feststellen, dass ihn diese Fantasie unweigerlich erregte. Er wagte es nicht, sich aufzurichten, um im Halbdunkel nach dem schlafenden Gesicht seines Feindes zu suchen. Da waren viele widerstreitende Gefühle, die er zuvor nicht gekannt und die erst L in ihm hervorgerufen hatte. Und dieses eine Gefühl, das ihn jetzt fortwährend wach hielt, war der Wille, nicht zu verlieren.   Nach wenigen Stunden Schlaf standen die zwei Ermittler früh am Morgen auf. Light spürte die Erschöpfung in seinen Gliedern, auch wenn er geistig hellwach war. Ihm war ungewöhnlich kalt, er fror sogar, als er sich mit fahrigen Bewegungen das Hemd aufknöpfte. Keiner der beiden Männer sprach viel. Das taten sie morgens generell selten. Mit einem Wink seiner Hand bedeutete L seinem Partner, ihm ins Bad zu folgen, wo sich der Detektiv sogleich in die Duschkabine stellte. Light richtete seine Aufmerksamkeit zwanghaft auf andere Dinge und widmete sich stattdessen seinen täglichen Routinen, der Zahnbürste, seinem Rasierapparat, dem silbernen Kamm mit den weit auseinanderstehenden Zinken. Angestrengt starrte er in den Spiegel über dem Waschbecken, obwohl dieser aufgrund des heißen Duschwassers so beschlagen war, dass er kein Bild zurückwarf. Das Kondensat bedeckte gleichmäßig das gesamte Glas. Etwas an dieser Tatsache irritierte Light und er brauchte einen Moment, um sich der Erinnerung bewusst zu werden, die hierfür verantwortlich war. Vor mehreren Wochen, eine gefühlte Ewigkeit her, hatte L mit seinen langen Fingern verschiedene Zeichen auf den beschlagenen Spiegel geschrieben. Und nun hatte Light einen kurzen Augenblick lang erwartet, diese Zeichen auf dem Glas wieder erscheinen zu sehen, als würden sie erneut aus der Vergessenheit auftauchen. Doch zwischenzeitlich war die glatte Oberfläche mehrmals gereinigt worden. Übrig geblieben war nichts davon. Alle Zeichen waren verschwunden. L stellte das Wasser ab und stieg aus der Duschkabine. Light beachtete ihn nicht. Er kannte die folgenden Prozeduren schon zu genau. Meistens wusch L seine Haare in einer unnatürlichen Haltung kopfüber, trocknete sie danach ungeduldig mit einem Handtuch ab und schüttelte sie kräftig, noch bevor das Wasser aufgehört hatte von den Spitzen herabzutropfen. Das schwarze Haar stand daraufhin wirr vom Kopf ab, weil L es nie kämmte oder auch nur mit den Händen in Form brachte. Light hasste das. Er hasste diese pechschwarze Mähne, von der er nächtelang träumte, wie er seine Hände darin vergrub. Bald würde all das ein Ende finden.   „Seit klar ist, dass es Todesgötter wirklich gibt, können wir absolut sicher sein, dass Light-kun und Misamisa unschuldig sind“, meinte Matsuda zuversichtlich. L hockte auf einem Stuhl im Hauptüberwachungsraum der Ermittlungszentrale und stapelte Kondensmilch. Er nahm die Aussage schweigend zur Kenntnis und wunderte sich, wie man einen derart einfachen Schluss ziehen konnte. Dennoch musste er gestehen, dass er zurzeit noch keine Erklärung für Higuchis Ableben hatte. Zwar glaubte der Detektiv nicht an einen Selbstmord, doch ob es Mord war und wie oder von wem er begangen worden war, spielte im Moment keine Rolle. Higuchi war tot. Er konnte ihnen keine Erklärung mehr liefern und das war es schließlich, was seinen einzigen Nutzen ausgemacht hätte. Dieser Kira, wenn man ihn überhaupt so nennen konnte, war nur eine Strohpuppe. Er war es nicht, den L zu fassen versuchte. Was ihm jetzt im Weg stand, war vielmehr jene Regel auf der Innenseite des Death Notes. Hatte man das Heft einmal benutzt, musste man innerhalb der nächsten dreizehn Tage einen weiteren Namen hineinschreiben, ansonsten verstarb man. Während der Gefangennahme hatten weder Light noch Misa Gelegenheit gehabt, etwas aufzuschreiben. Seitdem waren etliche Wochen vergangen, doch beide lebten noch. Vom jetzigen Standpunkt aus gesehen war es für L unmöglich, das Gegenteil zu beweisen, wohingegen dieser Umstand für die anderen Mitglieder der Sonderkommission sogar einem Beweis gleichkam, welcher die Unschuld von Light und Misa bezeugte. L hatte keine andere Wahl. „Verstanden“, sagte er schließlich, nachdem er einige Minuten der Diskussion gelauscht und sich von den anderen Männern hatte bereden lassen. „Es tut mir leid für alles, was ihr bis hierhin durchmachen musstet.“ Seine Entschuldigung war aufrichtig gemeint, auch wenn er sie nicht so begriff, wie er sie aussprach. Tatsächlich wollte er sich dafür entschuldigen, nicht über die Indizien hinausgelangt zu sein und die Festnahme nicht mit den nötigen Fakten untermauert zu haben. Denn im Grunde war er noch immer überzeugt, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. „Aber der Fall ist noch nicht gelöst“, stellte Light ernst fest. Er fasste zusammen, dass Higuchi für die zuerst begangenen Morde nicht verantwortlich sein konnte und es demzufolge zwei weitere Kiras gegeben haben musste. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten die eigentlichen Täter den Verdacht auf Light und Misa gelenkt, um L in die Irre zu führen. Der Meisterdetektiv ließ die Spekulationen über sich ergehen, während er aus den Kondensmilchbechern eine Pyramide baute. Light spürte genau, dass er ihn in die Enge getrieben hatte. L stand mit dem Rücken zur Wand. Es war an der Zeit, sich von den Ketten zu lösen, die beide Männer wochenlang aneinander gefesselt hatten. Jetzt, da Light sich wieder an alles erinnerte, war jede weitere Sekunde der Gefangenschaft ein unhaltbarer, fataler Zustand. „Ryuzaki, ich bitte dich darum, mir die Handschellen abzunehmen“, wagte Light in aller Ruhe zu fordern, wobei er seine Euphorie mühelos verbarg, „aber gleichzeitig gewährst du mir hoffentlich, hier die Ermittlungen fortzusetzen.“ „Jawohl“, antwortete L ohne aufzuschauen. Wie viele Tage waren nötig, wenn man jede einzelne Stunde zu zweit verbrachte, bis die fremde Persönlichkeit ein Teil vom eigenen Ich zu werden schien, von Hass und Besessenheit derart vergiftet, dass man den Anderen gleichermaßen festhalten und aus dem eigenen Sein wie ein Geschwür herausschneiden wollte, auch wenn man sich dabei selbst verletzte? Light fragte sich, ob es bereits zu spät war. Er spürte voller Unmut, wie sich alles in ihm sträubte, als ihm die Ketten abgenommen wurden. Am Ende musste es jedoch geschehen. Und mit klickenden Geräuschen öffnete sich der Schließmechanismus ein letztes Mal. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)