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Surrogat

Surrogat

 

Stille hatte sich wie ein samtener Vorhang niedergelegt, ein schweres, erstickendes Stück Stoff, das jedem unausgesprochenen Wort, das in der Luft hing, den Sinn zu rauben schien. Light konnte nicht sagen, wie lange das Schweigen zwischen ihm und L schon herrschte. Mindestens eine halbe Stunde. Mit Sicherheit weitaus länger. Dennoch hatte sich keiner von beiden der Situation entzogen. Was war es nur, das zwischen ihnen noch ungesagt geblieben war? Woher kam die unsichtbare, sich langsam aufbauende Mauer? Diese Mauer, die schon seit längerer Zeit beide Männer umgab und sie vom Rest der Menschen im Umfeld abschottete.

Mit niemandem sonst hätte Light ein solches Schweigen ertragen. Es war nicht angenehm, aber doch notwendig und unumgänglich. Light betrachtete die knochigen, langen Fingergelenke von Ls Hand, die sich unruhig bewegten und die Sehnen auf dem Handrücken hervortreten ließen, während der Detektiv sich nervös über die Lippen fuhr.

„Hoffnung, Zuversicht, Vertrauen...“, murmelte L schließlich, ohne seinen Partner dabei anzusehen. „Das sind so große Worte, aufgeblasene Begriffe wie riesige Ballons, mit einer Luft gefüllt, die uns das Atmen erleichtern und uns in die Höhe heben soll. Dabei ist der eigentliche Inhalt leer. Denn womit fliegt so ein Fesselballon? Doch nur mit heißer Luft. Da ist nichts, worauf man bauen könnte.“

„Und doch klammern wir uns an dieses Nichts“, meinte Light schwermütig und starrte vor sich auf den Boden, „weil der Mensch gerade das am meisten fürchtet. Er hat Angst vor der Leere.“

„Also muss es etwas geben, das ihm seine Zuversicht zurückbringt. Was könnte das denn sein, Light-kun? Wenn man sich einmal etwas gesucht hat, an das man glauben, an dem man festhalten kann, wie soll man es dann so leicht ersetzen können? Es müsste etwas mindestens Gleichwertiges sein.“

Lights Blick verdunkelte sich. Was hatte er nur wieder mit einem einzigen Satz losgetreten? Er hätte sich dafür ohrfeigen können, nicht einfach seinen Mund gehalten zu haben. Vielen Aussagen merkte man vorher nicht an, wie schwer sie wiegen konnten, wenn man sie einmal ausgesprochen hatte. Doch vielleicht war es gut so. Wie sonst, wenn nicht in Diskussionen und Auseinandersetzungen, konnte man einen anderen Menschen kennen lernen und ihm näher kommen? Keine enge Beziehung konnte ohne Streit und Gegensatz bestehen. Sonst war das zwischenmenschliche Verhältnis keinen Heller wert.

„Wer religiös ist, hat es einfach“, stellte L teilnahmslos fest. „Er kann an Gott glauben, an das Jenseits, er kann seine Hoffnung im Propheten seines Dogmas sehen. Verlangt es dem Menschen, wider seine Vernunft, nach einem Mysterium? Oder würde er sich auch ohne das Übernatürliche lieber an das Schicksal als an den Zufall klammern? Damit sein eigenes Leben nicht zu einer willkürlichen Aneinanderreihung von Ereignissen verkommt. Damit man so tun kann, als hätte alles einen Sinn. Was sehen Kiras Anhänger in ihm? Einen Menschen, einen Propheten, einen Gott?“

Light beugte sich nach vorn, stützte die Unterarme auf seine Knie und verschränkte die Hände ineinander.

„Wie soll man einen Gott so leicht ersetzen können?“, fragte L nachdenklich.

„In jeder Religion oder Ideologie werden neue Propheten und Führer erschaffen“, antwortete Light. „Ein alter Gott wird durch den nächsten im Kampf besiegt und ersetzt. Fortan wird der einstige Gott als der ursprünglich böse Widerpart hingestellt. Und sein Ersatz ist plötzlich das Gute an sich, als wäre es nie anders gewesen. Die Liebe und Hingabe eines Menschen ins Gegenteil zu verkehren, ist viel einfacher, als man annehmen mag. Es ist sogar erschreckend leichter, je größer die Liebe vorher war.“ Light versuchte nicht mehr, seine Worte genau abzuwägen und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, nichts Falsches zu sagen. Es war ohnehin unmöglich, vollständig die Konsequenzen abzuschätzen. Der Meisterdetektiv würde immer bloß das in Light sehen, was er sehen wollte, und er würde überall Indizien finden, um seine Theorie bestätigt zu wissen. Wenn Light tatsächlich den einen Freund gefunden haben sollte, den er wiederum in L zu sehen glaubte, dann war es unsinnig, sich zu verstellen.

„Ein Wechsel vollzieht sich aber nicht ohne weiteres und erst recht nicht von jetzt auf gleich“, meinte L und ließ seine Arme schlaff neben seinem Körper herabhängen, während er die Wange auf sein angezogenes Knie bettete. „In den großen Weltreligionen wurde scheinbar Unmögliches vollbracht und Gegenleistungen wurden dafür eingefordert. Ein Prophet wird nicht einfach so zum Gott. Es reicht nicht, dass ein Mensch Gutes tut. Damit er angebetet wird, muss er schon Wunder vollbringen.“

„Du meinst beispielsweise das Meer teilen, Blinde heilen oder wie durch Zauberhand Verbrecher hinrichten?“

„Ja, Light-kun, so etwas in der Art. Aber Unmögliches bewerkstelligen, meinetwegen einem Menschen das ewige Leben zu schenken, das können den Mythen zufolge nicht nur die von Gott Gesegneten, sondern auch Teufel und Dämonen. Was als gut oder böse gilt, beurteilt jeder nach eigenem Ermessen und nicht selten hängt es vom Motiv des Handelnden ab. Was sind seine Beweggründe, handelt er nur für sich selbst oder für andere, wozu ist er bereit, was würde er geben...?“

„Mal abgesehen davon, dass die meisten Propheten wahrscheinlich irgendwelche Spinner waren“, warf Light ein wenig spöttisch ein, „sie handelten augenscheinlich für ihren Glauben, für ihre Gemeinde und opferten sich dafür selbst.“

„Es verlangt einiges, um einen vergöttlichten Menschen ersetzen zu können. Und es verlangt auch einiges, um vom Propheten zum Gott aufzusteigen. Jesus Christus, als Vertreter einer der heutzutage größten Weltreligionen, hat diesen Sprung geschafft. Doch was musste er tun, um Hoffnung und einen neuen Glauben in die Welt zu bringen? Was hat er hierfür getan, Light-kun?“

Der Angesprochene antwortete leise:

„Er starb dafür.“

„Richtig.“

 

Das Atmen fiel ihm schwer. Light lag wie versteinert im Bett, starrte in die Dunkelheit und versuchte das Gefühl seiner zugeschnürten Kehle zu ignorieren. Seit der letzten Antwort seines Freundes hatte der Jüngere kein Wort mehr über die Lippen gebracht, obgleich ihm eine Frage auf der Zunge brannte. Diese Frage kreiste durch seine Gedanken, wiederholte sich ein ums andere Mal im stets gleichen Wortlaut und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Zugleich erschöpfte ihn die Anspannung, von der er nicht wusste, ob sie daher rührte, dass er diese Frage mit aller Kraft zurückhalten wollte, oder ob er im Gegenteil sogar nach der Überwindung suchte, um sie endlich auszusprechen.

Light konnte nicht schlafen. Er spürte sowohl den Druck in seinem Inneren als auch den leichten Druck von Ls Körper, welcher ihn kaum von hinten berührte. Vor ein paar Minuten hatte sich der Detektiv unruhig bewegt und war Light dabei näher gekommen. Näher, als es diesem lieb war. Dadurch lagen sie jetzt Rücken an Rücken. Keiner wusste vom Anderen, ob er noch wachte oder bereits schlief.

Light hielt die Luft an und atmete dann langsam aus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er während seiner Erstarrung versucht hatte, tiefe und gleichmäßige Atemzüge zu tun, als ob er schlafen würde. Wenn er demzufolge L etwas vorspielen wollte, dann musste er davon ausgehen, dass dieser genauso wach lag wie er selbst.

„Na los, Light-kun. Stell sie mir schon.“

„Wie bitte?“ Erschrocken löste sich Light von seinem Partner, der plötzlich zu sprechen begonnen hatte, und richtete sich ein wenig im Bett auf, um sich umzudrehen und zu ihm hinüberschauen zu können. Es überraschte ihn, wie leicht es auf einmal war, seine starre Haltung aufzugeben.

„Deine Frage“, antwortete L völlig reglos. Er wandte sich seinem Freund nicht zu.

„Warum hast du...“, begann Light. „Was bezweckst du damit, wenn du mich... wenn du mir...“

„Das ist nicht deine Frage.“

Light öffnete den Mund, anstatt jedoch erneut zum Reden anzusetzen, versuchte er lediglich besser Luft zu bekommen. Er kannte von sich nicht, dass er um Atem oder Worte ringen musste. Normalerweise zitterten auch seine Lippen nicht so schnell. Aber jetzt griffen seine rastlosen Gedanken ins Leere und seine Brust zog sich zusammen, als würde ein Vakuum in seiner Körpermitte hausen.

„Ryuzaki“, sagte Light und merkte, wie falsch es in seinen Ohren klang. Er beugte sich nach vorn, hob einen Arm über Ls liegenden Körper, um sich auf der anderen Seite abzustützen, und schaute angespannt auf seinen Freund hinab, den er trotz seiner Haltung nicht berührte. Erst dann schaffte er es, erneut zu sprechen. „L, willst du etwa...?“

Wieder stockte Light. Es war nicht möglich. Er konnte es nicht.

„Nein.“ L drehte leicht den Kopf und schaute in der Dunkelheit zu ihm hinauf. Nur seine Pupillen waren noch schwärzer als die Nacht. „Ich denke, so müsste die Antwort auf deine Frage lauten, Light-kun: Nein.“ Der Jüngere starrte in Ls Gesicht. Im Zwielicht konnte er kaum etwas von dessen Mimik erkennen, die sich unentwegt unter der unzureichenden Sehfähigkeit menschlicher Augen zu wandeln schien. Der Mund dieses kaum erkennbaren Gesichtes bewegte sich in der Finsternis wie ein unwirklicher Schemen. Einzig die folgenden Worte des Detektivs zeichneten sich für Lights Sinne messerscharf ab. „Wenn es allerdings unumgänglich ist, dann will ich wenigstens...“

L stockte. Hatte die schwere samtene Stille auch ihm die Stimme geraubt?

Einige Sekunden lang blickte er noch hinauf zu Light, der ihn, wenn er es richtig erkannte, schmerzlich musterte. Dann ließ L den Kopf wieder zur Seite sinken.

„Genauso wenig wie du deine Frage aussprechen kannst, Light-kun, genauso wenig kann ich dir im Moment eine Antwort geben.“

Daraufhin atmete Light geräuschvoll aus und warf sich zurück auf das Bett. Er hatte ohnehin nichts anderes erwartet. Mit dem Gesicht zur Decke meinte er in amüsierter Hilflosigkeit:

„In letzter Zeit habe ich wirklich Schwierigkeiten, dich zu verstehen, Ryuzaki.“

„Mach dir keinen Kopf deswegen“, sagte L gleichmütig, „mir geht es ganz ähnlich.“

 

„Sie ist entkommen!“ Mogi klang sogar durch die telefonische Übertragung ungewohnt reumütig und panisch. „Misa ist mir durch einen Trick entwischt. Sie hat auf der Toilette mit einer Freundin die Kleider getauscht und diese danach als täuschenden Ersatz zu mir geschickt. Es fiel mir zwar sofort auf, aber da war Misa schon längst in ihrer Verkleidung unbemerkt an mir vorbeigelaufen. Ich bin darauf hereingefallen. Es tut mir leid.“

In der Zentrale vernahmen die Mitglieder der Sonderkommission diese Nachricht mit Sorge. Misa hatte ihr Mobiltelefon ausgeschaltet, sodass Light sie nicht erreichen konnte. Schon allein dieser Umstand ließ L stutzig werden. Am vorigen Tag war ihm sofort aufgefallen, wie wenig Widerstand Misa geleistet hatte, als Light sie darum bat, sich nicht weiter einzumischen. Normalerweise tat das blonde Mädchen alles für ihre große Liebe und dann sollte sie so rasch nachgeben, nur weil es um ihre eigene Sicherheit ging? L hegte einen bedrohlichen Verdacht. Möglicherweise...

„Ist Misa auf eigene Faust losgezogen, weil sie irgendeinen Plan verfolgt, mit dem sie glaubt, uns nützlich zu sein?“ Verblüfft hörte L, wie Light exakt das aussprach, was er selbst gerade dachte. Die beiden Männer tauschten einen unheilvollen Blick.

 

„Higuchi ist Kira!“ Freudig erregt und mit ausgebreiteten Armen platzte die Neuigkeit sofort aus Misa heraus, als sie von ihrem Alleingang zurückgekehrt in der Ermittlungszentrale eintraf. Aus ihrem Mobiltelefon, das sie den anderen Anwesenden entgegenstreckte, erklang die aufgenommene Stimme von Higuchi Kyosuke, dem Bereichsleiter für die Entwicklung neuer Technologien bei Yotsuba:

„Da ich Kira bin, werde ich die Tötung von Verbrechern aussetzen, damit du mir vertraust. Und wenn du mir dann glaubst, werden wir heiraten.“

L schwieg verbittert. Selbst wenn Higuchi tatsächlich Kira sein sollte, war es unter diesen Umständen schwierig, ihn nur aufgrund eines unzulässigen Geständnisses festzunehmen. Wenn sowohl die firmenrelevanten Morde als auch die Exekutionen von Verbrechern plötzlich aufhörten, war dies erstens kein Beweis für Higuchis Täterschaft und zweitens, was sich als weitaus ungünstiger herausstellte, war es dadurch nicht möglich, seiner Tötungsmethode auf die Schliche zu kommen.

Misa erklärte Light gerade, dass sie Higuchi zum Reden gebracht hatte, indem sie behauptete, der zweite Kira zu sein. Da der alleinstehende Firmenmitarbeiter ein reges Interesse an dem jungen Popidol hegte, war er sofort darauf angesprungen.

„Verdammt, ich habe dir doch gesagt, dass du genau das dementieren sollst!“ Light verbarg seine Beunruhigung in keiner Weise. Wie konnte sich das Mädchen so unbedarft in solche Gefahr begeben?

„A...aber jetzt wissen wir, dass Higuchi Kira ist“, verteidigte sich Misa kleinlaut, „und wir müssen ihn jetzt nur noch verhaften.“

„Eben nicht! Er muss doch nur mit den anderen Konzernmitgliedern sprechen und darum bitten, die Morde auszusetzen, um dich als zweiten Kira auf ihre Seite zu ziehen. Damit haben wir rein gar nichts gewonnen, weil wir noch immer nicht wissen, wer wirklich Kira ist... aber warte!“ Light wandte sich an L, der sich bislang herausgehalten hatte. „Wir brauchen ja später nur Namikawa zu fragen, ob diese Sache überhaupt unter den Sieben erörtert wurde, bevor die Morde aufhörten.“

„Das stimmt...“, bestätigte L, während er konzentriert mit ein paar Zuckerwürfeln einen Turm zwischen Henkel und Tassenrand aufbaute. Einstimmig berieten die Ermittler nun über den möglichen weiteren Verlauf der Ereignisse. Zwar kamen sie zu dem Schluss, dass sie sich, sollten die Morde demnächst tatsächlich aufhören, der Schuldigkeit Higuchis sicher sein konnten, doch relativierte Light diesen Gewinn mit den Worten:

„Auf diese Weise werden wir nichts über die Methode des Tötens herausfinden. Wenn die Morde aufhören, werden wir die Methode auch nicht mehr beobachten können.“ Zum wiederholten Mal sprach Light die Gedanken seines Partners aus und nahm damit in Kauf, dass weitere Todesopfer für die Lösung des Falles vonnöten sein würden. Beiden Ermittlern war klar, dass sie Kira nur ergreifen konnten, wenn sie ihn auf frischer Tat ertappten. Misas Erklärungen, wie sie auf Higuchi gekommen war und ihn von sich überzeugen konnte, waren zwar äußerst fadenscheinig, doch im Augenblick mussten sie sich mit der Situation arrangieren.

„Es ist zu spät, um sich noch über seine Tötungsmethode zu unterhalten. Wir müssen Higuchi hochnehmen“, verlangte Light eindringlich.

„Meinst du, um die Gefahr für Misa abzuwenden?“

„Ja, genau!“ Light wollte nicht riskieren, dass noch mehr unschuldige Menschen ihr Leben lassen mussten, selbst wenn das Mädchen aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht so unschuldig war. Er fühlte sich für Misa verantwortlich, die nur seinetwegen jedes Wagnis einging. Gleichzeitig hatte Light das Bedürfnis, die Einkalkulierung aller weiteren Opfer wiedergutzumachen und durch einen raschen Erfolg zu rechtfertigen. „Misa hat das alles getan, weil sie dachte, wir könnten so Higuchi erwischen. Wir haben keine Wahl. Vielleicht finden wir die Methode noch heraus, nachdem wir ihn geschnappt haben.“

L hatte die beiden Blöcke seines Yokan, eine aus Bohnenmus gefertigte, geleeartig erstarrte Süßigkeit, mit einem Zahnstocher ineinander gesteckt und war mittlerweile damit beschäftigt, einen zweiten Zuckerwürfelturm darauf zu errichten. Lights Einwand war durchaus berechtigt. In den meisten Fällen dachten die zwei Männer ohnehin annähernd dasselbe. Einen entscheidenden Unterschied gab es dennoch: Lights Ziel war Higuchi, das von L hingegen...

„Wir müssen sowieso mit der Verhaftung warten, bis wir feststellen, dass keine Verbrecher mehr sterben“, legte L dar, wobei er sich einen Zuckerwürfel in den Mund schob, „lasst mich solange noch überlegen.“ Er kontaktierte Wedy und erkundigte sich nach dem Stand der Überwachungsmöglichkeiten im Firmengebäude des japanischen Konzerns. Den Angaben der Agentin zufolge waren sie mittlerweile in der Lage, siebzig Prozent der Aktivitäten dort zu verfolgen. L wies sie daraufhin an, das Hauptaugenmerk auf Higuchi zu lenken und im Speziellen all seine teuren Autos zu verkabeln.

„Wir sollten Higuchi...“, meinte L und hielt einen Moment inne, „...wir sollten Kira in eine Situation bringen, in der er draußen, vor unseren Augen, jemanden tötet.“

„Hast du etwa eine Idee?“, fragte Light nichtsahnend.

„Ich hätte da vielleicht eine, aber vorher gibt es noch etwas, das ich klären muss...“ Wieder zögerte L und dachte nach, bevor er mit beinahe schwerer Stimme weitersprach. „Light-kun, tut mir leid, dass ich noch einmal auf das Thema zurückkomme und dich direkt fragen muss...“

„Was ist denn?“

„Erinnerst du dich ans Töten?“

Lights Augen weiteten sich und ein Stich fuhr durch seine Brust, an den er sich eigentlich längst hätte gewöhnen müssen.

„Reitest du immer noch darauf herum...? Wie oft soll ich noch sagen, dass ich nicht Kira bin!“

„Bitte beantworte meine Frage!“ Ls Stimme klang nachdrücklich und ernst, als würde er sich selbst mit seinen Worten angreifen. Er wirkte aufgewühlt und angespannt. „Erinnerst du dich?“

„Nein, ich erinnere mich nicht...“

Misa verneinte die Frage ebenfalls. Im Gegensatz zu dem fast gleichaltrigen jungen Mann allerdings schien sie nicht allzu stark davon verletzt zu sein. Light wollte es nicht mehr hören. Er wollte nicht fortwährend seine eigenen Gedanken aus den Worten des Meisterdetektivs hören, der ihm damit nur immer wieder seine eigenen Zweifel vor Augen führte. Er wollte es nicht wahrhaben.

„Light-kun, bitte analysiere ernsthaft, was ich jetzt sagen werde, und ziehe deine Schlüsse. Von deiner Antwort wird meine Entscheidung abhängen, ob wir Kira festnehmen.“ L legte Vertrauen und Zuversicht in seine Stimme, was angesichts seiner Forderung völlig unpassend erschien. Er fing Lights Blick ein, starrte durch die perfekte Fassade bis auf den Grund von dessen Seele und war sich sicher, dass dieser ihm nicht ausweichen würde. „Yagami Light war Kira. Dann sind seine Fähigkeiten auf einen Anderen übergegangen und Yagami Light vergisst, dass er Kira gewesen ist. Ich brauche eine Analyse basierend auf dieser Hypothese. Kannst du dich da hineinversetzen?“

„...Ja, ich kann es versuchen.“ Der Angesprochene erwiderte den Blick seines Freundes unverwandt und ließ schließlich dessen Gedankenspiel zu.

„Yagami Light war Kira“, wiederholte L langsam. „Dann sind seine Fähigkeiten auf einen Anderen übergegangen. War es Yagami Lights Absicht, dass seine Fähigkeiten übertragen wurden? Oder gab es jemanden im Hintergrund, der ihn zu Kira gemacht hat und die entsprechenden Fähigkeiten schließlich auf eine andere Person übertrug? Was ist richtig?“

Lange Zeit schwieg Light. Er schloss die Augen und versuchte so tief in sein Inneres zu schauen, wie es normalerweise nur L tat. Dabei kannte er die Antwort schon längst.

„Unter diesen Voraussetzungen wäre es mit Yagami Lights Absicht geschehen“, entgegnete er und atmete auf.


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Ein Surrogat ist ein Ersatzstoff, meist von minderer Qualität als das Original.
2. Zur zweiten Szene in diesem Kapitel inspirierte mich der Song „Rücken an Rücken“ von ASP. Komplett anzeigen

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Von:  Blaetterklingen
2012-03-05T13:04:33+00:00 05.03.2012 14:04
Zwischenzeitig baut sich immer das Gefühl auf, das sich die beiden Protagonisten in ihrem stillen Kämmerchen völlig anders verhalten als in Gesellschaft. Die Gefühle und der Versuch der Offenheit ist anders, sie tragen eine andere Maske, aber eigentlich verhalten sie sich gleich. Namentlich, indem sie gar nichts tun, sondern nur Dinge vorbereiten, um irgendwann die Möglichkeit zu haben, etwas tun zu können. Es braucht massive Einflüsse von außen, damit man sie überhaupt dazu bringen kann, etwas zu tun. Ehrlich gesagt fand ich das im Manga ziemlich nervend. Weil die Möglichkeit auf Fehler immer gegeben ist und wenn man jede Chance und alle Szenarien bis zur untiefe ausgelotet hat, wird man auch nicht auf eine Hundert Prozentige Sicherheit kommen. Sicherlich wurde Ls harsches Vorgehen durch die Zusammenarbeit mit Light gebremst, aber irgendwie erschien das Vorgehen des Meisterdetektives konsistenter, als er mit Menschenleben wie mit Zuckerwürfeln um sich warf. Stattdessen philosophieren sie über die Richtigkeit von Vorgehensweisen, die sie letztlich sowieso wieder verfolgen. Ob man Menschen aktiv opfern, oder ihren Tot billigen sollte, wird auch in der Ethik gerne als Thema bis zur Unansehnlichkeit zerkaut. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist der Vergleich von Hitler und Stalin. Die Taten des Österreichers werden als „schlimmer“ betrachtet, weil in seinen Lagern eine Politik des Aktiven Genozids betrieben wird. Bei Stalin starben, selbst wenn man ähnliche Zeitabschnitte betrachtet, wesentlich mehr Menschen, schon in den Lagern. Aber aus Gründen der Ineffizienz, Inkompetenz und mangelnden Versorgung. Bei solchen Vergleichen will man den Vergleichenden immer akademische Blindheit unterstellen. Was kümmert es die Toten, wie sie starben? Nach dieser absurden Logik wäre ein sadistischer Mörder noch „schlimmer“ als Auschwitz, weil neben der geplanten Tötungsabsicht auch gesteigerte Grausamkeit und Vergnügen an selbiger Hinzukommt. Das Grauen kann immer noch gesteigert werden, aber Tot bleibt immer Tot.
Unter genau diesen Gesichtspunkt sehe ich den späten L. Statt Menschen aktiv zu opfern, opfert er sie passiv und in größerer Menge, die sich durch den Zeitraum eines frei handelnden Kiras schon von allein erklärt. Was mich zu einem etwas größeren Gedankensprung bringt. L, der eine Existenzialistische Sichtweise vertritt, fesselt sich selbst, an etwas derart austauschbares wie Gerechtigkeit, Justiz und Strafverfolgungssysteme. Ist das nicht eigentlich absurd? Im Grunde genommen ist es für ihn nur ein Spiel, bei dem er sich an die festgelegten Rollen und Regeln hält, aber das macht es nicht weniger zum Götzendienst. Die Frage ist doch ob wir uns nicht alle unsere Götter suchen. Wenn man einige modisch gestylte Frauen auf der Straße, die unter die Schublade „Bitch“ fallen, fragen würde, woran sie glauben, würde ein bestimmter Prozentsatz sagen: an die Schönheit. Auch wenn es heute abstrakter ist, als mit früheren konkreten Götterwelten, ist sie doch eindeutig eine Jüngerin der Göttin der Schönheit. Wir schütteln darüber Heute den Kopf, aber irgendwie suchen wir uns alle ein höheres Prinzip. Ich kenne Menschen, die sich als Frei bezeichnen und mehr Ketten mit sich tragen, als auf dieser Welt jemals geschmiedet wurden. Ob Gerechtigkeit, Hedonismus, Schönheit, oder das Verlangen mit seinen Partner derart synchron zu ticken, das die eigenen Gedanken von anderen Ausgesprochen werden, wir klammern uns an Götzen. Und ja, selbst die Leere und die Hoffnung, das alles Sinnlos ist und mit dem Ableben in jeden Fall alles endet, ist auch ein Götze, eine der mit Freiheit, den Anspruch auf Wahrheit wirbt und der Möglichkeit, jederzeit die Notbremse zu ziehen und aus dem Leben auszusteigen. Aber wie alle Götter verlangen auch er einen hohen Preis, wenn man nichts für ihn opfert, funktioniert auch das höchste Prinzip nicht.


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