[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 20: Opfer ----------------- Opfer   Seit dem Vorfall zwischen dem Detektiv und seinem sowohl Hauptverdächtigen als auch wichtigsten Mitstreiter hatten die beiden jungen Männer das Thema ihrer unerwarteten Konfrontation lediglich flüchtig, niemals direkt angesprochen. Sie hatten nicht darüber gesprochen, warum Light seinen Partner derart bedrängt und warum dieser wiederum sich nicht gewehrt hatte. Solange keiner ein Wort darüber verlor, herrschte Gleichstand. Solange sie schwiegen, war niemand im Vorteil und niemand bereits Verlierer. Entgegen aller Erwartungen war jenes Stillschweigen nicht erzwungen. Auch sonst schien sich nichts geändert zu haben. Light wusste nicht, ob L überhaupt Gedanken daran verschwendete. Wenn der Detektiv die Situation tatsächlich für seine Ermittlungsarbeit ausnutzen wollte, dann ergriff er zumindest nicht selbst die Initiative, sondern wartete die weitere Entwicklung ab. Derweil musste sich Light darüber im Klaren werden, wo die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben verlief und welche seiner Emotionen lediglich aus Unzufriedenheit und Anspannung entsprungen waren. Immerhin sollte ihm eine Reflexion darüber, wie er, zurückgekehrt in die Normalität, handeln würde, zurzeit nicht möglich sein. Allerdings blieb es genauso fragwürdig, ob Light den Abschluss der Ermittlungen abwarten konnte. Ebenjene Ermittlungen hatten ihm schließlich erst derart zugesetzt, dass er im Umkehrschluss durch emotionale Instabilität seine Arbeit gefährden konnte. Ein fremder Finger legte sich plötzlich an seine Stirn und fuhr mehrmals mit leichtem Druck bis zum Haaransatz, als sollte damit etwas weggewischt werden. Light war nur innerlich, in seiner Selbstbeherrschung nach außen nicht sichtbar, erschrocken und wandte seine Aufmerksamkeit von der Stadtkulisse ab und seinem Partner zu. Geraume Zeit hatte der junge Student in gerader Haltung, mit den Händen in den Taschen seiner Stoffhose, vor dem Fenster verharrt und gedankenversunken hinaus gestarrt, bis sich L dazugesellt und ihn aus ebenjenen Gedanken gerissen hatte. Jetzt stand der Detektiv mit gekrümmtem Rücken und erhobenem Arm vor ihm, um die Falten auf Lights Stirn zu glätten. Stets zwischen Naivität und Allwissenheit schwankte der Ausdruck in Ls Gesicht, wenn er seine Mitmenschen mit leer wirkenden Augen untersuchte, um mehr deduzieren zu können, als man aus seiner eigenen Person zu lesen imstande war. „Hast du Lust“, fragte L, „auf ein Spiel?“ Er hielt mit spitzen Fingern für einen kurzen Moment eine Spielfigur in die Luft, eine Schachfigur, wie Light zu erfassen meinte. Bevor er es allerdings genau erkennen konnte, hatte sich L bereits abgewandt und ging voran, ohne auf eine Antwort zu warten. Nach wenigen Sekunden der Irritation folgte ihm Light. Obwohl er mittlerweile zu wissen glaubte, dass es sich vermutlich in der Tat um eine Schachfigur handelte, wusste Light nicht mit Sicherheit, welche Figur L in der Hand hielt. Vielleicht war es ein König. Vielleicht aber auch nur ein Bauer.   Leise raschelten die Dokumente, als der einstige Oberinspektor Yagami sie niederlegte, nachdem er das bedruckte Papier eine geraume Zeit nur noch angestarrt hatte, ohne die Informationen ein weiteres der bereits zahllosen Male zu lesen. Er wusste um den Inhalt Bescheid. Er kannte alle Fakten zum jetzigen Stand des Falles, genauso wie ihm das unwegsame Terrain klar war, auf dem sich die Sonderkommission bewegte, sodass es vor kurzem sogar zu einer Spaltung des Teams gekommen war. „Wie kommst du voran, Vater?“ Light schaute besorgt zu ihm hinüber und vergaß dabei für einen Moment die Partie Schach, die zwischen ihm und L auf dem Tisch aufgebaut war. Herr Yagami begegnete dem Blick seines Sohnes nur für einen kurzen Moment. Dann seufzte er verhalten, nahm seine Brille ab und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die angespannte Nasenwurzel. Anstatt verbal eine Antwort zu geben, machte er nur eine unbestimmte, wegwerfende Handbewegung. Um ihn nicht weiter unangenehm zu bedrängen, betrachtete Light seinen Vater schweigend und mit einem fast hilflosen, obzwar aufbauend gemeinten Lächeln, bevor er sich wieder dem Spiel zuwandte. Die beiden jungen Ermittler führten ihre Schachzüge sehr rasch aus, als wollten sie kaum Überlegungen investieren. Dennoch waren die Paraden brillant. Herr Yagami lehnte sich im Sessel zurück und folgte der Partie mit halber Aufmerksamkeit. Jemand hatte im Raum eine Musikanlage eingeschaltet, aus welcher die improvisierte Melodie einer einzelnen Gitarre erklang, um das penetrante Surren der elektronischen Geräte zu übertönen. „Noch habe ich mich nicht für eine Verhaftung entschieden“, gab plötzlich Herr Yagami nachdenklich zu. Als er sich der Formulierung seiner Aussage bewusst wurde, senkte er betreten die Lider und lockerte ein wenig den Knoten seiner Krawatte, bevor er sich korrigierte: „Das heißt, derzeitig bin ich selbstverständlich kein Polizist mehr.“ Light versuchte den Schmerz in den Worten seines Vaters nicht an sich heranzulassen. Dennoch hörte er ihm aufmerksam zu. „Es fällt mir schwer, dieses Denken abzulegen. Gewohnte Bahnen zu verlassen ist wohl besonders schwierig, wenn man die eigene Arbeit nicht nur als Beruf, sondern vor allen Dingen als Berufung auffasst. Aber immerhin habe ich noch die Möglichkeit, auf indirektem Weg die sieben Verdächtigen festnehmen zu lassen.“ „Werden Sie es tun?“, fragte L und hielt mitten in der Bewegung inne, sodass der Läufer zwischen seinen Fingern einige Sekunden lang über dem Schlachtfeld schwebte. „Ich werde Sie nicht davon abhalten, Yagami-san, wenn Sie der Meinung sind, dass Sie das Richtige tun. Aber ich habe nicht vor, die Verantwortung dafür zu übernehmen.“ „Und was ist mit der Verantwortung den Gefängnisinsassen gegenüber, die jetzt in Gefahr schweben?“, konterte der Ältere. „Sie sind nicht anonym. Können wir uns von der Schuld freisprechen, wenn einer von ihnen aufgrund unserer Vorgehensweise im nächsten Monat stirbt?“ L tauschte mit einer Hand seinen Läufer gegen einen von Lights Türmen und stellte die gegnerische Spielfigur an den Rand des Feldes. Gleichgültig ließ er verlauten: „Ist es etwa richtig, sich in ethischen Normen zeitnah zu orientieren? Müssen wir uns nur auf den nächsten Schritt konzentrieren, wobei wir vor dem Rest des Weges die Augen verschließen? Mit der Festlegung unserer Grundsätze ist Ethik zwar sowieso auf die Zukunft ausgerichtet, aber was ist, wenn wir damit, dass wir jetzt ein paar Personen schützen, weit mehr Menschen opfern, die später folgen werden? Verstehe ich das also korrekt, wir sollen uns nicht schuldig machen für die nächstliegenden Opfer, denn wer danach stirbt, fällt nicht mehr in unseren Verantwortungsbereich?“ „So habe ich das nicht gemeint!“ Die Empörung des einstigen Polizeibeamten wurde nur von seinem Schrecken über jene gefühllosen Worte gedämpft. „Vielleicht hört es mit der Verhaftung der sieben ja auf und es gibt gar keine weiteren Opfer, an denen wir schuld sein könnten.“ „Glaubst du das denn, Vater?“, mischte sich nun Light ein. „Bei unseren bisherigen Erfahrungen mit Kira, glaubst du, dass es durch eine Inhaftierung einfach aufhören würde? Wir haben nicht einmal stichhaltige Beweise, um die Leute von Yotsuba lange festzuhalten.“ Herr Yagami beugte sich nach vorn und stützte in sitzender Haltung die Ellbogen auf seine Knie, während er die Hände ineinander verschränkte. „Natürlich hoffe ich einfach nur auf das Beste“, räumte er ein, „obwohl mir mein Verstand sagt, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen wird. Trotzdem kann ich nicht anders, als ein Vorgehen kategorisch abzulehnen, bei dem Menschen geopfert werden, die bereits ziemlich real sind.“ „Ah, so ist das“, warf L in gespielt unschuldigem Verstehen ein. „Wir haben es jetzt mit Individuen zu tun, nicht mit unbekannten zukünftigen Menschen. Das sind bewusste und bekannte Größen, logisch. Wenn ein Mensch stirbt, ist es tragisch, nicht wahr? Aber wenn Tausende sterben, ist es bloß Statistik.“ „Ryuzaki!“ Light stieß mit dem Pferd einen von Ls Bauern unbeabsichtigt heftig von der Kante des Schachbretts. Schnell stellte er ihn wieder auf, um ihn bei den anderen gestürzten Figuren einzureihen. „Du weißt genau, dass man das nicht pauschalisieren kann. Sogar Grundsätze lassen sich im derzeitigen Fall nicht problemlos festmachen. Wenn du anders denken würdest, hättest du nicht zugelassen, dass sich zwei Teams bilden, dann würdest du all dem Einhalt gebieten. Aber dir ist klar, dass niemand hier im Recht sein kann. Eigentlich vertrittst du doch dieselbe Meinung wie mein Vater, bloß unsere Prioritäten sind verschieden, weil wir ein späteres Ziel verfolgen.“ L starrte, während sein Kollege sprach, mit weit aufgerissenen Augen nachdenklich durch die gegenüberliegende Sessellehne hindurch. Ohne seinen fixierten Blick zu lösen antwortete er nach kurzer Stille monoton: „Das ist die Schwierigkeit beim Wechsel vom theoretischen Grundsatz zur Praxis. Von dem Punkt, wie etwas ist, darauf zu schließen, wie es sein sollte.“ „Quasi ein naturalistischer Fehlschluss“, fügte Light nickend hinzu. „Kira tötet mit unserem Wissen weiterhin Menschen, darum müssen wir ihn jetzt daran hindern; das ist es, was uns die Moral scheinbar vorgibt. Unsere erste Prämisse hat aber keinen moralischen Wert, weshalb daraus eigentlich keine Norm abgeleitet werden kann. In Japan gibt es die Todesstrafe, wir finden es demnach nicht per se moralisch verwerflich, Verbrecher zu töten. Was wir hingegen nicht akzeptieren können, ist eine vom Staat unabhängige Exekutive. Die meisten Bürger fällen kein Urteil aufgrund komplizierter syllogistischer Gleichungen, sondern lediglich nach Gefühl. Böse Menschen dürfe man nicht töten, das wäre aus der kommunizierten Norm heraus die richtige Ansicht. Nur aufgrund dessen, dass bestimmte Abläufe in der Welt aus der Natur der Sache heraus und somit auch in unserem eigenen Handeln stets gleich ablaufen, bedeutet das nicht, dass es auch in Zukunft so sein wird.“ „In den meisten Bereichen denken wir aber nicht anders“, ergänzte L. „Wir sondieren, was wir stetig beobachten, und meinen, daraus Regeln ableiten zu können, als würde alles ausnahmslos seinen Bestimmungen folgen. Darum kommt es umgekehrt in Argumentationen oftmals zu der Verwirrung von positivem Recht und ethischer Norm, weil Grundsätze nicht leicht zum starren Gesetz formuliert werden können und einige nicht zwischen dem unterscheiden, was sie für richtig halten, und dem, was Recht ist. Trotz einer emotional eingestellten Moral brauchen wir die Theorie, die dem Gerechtigkeitsgefühl einen klaren begrifflichen Rahmen gibt.“ „Ich würde es eher“, meinte Herr Yagami mit einem Anflug von ungewohntem Sarkasmus in der Stimme, „intellektuelle Schizophrenie nennen.“ Wieder nickte Light und stimmte mit dieser Geste seinem Vater zu, bevor er sagte: „Es ist nun einmal leichter, an die Konsequenzen dessen zu denken, was wir tun, als an die Konsequenzen dessen, was wir nicht tun.“ In dem daraufhin entstehenden einvernehmlichen Schweigen streckte L die Hand aus, um seinen König in Bewegung zu setzen.   Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass Kira als Instanz über all den bisher aufgetretenen Verdächtigen schwebte? Light versuchte sich auf die Frage zu konzentrieren, während sein Ermittlungspartner halbnackt neben ihm stand. Mit unbedecktem Oberkörper hatte sich L vor dem Schrank positioniert und hielt in seinen ausgestreckten Armen zwei weiße T-Shirts. Es war spät am Abend. Light hatte sich schon für die Nacht fertig gemacht. Normalerweise benötigte auch L nie so viel Zeit zum Umziehen. Vielleicht kontrollierte Kira uneingeschränkt fremde Menschen ohne ihr Wissen, sowohl Light und Misa als auch die Mitglieder von Yotsuba. Dann wäre der Mörder selbst noch nie in Erscheinung getreten. Angestrengt starrte Light auf den Boden vor seinen Füßen, um den Gedanken nicht zu verlieren, wobei er im Augenwinkel zugleich bemerkte, wie L den Verschluss seiner Jeans öffnete, die ihm nur locker auf der Hüfte saß. Es war nicht einmal nötig, dass Kira einen Einfluss auf Yotsuba ausübte. Wenn er in der Lage war, die Sitzungen der Geschäftsleitung mitzuverfolgen, dann hätte er die Morde ohne deren Zutun durchführen können, um zum Beispiel das Ermittlungsteam in die Irre zu führen. Passte dieses Vorgehen zu Kira? Seine ungesunde Haltung gab dem Meisterdetektiv L stets etwas Geisterhaftes, Spinnenartiges, aber auch Unbedarftes. Dieser Eindruck wurde von seinem geringen Gewicht verstärkt, obwohl seine körperliche Konstitution keineswegs schwach oder zerbrechlich wirkte. Light seufzte still. Er nahm sich vor, am nächsten Tag, wenn Misa und Aiber ihre Vorführung bei Yotsuba gaben, noch einmal die Morde zu überprüfen, die vor und nach seiner Inhaftierung verübt worden waren. Sofort nach dem Aufwachen würde er sich mit dieser Angelegenheit beschäftigen. Vorausgesetzt, er konnte in dieser Nacht endlich wieder durchschlafen.   Light öffnete die Augen. Die Bilder des eben erlebten Traumes waren bereits verblasst. Trotzdem befand er sich in jenem Stadium des halben Deliriums, das ebenso dem Schlaf zugehören konnte. In liegender Position sah er eine Zimmerdecke, die ihm im ersten Moment fremd erschien, doch gleich darauf vertrauter vorkam als viele andere Umgebungen, die er in seinem bisherigen Leben als Zuhause bezeichnet hatte. Ein heißer, dann kalter Schauer glitt von seinem Nacken aus über seinen gesamten Körper und verbreitete in ihm ein merkwürdiges Gefühl, das er anfangs nicht einzuordnen vermochte. Bruchstückhaft kehrten die Illusionen und Wahrheiten seines Traumes zurück. Noch im Bewusstwerdungsprozess wanderte Lights Blick ziellos hinab. „Verdammt!“, zischte er erschrocken, richtete sich sofort auf, um sich zu erheben und zu gehen, ohne Klarheit darüber, wohin dieses Weggehen ihn bringen sollte. Da wurde die Bewegung abrupt von der Kette an seinem Handgelenk aufgehalten. In seinem Vorhaben erstarrt blieb Light reglos auf dem Bettrand sitzen, bis die Erkenntnis, dass er nicht einfach entkommen konnte, sich langsam mit seiner Vernunft vereinbaren ließ. Jeder weggetretene Zustand, der dem Schlaf ähnelte oder sich ihm näherte, stahl dem Menschen die Kontrolle über sich selbst. Es war ein Zustand der Enthemmung, bei dem Imaginationen viel zu leicht in der Lage waren, Einfluss auf den Verstand zu nehmen. Und auf den Körper. Während Light diesen Gedanken verdrängte, versuchte er sich daran zu erinnern, ob der Ruck in den Handschellen von einer entgegensetzten Kraft herrührte oder nur von dem durch die Reichweite der Kette hervorgerufenen Widerstand. Er fragte sich, ob L hinter ihm hockte, die Metallfessel mit der Faust umschlossen und erwartungsvoll seinen Rücken anstarrend, um auf eine Reaktion zu warten. Konnte L es vielleicht nicht bemerkt haben? Langsam atmete Light aus. Er entspannte seine Schultern. Weder mit Überlegungen noch mit abgekehrter Regungslosigkeit ließ sich die Situation lösen, die ohnehin nur für ihn aufgrund seiner eigenen Aufgewühltheit zum Problem geworden war. In nunmehr ausgeglichener Verfassung drehte sich Light um und begegnete sogleich dem tiefschwarzen Augenpaar des Detektivs. Dieser saß, das eine Bein angewinkelt, das andere locker gestreckt, ruhig auf dem Bett und schaute stumm zurück. Nach einem kurzen Moment lehnte sich L gegen die Wand in seinem Rücken. Anstatt seinen jungen Partner musterte er nun unaufdringlich seine nackten Füße. „Ich habe schlecht geschlafen“, meinte Light mit relativ ausdrucksloser Stimme, ohne von L zum Reden animiert worden zu sein. „Ich weiß“, antwortete dieser in sanfter Geduld. Dabei fing er an, abwesend mit dem Daumen über seine Unterlippe zu streichen. Light wandte den Blick ab. Die Digitalanzeige seines Weckers zeigte an, dass es kurz nach vier Uhr war. In letzter Zeit wachte er häufig zu dieser Stunde auf, obwohl er nicht behaupten konnte, ständig von Alpträumen geplagt zu werden. Es waren keine Alpträume. Als könnte er die Gedanken des jungen Mannes lesen, sagte L in die Stille der Nacht hinein: „Nicht nur Menschen, sondern auch viele andere Tiere verarbeiten im Schlaf die Erlebnisse des Tages, den gesamten Input des Gehirns. Hierfür werden die seichten Schlafphasen, besonders die REM-Phase benötigt, ebenso wie der Tiefschlaf, welcher der Regeneration des Körpers dient. Unter den Träumen ist ein gewisser Prozentsatz zu verzeichnen, der von den meisten Leuten als schlecht und weniger erholsam beschrieben wird. Die Anzahl von Alpträumen liegt bei dir, Light-kun, soweit ich das beobachten konnte, im normalen Bereich, wenn nicht sogar unter dem Durchschnitt. Bereits während der Überwachung in deinem Elternhaus habe ich feststellen können, dass du einen normalen und gesunden Schlaf hast.“ Im Laufe seiner Ausführung wirkte L kein einziges Mal so, als würde er Light mit seiner Aufmerksamkeit bedrängen. Es schien eher, als hielte er sich diskret zurück. Light wiederum hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht, während er zuhörte. Müdigkeit ließ seine Augenlider schwer werden, lastete auf seinen Schultern, wirkte jedoch auch, ähnlich wie die tiefe Stimme seines Freundes, besänftigend auf seinen Geist. „Du hast mich im Schlaf beobachtet?“, wollte Light zur Hälfte rhetorisch wissen, da er zwar an einer Antwort interessiert war, allerdings ohne noch länger emotional geplagt zu sein. „Habe ich das nicht eben gesagt?“, fragte L und sah dabei endlich auf. „Entschuldige, es ließe sich so auslegen, als könnte auch ein anderer Ermittler die Observation übernommen haben.“ „Nein, die meiste Zeit habe ich die Überwachung durchgeführt, obwohl dein Vater und Watari ebenfalls beteiligt waren“, erklärte L und rutschte tiefer in die Laken hinein, bevor er sich im Liegen zur Seite drehte. Ein paar wirre Haarsträhnen fielen ihm dadurch über die Augen und legten eines seiner Ohren frei. L strich das Haar zurück, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass sein Ohr vollständig bedeckt war. Mehrmals überprüfte er, ob auch kein Stück seiner Ohrmuschel hervorlugte. „Watari hat durchaus einen Hang zur Perfektion“, räumte L ein. „Er kann sehr penibel sein. Aber ein Perfektionist zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er perfekt ist, sondern dass er perfekt sein will. Wataris Aufnahmefähigkeit ist nicht mit der meinen vergleichbar. Mir fallen Abweichungen möglicherweise eher auf als ihm.“ „Und du hofftest, diese Abweichungen bei mir zu finden, weil ich mich im Schlaf weniger kontrollieren und somit leichter verraten könnte“, folgerte Light nüchtern, als ginge es um eine fremde Person. „Schließlich ist es nahezu unvorstellbar, wenn jemand dermaßen viele Opfer zu verzeichnen hat wie Kira, dass man ihm dann keinerlei Mitleid, Reue oder ähnliches anmerkt, und sei es bloß durch einen unruhigen Schlaf.“ „Außer, er kann perfekt schauspielern“, fügte L nickend hinzu, „oder er ist ein Soziopath.“ Lights Augenbrauen zuckten kurz bei diesen Worten. Er starrte vor sich auf die Bettdecke, wollte den Kopf nicht heben, wollte nicht dem eindringlichen Blick des Meisterdetektivs begegnen, den er konzentriert auf sich spürte oder zumindest zu spüren glaubte, um auch noch die geringste verdächtige Abweichung in seinem Verhalten zu erkennen. Light war bewusst, wie deutlich seine Mimik verraten musste, dass er durch Ls Aussage verletzt worden war, obwohl es dafür keinen Grund gab und er sich mit diesem Gefühl seine Schuldigkeit eingestanden hätte. Gleichermaßen wusste er, dass L diesem Gesichtsausdruck nicht glauben würde. Er würde es für Täuschung halten. Aus jedem Schweigen glaubte Light die Zweifel seines Freundes zu vernehmen: Spielst du mir nur etwas vor? Versuchst du mich hinters Licht zu führen? Würdest du mich verraten? Light konnte diese Vorhaltungen nicht entkräften. Niemand konnte einen misstrauischen Menschen vom Gegenteil überzeugen. Außerdem ließ eine weitere Gewissheit Schuldgefühle in Light aufsteigen, für die es eigentlich keinerlei Notwendigkeit gab. Der einstig erfolgreiche Schüler, nun angesehene Student aus gutem Haus, der stets in allen Bereichen herausragende Leistungen zu bringen pflegte, zeigte seine momentane Gefühlslage nur deshalb so offensichtlich, weil er seinem Freund gegenüber ehrlich sein wollte. Das änderte jedoch, wenn er ehrlich war, nichts an der Tatsache, dass er seine Emotionen genauso einfach hätte verbergen können. Light heftete seinen Blick auf die vom schwachen Licht der Nachttischlampe beleuchteten Wände, während er sich auf seiner Seite des Bettes auf den Rücken legte, daraufhin die Arme hinter dem Kopf verschränkte und an die Decke starrte. „Zu den möglichen Erklärungen, warum du nicht einmal zum Schlafen deine Barrikade außer Acht lässt“, mutmaßte er dann, „gehört also neben der Angst vor einem potenziellen Soziopathen mit Gedächtnisverlust auch die Chance auf eine fortlaufende Beobachtung eines Mörders, der sich durch irgendein Verhalten verraten könnte. Anfangs kam es mir noch so vor, als kollidierte deine vermeintliche Sorge um deine eigene Sicherheit mit deiner Selbstaufopferung. Wenn ich dagegen jetzt darüber nachdenke, ergibt plötzlich vieles einen Sinn.“ „Tut es das?“, fragte L und gähnte desinteressiert. Unter den inneren Frieden, den Light oftmals durch die beruhigende Art seines Freundes verspürte, mischte sich das Verlangen, auf Konfrontationskurs zu gehen. War er unbewusst in einer gereizten Verfassung? Wollte er sich mit seinem Freund messen? War das, was unterschwellig in ihm aufstieg, eine Form ungewisser Rivalität? Light erinnerte sich daran, dass L ihn erst vor kurzer Zeit gefragt hatte, ob er mit seinen Aussagen zugleich Drohungen aussprechen wollte. Zwar konnte Light nicht einmal sich selbst gegenüber eine Antwort darauf geben, doch stand für ihn derweil die Frage im Mittelpunkt, ob L ihn seinerseits herausforderte. Seinen Mut zusammennehmend richtete sich Light auf, um aus dem abgewandten Profil seines Partners zumindest einen Bruchteil von dessen emotionaler Verfassung erahnen zu können, und ging in die Offensive. „Ist das ein Vabanquespiel, Ryuzaki, bei dem du dich selbst aufs Spiel setzt, indem du das Opfer oder zumindest den Köder mimst?“ „Die Mittel sind doch völlig gleich, auch wenn man selbst zu diesen Mitteln gehört, ob Bauer oder König, bloß eine Figur auf dem Schachbrett zwischen Schwarz und Weiß, eine Marionette des eigenen Plans, solange das Ziel erreicht werden kann, spielt das alles keine Rolle...“ „Ryuzaki!“ Light versuchte, die merkwürdig abwesend gesprochenen Worte des Detektivs zu unterbrechen, der offenbar mit seinen Gedanken an einem weit entfernten Ort war. Ungerührt beendete L seine Aussage: „Was auf dem Spiel steht, wissen wir erst, wenn wir erkennen, dass es auf dem Spiel steht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)