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Ohne Macht

Ohne Macht
 

„Heureka“, murmelte Light kaum hörbar, „es geht doch.“

Ein letztes Mal überflog er seine gesammelten Daten, um sich seiner Entdeckung gewiss zu sein, bevor er etwas deutlicher verlauten ließ:

„Ryuzaki, entschuldige. Auch wenn du keine Lust hast, aber kannst du mal eben herkommen und dir das anschauen?“

Mit gelangweiltem Gesichtsausdruck rollte L seinen Stuhl zu ihm hinüber und schaute auf den Computermonitor.

„Ist das nicht seltsam, dieser sprunghafte Anstieg?“

Light zeigte seinem Ermittlungspartner einige Diagramme parallel zu einer Tabelle mit Namen und wusste, dass dieser die Andeutungen ohne Schwierigkeiten verstehen würde. Wie erwartet zeichnete sich auf dem Gesicht des Meisterdetektivs sofortiges Erkennen ab.

„Light-kun...“

„Was ist, lässt das deine Motivation zurückkehren?“

Endlich hatte Light den entscheidenden Hinweis gefunden, nach welchem er eine schiere Ewigkeit von zwei Monaten gesucht hatte. Er hatte so lange darauf warten müssen, diesen Ausdruck im Gesicht seines Freundes zu sehen, dass er jenes nun aufkommende Gefühl kaum mehr nur als Erleichterung beschreiben konnte. Es war das Erwachen eines alten Kampfgeistes, der schon fast von beiden Ermittlern aufgegeben worden war und der nun wahrscheinlich sein Herz vor Aufregung schneller schlagen ließ.

Um besser sehen zu können, legte L ohne Umschweife die Hand auf Lights Schulter und beugte sich weiter nach vorn.

„Wenn Kira für diese Tode verantwortlich ist“, meinte er verstehend, „geht es ihm in Wirklichkeit nicht darum, Verbrecher zu bestrafen, jedenfalls nicht in erster Linie.“

Obwohl Light zuhörte, konzentrierte er sich für einen Moment nur auf Ls Berührung, die mittlerweile zu einer Selbstverständlichkeit geworden war. Es beruhigte ihn, dass die Nähe zwischen ihnen kein Problem mehr darstellte. Dann ermahnte er sich allerdings, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass er L noch eine Antwort auf dessen Aussage schuldete.

„Ja, es sieht eher so aus, als würde er die Verbrecher nur umbringen, um damit sein eigentliches Ziel zu verschleiern.“

„Du hast doch mal gesagt, wäre Kira ein Erwachsener, würde er seine Kräfte zum persönlichen Vorteil nutzen. Das hier könnte eventuell ein Anhaltspunkt sein, dass der jetzige Kira weder dem ersten noch dem zweiten gleicht.“ Während L seinen Partner zu der Entdeckung beglückwünschte, löste er noch immer nicht die Hand von dessen Schulter.

„Ich habe ihm auch sehr geholfen, Ryuzaki“, machte Matsuda aus dem Hintergrund heraus auf sich aufmerksam, wurde aber von beiden kaum beachtet.

Light erläuterte sein Vorgehen nun genauer. Ohne das System, das ihm der Meisterdetektiv zur Verfügung gestellt hatte, wäre er trotz seiner Fähigkeiten als Hacker nicht allzu weit gekommen. Es war nicht grundlos gewesen, dass er mit L darüber gesprochen hatte, der Anfang einer Ermittlung müsse am Tatort des ersten Verbrechens beginnen, denn genau darauf hatte er sein Augenmerk gelenkt. Ein erster Ansatz konnte nur in Japan gefunden werden. Das war auch L bewusst gewesen, als er vor einem knappen Jahr in dieses Land gereist war.

„Ich habe überlegt“, erklärte Light, „dass möglicherweise einige der durch Herzversagen getöteten Opfer gar nicht als solche erkannt wurden, weshalb ich alle Personen in Japan überprüfen wollte, die seit Kiras Auftreten an plötzlichem Herzversagen gestorben sind.“

„Dabei habe ich ihm geholfen“, mischte sich Matsuda erneut mit Stolz ein. L erkannte nun, welchen Auftrag Light dem jungen Polizisten erteilt hatte. Diese Aufgabe wäre tatsächlich nicht schwer zu bewältigen gewesen und hätte der Hilfe eines anderen in keiner Weise bedurft. Die Vermutung, dass Matsuda damit nur in seinem Selbstwertgefühl aufgebaut werden sollte, bestätigte sich also. Es erstaunte L immer wieder, wie sehr Light auf die Menschen in seiner Umgebung zu achten versuchte. Er betrachtete ihn eingehend, während dieser seine Ausführungen fortsetzte.

Light hatte an jener Stelle seiner Ermittlungsarbeit mehr durch Zufall festgestellt, dass sich seit seiner Inhaftierung einige rätselhafte Todesfälle ereignet hatten, die sowohl durch Herzversagen als auch durch andere Ursachen hervorgerufen wurden. Und sie alle hatten einem Konzern namens Yotsuba zum Vorteil gedient und dessen Aktienkurse steigen lassen. Dass die Rivalen dieses Unternehmens reihenweise wie die Fliegen starben, waren einfach zu viele Zufälle, um nicht suspekt zu erscheinen. Dies wiederum deutete noch auf eine weitere Tatsache hin, die L und Light nun zeitgleich aussprachen:

„Kira kann nicht nur durch Herzversagen töten.“

Die beiden Männer schauten einander ernst in die Augen. Wenn all diese Annahmen stimmten, dann hatten sie hiermit den ersten Kontakt geknüpft, um nach langer Tatenlosigkeit erneut in den Fall um Kira einzusteigen.

„Matsuda-san“, wandte sich L an den Polizisten, „teilen Sie den anderen Mitgliedern mit, dass ich für den morgigen Tag eine Sitzung anberaume. Yagami-san soll im Polizeipräsidium anfragen, ob wir noch ein paar Leute bekommen. Es könnte sein, dass wir jetzt Unterstützung brauchen.“

„Jawohl!“ Matsuda wirkte aufgeregt und erfreut.

„Ansonsten“, fügte der Detektiv hinzu, „sobald das erledigt ist, nehmen Sie sich ruhig für den Rest des Tages frei.“ Matsuda nickte pflichtbewusst und schenkte Light noch ein kurzes Lächeln, bevor er den Raum mit leichten Schritten verließ.

Nun löste L seine Hand von Lights Schulter und wiederholte sein Kompliment:

„Das hast du wirklich gut gemacht.“

„Eigentlich ist es sogar dein Verdienst, Ryuzaki.“ Fragend blickte L ihn an, schwieg jedoch abwartend. „Du hast selbst gesagt, dass für die höhere Sache immer auch solche sterben, die keine Verbrecher sind, und dass schon oft wissentlich über Menschen gerichtet wurde, die eigentlich unschuldig waren. Ich konnte deine Worte einfach nicht vergessen, darum bin ich auf die Idee gekommen, nach denjenigen zu suchen, die an Herzversagen gestorben sind, ohne selbst Verbrecher zu sein.“

„Ah, so ist das...“ L sprach seine Entgegnung nur sehr langsam aus, als müsste er ihr noch einige Überlegungen widmen. „Es ist schon länger her, dass ich das sagte, aber du hast es dir trotzdem gemerkt?“

Verwundert schaute Light in das Gesicht seines Partners, weil er sich nicht sicher war, ob dieser mit seiner Aussage etwas andeuten oder in Erfahrung bringen wollte. Bevor sich Light allerdings zu einer Antwort entschließen konnte, meinte L bereits:

„Es scheint dir gut getan zu haben, das Gebäude zu verlassen. Womöglich bekamst du dadurch besser den Kopf frei, als es dir mit dem Lesen ausführlicher und alter Bücher möglich gewesen wäre.“ Light warf ihm aufgrund dieser Bemerkung einen tadelnden Blick zu, welcher allerdings in jeder Hinsicht freundschaftlicher Natur war. „Es ist also von Vorteil“, fuhr L gleichmütig fort, „wenn man dich öfter mal frische Luft atmen lässt. Darum würde ich vorschlagen, dass wir nun genau das tun sollten.“

„Wieso plötzlich?“ Lights Irritation wuchs beständig, weshalb er sich darauf konzentrierte, Ls Mimik richtig zu entschlüsseln. In dessen fast leblose Gesichtszüge war ein Ausdruck getreten, der nur schwer zu interpretieren war.

„Ich verstehe nun“, gestand L bedacht, „was du mir damals sagen wolltest, Light-kun. Man kann zwar vernichtet werden... aber man darf nicht aufgeben.“
 

Die Dämmerung jagte die letzten Lichtstrahlen über den Horizont. Ein Farbenspiel teilte den Himmel in Tag und Nacht, bevor sich der Abend über die Stadt legte. Im Berufsverkehr und auf den Bürgersteigen verschmolzen die Menschen zu einer stummen Masse der Müdigkeit und einem Gefühl nach Heimweh, das schon längst kein Ziel mehr hatte.

Niemand achtete auf die beiden Männer, die in ihrem ganzen Auftreten so verschieden wirkten und dennoch dicht nebeneinander die Straße überquerten, um in den angrenzenden Park zu gelangen. Die Kette zwischen ihnen hatte Light um sein Handgelenk gewickelt, sodass sie weniger auffällig sein musste. L schien dieser Umstand ziemlich gleichgültig zu sein.

„Ist es möglich“, fragte Light in entspanntem Ton, „dass dich die Aussicht, Yotsuba könnte hinter den ganzen Vorfällen stecken, ruhiger gestimmt hat?“

L zuckte mit den Schultern und schaute gelangweilt einem kleinen Mädchen hinterher, das ihren Hund zu sich rief, um nach Hause gehen zu können. Die Parkanlage war mittlerweile fast völlig verlassen. Ein kalter Wind strich durch die Bäume.

„Diese Firma stellt im Moment keine Gefahr dar“, erklärte L endlich, „sonst wären die Mitglieder des Konzerns nicht so unvorsichtig in ihrem Vorgehen. Sie wären über ihr jetziges Handeln hinaus längst in Aktion getreten, um alle eventuellen Feinde auszulöschen. Mal abgesehen davon, dass ich Kira in diesem Konzern die Fähigkeiten dazu gar nicht zutraue. Solange sie also nicht angegriffen werden, scheinen die Leute von Yotsuba stillzuhalten und abzuwarten.“

L lehnte seinen krummen Rücken gegen einen Baum, beließ dabei allerdings die Hände in den Hosentaschen, während er den Kopf zur Seite neigte und gedankenversunken zur Erde starrte.

„Es kommt mir so unbegreiflich vor“, meinte Light, wobei er den Kragen seiner Jacke aufrichtete, um sich besser vor der Kälte zu schützen, „dass ein wirtschaftliches Unternehmen, das so viel Macht besitzt, zu solchen Mitteln greifen könnte, um noch mehr Einfluss und Geld zu erlangen.“

„Zu viel Macht kann einen Menschen blind machen.“

„Und ihn unentwegt nach mehr verlangen lassen?“ Light seufzte und schüttelte leicht den Kopf. „Ich verstehe nicht, warum oft gerade diejenigen mit dem meisten Besitz zugleich am schlechtesten teilen können. Dagegen geben solche, die selbst kaum etwas haben, auch dieses Letzte noch her, um anderen zu helfen.“

„Wer weiß, ob die soziale Stellung dafür überhaupt eine Rolle spielt“, äußerte L seine Vermutung nur vage, „zum Schluss hängt es doch immer von der Persönlichkeit des Einzelnen ab. Wer viel Macht und Geld besitzt, ist unter Umständen weniger bestechlich, weniger angreifbar und kann demzufolge auch autonom agieren. Nicht jeder muss zwangsläufig von Angst geleitet sein.“

Light schob die Hände in die Taschen seiner Jacke und blickte gen Himmel, wo bereits die ersten Sterne auftauchten, einzeln verteilt wie Stecknadelköpfe auf blauviolettem Samt. Es kam selten vor, dass man in Tokyo überhaupt Sterne sah. Nur die Dunkelheit ringsum ließ das schwache Licht sichtbar werden.

„Trotzdem kommt es mir so vor, als hätten immer die falschen Leute am meisten Anteil an Gewalt und Einfluss.“ Light sprach in einem Tonfall, der fast bitter zu sein schien. „Wohingegen manche, die wirklich etwas bewegen wollen, niemals die Möglichkeit dazu erhalten.“

Der Sohn des Polizeichefs trat näher an L heran und schaute an dem robusten Stamm des alten Baumes hinauf zu dessen Krone. Das Rauschen in den Blättern klang wie ein geheimnisvolles Wispern. Behutsam legte Light die Handfläche auf die zerfurchte Rinde, dicht neben Ls rechter Schulter, bevor er mit schwerer Stimme sagte:

„Wenn ich versuchen wollte, diesen Baum mit meinen eigenen Händen zu schütteln, dann würde ich das nicht schaffen, weil mir die Kraft dazu fehlt, aber der Wind, den wir nicht sehen, biegt den Baum ganz leicht, wohin er will.“ Einen kurzen Moment zögerte Light. „Auch wir Menschen werden am schlimmsten von unsichtbaren Händen gebogen und niedergedrückt. Eigentlich haben wir nicht die Kraft, um etwas in der Welt zu bewegen oder zu verändern.“

„Nicht nur in dieser Hinsicht ist ein Mensch wie ein Baum“, ging L mit seiner Antwort auf den Vergleich des Jüngeren ein, „sie ähneln sich, denn je mehr man hinauf in die Höhe und Helligkeit will, desto tiefer treiben sich die eigenen Wurzeln in die Erde, desto stärker strebt man abwärts ins Dunkle und Böse. Kira meint wohl, er könnte dem Licht der hellen Wahrheit am nächsten sein, und merkt dabei nicht, wie groß sein eigener Schatten geworden ist.“

Schwermütig ließ sich Light diesen Gedanken durch den Kopf gehen, bevor er tonlos bemerkte:

„Es kann sich furchtbar anfühlen, der Realität nur hilflos und ohnmächtig gegenüberzustehen. Dann wird einem klar, dass man nicht immer die Menschen beschützen kann, die man beschützen möchte.“

Die schwarzen Augen des Meisterdetektivs bohrten sich in die seines Partners. Es lag keine Überraschung oder Missverstehen zwischen den beiden Männern, schon längst nicht mehr. L wägte stumm seine folgenden Worte ab, bis er sich schließlich entschied, die Verantwortung dafür Light zu überlassen, und lediglich sagte:

„Ich muss es wohl kaum aussprechen, oder? Du weißt wahrscheinlich, was ich jetzt fragen könnte, Light-kun.“

„Da ich schon so unbedarft war“, entgegnete dieser daraufhin seufzend, „und dir genügend Angriffsfläche geboten habe... ja, ich weiß vermutlich, was du fragen möchtest. Was würde Yagami Light tun, wenn er nicht machtlos wäre, sondern die Kräfte Kiras besäße?“

„Oh, was für eine interessante Frage.“

Light warf ihm einen etwas pikierten Blick zu und setzte erneut an:

„Was würde denn L mit der Macht Kiras tun?“

„Das scheint mir eher unerheblich zu sein“, entgegnete dieser teilnahmslos. Seine ganze Körperhaltung drückte Desinteresse aus, als er gelassen und mit den Händen in den Taschen seiner Jeanshose an dem Baumstamm in seinem Rücken lehnte. Light spürte, wie sich Frustration in seinem Inneren ausbreitete, während er den Kopf senkte und reglos vor seinem Freund stehen blieb. Ein ernster Ausdruck hatte sich auf sein Gesicht gelegt.

Doch dann hörte er erneut Ls Stimme.

„Vielleicht hätte ich genau das gleiche getan.“

Sofort hob Light den Kopf und starrte den Detektiv voller Unverständnis an. Ein unnachgiebiges, kaltes Gefühl schnürte ihm die Kehle zu.

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Natürlich nicht“, erwiderte L schlicht, „schließlich bin ich das Gute, schon vergessen? Aber wer weiß... wenn ich gewusst hätte, dass du mich jagen würdest.“

„Warum sagst du so etwas?!“ Light packte L bei den Schultern und drückte ihn wütend gegen den Baumstamm in dessen Rücken. „Willst du, dass ich meinen Respekt vor dir verliere?“

Ls Augen waren so unergründlich wie tiefes Wasser. Er schwieg ungerührt.

„Warum antwortest du nicht?“, drang Light weiter auf ihn ein. Indem er den Druck seines Griffes verstärkte, versuchte er den Anderen mit Gewalt zum Sprechen zu bewegen, obgleich er wusste, dass es keinen Sinn haben würde.

„Gegen wen willst du eigentlich kämpfen?“ Damit stellte Light endlich die Frage, die ihm unentwegt auf den Lippen brannte. „Gegen Kira oder gegen mich?“

Noch immer starrte L ihn aus seinen großen, schwarzen Augen an, als würde er lediglich in der Rolle des Zuschauers eine Szene beobachten, in die er selbst nicht involviert war. Stumm wartete er ab, während sein Partner langsam zu verzweifeln begann. Light bemerkte, dass er wieder nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren, und gemahnte sich deshalb zur Ruhe. Er atmete tief ein, schloss die Augen und suchte unbewusst an Ls Schultern Halt, bevor er erneut zu sprechen begann.

„Wenn du feststellen würdest, dass ich nicht Kira bin, würdest du dich dann auf Kiras Seite stellen, nur um gegen mich zu kämpfen?“

Nun endlich zeichnete sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf Ls Lippen ab.

„Du hast Angst, Light-kun“, erwiderte er mit tiefer, sanfter Stimme, „dass ich es vielleicht nicht tun würde.“
 

Es kam ihm vor, als bestünden seine Gliedmaßen aus Blei und die Zeit der letzten beiden Monate hätte sich wie eine Last auf Lights Körper gelegt. Eine Last, der er nun langsam erliegen musste. Ihm war vor Müdigkeit schwindlig. Vielleicht hatte L Recht damit, dass er sich hätte schonen sollen, und vielleicht wäre Light dieser Bitte sogar nachgekommen, wenn sie nicht wie ein Befehl geklungen hätte.

Er streckte sich müde, um seine Verspannungen zu lösen, bevor er über sein linkes Handgelenk rieb. Draußen vor dem Fenster herrschte bereits tiefste Nacht. Ls weißes Oberteil bildete einen deutlichen Kontrast zu dem dunklen Hintergrund, als er abwartend und die Handschellen festhaltend vor dem halb reflektierenden Glas verharrte.

Mit schweren Bewegungen entledigte sich Light seiner Kleidung. Jeder Gedanke schien ihm im Moment zu viel zu sein, während er sich das Hemd für die Nacht nur lose überstreifte. Fast konnte er vergessen, dass der weltbeste Detektiv neben ihm stand und ihn beobachtete.

Dessen ungeachtet ließ sich Light auf das Bett fallen, blieb mit dem Rücken auf der Decke liegen und schloss die Augen.

„Du hast vorhin im Park gesagt“, setzte er trotz seiner Erschöpfung an, „dass man mit Macht autonom agieren kann.“

Light nahm wahr, wie sich das Bett durch das Gewicht des anderen Mannes leicht bewegte, öffnete jedoch nicht die Augen. Dann spürte er Ls kühle Finger an seinem Handgelenk und im nächsten Moment das noch kältere Material der Fesseln, die sich mit einem klickenden Geräusch schlossen.

„Autonomie kann doch alles Mögliche bedeuten“, fuhr Light mit leiser Stimme fort. „Jeder ist auf irgendeine Weise von etwas abhängig oder auf etwas angewiesen.“

Die Müdigkeit legte sich wie ein dunkles Band auf seine Lider. Dennoch meinte er zu spüren, dass L sein Gewicht verlagerte und sich über ihn beugte, während Light fragte:

„Wie sollte man sich Unabhängigkeit für den Menschen dann schon vorstellen?“

„Einsamkeit ist Unabhängigkeit.“

Unvermittelt öffnete Light die Augen und dachte zuerst, er hätte es wegen der Aussage seines Freundes getan. Doch dann registrierte er, dass er sich aufgrund von dessen Berührung nahe seinem Herzen erschreckt hatte. Scheinbar teilnahmslos nahm L den leichten Stoff von Lights Hemd zwischen die Finger, wobei er ganz sacht dessen Haut streifte, um die Knöpfe zu schließen. Light war nicht aufgefallen, dass er das vergessen hatte.

„Einsamkeit soll Unabhängigkeit sein?“, wiederholte er die Worte aufgewühlt. „Du meinst falsche Freiheit, Ryuzaki.“

Mit gesenktem Kopf entfernte sich L von ihm und sagte ausweichend:

„Wie auch immer.“

„Ist es das, wovon du letztens sprachst?“ Light hatte sich etwas aufgerichtet und versuchte seinen Freund direkt zu konfrontieren, damit dieser sich nicht wieder so einfach entziehen konnte. „Wir mögen auf vieles angewiesen sein, doch können wir ebenso auf vieles verzichten oder es ersetzen. Nur manchmal wird uns etwas zur Notwendigkeit.“

„Ich hätte wissen müssen“, seufzte L, „dass du nicht viel von mir brauchst, um meine Gedanken zu lesen.“

„Doch, das tue ich“, widersprach Light. „Ich brauche... deine Antwort.“

„Wovon wir erst wirklich abhängig werden“, sinnierte L zögerlich, als fiele es ihm schwer, seine eigenen Worte zu akzeptieren. Er stand von Light abgewandt und drehte sich nicht zu ihm herum, während die Metallkette unbewegt zwischen ihnen hing. „Das ist etwas, das uns wehrlos macht. Gegen dessen Anziehungskraft wir keine Macht besitzen.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Ls Aussage am Ende des ersten Absatzes ist ein Zitat aus „Der alte Mann und das Meer“ von Ernest Hemingway.
2. Der Vergleich des Menschen mit einem Baum, dessen Wurzeln ins Dunkle treiben, stammt aus „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche.
3. Der Abschluss des Kapitels ist inspiriert durch ein Zitat aus dem „Steppenwolf“ von Hermann Hesse:
Einsamkeit ist Unabhängigkeit, ich hatte sie mir gewünscht und mir erworben in langen Jahren. Sie war kalt, o ja, sie war aber auch still, wunderbar still und groß wie der kalte stille Raum, in dem die Sterne sich drehen. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Yuiki
2014-03-19T01:59:28+00:00 19.03.2014 02:59
"Wer weiß, ob die soziale Stellung dafür überhaupt eine Rolle spielt"
Vielleicht ist es genau umgekehrt? Dass gewisse Persönlichkeitsmerkmale die eben nicht viel mit 'Nächstenliebe' zu tun haben besonders dazu befähigen eine hohe soziale Stellung zu erreichen. Klar, das ist jetzt typischer Populismus, aber dass guter Geschäftssinn und Freigiebigkeit nicht unbedingt zusammenpassen ist ja doch offensichtlich.

Mir fällt in diesem Kapitel mal wieder auf wie bedenklich oft ich mich mit Light's Positionen identifiziere und wie oft ich mit L's Position zusammenstoße. Trotzdem liebe ich den L den du zeichnest. Als er sagt "Vielleicht hätte ich genau das Gleiche getan." hatte ich direkt eine Gänsehaut; das ist eine Frage die ich mir ebenfalls schon oft gestellt habe. Faszinierend auch wie viel vom Kontakt inzwischen von L ausgeht statt von Light.

Zum Thema "Einsamkeit ist Unabhängigkeit":
L befindet sich aber in einer ganzen Menge Abhängigkeitsverhältnissen; schon vor der momentanen Handlung die unter anderem Light einschließt sind sein Leben und Lebensstil trotz der Abschottung zur Außenwelt und anderen Menschen immer von diesen und ihren Bedürfnissen, Gesetzen, usw. bestimmt gewesen. Obwohl er sozusagen das perfekte Beispiel der Einsamkeit ist hat ihn das nicht unabhängig gemacht.
Antwort von:  halfJack
04.04.2014 13:52
Es ist zwar eine bereits bekannte Theorie, dass egoistische Persönlichkeitsmerkmale wie beim neuzeitig interpretierten Psychopathen zu einer hohen Stellung verhelfen können, aber das ist ja kein Hindernis für eine Zustimmung. Ich gebe dir in dieser Hinsicht nämlich Recht. Mitleid ist nicht gerade dafür prädestiniert, auf der Karriereleiter den Weg zu ebnen. Hierfür braucht man vielmehr spitze Ellenbogen.

Ich mag beide Figuren sehr gern und bin für ihre Streitgespräche dankbar, selbst wenn sie hierbei so unterschiedliche Positionen beziehen, dass ich mich manchmal nur einer Seite anschließen kann. Der gute Wille in Lights Grundeinstellung wird es einem später aber vermutlich schwerer machen, sich noch seinen Anschauungen anzuschließen, sobald er seine Erinnerungen zurückerhält. Vielleicht rückt dann sogar L stärker in den Fokus einer annehmbaren Gerechtigkeit. Auf welche Weise auch immer, schon im Original haben sie es meines Erachtens geschafft, durch ihre Aussagen die Meinung des Anderen ins Wanken zu bringen oder zumindest zu relativieren. Es gibt immer Möglichkeiten, zu hinterfragen, und viele dieser Fragen kann man nicht beantworten.

"Einsamkeit ist Unabhängigkeit" ist ein Satz, der mir so oder so ähnlich, wenn ich mich richtig erinnere, in einem Werk von Hermann Hesse untergekommen ist. In diesem Fall bedeutet es, dass L weniger angreifbar ist, je weniger er sich auf andere Menschen einlässt. Er hat keine Freunde, keine echten Vertrauten, bis vielleicht auf Watari. Zumindest möchte L das nicht, denn ohne diese "Störfaktoren" kann er sich allein auf sich selbst konzentrieren. Das heißt nicht, er würde auf sich mehr Acht geben als auf andere Personen. Das sicher nicht, aber es fällt ihm auf diese Weise leichter, jeden Einzelnen, auch sich selbst, dem Wert entsprechend wie eine Zahlenkolonne auf einem Blatt Papier zu berechnen. In der Tat ist das ein trauriges, aber zugleich sinnloses Unterfangen. L ist ein Mensch, keine Maschine. Im Original (Manga, Anime, Realfilm) sah man deutlich, dass er hinter seiner emotionslosen Mimik durchaus Gefühle versteckt, zumindest so etwas wie Wut, Melancholie, Neugier oder Depression. Er kann nicht Menschen für sich ins Feld führen und dabei gar nichts für sie empfinden, jedenfalls nicht, wenn er sie schon ein wenig besser kennen gelernt hat, Ukita beispielsweise, der vom zweiten Kira vorm Fernsehsender umgebracht wurde.
Zum Zweiten trifft das auf rein sachlicher Ebene natürlich genauso zu. In irgendeinem Kapitel habe ich beiläufig geschrieben, dass L seinen benutzten Teller einfach irgendwo stehen lässt, weil ihn später jemand abgeräumt haben würde. Es war bloß eine Nebensächlichkeit, doch spielen solche Details genau auf die Bemerkung von dir an, dass L nur funktionieren kann, solange das Konstrukt um ihn herum funktioniert. Seine Mitarbeiter, sein finanzieller Hintergrund, sogar seine Beziehungen und sein Ruf, das alles arbeitet mit ihm zusammen für ihn. Ohne den Rückhalt dieses Minimalstaates, den L nicht nur als Person, sondern quasi als Firma verkörpert, könnte er als Meisterdetektiv gar nicht arbeiten.
Bei Near war dieser Umstand noch krasser, weil er auf sich allein gestellt vermutlich nicht einmal überlebensfähig gewesen wäre.
Von:  AliceDeLarge
2009-12-30T20:31:03+00:00 30.12.2009 21:31
Langsam wird's noch interessanter, denn allmählich kommen ja auch die Gefühle ins Spiel...
Es gefällt mir aber gar nicht, was L auf die Frage, was er wohl mit Kiras Macht anstellen würde, antwortet - aber das hast du dir bei mir ja denken können.^ ^
Sehr gut fand ich, dass L sich ganz selbstverständlich als das Gute bezeichnet, wobei auch sein Handeln mehr als fragwürdig ist...da kommt wieder dieses "wie kann jemand, der so leichtsinnig mit Menschenleben umgeht, sich als das Gute oder gar Gerechtigkeit bezeichnen?"-Gedöns.
Deine Interpretation von Yagamis Handeln bezüglich Matsude gefällt mir...du machst es mir wirklich schwer, ihn zu hassen, wenn er als so menschlich und....freundlich dargestellt wird.
Die Szene draußen...wäre ich an Ls Stelle, hätte es auf mich wohl so dermaßen gespeilt gewirkt, was Raito von sich gab, und das wiederum hätte meinen Verdacht gegen ihn erhärtet.
Ich glaube, meine Lieblingsstelle ist die, in der L sagt, Raito hätte Angst, er würde es nicht tun...das war so..."wtf?"
Dieses Kapitel ist wie immer auch sehr gut geschrieben...und ich weiß nicht, warum es mir so schwer fällt, meine Gedanken dazu zu ordnen und einen richtigen Kommentar zu verfassen.
Sowieso kann ich wohl keine richtigen, unwirren Kommentare schreiben...ich glaube, ich sollte mich dafür entschuldigen. Immerhin ist das von mir Geschriebene nichts wert, wenn es keinen richtigen Inhalt hat.

Von:  Juih
2009-12-29T19:47:44+00:00 29.12.2009 20:47
In Anbetracht dieses neuen Kapitels, über das ich mich sehr freue, habe ich beschlossen erstmal hier ein Kommi zu schreiben.
Die Wartezeit war doch nicht allzu lange XD
Und was ich noch erwähnt haben wollte ist ein Lob an deine Kapitelüberschriften ^^ ich finde ja immer die sind wie die Augen eines jeden Kapitels und deshalb halte ich sie für sehr wichtig! Zu schade, dass es nur wenig gibt (zumindest von denen die ich kenne o.Ô), die sich Mühe geben den richtigen Titel zu wählen.
Dann bitte ich noch um Nachsicht XD mit dem Kommi hier unter mir kann ich wohl kaum mithalten XD *es aufs Alter schiebt*
Aber mir gefällt es sehr gut ^^ Ich höre gerne zu wenn kluge Menschen reden (und verstehe auch 99% davon *lach*). Das ist doch schon mal was oder? ^^ Allerdings glaube ich in Anbetracht solcher Kommis nicht mithalten zu können. Naja, ich bin 17, also noch genug Zeit es zu lernen.
Aber ich komm vom Thema ab XD
Das Kapitel finde ich wirklich auch sehr schön, allerdings aus... primitiveren Gründen wahrscheinlich. *lach*
Du hast ja in deiner ENS geschrieben, dass du den Aufbau der Gefühle schildern willst, und ich finde das ist hier sehr gut zusehen. Dies anfänglich leichte, das noch so ziellos ist und doch in eine bestimmt Richtung strebt. Noch so ungebunden und doch verheißungsvoll. Dieses Erwachen, das finde ich wirklich toll o///o
Ich habe eine Freundin, die meint ihr wäre das zu Langweilig, aber ich finde gerade dass das Spannendsten. Wenn man merkt wie sich die Distanz zwischen den Beiden immer weiter verringert ^O^
Und immer diese Gedanken von L, das er eigtl gegen Light kämpfen will. Die Beiden sind einfach toll zusammen. Es muss ein gutes Gefühl sein, jemanden gefunden zu haben der auf gleicher Wellenlänge ist, der einen versteht egal was man sagt. Was soll ich sagen? Das ist doch auch mit ein Schlüssel zu jeder guten Beziehung! *lach*
Von:  angeljaehyo
2009-12-27T17:03:53+00:00 27.12.2009 18:03
Das ist bis jetzt mein Lieblingskapitel, wie du dir sicher schon denken kannst :D
Der Grund, warum ich Death Note so liebe, steckt in diesem Kapitel nämlich explizit drin; das Spiel/der Kampf zwischen L und Raito und ihre eigentlichen Beweggründe dafür. Ist es nicht zum Lebensinhalt beider geworden, gegen den anderen zu kämpfen und gleichzeitig mit dem anderen zu spielen? Das ist doch der Grund, warum die beiden das beste Pairing überhaupt sind. Gleich und doch so verschieden, der beste und schlechteste Aspekt der Charaktere der beiden faszinierenden Figuren.
Ls Ironie gefällt mir bei dem Thema sehr gut; "Ich bin doch das Gute." Und plötzlich wird er mit Raitos Fragerei ganz offensichtlich an die Wand gedrängt, obwohl er bemüht ist, es sich nicht anmerken zu lassen. Ah, die Szene war wirklich gut.
Genauso, wie die Schlussszene wirklich außerordentlich war; denn wer kann schon sagen, was wahre Autonomie, oder anders gesagt, was andere Freiheit ist? Autonomie kann Einsamkeit sein; aber wird L nicht erst wirklich frei, nachdem er von Raito aus seiner Einsamkeit gerissen wird? Sind für L vielleicht die Handschellen das Zeichen wahrer Autonomie, wahrer Freiheit, wahren Vermögens, sich weiterentwickeln zu können? Wie es schließlich im letzten Kapitel stand; zur Erkennung von Wahrheit und Gerechtigkeit gehören sowohl Kalkül als auch Gefühl. Kalkül besaß L immer genug; doch erst jetzt lernt er das Gefühl kennen.
Letztes Kapitel hat mir die Beschreibung Raitos als Mensch mit Potenzial, Kira zu sein, am besten gefallen.
In diesem Kapitel gefällt mir am besten, wie L auf all diese Fragen reagiert und was sie für Konsequenzen haben.
Und im Hintergrund tickt die Uhr unausweichlich, man ist Yotsuba auf den Fersen...
Tolles Kapitel, ich bin begeistert.


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