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Kontakt

Kontakt
 

„Light-kun, dein Schuh...“

Es war zu spät. Er spürte ein plötzliches Ziehen an seinem Fußgelenk. Die Welt geriet aus dem Gleichgewicht, als er gegen den fremden Körper prallte und ihn mit sich zu Boden riss. Der keuchende Atem zweier Männer durchhallte den Raum, das abgeschlossene Feld ihres Spieles. Rauschen in den Ohren, das Trommeln eines Herzschlags. Light senkte die Stirn auf Ls Brustkorb und versuchte sich zu beruhigen. Er schloss die Augen und nahm Rauschen und Herzschlag wie ein Dröhnen in seinem Inneren wahr.

Er richtete sich auf, spürte noch immer die Nähe des anderen Körpers und die eigene Erschöpfung. In sitzender Position schaute Light auf L hinab, welcher sich nun auf einen Ellbogen stützte. Der Detektiv griff sich an den Hinterkopf, wobei er ein wenig das Gesicht verzog, bevor er seinen Nacken hinabfuhr.

„Hast du dich verletzt?“ Light hörte seine eigene Stimme wie durch einen dichten Schleier. Zaghaft beugte er sich vor und hob die Hand. Er strich Ls Hals entlang, fühlte die erhitzte, vom Schweiß feuchte Haut und glitt mit den Fingerspitzen unter den Kragen des weißen Oberteils und über die knochigen Schulterblätter. L hatte den Kopf gesenkt, die schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht. Seine Lippen waren noch leicht geöffnet, der Atem von der Anstrengung schwer. Trotz der Schatten unter seinen Augen war sein Blick wachsam und durchdringend. Der Kontakt von Lights Hand auf Ls nackter Haut verriet überraschend, dass sich die Temperatur ihrer Körper annähernd glich.

„Hast du dich verletzt?“, fragte Light erneut und erwachte.
 

„In letzter Zeit schläfst du wenig, Light-kun“, stellte L scheinbar belanglos fest, „und wenn, dann unruhig.“

Mit spitzen Fingern stellte er eine Tasse Tee, English Breakfast von Twinings, auf den Tisch. Danach schwang er sich auf einen Stuhl, um seine übliche Haltung einzunehmen. Die beiden Männer befanden sich in einem der oberen Apartments des Gebäudes, angrenzend an die Küche und einige frei zugängliche Konferenzräume. Light saß schweigend vor seinem Laptop, mit den reglosen Fingern auf der Tastatur, und starrte über den Rand des Monitors aus dem Fenster. Draußen kleidete sich der morgendliche Himmel in eine Mischung aus grauer und violetter Farbe. Doch der junge Ermittler sah es kaum. Einen Moment später realisierte er erst, was sein Partner gesagt hatte, und wandte sich ihm zu.

„Das sagst gerade du, obwohl du jeden Tag vor mir wach bist.“

L goss ein wenig Milch in seinen Tee und warf fünf Stück Zucker hinterher, bevor er sich über die Fingerkuppen leckte. Dabei ließ er sich von Lights Blick nicht aus der Ruhe bringen. Dieser betrachtete ihn nachdenklich, jedoch nicht in Erwartung einer Antwort. Noch immer ging ihm jener Anhaltspunkt durch den Kopf, den er schon seit längerer Zeit überdachte. Es war die Idee, dass ein höheres Ziel oft unschuldige Menschenleben gefordert hatte, die ihn nicht losließ und mit der er sich abzulenken versuchte. Auch Schlaf konnte er sich im Moment kaum leisten.

„Morgen, Light.“

Verschlafen kam Misa durch den Raum auf sie zu. Sie trug einen Blazer, dessen Kragen mit Rüschen besetzt war, und einen karierten Rock. Ihre Schuhe hatte sie allerdings nur lose übergestreift und nicht zugebunden.

„...und Ryuzaki-san“, fügte sie gleichgültig hinzu, als sie sich setzte. Light nickte nur kurz, bevor er sich wieder auf seinen Laptop zu konzentrieren versuchte. Ein paar Strähnen seines braunen Haares fielen ihm ins Gesicht. Unwirsch strich er sie beiseite.

„Du siehst müde aus“, bemerkte Misa besorgt, was Light mit einem leichten Seufzen quittierte. Sogar seine selbsternannte Freundin hatte es gemerkt.

„Ich schlafe in letzter Zeit nicht so gut“, antwortete er, ohne aufzuschauen. „Das heißt, eigentlich will ich endlich in diesem Fall vorankommen.“

„Ach so...“ Misa legte den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite. „Du gönnst dir absichtlich keinen Schlaf, damit du mehr arbeiten kannst.“

„So ungefähr“, entgegnete Light.

„Anhand des japanischen Anstands“, warf L unvermittelt ein, „bedeutet eine solche Aussage im Sinne einer halben Zustimmung in Wirklichkeit eine Verneinung.“ Er rührte in seiner Tasse herum und nahm einen Schluck. Light seufzte erneut und schaute abschätzend in Misas Gesicht, bevor er sagte:

„Wenn ich viel arbeite, dann bin ich abends müde genug, um sofort einzuschlafen.“

Die Miene des jungen Idols spiegelte keinen Argwohn wider, allerdings schien sie verwirrt auf eine weitere Erläuterung zu warten. Light war sich im Klaren darüber, dass sein darauf folgendes Schweigen offenbarte, wie unwohl er sich bei diesem Gesprächsthema fühlte. Fieberhaft suchte er nach den passenden Worten, wobei er sich genervt das Haar aus dem Gesicht strich.

„Ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein“, sagte er dann so leise, dass es niemandem im Raum zu gelten schien, „und mich für den Herrscher eines unermesslichen Gebietes halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.“

„Hamlet.“ L hatte das Zitat sofort erkannt. „Light-kun geht demnach davon aus, dass er durch die Müdigkeit seine REM-Phase verkürzen kann.“

Obwohl sich der Detektiv so kompliziert ausdrückte, glaubte Misa, dass sie den Kern der Aussage verstanden hatte. Sie wollte gerade den Mund zu einer Frage öffnen, als Matsuda eintrat.

„Ich habe eben einen Anruf erhalten, Misamisa“, teilte er ihr umgehend mit, „der Regisseur ist der Meinung, dass die Kostüme nicht zum Set passen.“

Misa hob verwirrt eine Augenbraue.

„Wird jetzt etwa die Garderobe ausgetauscht?“

„Äh, nein... Nishinaka-san hat gesagt, wir sollen bis Mittag warten, damit das Wetter die richtige Atmosphäre schafft. Solange überlegt er, ob er den Szenenbildner oder nur den Locationscout verklagen soll.“ Matsuda zuckte mit den Schultern, um deutlich zu machen, dass er von solchen künstlerischen Sachen nichts verstand.

„Ich will Honig haben“, mischte sich nun L in selbstverständlichem Tonfall ein, „und da Matsuda-san momentan sowieso nichts zu tun hat...“

Empört wollte der Polizist etwas entgegnen, allerdings schenkte Misa ihm bereits keinerlei Beachtung mehr und wandte sich mit erfreuter Stimme an Light:

„Toll, dann haben wir den Morgen für uns allein.“

Light schien die Aussage des Mädchens jedoch nicht zu registrieren und meinte stattdessen gedankenversunken:

„Ryuzaki, es heißt doch ganz trivial, dass der Verbrecher häufig zum Tatort zurückkehrt.“

„Die Polizei aber auch“, ergänzte L, während er ein Milchbrötchen in seinen Tee tunkte. „Ein Dieb wird wahrscheinlich weniger zu einer ausgeraubten Bank zurückkehren, sondern eher das Weite suchen, Light-kun. Doch bei Gewaltverbrechen, insbesondere Mord, mag das durchaus zutreffen.“

„Führt das FBI dazu nicht sogar Statistiken?“

„Wie verlässlich die sind, ist eine andere Frage.“

„Das stimmt schon.“ Mittlerweile bewegten sich Lights Finger wieder geschwind über die Tastatur. „Niemand rennt herum und befragt Verbrecher auf freiem Fuß, ob und wie oft sie zum Tatort zurückgekehrt sind. Einige werden wohl nicht wahrheitsgemäß antworten. Gewissheit hat man daher kaum, außer jemand wurde genau dort am Ort des Verbrechens erwischt. Dennoch ist es keine unbegründete Phrase und ich frage mich...“ Den Blick auf den Monitor gerichtet bemerkte Light nicht, dass Matsuda den Raum längst mit einem Schulterzucken wieder verlassen hatte und sich Misa mit verschränkten Armen, aber ohne ein Wort zu sagen, neben ihn gesetzt hatte.

„Bei Null anzufangen“, sprach Light leise, als seine Hände wieder zum Stillstand gekommen waren, „bedeutet in den meisten Fällen, an den Anfang des Geschehens, also den Tatort zurückzukehren. Ich habe das Gefühl, das wäre mein einziger Anhaltspunkt.“

„Oh“, kommentierte L den Umstand, dass ein Stück seines Milchbrötchens in den Tee gefallen war. Für einen Moment fragte sich Light, wozu er überhaupt arbeitete, wenn seine Leistung weder seiner Zielsetzung noch als Vorwand genügte. Ein paar Strähnen kitzelten seine Wimpern, doch er ignorierte es.

„Soll ich dir deine Haare schneiden?“ Verwirrt schaute Light auf und begegnete dem Blick von Misa, die ein Stück näher an ihn herangerückt war. „Ich kann das eigentlich ganz gut. Früher habe ich mir die Haare immer selbst geschnitten und gefärbt, weil ich oft etwas Neues haben wollte. Also?“

Light dachte kurz darüber nach und nickte schließlich zustimmend, sodass Misa mit einem Freudenschrei aufsprang und hinauslief. Ohne ihr nachzusehen, wandte sich Light daraufhin erneut an seinen Kollegen.

„Erinnerst du dich, als du gesagt hast, es gäbe so viele Wahrheiten wie Menschen auf der Welt?“ L nickte bloß, während er mit dem Löffel in seinem Tee nach dem Milchbrötchen fischte. „Ist das der Grund, weshalb du ein Weitersuchen sinnlos findest, Ryuzaki?“

„Eigentlich nicht.“ Der Detektiv legte den Löffel beiseite und trank seine Tasse leer, bevor er Light ins Gesicht schaute. „Das Problem ist allein die Definition. Selbst wenn es nur eine einzige Wahrheit gibt, bleibt sie ein Heer von Metaphern.“

Mit dem Ellbogen auf der Tischplatte stützte Light seinen Kopf auf die Hand.

„Ich fand es damals ziemlich beeindruckend, wie du Kira im Fernsehen überwältigt und ihm indirekt gesagt hast, er sei böse.“

„Provokation“, erklärte L schlicht. „Das ist alles.“

„Es gibt also kein Gut und Böse, kein Richtig oder Falsch. Und trotzdem sagst du, dass du an die Gerechtigkeit glaubst.“

„Das sind Dinge, die weder du noch ich je verstehen werden, Light-kun, auch wenn wir zu wissen glauben, was wahr und richtig ist.“

„Träume sagen beispielsweise die Wahrheit“, gab plötzlich Misa von sich, die zurückgekehrt und neben Light getreten war. Sie hielt eine Rasierklinge zwischen den Fingern und lächelte.

„Dann ist die Wahrheit manchmal aber ziemlich verquer“, setzte Light skeptisch dagegen, „oder hattest du nie einen komischen und unsinnigen Traum, Misa?“

Das blonde Mädchen ging nicht darauf ein und legte stattdessen ein Handtuch um Lights Schultern, nachdem sie ihn gegen die Stuhllehne gedrückt hatte.

„Weil sich Träume erinnern“, sagte sie dann, „und selten lügen, willst du fest schlafen, damit du nicht träumst.“

„Sie ist doch kein so dummes Kind“, meinte L, während er ein weiteres Milchbrötchen entblätterte.

„Hör auf, mich ständig zu verschaukeln, Ryuzaki-san!“

„Ich habe keinerlei Namen genannt. Aber getroffene Hunde...“

Beleidigt presste Misa die Lippen aufeinander, blieb jedoch stumm. Sie ignorierte die Kränkungen dieses ungehobelten Kerls und fuhr sanft mit den Händen durch Lights braunes Haar. Bei der Länge und diesem Schnitt hielt sie es nicht für nötig, vorher Wasser zu verwenden.

„Es ist doch so, dass ein Traum wahr, aber nicht wirklich ist“, sprach Misa mit langsamer Stimme, während sie sich darauf konzentrierte, die Frisur in der richtigen Länge zu kürzen. „Sobald sich ein Traum erfüllt, ist er eigentlich kein Traum mehr, dann hat man ihn verloren.“ Light schenkte ihren Worten nur wenig Aufmerksamkeit. Er dachte an seine Familie, weil die Berührung von Misas Händen ihn an seine kleine Schwester erinnerte. Generell waren sich die beiden Mädchen in einigen Belangen ähnlich. Ein seltsamer Vergleich, fand Light. Unschuldige Menschen, auch das konnte er im Moment nicht vergessen, fielen oft der höheren Sache zum Opfer.

Während der Sohn des Polizeichefs fortwährend darüber nachsann, sprachen weder L noch Misa ein weiteres Wort. Schweigen breitete sich zwischen den drei Personen aus, die am tiefsten in den Fall um Kira verstrickt waren.

Es verging eine lange Zeit in jener gleichbleibenden Stille, sodass die blasse Sonne bereits um einiges höher über der Stadt stand, als Misa ihre Arbeit beendete und auch Matsuda zurückkehrte. Der Polizist stellte ein Glas auf den Tisch, dessen dunkelbrauner Inhalt sich in halb festem, halb flüssigem Zustand befand. L schaute verdutzt auf, nachdem er das Glas gemustert hatte.

„Buchweizenhonig?“, fragte er trocken. „Sehe ich aus wie ein Lebkuchen?“

„Ha!“ Triumphierend stieß Matsuda einen Finger in die Luft. „Ich wusste, dass es daran bestimmt etwas auszusetzen gibt, und habe vorsorglich noch eine andere Sorte mitgebracht. Hier bitte, das ist Erdbeerbaumhonig. Ich dachte mir, mit Erdbeeren liege ich sicher nicht falsch.“

„Matsuda-san...“ Ungläubig starrte L das zweite Glas an, das soeben auf den Tisch gestellt wurde. „Sie sind ein Idiot.“

Der Ernst in Matsudas Miene verwandelte sich in Verwirrung. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, schaltete sich Light unvermittelt ein, wobei er eingehend seine Haare in dem Spiegel betrachtete, den ihm Misa entgegenhielt.

„Ich habe da eine Bitte, Matsuda-san. Es geht um ein paar Datenpakete, die ich dem Intranet eingespeist habe. Ich möchte einen Ansatz verfolgen, bei dem es mir helfen würde, wenn diese Daten schon mal überprüft und ausgewertet werden könnten.“

„Kein Problem!“, erklärte sich Matsuda sofort voller Begeisterung bereit.

„Dann sollte er sich vorher aber klar machen, was Gewissenhaftigkeit und Kontinuität bedeuten“, murmelte L und schob angewidert die Honiggläser über den Tisch.
 

„Was auch immer du tust, du hättest Matsudas Hilfe nicht benötigt.“ Der Detektiv stand vor der Brüstung des Helikopterlandeplatzes, die Hände wie so oft in den Hosentaschen, und schaute über die Dächer von Bürogebäuden, Firmensitzen und Privatschulen. „Du magst es nicht, wie ich mit manchen Menschen umgehe, nicht wahr, Light-kun?“ Aus dem Augenwinkel schaute L zu seinem Kollegen hinüber, der sich schweigend auf die steinerne Abgrenzung gesetzt hatte. Light ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, auf eine unbekannte Welt hinter den Fassaden der Stadt. „Du wolltest Matsuda ein Gefühl von Kompetenz vermitteln.“

„Was spielt das für eine Rolle?“, fragte Light ruhig, ohne L dabei in die Augen zu sehen. „Inwiefern würde dir eine Antwort bei deiner Ermittlung gegen mich helfen?“

Stumm betrachtete L das von ihm abgewandte Gesicht seines Freundes. Lights jugendliche Züge wirkten auf seltsame Weise erwachsen, in seinen Augen lagen Erschöpfung und vermeintlich ein unter Kontrolle gehaltener Schmerz. Dagegen sollte die Mimik des Meisterdetektivs nichts über dessen Emotionen verraten.

Das orangefarbene Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich in den Fenstern der Häuser, sodass es aussah, als würde Tokyo in Flammen stehen. Light fühlte die angenehme Wärme der Sonnenstrahlen auf seiner Haut und schloss die Augen. Der Wind frischte auf, sodass er leicht fröstelte. Er spürte, dass Ls Blick auf ihm ruhte, und sagte schließlich seufzend:

„Es ist so schnell kalt geworden.“

Ein paar Sekunden blieb L reglos stehen. Dann löste er sich aus seiner Erstarrung und ging die wenigen Schritte auf den Anderen zu, die zuvor die Distanz zwischen ihnen markiert hatten.

„Wenn einem kalt ist“, sagte er und hob die linke Hand, welche nicht an die Metallkette gefesselt war, „ist es am besten, zuallererst den Kopf zu wärmen.“ Als L vorsichtig mit den Fingern durch Lights weiches, braunes Haar strich, erschraken sie beide ein wenig. Light sah zu seinem Partner auf, der direkt vor ihm stand und schützend die Hand auf sein Haupt legte. Die Berührung ließ ihn daran denken, dass es vielleicht gar keine Belastung sein würde, in eine Nussschale eingesperrt zu sein, wenn nur seine Träume nicht wären.

„Das basiert doch bloß auf einem Mythos, Ryuzaki“, meinte er leise schmunzelnd, obwohl es das nicht weniger wahr machte. „Außerdem ist deine Hand doch selbst ganz kalt.“

„Oh, entschuldige.“ Sogleich wollte L sie wieder fortziehen, aber Light war ungewollt schneller und hatte bereits, bevor er über sein Handeln nachdenken konnte, nach der Hand des Detektivs gegriffen, um sie festzuhalten. Verwirrt ließ L die wärmende Berührung geschehen. Seine Finger zuckten leicht und verhakten sich halb mit denen von Light, während er dessen hilfesuchenden Blick erwiderte.

„Ich...“ Light konnte nicht weitersprechen. Er wusste ohnehin nicht, was er eigentlich sagen wollte. Den Kopf senkend ließ er Ls Handgelenk dennoch nicht los. Dieser machte ihm die Situation allerdings leichter, indem er nicht lange darauf wartete, dass sein Partner die Aussage beendete, sondern seinerseits aus dem Zusammenhang gerissen meinte:

„Es ist nicht gut, dass du so viel arbeitest und so wenig schläfst, Light-kun.“

„Wieso?“, fragte dieser verständnislos. „Keine Sorge, es ist alles in Ordnung.“

Stillschweigend betrachtete L den Jüngeren, bevor er plötzlich dessen Griff eindeutig erwiderte und ihn in eine aufrechte Position hinaufzog. Durch die abrupte Bewegung wurde Light schwarz vor Augen, sodass er fast das Gleichgewicht verloren hätte, wäre der Andere ihm kein Halt gewesen.

„Das liegt an deinem Kreislauf“, erklärte L sanft, während er ihn festhielt und einen Moment wartete, bis sich dessen Wahrnehmung wieder normalisierte, „du hast es selbst nicht bemerkt... oder besser gesagt, du hast es ignoriert. Du musst mehr auf dich Acht geben.“

„Ich handle nur nach meinen Prioritäten“, rechtfertigte sich Light, „und nach meinen Gefühlen.“ Er löste sich von L, blieb aber dicht vor ihm stehen, um ihm seine Gedanken und Beweggründe begreiflich zu machen, obwohl er selbst nicht alles verstand und auch nicht alles erzählen konnte. „Es mag stimmen, dass ich nicht erklären kann, warum ich an Wahrheit und Gerechtigkeit glaube. Aber das erscheint mir bedeutungslos, solange ich in meinem Inneren weiß, was richtig ist. Darum will ich die Menschheit von Kira befreien, weil er ein völlig Fremder ist, der seine eigene Gerechtigkeit vertritt. Noch dazu macht sich meine Familie Sorgen, mein Vater steckt all seine Kräfte in diesen Fall, Misa ist wegen des Verdachts genauso wie ich hier gefangen... ich kann jetzt nicht an mich denken.“ Er schüttelte den Kopf und schaute in den Abendhimmel hinaus. Daraufhin fing L mit bedachter Stimme zu sprechen an.

„Weißt du, was Thomas Jefferson über die Wahrheit gesagt hat, Light-kun? Er meinte, sie wäre so groß, dass sie sich immer durchsetzen könne, wenn man sie sich selbst überließe. Sie hat im Streit gegen den Irrtum nichts zu befürchten, sofern die Menschen ihr nicht die natürlichen Waffen rauben, die sie besitzt: das Wort und die freie Meinungsäußerung. Jeder trägt einen der zersplitterten Teile der Wahrheit in sich, deshalb können wir nur gemeinsam herausfinden, was Gerechtigkeit bedeutet, so übertrieben und pathetisch das auch klingen mag.“

„Ich glaube... Wahrheit und Gerechtigkeit sind manchmal weit voneinander entfernt.“

„Aber für beides kann man weder auf Kalkül noch auf Gefühl verzichten.“

Light atmete schwer aus, während er alles aufzunehmen versuchte, was er von seiner Höhe aus mit den Augen erreichen konnte.

„Kira versucht eine bessere Welt zu erschaffen“, sagte er dann, „aber er bekämpft nur allgemein Verbrecher. Die wirkliche Ungerechtigkeit in der Welt kann nicht bekämpft werden. Regierungen sind dafür verantwortlich, dass es keine Gleichheit in der Welt gibt. Was sagen hungernde Menschen, elternlose Kinder, Soldaten, die im Krieg ihr Leben aufs Spiel setzen und ihre Freunde sterben sehen? Was ist mit den Menschen, die an Krankheiten leiden oder die an ihrem eigenen Leben zugrunde gehen? Sind sie dankbar? Denken sie, dass Kira ihnen helfen kann und ihnen eine bessere Welt geschenkt hat? Es gibt so viel mehr als Kira. Ich kann hier nicht stehen bleiben.“

„Es gibt keinen Menschen, der wirklich rein ist, Light-kun.“ L schwieg einen Moment, bevor er hinzufügte: „Aber du versuchst es wenigstens.“

Light musste schmunzeln.

„Danke.“

„Wofür bedankst du dich?“, fragte L tonlos. „Dafür, dass...“

„...damit nur ein weiteres Indiz meiner Schuld geliefert wurde?“ Light lächelte kaum merklich. Wozu sollte er sich gerade jetzt darüber aufregen? Es reichte ihm, neben seinem Freund und Partner zu stehen und zu beobachten, wie der Abend in aller Stille die Stadt einnahm. Zumindest für diesen Augenblick.

Die Sonne verschwand glühend rot in den Häuserschluchten. Die letzte Wärme des Sommers verging. Es wurde Herbst.


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die Formulierung mit der Nussschale stammt, wie erwähnt, aus „Hamlet“ von William Shakespeare und taucht beispielsweise in Stephen Hawkings „Das Universum in der Nussschale“ wieder auf.
2. Buchweizenhonig ist oft Bestandteil von Lebkuchen, er hat einen sehr kräftigen, wenig süßen Geschmack. Auch Erdbeerbaumhonig ist nicht süß, er gilt als der bitterste Honig der Welt und hat nichts mit Erdbeeren zu tun.
3. Das Zitat von Thomas Jefferson befindet sich im Virginia Statut der Religionsfreiheit und ist zudem Teil der Inschrift auf seinem Grabmal.
4. Musikalische Inspiration zu diesem Kapitel waren „The Cage” und „Tales of the Silent City“ von Diary of Dreams. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  angeljaehyo
2009-12-27T16:12:15+00:00 27.12.2009 17:12
Der letzte Satz, "es wurde Herbst", tut wirklich weh nach dieser Szene. Vor allem, wenn man weiß, was im Herbst passiert.
Es passt gut, dass du Misa die Sachen über die Träume hast sagen lassen. Schließlich ist sie wohl die Gefühlsbetonteste der drei, und sie interessiert sich für Okkultismus etc. Es klang gar nicht mal so paradox, als sie so intelligent vor sich hingeredet hat, ohne zu wissen, dass sie wirklich Intelligentes sagt. Hat mir gut gefallen.
Was ich auch schön finde, ist, wie du darstellst, dass es einfach ersichtlich an Raitos wahrem Charakter - dem Charakter, der nichts von seiner eigenen Doppelexistenz als Kira und Raito wissen kann - ist, dass er Kira ist. Und dass L es so gut sehen kann. Denn ich glaube, dass es so war, zwischen den beiden.
Das Kapitel war sehr gefühlvoll im Gegensatz zu den anderen und hinterlässt eine Art Wehmut. Hat mir wie immer sehr gut gefallen.
Auch die erste Szene, die abrupt endet, finde ich gut. Es passt... zu meiner Wehmut, schließlich ist die Beziehung zwischen Raito und L ein offenes Ende. Genauso wie die Szene.
Von:  AliceDeLarge
2009-11-16T09:02:47+00:00 16.11.2009 10:02
Mal wieder ein sehr schönes Kapitel.
Ich bin dein Fan. Oder sowas in der Art. :)
Von:  kleinYugi5000
2009-11-15T21:58:54+00:00 15.11.2009 22:58
cool tolles kappi freut mich das du dich trotzdem entsinnt hast mir bescheid zu sagen, dann kann ich dich gleich nochmal erinnern mich beim nächsten mal zu informieren.....in diesem sinne tolles kappi mach weiter so

deine Soph-chan


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