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Grenzwall

Grenzwall
 

Lights Augen waren geschlossen, als er mit dem Erwachen langsam seine bewusste Wahrnehmung wiedererlangte. Er hörte das Geräusch von Wind, der über Dächer jagte und sich an Hausfassaden brach. Verschlafen öffnete er die Lider. Das Fenster war angekippt, die Luft im Zimmer kühl. L saß halb im Schneidersitz auf der Bettdecke und starrte in den Morgen hinaus, über die in grauem Dunst liegende Stadt.

Erst jetzt bemerkte Light, dass er sich im Schlaf der Seite seines Freundes genähert haben musste, denn obwohl L bereits am Rand des Bettes saß, war die Entfernung zwischen ihnen gering.

Reglos blickte Light nach draußen über die erwachende Stadt. Tage und Wochen waren nun schon vergangen, seit die beiden Männer gemeinsam in einem Zimmer übernachteten. Aber noch immer hatte Light kein einziges Mal gesehen, wie sein Partner die Augen schloss und an seiner Seite zur Ruhe kam.

„Woran denkst du, Light-kun?“

Der Angesprochene registrierte erst jetzt, dass L aufmerksam auf ihn hinabschaute, und antwortete ohne Umschweife:

„Ich habe mich gerade gefragt, ob du Angst vor mir hast.“

Ganz leicht legte L den Kopf schief und entgegnete auf seine ihm eigene Art:

„Es klingt nicht wie eine rhetorische Frage, dennoch habe ich das Gefühl, du würdest keine Antwort erwarten.“

Light schmunzelte kaum merklich, auch wenn ihm eigentlich nicht danach zumute war. Er sah wieder aus dem Fenster und bemerkte, wie das Licht der Straßenlaternen erlosch. Obwohl er eben erst erwacht war, fühlte er sich erschöpft. Was war nur los mit ihm?

„Womöglich“, überbrückte L das Schweigen seines Partners, „hast du es nicht auf die Weise ernst gemeint, wie du es gesagt hast.“

Verwundert schaute Light zurück in Ls Gesicht. Dann richtete er sich auf, schwang die Beine über den Bettrand und blieb neben L sitzen. Dieser hatte die schwarzen Augen noch immer nicht von ihm abgewandt und fragte nun seltsam leise:

„Was ist los mit dir, Light-kun?“

Es klang fast besorgt. Ein kleiner Teil von Light erschrak jedes Mal ein wenig, wenn L so leicht und präzise sein Inneres analysierte. Da der Student und Ermittlungspartner jedoch selbst keine Erklärung für seine Schwermut hatte, sprach er einfach aus, was ihm schon seit längerem durch den Kopf gegangen war, ohne weiterhin die Distanz zu wahren, die er stets und unerklärlicherweise für so wichtig hielt.

„Macht dich das nicht müde, Ryuzaki? Dich immer vor anderen zu verbergen?“

Als sich nur Irritation auf Ls Miene widerspiegelte, holte Light tief Luft und vertrieb damit jegliche Zweifel, bevor er sagte:

„Überall, wo ich mich befinde, wird mir bewusst, wie ich mit all den Menschen um mich herum unweigerlich verbunden bin, so sehr ist die Kontrollgesellschaft mittlerweile zu einem vernetzten Konstrukt geworden, aus dem man sich nicht einfach zurückziehen kann. Wir Menschen sind nur Funktionäre dieses Systems. Unter dem Vorwand von Individualisierung und Selbstbestimmung wird unsere Intimität liquidiert. Gerade in letzter Zeit belastet mich diese Tatsache sehr, obwohl ich gerade jetzt fern von der Gesellschaft lebe.“ Mit geöffneter Hand verwies Light auf die Stadt vor dem Fenster. „Fern von all dem da draußen.“

„Durch meine Kontrolle.“ Ls Worte waren schlicht und nicht eindeutig als Frage zu identifizieren. Noch immer versuchte Light, das Durcheinander seiner Gedanken zu ordnen, indem er sich mit seinen Ausführungen nicht nur an den Detektiv, sondern auch an sich selbst wandte. Er stellte allgemeine Aussagen zur Debatte, die sich scheinbar bloß auf das gesellschaftliche Konstrukt bezogen, und hoffte insgeheim, dass L ihm nicht ausweichen würde, dass er ihm Antworten auf jene Fragen gewährte, die tiefer unter der Oberfläche lagen. Darum hielt er sich an seinem Ausgangspunkt fest und fuhr fort:

„Wir sind fast zum Opfer der Digitalisierung geworden, die von uns ununterbrochen fordert, Zeugnis abzulegen. Dabei protegieren die unterschiedlichen Medien eine Verwechslung von Beachtung und Beobachtung, damit wir dem Voyeurismus, dem wir ausgesetzt sind, mit einem nicht weniger starken Exhibitionismus begegnen. Der Mensch ist mittlerweile gläsern geworden und gibt viel zu viel von sich preis.“

„Oft wird er sogar dazu gezwungen“, stimmte L tonlos zu und musterte seinen Gefangenen einen kurzen Moment ernst, als wollte er hinzufügen: Wie du, nicht wahr?

Light überlegte, ob es das war, worunter er litt, doch dann fiel ihm wieder ein, was ihn eigentlich auf diesen Gedanken gebracht hatte. Unverhohlen meinte er:

„Man kann sich mitten in diesem Informationsüberfluss, hinter seinen Monitoren auch verstecken.“

L schwieg und wandte den Blick ab. Er schien dem Hinweis keine Beachtung zu schenken, sodass Light fortfuhr:

„Ich stelle mir das unglaublich anstrengend vor, für die Welt da draußen zu leben und dennoch vor jedem auf der Hut zu sein, stets Zugriff auf unzählige Menschen unter sich zu haben und doch niemandem wirklich vertrauen zu können. Wenn du jeden Morgen so erwachst, macht dich das nicht müde?“

L blieb weiterhin stumm. Ihm sollte keine emotionale Regung anzusehen sein. Warum stellte sein Freund ihm auch all diese unsinnigen, irrelevanten, nutzlosen, schmerzhaften Fragen?

„Ist dir nie aufgefallen...“, setzte Light an und legte zögernd eine Hand auf Ls Schulter, „hast du dich nie gewundert, warum du bisher immer allein warst?“

Für einen kurzen Moment glaubte Light zu erkennen, dass sich die tiefschwarzen Augen des Detektivs weiteten, während jener nach wie vor aus dem Fenster starrte. Doch der Moment verging so schnell, dass sich Light seiner Erkenntnis nicht mehr sicher war.

„Ich weiß so wenig von dir, L“, meinte er bitter. „Das Einzige, das ich kenne, ist dieser goldene Käfig hier. Und mit jedem Tag kommt es mir mehr wie ein Gefängnis vor, aber nicht nur wie eines, das meiner eigenen Überwachung dient. Es erscheint mir fast, als hättest auch du dich hinter undurchlässigen Mauern eingeschlossen, als würden wir beide uns hinter Panzerglas befinden.“ Seufzend löste Light die Hand von der Schulter seines Freundes und spürte dabei die Spitzen des schwarzen Haares weich über seinen Handrücken streichen. Unbewusst zeichnete er mit der Außenseite seiner Finger flüchtig die Kontur von Ls Kiefer nach, wobei ihn eine vage Erinnerung überkam. „Dadurch, dass ich mich nun ebenfalls in diesem Gefängnis befinde, reflektieren die Wände so viel von dir, die vielen komplexen Nuancen deiner Persönlichkeit. Aber wenn ich die Hand nach dir ausstrecken will, dann stoße ich nur auf eine glatte, kalte Oberfläche und im nächsten Augenblick... gar nichts mehr.“

Als L ihm endlich den Kopf zuwandte, um seinen Blick direkt zu erwidern, hielt Light in seinem Redefluss inne. Sie schauten einander in die Augen, L wirkte seltsam atemlos und irritiert, beinahe konsterniert. Sogleich zog Light die Hand zurück. Auf einmal befürchtete er, zu weit gegangen und eine Grenze überschritten zu haben. Nicht allein mit seinen Worten.

„Du fühlst dich eingeengt, Light-kun?“

Zuerst öffnete dieser den Mund, schloss ihn jedoch ebenso rasch wieder. Er hätte wissen müssen, dass L ihm ausweichen würde. Resignierend deutete Light erneut hinaus und meinte:

„Hinter diesen Wänden gibt es eine ganze Welt, Ryuzaki, da gibt es Freiheit und Ferne. Vielleicht vermisse ich das wirklich.“

„Da draußen ist man nur einer von Millionen“, entgegnete L gleichgültig. „Es macht keinen Unterschied, ob man sich von Stahl und Beton oder von Konventionen einsperren lässt.“

„Ich weiß das“, gab Light offen zu, „mir ist klar, dass ich mich auch nur in die Ordnung der Dinge füge und im Grunde gar nicht frei sein kann. Die erste Pflicht des Menschen in unserer Gesellschaft besteht nun einmal darin, so künstlich wie möglich zu sein.“

„Und was die zweite Pflicht ist, hat noch keiner herausgefunden“, fügte L schulterzuckend hinzu.

„Aber unter der Kontrolle“, brachte Light mit Nachdruck hervor, „trägt jeder von diesen Millionen Menschen einen Funken in sich, der ihn einzigartig macht. Und du bist nicht nur einer unter vielen, Ryuzaki, solange ich an deiner Seite bin.“

Dieses Mal glaubte sich Light nicht zu irren, als er den leichten Schrecken in den weiten Pupillen seines Freundes sah. Wahrscheinlich zeugte das von einer ähnlichen Ungewissheit, wie sie sich in seinen eigenen Augen abzeichnen musste. Nachdenklich und ein wenig verwirrt senkte Light den Kopf. Kurz darauf äußerte L eine teilnahmslose Feststellung:

„Das liegt dir schon die ganze Zeit auf der Zunge, nicht wahr?“

„Entschuldige“, entgegnete Light nur, ohne den Blick zu heben, „ich wollte dich das alles nicht fragen. Mir fällt hier drinnen wohl einfach langsam die Decke auf den Kopf.“

Damit stand er auf, um sich anzuziehen.
 

Die Zahlen der Statistik zeigten die regionale Häufigkeit der von Kira getöteten Menschen der letzten zwei Monate an. Keine Auffälligkeiten waren zu vermerken. Hinzu kamen weitere Schemata, die die Verbrecherprofile der Opfer zeigten. Sie wiesen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf. Nirgendwo ließen sich Rückschlüsse auf Kira ziehen.

Doch die Tabellen und Zahlen auf dem Monitor halfen Light, in seinem eigenen Denken wieder Ordnung und Klarheit herzustellen. Er hatte das Gefühl, bereits einen wichtigen Ansatz gefunden zu haben. In seiner gedanklichen Abwesenheit resümierte er die Erinnerungen an die Gespräche mit L.

Was Kira tat, war ein spezielles Ausleseverfahren. Allerdings hatte die Geschichte gelehrt, dass im Namen der gerechten Sache nicht immer nur Verbrecher starben. Manchmal waren Opfer unumgänglich für die Verwirklichung des Endzieles. So wurden wissentlich Menschen gerichtet, die eigentlich unschuldig waren.

Lag hierin der Schlüssel?

„Wollen wir rausgehen, Light-kun?“

Voller Überraschung schaute er zu L hinüber, der neben ihm saß und lustlos in einer Tasse Tee herumrührte, in der er bereits fünf Stück Zucker ertränkt hatte.

„Zuerst verlässt du freiwillig unser Zimmer“, entgegnete Light mit gespielter Skepsis, „und dann willst du sogar das Gebäude verlassen? Du wirst ja richtig mutig, Ryuzaki.“

„Ich bin nur vorsichtig.“ L schaffte es, zur gleichen Zeit schneidend und gelangweilt zu klingen. „Die Mutigen waren meist nur zu dumm, um den Schützengraben zu finden.“ Er trank einen Schluck aus seiner Tasse. Nach einer Minute des Schweigens fragte Light:

„Du meinst nicht ernsthaft, dass du mit mir das Gebäude verlassen möchtest, oder? Du hast wahrscheinlich nur an ein Picknick auf dem Helikopterlandeplatz gedacht, nehme ich an.“

„Nein.“ L schubste ein weiteres Stück Würfelzucker in seinen Tee. „Selbstverständlich würde es seltsam aussehen, wenn wir mit den Handschellen durch die Straßen spazieren, aber ich habe mir bereits eine Lösung hierfür ausgedacht.“

Light drehte sich mit seinem Stuhl vollständig zu seinem Ermittlungspartner herum.

„Tust du das, weil ich dich mit meinen Aussagen von vorhin beleidigt habe?“

„Nein, sicher nicht“, entgegnete L mit beleidigtem Gesichtsausdruck.

Ein amüsiertes Lächeln zeichnete sich auf Lights Lippen ab, als er sagte:

„Mit dem Hinweis, dass du womöglich nur aus Angst nicht hinausgehen wollen würdest, habe ich wohl deinen Stolz verletzt.“

„Geh nicht zu weit, Yagami-kun, sonst überlege ich mir meinen Vorschlag noch mal.“
 

Im unterirdischen Parkhaus des Gebäudes stand eine englische Limousine für sie bereit, das alte Modell eines Rolls-Royce. Light kannte diesen Wagen noch aus seiner Studienzeit, da L oft damit von der Universität abgeholt worden war. Auch den Chauffeur, einen ergrauten Herrn in Anzug, meinte der Student mehrmals gesehen zu haben.

Light stieg hinter L in den schwarzen Wagen ein und glitt hinab auf die offensichtlich teure Lederausstattung.

„Wohin fahren wir?“, fragte er verwundert.

„Das wirst du dann schon sehen.“

Mit einem leichten Nicken unterband Light seine Neugier, während L unverwandt auf die Rückenlehne des Vordersitzes starrte und schließlich monoton verlauten ließ:

„Ich möchte mich einfach bei dir revanchieren, Light-kun.“

Die Limousine setzte sich mit einem sanften Motorengeräusch in Bewegung. Der Fahrer sprach kein einziges Wort und hielt sich dezent im Hintergrund.

„Vor deiner Inhaftierung“, sprach L weiter, wobei er den Blick seines Verdächtigen auf sich ruhen spürte, „als ich lange nicht mehr in der Uni aufgetaucht war, hast du gemeint, dass du dich ohne mich einsam fühlen und gern wieder mehr Zeit mit mir verbringen würdest.“

„Ja, das stimmt.“ Lights Stimme klang ruhig und aufmerksam. „Es war... langweilig ohne die Gespräche mit dir.“

„Jetzt ist es wahrscheinlich andersherum und dir wird meine Nähe langsam zu viel.“

„Nein, sicher nicht“, setzte Light energisch dagegen, „das wollte ich vorhin in keiner Weise andeuten. Was ich wirklich will, ist...“ Dein Vertrauen, brachte Light den Satz gedanklich zu Ende, doch sprach er die letzten Worte nicht aus. Eine solche Forderung an L zu stellen, das wäre geradezu lächerlich gewesen. Es würde den Verdacht nur bestätigen, dass er als Kira zu versuchen gedachte, L hinters Licht zu führen.

„Was?“, fragte der Detektiv und wandte seinem Freund den Blick zu. Light schüttelte schwach lächelnd den Kopf und schwieg. Deshalb fuhr L nach kurzer Zeit fort:

„Aufgrund deiner Bitte habe ich meine Angst überwunden und bin deinetwegen in die Uni gekommen.“

„Du weißt doch, dass ich das nicht ernst meinte“, griff Light den versteckten Hinweis auf. „Ich würde deine Zurückhaltung niemals auf eine profane Angst reduzieren.“

Beide Männer schwiegen, während hinter den abgedunkelten Fensterscheiben des Wagens der tokyoter Alltag vorüberzog. Light dachte über Ls Aussagen sowie über seine eigene Antwort nach. Schließlich eröffnete er:

„Du hattest damals schon genügend Indizien gegen Misa und mich gesammelt. Ihre Festnahme folgte an jenem Tag auf dem Fuß, nur deshalb bist du wahrscheinlich in die Uni gekommen. Ich denke, das war weniger ein Zeichen deiner Freundschaft zu mir“, Light seufzte schmerzlich, „als vielmehr deines berechnenden Charakters. Du musst mir also nichts vormachen, Ryuzaki.“

Light bemerkte nicht, wie die schwarzen Augen noch ein Stück größer wurden und damit das ehrliche Interesse preisgaben, das L von Anfang an nicht mehr losließ, seitdem er den Sohn des Polizeiinspektors kennengelernt hatte. Mittlerweile war dem Detektiv dieses Gefühl völlig vertraut. Es überkam ihn jedes Mal, wenn er Lights Schlussfolgerungen zuhörte und dieser so leicht und präzise sein Inneres analysierte. L wusste, was er empfand, war pure Faszination.

„Ich mag berechnend sein“, räumte er tonlos ein, „aber der Verstand macht den Menschen erst zu dem, was er ist.“

„Menschliches Verhalten lässt sich aber nicht bloß anhand von Logik und Wahrscheinlichkeiten berechnen.“

„Für Kira sind die meisten Personen wohl auch nur Variablen in einer Gleichung. Also solltest du dich nicht darüber beschweren, Light-kun.“ Als L den bohrenden Blick seines Verdächtigen abfing, fügte er belanglos hinzu: „Ah, ich vergaß, du bist ja nicht Kira.“

Light schaute hinaus, das Stechen in Hals und Brust ignorierend. Er wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigte und er nicht mehr in Versuchung geriet, die Argumentation seiner Faust zu überlassen. Er musste sich besinnen, mit Analytik wieder Ordnung in seine Gedanken zu bringen, mit Rationalität seine Gefühle im Zaum zu halten. Wie sonst in solchen Momenten.

Nachdem er sich gefangen hatte, entgegnete er:

„Logische Analyse ist ein schwieriges Unterfangen, wenn es um den Realitätsbezug geht. Denn eigentlich stellt Mathematik die reinste aller Geisteswissenschaften dar, weil sie völlig unabhängig von der Natur ist. Sie ist ein Konstrukt des menschlichen Verstandes. Deshalb kann man auch nicht jede Handlung und jedes Ereignis der Zukunft anhand von Berechnungen voraussagen.“

„Aber man kann es versuchen.“ Ls Stimme hatte den Sarkasmus verloren, welchen wahrscheinlich nur Light hinter der Emotionslosigkeit seines Partners zu erkennen vermochte. Vielmehr klangen seine Worte nun, trotz des theoretischen Inhalts, seltsam schmerzlich. „Die äußere Welt kann natürlich nicht durch unsere Lehren exakt wiedergegeben werden. Aus diesem Grund besteht die Wahrheit für jeden sozialen oder persönlichen Fall in dem Annäherungsgrad, den die Wiedergabe jeweils erreichen kann. Man versucht positivistisch die erlangten Resultate mit der einfachsten Hypothese in Einklang zu bringen. Der wissenschaftliche Fortschritt besteht darin, möglichst viele Ereignisse aufgrund der Einsicht in den gesetzmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen vorauszuwissen, anstatt sie erst aus der Beobachtung zu erkennen.“

„Weil Naturgesetze, getrennt von unserer Wahrnehmung, unveränderlich sind“, unterstützte Light die These mit einem Nicken, wobei sich L sofort wieder anschloss.

„Unveränderlich und zugleich notwendig für eine rationale Voraussicht. Die Untersuchung der statischen Beziehungen der Ähnlichkeit erfolgt vor allem durch Induktion.“

„Dagegen untersucht man die Kausalverkettung von dynamischen Beziehungen vermittels der deduktiven Methode.“

„Alle sozialen Angelegenheiten, die den Menschen betreffen, lassen sich nur bedingt voraussagen, das stimmt, Light-kun. Trotzdem ist es machbar. Im sozialen Bereich manchmal mehr als in der Ökonomie, manchmal sogar mehr als in der Natur.“

„Aus diesem Grund bedienst du dich immer der Wahrscheinlichkeitsrechnung?“, fragte Light skeptisch.

„Ich rechne mit Möglichkeiten, aber niemals mit irgendwelchen Theorien der Überschneidung, die meinen eigenen Zustand oder den anderer unpräzise werden lassen.“

Light lachte und fügte hinzu:

„Du lässt dich also nicht zu Schrödingers Katze machen.“

Genervt verzog L das Gesicht.

„Nur weil die Welt der Chaostheorie folgt“, antwortete er ein wenig spöttisch, „heißt das nicht, dass ich der Entropie folgend in meine Umgebung diffundiere.“

Schmunzelnd wandte Light den Kopf zum Fenster. Sie fuhren über eine Brücke, einen künstlich angelegten Kanal entlang, der in seinem betonierten Flussbett lag. Überall türmten sich Hausfassaden auf, dazwischen verliefen asphaltierte Straßen und gepflasterte Gehwege, nur an wenigen Stellen wurde einem eingegrenzten Stück Grün die Existenz in dieser steinernen Welt gestattet. Ab und zu bildete ein Tempel oder kleiner Schrein einen Kontrast zu der hochmodernen Kulisse, die Tokyo erst sein typisches Aussehen verlieh.

„Berechenbarkeit bezieht sich auf das Ganze“, meinte Light unvermittelt. „Voraussagen funktionieren in erster Linie für die Masse, den Schwarm, weniger für das Individuum.“

L schloss die Hände um seine Beine, die er sogar im Auto an den Körper herangezogen hatte, und schaute wieder nach vorn. Dabei spannte er mit seiner Antwort den Bogen zum Ausgangspunkt der Diskussion.

„Für eine hundertprozentige Voraussicht sind unsere Möglichkeiten eindeutig zu begrenzt. Doch der Mensch kann als mittelpunktloses Netz von Überzeugungen und Wünschen beschrieben werden, unser Vokabular und unsere Meinungen sind durch die historischen Umstände festgelegt, sodass durchaus Rückschlüsse machbar sind.“

„Das bedeutet“, schlussfolgerte Light ein wenig bitter, „dass du aus Worten und Handlungen ein Profil des Täters erstellst und ebenso deine Mitarbeiter nur deshalb konsultierst, damit sie dir zur Lösung deines Falles verhelfen.“

L blickte erneut zu seinem Ermittlungspartner hinüber, in dessen teils erwartungsvolles, teils trauriges Gesicht. Der Meisterdetektiv fragte sich, ob Light das alles nur vorspielte oder ob es ihm tatsächlich zuwider war, auf eine bloße Funktion als Täter oder Mitarbeiter reduziert zu werden. Der Freund jedoch, der L zu sein drohte, war innerlich mit weit mehr konfrontiert. Nachgiebig lenkte er ein:

„Es geht mir nicht darum, meine Ausführungen vorzutragen und von anderen Personen Bestätigung dafür zu finden. Du hast mir die Möglichkeit gegeben, in Interaktion zu treten, Light-kun. Worte sind mehr als ein Kommunikationsmittel.“

„Sie stellen selbst eine Tat dar“, stimmte Light zu, „eine Handlung oder einen Akt, der die Realität verändert.“

„Doch ein Gespräch ist nicht die Koordinierung von Handlungen unterschiedlicher Individuen, sondern ein im starken, irreduziblen Sinne gemeinsames Handeln. Auch wenn man sich manchmal nichts Neues erzählt, aber auf einer tieferen Ebene sind die Menschen, mit denen ich über die Dinge spreche, die mir wichtig sind, meine Vertrauten. Vertrautheit oder Intimität ist ein wesentlich dialogisches Phänomen.“

„Mit Dialog meinst du mehr als bloß Worte, oder?“, erkundigte sich Light im Nachvollziehen der Argumentation.

„Ja, denn die Erkenntnis über meine eigene Identität erlange ich im Austausch über das Erkennen dessen, was ich billige und ablehne, was ich für gut erachte und was nicht. Ich erschaffe meinen Gegenpart, wie mein Gegenpart mich erschafft. Vielleicht verstehe ich mich selbst sogar erst durch den Widerspruch. In der Erkenntnis wird mir mein Gegenüber vertraut.“

Damit wandte sich L ab, um aus dem Autofenster zu schauen.

Light schwieg nachdenklich, während er sich fühlte, als hätte er von tausend Schritten einen einzigen hinter sich gebracht. Auch wenn ihn dieser Schritt näher an L herangeführt hatte, war ihm eines klar: Vertrautheit war noch lange kein Vertrauen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die Gedanken zum Voyeurismus und Exhibitionismus der Digitalisierung sind inspiriert von Käte Meyer-Drawe.
2. Dass die erste Pflicht in unserer Gesellschaft darin bestünde, so künstlich wie möglich zu sein, ist ein Aphorismus von Oscar Wilde.
3. Einige der Ansichten zur Soziologie, zur Konstruktion der Welt und der Frage nach ihrer mathematischen Berechenbarkeit basieren auf Auguste Comte und Richard Rorty.
4. Das Gespräch am Ende über den dialogischen Charakter der menschlichen Identität fußt auf den Theorien des kanadischen Politikwissenschaftlers Charles Taylor. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  angeljaehyo
2009-11-02T22:09:07+00:00 02.11.2009 23:09
Der erste Teil des Kapitels spiegelt für mich die sogenannte "Vertrautheit" zwischen den beiden wider. In der Szene machen sie sich Gedanken, die vertraut sind und zeigen einander eine gewissen... Gewöhnung an den anderen.
Ich mag den Gedanken der synthetischen Gesellschaft überhaupt nicht, kann ihn aber leider in keinster Weise leugnen. Allerdings würde ich es nicht als ein neues Phänomen ansehen, sondern als eine allgemeine menschliche Macke. Sobald wir die Instrumente zu unserer Perversion dessen, was wir Individualität nennen, haben, machen wir auch damit unseren ganzen virtuellen Seelenstriptease und alles. Aber das hätten wir auch von 200 Jahren so gemacht... hm. Damit will ich sagen, dass der Mensch nun mal so ist. Bloß dass ich wie immer sehr optimistisch bei dieser Angelegenheit bin - solang man wirklich seine Vertrauten hat, zu denen man auch dann wirkliches Vertrauen hat, ist das alles nicht so schlimm. Bloß braucht man dazu eben wirkliche Freunde.
Das haben allerdings weder L noch Raito... was irgendwie traurig ist.
Genauso wie der Schluss dieses Kapitels sehr traurig ist, als Raito merkt - oder vermutet - dass er in Ls Augen kein Mensch, sondern ein bloßer Verdächtiger ist. Ich kann mir schon nach all den Mühen und den Gedanken, die er L gewidmet hat, vorstellen, dass es ihn trifft, obwohl er mindestens genauso berechnend ist wie L - ich stelle mir gerne vor (ich weiß nicht, ob du das so dachtest beim Schreiben), dass Raito L die ganzen Fragen stellt, gerade UM ihn zu verwirren. Das würde zu ihm passen. Genauso wie es zu ihm passt, dass er WEISS, das L ihn nicht missversteht, sondern ihm ausweicht. Seelenverwandtschaft und trotzdem sind sich ihre Seelen in keinster Weise nah. Hat was romantisches, aber du weißt, ich liebe Romantik und sehe sie in allem. :D
Das Kapitel erinnert mich an einen Streit, den ich mit meinem Dummbatz von Ethiklehrer letztens hatte - ich habe die These vertreten, dass Mathematik und generell alle Naturgesetze doch bloß menschliche Konstrukte seien, die es uns einfach machen, die Welt zu erklären. Du tendierst wohl eher zu Sein bestimmt das Bewusstsein? Ich nicht. :D Denn andersherum kam ja in dem Kapitel überhaupt nicht vor.
Alles in allem ein sehr lesenswertes und gutes Kapitel, das auch auf die Beziehung zwischen L und Raito auf eine schöne Weise eingegangen ist (auch wenn manche Berührungen am Anfang im Bett etwas gezwungen klangen).
Und tut mir leid, dass das so lange gedauert hat :(

Übrigens muss ich gestehen, dass ich keinen der oben genannten Menschen kenne. Ich kenn ja eh nur die absoluten Standard-Philosophen, wenn überhaupt... :D (Sein bestimmt das Bewusstsein ist von Marx, das weiß ich sogar! Und andersherum wäre Hegel. Boaaaah. :D)
Von:  Duvessa
2009-10-03T15:09:07+00:00 03.10.2009 17:09
Wow. Ich war redlich überrascht nach so langer Zeit eine so strukturierte und anspruchsvolle Geschichte hier zu finden. Damit möchte ich niemanden hier schlecht machen, aber ich muss zugeben, dass ich meinen Duden nach langer Zeit wieder einmal entstaubt habe.
Dein Stil gefällt mir, vor allem da in den Dialogen sehr viele verschiedene Schichten und viele unterschiedliche Anschauungen der Psyche und der Gesellschaft eingearbeitet wurden.
Mittlerweile haben wir schon Oktober, darum hoffe ich sehr, dass bald mehr zu lesen sein wird.

Hochachtungsvoll
Duvessa
Von: abgemeldet
2009-08-10T12:18:56+00:00 10.08.2009 14:18
L hatte ja in einem der vorherigen Kapitel mitgeteilt, das er sich in Light-kun´s Nähe wohl fühlt. Ich habe das Gefühl, das man dies vorallem in den letzten Kapiteln mehr bemerkt als sonst, auch wenn L nicht unbedingt ein Mensch ist der viel von sich preisgibt...mal sehen ob sich das nicht doch noch ändern wird;)
Es ist fast schon erschreckend wie ähnlich ihre Denkweisen doch sind. Ich muss schon sagen, am Anfang hatte ich meine Probleme mit den ganzen neuen Begriffen die du eingebaut hattest, doch mittlerweile gefällt mir deine ausführliche Schreibweise sehr gut. Ich bin schon gespannt wie es weitergeht und freue mich auf das nächste Kapitel...

LG _midnightkiss_
Von:  Riafya
2009-08-01T17:38:05+00:00 01.08.2009 19:38
So... endlich hab ich mich bis hierher durchgekämpft (durch die ganzen Ausführungen und Begriffe, ich glaub, ich hab in den letzten Stunden mehr Wörter gelernt, als in einer Deutschstunde... o.o)
Ich muss sagen, es ist wirklich bemerkenswert, wie du das immer schreibst, als ich mit dem ersten Kapitel fertig war, dachte ich ja zuerst: "Okay...", aber inzwischen hatte ich mich dran gewöhnt und ich finde es einfach nur interessant. *strahl*
Allerdings würde auch ich gerne wissen, wo der Ausflug hingeht...
Deshalb hoffe ich, es geht bald weiter!
Bis bald,
Ayako
Von:  AkainoKori
2009-07-30T11:01:05+00:00 30.07.2009 13:01
FIRST! haaah top wie immer. wobei ich zugeben muss das ich 1-2 wörter nachschlagen müsste ;))
L ist sooo schwer zu durchschauen :< ich hoff ja immer iwie zwischen den zeilen lesen zu können bei ihm. fast keine chance ><
bin sehr gespannt wohin der ausflug gehen soll.

in froher erwartung

Akainokori


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