[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 7: Verwandt ------------------- Verwandt Jenseits der Menschen gab es mehr als Vernunft. Jenseits der Außenwelt war eine andere Sehnsucht. Es war nur die Spitze, die unbemerkt die Oberfläche durchstoßen hatte. Erst viel zu spät verdeutlichte der Schmerz, wie tief der Stachel bereits gedrungen war. Doch nicht jeder Schmerz tat weh. „Du siehst erschöpft aus, Vater.“ Soeben hatte der Polizeiinspektor den zentralen Arbeitsbereich der japanischen Sondereinheit betreten. Light war aufgestanden, um auf ihn zuzugehen, hielt dann jedoch inne und warf einen Blick hinab auf die Handschellen. Seit kurzem bemühte er sich unverwandt, seine Fesselung zu ignorieren, wenn er sie schon nicht lösen konnte. „Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut“, antwortete der in letzter Zeit hager gewordene Mann mit einem müden Lächeln und hob beschwichtigend eine Hand. Während Lights Blick wieder besorgt auf seinem Vater ruhte, machte L keinerlei Anstalten, sich umzuwenden. Mit angewinkelten Beinen saß er auf einem Stuhl und starrte auf den Computermonitor, während er lustlos ein paar Daten analysierte. „Im Polizeidezernat fragt man sich, was wir eigentlich machen“, erklärte Herr Yagami seinem Sohn. „Seit kurzem sind bei uns keinerlei Fortschritte mehr zu verzeichnen. Ich weiß nicht, was ich meinem Vorgesetzten berichten soll.“ „Darüber kann sich doch niemand in der Zentrale ein Urteil erlauben“, meinte Light stirnrunzelnd und verschränkte dabei die Arme vor der Brust, „schließlich haben sich die meisten vom Kira-Fall zurückgezogen, sobald es brenzlig wurde.“ „Das sind nun einmal ganz normale Menschen“, räumte der Inspektor ein, „mit Zukunftsplänen, mit Familie, mit Verantwortung zu tragen.“ „Als hättest du keine Familie.“ Eine Sekunde, nachdem er es ausgesprochen hatte, bereute Light seine Worte bereits. Denn er las im Gesicht seines Vaters den beständigen Zweifel, der diesen zwischen der Verantwortung seiner Familie gegenüber und dem Streben nach Gerechtigkeit schwanken ließ. Herr Yagami öffnete nicht einmal den Mund zu einer möglichen Entgegnung. Es gab nichts, was er dazu hätte erwidern können. Stattdessen schaute er zu dem Meisterdetektiv hinüber und seufzte kaum merklich, bevor er ein Buch aus seiner Tasche zog. „Wir scheinen alle auf der Stelle zu treten. Vielleicht ist es besser, ab und an ein wenig Abstand zu gewinnen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.“ Damit reichte er seinem Sohn das in hellen Farben gehaltene Buch, auf dem über dem Titel, welcher mit Kanji geschrieben war, ein paar Worte in lateinischen Buchstaben standen. Light betrachtete die Vorderseite, wobei ein Lächeln über seine Lippen huschte. „Es ist immer etwas, das ich nicht erwarte, Vater.“ „Du weißt doch“, erklärte Herr Yagami, „um Ordnung zu schaffen, muss man erst einmal alles leerfegen und in eine andere Welt eintauchen.“ Lachend entgegnete Light: „Jetzt weiß ich, warum Mutter meinte, du hättest eine romantische Ader. Ich dachte immer, sie wollte mich auf den Arm nehmen.“ Auf das Gesicht des Älteren schlich sich ebenfalls ein Lächeln, doch lag etwas undefinierbar Trauriges darin. „Wenn du es für Zeitverschwendung hältst...“ „Keineswegs“, versicherte Light, „vielleicht bringt es mich im Endeffekt sogar ein Stück voran. So habe ich Raum, um über einiges nachzudenken.“ „Aber Vorsicht, zu viel Abstand scheint mir auch nicht angebracht zu sein.“ Damit wandte sich der Polizeiinspektor weniger an seinen Sohn als vielmehr in Richtung des teilnahmslosen Detektivs. Dieser reagierte jedoch nicht darauf, sodass Lights Vater unvermittelt hinzufügte: „Je mehr Verantwortung man zu tragen hat, desto weniger sollte man sich egoistisch und unvernünftig verhalten.“ „Unvernunft ist unabhängig von Egoismus“, sagte L auf einmal, bar jedes Anzeichens dafür, dass er der bisherigen Unterhaltung überhaupt gefolgt war. „Sobald jemand egoistisch handelt, handelt er auch vernünftig.“ Bevor Herr Yagami etwas erwidern konnte, hatte sein Sohn bereits das Wort ergriffen: „Menschen können nur schwer zum Denken und Handeln gezwungen werden, das funktioniert nur bis zu einem bestimmten Punkt. Jeder muss selbst eine Entscheidung treffen, ob der nächste Schritt nach vorn oder zurück führen soll.“ Light warf seinem Vater einen kurzen Blick zu, der diesen um Verständnis und Geduld bat. „Kann man sich denn entscheiden?“ Ls tonlose Stimme stellte die Frage mitten in den Raum. Nach einem Moment holte er schwerfällig Luft. „Hat man denn die Wahl, wieder umzukehren?“ „Was meinst du, Ryuzaki?“ „Wir können das, was wir sind, nur vor uns und in Gestalt von Zielen erkennen. Darum hat unser Leben immer die Form des Entwurfs oder der Wahl, sodass jede Handlung spontan zu sein scheint. Wenn wir aber von Anfang an auf ein künftiges Ziel zusteuern, ist doch auch unser Entwurf durch unsere anfängliche Wesensart festgelegt. Das wiederum heißt, dass die Wahl schon mit unserem ersten Atemzug getroffen ist.“ Während Lights Miene ernst wurde, wandte sich sein Vater wortlos ab. Für einen langen Augenblick starrte der ältere Mann zu Boden. Dann entschied er mit einem leichten Kopfschütteln, dass die beiden Jüngeren auf seine Anwesenheit verzichten konnten, und verließ den Raum. Light bemerkte es nicht einmal und meinte zu seinem Ermittlungspartner: „Wenn uns nichts von außen zwingt, dann nur, weil wir selbst für das verantwortlich sind, was wir eine Wirkung auf uns ausüben lassen. Unser Verhalten anderen Menschen und der Welt gegenüber ist von äußeren Einflüssen unabhängig, wenn es nicht auf Überlegungen beruht. Der Teufel, der dich reitet, bist immer du selbst. Wir sind zur Freiheit verurteilt.“ „Aber sind wir auch frei in Hinblick auf uns selbst? Ist unsere Entscheidung nicht in das jetzige Leben zurückversetzt, gibt es überhaupt eine Wahl, wo es noch kein Feld klar unterschiedener Möglichkeiten gibt, sondern nur einen einzigen Reiz, eine einzige Versuchung, die alles andere unwahrscheinlich macht?“ Bei dem Wort „Versuchung“ horchte Light auf. Zuerst hatte er geglaubt, L würde auf die Arbeit im Kira-Fall ansprechen und die damit verbundene Gefahr, welche allgegenwärtig geworden war. Es gab keinen Weg mehr zurück, denn neben der Verantwortung stellten Stolz und Siegeswillen zu große Hindernisse dar. Doch als Light noch einmal über Ls Aussagen nachdachte, bemerkte er, dass das Ziel dieser Diskussion nicht irgendetwas Unbestimmtes oder Allgemeines betraf, sondern sie selbst. Für L war Kira der Anreiz zum Handeln geworden, alle nachträglichen Aktionen nur eine logische Konsequenz. Auf der anderen Seite schien er in Light etwas entdeckt zu haben, das diesen in Konfrontation mit einer ebensolchen Versuchung zu Kira hätte werden lassen. Aus dieser Überlegung heraus sprach Light schließlich mit Bedacht: „Wenn ich von Geburt an Entwurf bin, lässt sich unmöglich unterscheiden, was in mir Gegebenes und was Geschaffenes ist, von keiner einzigen Geste lässt sich sagen, sie sei ausschließlich vererbt oder angeboren, sozusagen fern jeglicher Spontaneität.“ „Von keiner aber auch, sie sei etwas völlig Neues für dein eigenes Sein zu dieser Welt, das du von Anfang an bist. Niemand ist ein unbeschriebenes Blatt“, konterte L sofort, sodass Light seinen Verdacht bestätigt sah. Er entschied sich jedoch dagegen, eine zu starke Angriffsposition einzunehmen, und sagte deshalb distanziert: „Du meinst, wenn es eine wirkliche Freiheit gibt, dann nur im Laufe des Lebens durch die Überwindung unserer Ausgangssituation, ohne dass wir jedoch aufhörten derselbe zu sein, nicht wahr?“ „Ja, das ist das Problem“, stimmte ihm L zu. „Zwei Dinge stehen fest, was die Freiheit betrifft, dass wir nie determiniert sind und dass wir uns nie ändern. Wenn wir zurückblicken, werden wir in unserer Vergangenheit immer die Ankündigung dessen entdecken können, was wir geworden sind.“ Lights Körper überlief es eiskalt. Was er auch tat, L schien zu der Erkenntnis gelangt zu sein, dass er Kira nicht verloren hatte. Falls alles andere in Vergessenheit geriet, so war Light nicht sicher, ob er froh darüber sein konnte, den Meisterdetektiv in dessen Wahl nicht zu enttäuschen. Seit der Ankunft seines Vaters hatte Light hinter Ls Rücken gestanden. Als er nun registrierte, dass der Inspektor nicht mehr zugegen war, fühlte er sich hilflos und erschöpft. Schweigend setzte er sich wieder neben seinen Partner und fuhr sich durch das Haar. Indessen beugte sich L nach vorn und zog die Tasse Tee, die schon eine geraume Zeit auf dem Tisch gestanden hatte, mit Daumen und Zeigefinger an der Untertasse zu sich heran. Obwohl das Getränk bereits kalt war, goss er aus einer kleinen Kanne Milch hinein. Nachdem er einen Schluck davon getrunken hatte, fragte er vermeintlich übergangslos: „Light-kun, du erinnerst dich doch an die Psychologievorlesungen, die wir gemeinsam besucht haben, oder?“ Der Angesprochene nickte knapp, sodass L fortfuhr: „Man kann an dieser Stelle nämlich auch mit psychoanalytischen Mitteln argumentieren, so überholt sie auch sein mögen. Obwohl sich die Deutungsvorschläge nicht beweisen lassen oder gar widerlegt wurden, sind sie prinzipiell nicht von der Hand zu weisen. Schließlich kann man nicht den Zufall für all die komplexen Korrespondenzen verantwortlich machen, die zwischen dem Kind und dem Erwachsenen entdeckt wurden. Die Psychoanalyse ist nicht dazu da, um uns wie die Naturwissenschaften über notwendige Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung aufzuklären, sondern um uns auf Motivationszusammenhänge hinzuweisen...“ „...die aber immer nur Möglichkeiten darstellen, ich weiß“, beendete Light den Satz. „Wir sind einer unaufhörlichen Veränderung unserer Persönlichkeit unterworfen, deren permanente Realität, wenn überhaupt, nur als retrospektive Hypothese verstanden werden kann.“ Der Anflug eines Lächelns strich über Ls Lippen. „Du darfst eines nicht vergessen, Light-kun“, sagte er mit einer Stimme, die fast sanft klang, „wir können nie aus unserem Leben heraustreten. Du hast es selbst zugegeben. Wir sind, was wir sind, und werden es wohl immer bleiben.“ Das Wasser verursachte ein leises Geräusch in der Stille des Badezimmers. Es hatte etwas Beruhigendes an sich, sodass keiner der beiden jungen Männer sich genötigt sah, das Schweigen zu unterbrechen. L hockte auf einem Waschschemel, ein Handtuch um die Hüfte gebunden, und säuberte soeben voller Konzentration seine Füße. Diese Prozedur kannte Light bereits, ebenso wie die Sorgfalt, mit der er sie durchführte. Er wusste nicht, ob es an der momentanen Tatenlosigkeit seines Kollegen lag, dass dieser so viel Zeit darauf verwendete, oder ob L schon immer peinlich genau auf seine Körperhygiene geachtet hatte. Es spielte keine Rolle. Light hatte sich an das tagtägliche Verfahren gewöhnt. Ganz im Gegenteil empfand er jene Momente der Ruhe sogar als angenehm und vertraut. Obwohl eine Zeitersparnis mittlerweile nicht mehr nötig war, bevorzugte Light es meist, bloß kurz zu duschen, ohne danach ein Bad zu nehmen. Noch konnte er seinen nackten Oberkörper nicht bedecken, weil L ihn in der Zwischenzeit häufig an den Handtuchhalter kettete. Kaum merklich seufzte er. Einerseits hatte sich die Gefangenschaft als weniger unangenehm und anstrengend herausgestellt, als man es eigentlich von einer solch permanenten Zweisamkeit erwarten würde. Andererseits schien sie unterschwellig doch belastender zu sein. Da L seinen Verdächtigen nicht von sich stoßen konnte, ließ er seine Anspannung womöglich an allen anderen Beteiligten aus und nötigte ihnen Abstand auf. Das würde zumindest sein Verhalten in letzter Zeit erklären. Deshalb bemühte sich Light, ihnen beiden mehr Raum zu gewähren, denn auch ihn selbst wühlte die derzeitige Situation auf. War ihre Nähe zueinander vielleicht zu viel? „Betrachtet man deinen Vater, begreift man, woher du deine Gerechtigkeitsvorstellung hast, Light-kun“, sagte L unvermittelt, ohne sich dabei umzudrehen. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, nicht wahr?“ Seine Stimme wurde leiser, in sich gekehrt, fast orakelnd. „Die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Eine Versuchung. Verführung.“ Verwirrt schaute Light auf, schob sich das Handtuch vom Kopf und legte es um seine Schultern. Sein eigenes helles Haar war fast vollständig getrocknet, nachdem er es vorher kurz geföhnt hatte. Ls wirre, schwarze Mähne hingegen war noch immer nass, vereinzelt fielen Wassertropfen herab und perlten über die weiße Haut. Light betrachtete die knochigen Schultern, Wirbel und Rippen, die feinen Muskellinien des gekrümmten Rückens und der schlanken Gliedmaßen, die von einem feuchten Film überzogen waren. Blinzelnd wandte er den Blick ab. „Du meintest vorhin sinngemäß“, fuhr L fort, „niemand könne zur Vernunft gezwungen werden, oder?“ „Vernünftig zu handeln heißt für meinen Vater, sich hinter das Gemeinwohl zu stellen“, erklärte Light und richtete starr den Blick zu Boden. „Doch es kommt darauf an, wie man das definiert. Vernunft folgt im Grunde nur der eigenen Ratio. Was unser Verstand für vernünftig hält, kann für Außenstehende höchst irrational sein.“ „Tja, was bedeutet schon Vernunft.“ Kein fragender Ton lag in Ls Aussage. „Es lässt sich schwer definieren, was man darunter zu verstehen hat. Schließlich widerspricht es der Vernunft auch nicht, wenn ich die Zerstörung der ganzen Welt einem Kratzer an meinem Finger vorziehe.“ „Würdest du das denn wollen?“ Nun endlich drehte L seinen Kopf zu Light und erwiderte dessen Blick. Seine großen Augen zeigten wie zumeist nur ein stummes Interesse. „Würdest du“, wiederholte Light seine Frage, „die ganze Welt zerstören, wenn deine Vernunft dir das sagte?“ „Gegenfrage, Light-kun. Würdest du deine Familie opfern, wenn du dafür Kira aufhalten könntest?“ Bestürzung spiegelte sich auf Lights Miene wider. Zwar öffnete er den Mund, doch vermochte er vorerst nicht, eine Antwort darauf zu geben. L nutzte die Gelegenheit und fügte ohne Umschweife hinzu: „Wenn ich den Kratzer an meinem Finger für die größte Ungerechtigkeit hielte, dann würde ich dafür vielleicht auch die ganze Welt verraten.“ „Es geht hier um viel mehr! Kira hat unzählige Menschenleben auf dem Gewissen.“ „Wenn das Ideal groß genug ist, sind Opfer also zu verschmerzen? Für die meisten ist das eigene Leben, die eigene Familie mehr wert als der Rest der Welt“, gab L zu bedenken. „Wie sieht es bei dir aus, Light-kun? Ich weiß, du würdest nicht gegen deine Moral verstoßen, um diesen Fall zu lösen. Aber trotzdem riskierst du das Leben deiner Familie, genau wie dein Vater. Um eure Gerechtigkeit zu vertreten, würdet ihr dieses Opfer erbringen, nicht wahr?“ Light atmete schwer aus und senkte kopfschüttelnd den Blick. Seine Mimik zeigte deutlich, wie wenig er diese Worte hören oder akzeptieren wollte, wie sehr sie auch zutreffen mochten. Mit belegter Stimme gestand er: „Gerechtigkeit ist meines Erachtens eines der bedeutendsten Güter der Menschheit. Doch auch meine Familie ist mir wichtig. Ich kann sie nicht einkalkulieren, als wären es nur Fremde für mich.“ „Also würdest du niemals wie Euthyphron handeln?“ „Du meinst“, fragte Light irritiert, „ob ich meinen Vater anklagen würde, wenn er ungerecht handelt? Ob ich ein Urteil darüber fällen würde, vermeintlich richtig zu handeln, weil es allgemein verlangt wird oder ob ich meiner eigenen Moral folgend gar nicht anders kann und sein Leben dagegen verrechne? Das ist doch eine völlig andere Sache.“ „Ist das so? Dein Vater würde deine Schuld wahrscheinlich nie akzeptieren, Light-kun. Wegen der Schande wird er euch beide töten, wenn du Kira bist.“ Light schluckte hart und schloss die Augen. Lange Zeit sagte er nichts mehr, während L wieder dazu überging, stillschweigend seinen Oberkörper zu waschen. Ein paar Minuten vergingen, bis Light leise fragte: „Wenn wir eine Gemeinschaft von Fremden wären, was können wir dann anderes tun, als Gerechtigkeit an die erste Stelle zu setzen?“ „Das sind wir aber nicht. Wie wenig wir uns auch verstehen, wir werden einander niemals fremd sein.“ L hatte sich abgetrocknet und griff nach der Jeanshose, die zusammengefaltet auf einem Schrank lag. „Menschen ohne jede Sozialbindung, im buchstäblichen Sinne frei und unabhängig, jeder sein eigener Erfinder und Gestalter seines je eigenen Lebens, ohne Kriterien, ohne gemeinsame Maßstäbe und Normen, die ihn bei der Gestaltung leiten... das sind keine Menschen, sondern mythische Figuren.“ „Wie sollen wir damit umgehen, wenn die liberale Vorstellung einen solchen Trugschluss in sich birgt?“, warf Light gedankenversunken auf, während er am Rande seiner Wahrnehmung Ls Bewegungen registrierte. „In dieser Hinsicht sind wir niemals frei von den Dingen, die von außen auf uns einströmen und die eine Wirkung auf uns ausüben, wie sehr wir sie auch zu ignorieren versuchen.“ „Ja, das ist allerdings problematisch. Wir werden zwar als Individuen geboren, doch gehören wir sofort unterschiedlichen, sozial äußerst wichtigen Gruppen an. Menschen werden mit bestimmten Identitäten geboren, männlichen oder weiblichen, katholischen oder jüdischen, schwarzen, demokratischen, der Arbeiterklasse angehörigen oder einfach elternlosen Identitäten.“ L starrte bei den letzten Worten undurchdringlich zu Boden, sodass Light spüren konnte, wie entscheidend diese Aussage für seinen Partner war. Doch nachdem sich der Detektiv das weiße Oberteil übergestreift hatte, war in seinem Gesicht nichts mehr von der vorigen Abwesenheit zu lesen. Emotionslos beendete er seine Ausführung: „Viele der späteren Zusammenschlüsse sind bloßer Ausdruck dieser Grundidentitäten, die ihrerseits weniger selbstgewählt als vielmehr verordnet sind.“ „Wichtig ist nur, was man aus seinem Entwurf macht“, fügte Light mit einem Nicken hinzu, „welche Prioritäten man setzt.“ „Mir hat mal jemand gesagt“, erzählte L vorsichtig, während er die Handschellen löste und seinem Partner gestattete, sich anzukleiden, „wenn das Glück kommt, müsse man ihm einen Stuhl hinstellen. Du hast Recht, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Darum muss auch jeder allein entscheiden, wie viel er geben will, um sich treu zu bleiben.“ Light seufzte. Es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. „Du willst das alles von mir wissen, weil du testen möchtest, wie weit ich als Kira gehen würde, wie skrupellos ich wäre, nicht wahr?“ „Stimmt“, bestätigte der Detektiv ungerührt. „Manchmal bist du verflucht ehrlich, L.“ „So?“ Mit einem rasselnden Geräusch schlossen sich ihre Fesseln. L hatte die Hand auf die Klinke der Badezimmertür gelegt, zögerte nun jedoch. „Dann gestehe ich dir noch etwas, Light-kun. Selbst in dieser Hinsicht sind wir uns nämlich sehr ähnlich. Ich würde einiges opfern, um gegen meine Feinde zu gewinnen.“ Er öffnete die Tür und kehrte Light den Rücken zu. „Vielleicht kommt für uns beide irgendwann der Tag, an dem wir die Menschen aufs Spiel setzen müssen, die uns am meisten bedeuten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)