[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 4: Zu viel gedacht -------------------------- Zu viel gedacht Lights Atem ging schwer. Während L den Telefonhörer abnahm, versuchte er seine Fassung zurückzuerlangen. Nach der Freilassung aus der Einzelhaft hatte sich Light tagtäglich seiner körperlichen Konstitution gemäß sportlich betätigt, um Schritt für Schritt seine Kondition wieder aufzubauen. Nun war es jedoch nicht nur der Kampf, der ihn so verausgabt hatte. Sein Körper tat weh, wo L ihn getroffen hatte, aber da war noch mehr. Ls Gegenwart, die ihm langsam zur Selbstverständlichkeit wurde, war Light ungewöhnlich präsent gewesen. Vergleichbar mit dem damaligen Tennismatch, nur intensiver und unausweichlicher. Was war denn los mit ihm? Er wischte diesen Gedanken beiseite und fragte L, als dieser gerade auflegte: „Was gibt es?“ „Nichts“, antwortete L genervt, „nur eine weitere Idiotie von Matsuda.“ „Tja, er war schon immer von schlichtem Gemüt.“ L nickte abschließend und begann nun, das Sofa wieder aufzustellen. Light half ihm dabei und richtete danach auch den Tisch her. Misa, die die ganze Zeit verängstigt im Hintergrund gestanden hatte, beruhigte sich mittlerweile und meinte: „Habt ihr das etwa gebraucht, euch mal so richtig zu prügeln?“ „Vielleicht“, entgegnete Light lachend. Mit einem Blick auf seinen Ermittlungspartner, der sich in seiner gewohnten Weise zurück auf die Couch setzte, bezweifelte Light jedoch, dass die körperliche Auseinandersetzung irgendetwas an Ls Gemütszustand geändert hatte. „Warum sitzt du eigentlich immer so da, Ryuzaki-san?“, fragte Misa, wobei sie ebenfalls Platz nahm. „Das fördert meine Denkleistung“, erklärte L knapp. Nach einem kurzen Moment beschloss er allerdings, mehr dazu zu sagen. „Abgesehen davon ist auch mein Erinnerungsvermögen unmittelbar von meiner Sitzhaltung abhängig. Man kann sich immer besser an Dinge erinnern, wenn man sich in einem ähnlichen Zustand befindet wie zur Zeit des Lernens. Unter Stress Gelerntes lässt sich unter Stress auch besser abrufen. Letztendlich ist Erinnerung ein sehr unzuverlässiges Konstrukt.“ Auf Misas Gesicht zeichnete sich Unverständnis ab, doch im nächsten Augenblick fragte sie misstrauisch: „Soll das noch ein Hinweis darauf sein, dass Light und Misa falsch liegen? Dass unsere Erinnerungen uns täuschen?“ Light seufzte und beschränkte sich darauf, der Antwort seines Partners Gehör zu schenken, der nun entgegnete: „Ich will euch nur vor Augen führen, dass das Gedächtnis uns ungewollt schnell einen Streich spielen kann. Erinnerung hängt von der passiven oder aktiven Beteiligung des Menschen ab. Woran wir uns zu erinnern glauben, ist nicht die Wirklichkeit, sondern nur ein der Wirklichkeit ähnliches Abbild, das aber in allen Fällen subjektiv ist. Hinzu kommt die intuitive Narrativität des Erinnerns und Widergebens. Verbale und gedankliche Wiederholung, die Geschehnisvielfalt und Geschehnisdichte sowie die ungezielte Selektivität unseres Gehirns, da wir nicht jede Kleinigkeit in unserem begrenzten Speicher erhalten können, das alles führt unweigerlich zu einer Kontamination des Erinnerten. Es folgt eine holistische und egozentrische Konstruktivität mit der Neigung zur Kanonbildung, abhängig vom jeweiligen Charakter des Menschen. Die Geschehnisse und deren Ablauf sind in unserem Gehirn festgehalten, werden jedoch ständig überschrieben und mit neuen Inhalten gefüllt. Den Abschluss bilden die qualitative, temporale Inversion sowie die hirninterne und hirnexterne Situativität. Und das alles ist von einem Phänomen im Menschen begleitet, das man als Gewissheitssyndrom bezeichnen kann. Das bedeutet, dass nach der ganzen Vermengung unseres Wissens, dem Abrufen kaum erhaltbarer Informationen der Mensch doch tatsächlich glaubt, er wüsste mit Gewissheit, was wirklich geschehen ist.“ „Hä?“, war Misas einziger Kommentar. „Das wollte ich auch gerade sagen“, meinte Matsuda, der den Raum betreten hatte und sich direkt an das blonde Idol wandte. „Aber mal was anderes, ich habe tolle Neuigkeiten für dich, Misamisa. Die Leserumfrage bei Eighteen hat dich auf den ersten Platz gebracht. Wenn du mich fragst, ist damit deine Hauptrolle in Nishinakas neuem Film sicher.“ „Super, Herr Manager!“ Misa war vom Sessel hochgesprungen und klatschte erfreut in die Hände. „Du hast ja doch so einiges drauf. Aber... warum bist du jetzt eigentlich hier?“ Matsuda lachte und kratzte sich verlegen am Hinterkopf, bevor er antwortete: „Das hier sollte doch ein Date sein. Aber du sahst irgendwie nicht so glücklich aus. Darum dachte ich, dass dich diese Nachrichten sicher aufmuntern werden.“ „Mit anderen Worten“, mischte sich L ein, während er an seiner Gabel knabberte, „bei der Ermittlungsarbeit wird Matsuda-san mal wieder nicht gebraucht und vertreibt deshalb seine Langeweile bei uns.“ „Hey!“ Der junge Polizist verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Du machst dich schon wieder über mich lustig, genauso wie vorhin. Dabei solltet ihr euch lieber selbst fragen, was ihr hier macht. Nämlich nur über Dinge reden, von denen kein Mensch auch nur ein Wort versteht.“ „Da hat er Recht“, warf Misa mit einem unschuldigen Schulterzucken ein. „Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt“, sagte L desinteressiert, wobei er die Zinken der Gabel aufs Genaueste musterte. „Ehrlich gesagt“, fügte Light nun hinzu, um den Detektiv zu verteidigen, „verstehe ich das auch nicht. Ryuzaki wollte uns schließlich nur erklären, wie zweifelhaft all das ist, worauf wir unsere Gewissheit aus Erfahrungen stützen, zumindest vom neurologischen Standpunkt aus.“ „Denn unser Gedächtnis macht mit Erinnerungen in etwa dasselbe wie eine Kochwäsche mit Feinstrumpfhosen“, nuschelte L mit der Gabel im Mund. „Da bleibt nicht mehr viel übrig.“ „Du musst es ja wissen“, kicherte Misa. „Kennst dich wohl mit Nylon aus?“ „Soll ich dich ebenfalls treten, Misa-san?“ Inzwischen hatte sich Matsuda auf die Lehne der Couch gesetzt und wandte sich vorsichtig an Light: „Wie ist das denn nun gemeint?“ „Das ist gar nicht so kompliziert, wie Ryuzaki es im Scherz formulierte“, erläuterte Light mit einem unverhohlenen Seitenhieb, wobei er sich in die Polster des Sofas zurücksinken ließ. „Das soll nur heißen, dass wir eigentlich vollständig durch die körperliche Substanz determiniert sind und allein unser Gehirn bestimmt, wie und wer wir sind. Man kann banal sagen, dass an die Stelle des Ichs der Neokortex rutscht, an die Stelle des Es das limbische System und an die Stelle des Über-Ichs der mediale Präfrontalkortex. Entgegen landläufiger Meinungen ist dieses freudsche Konzept nämlich ansonsten längst überholt.“ „Das nennst du banal?“, fragte Matsuda und legte die Stirn in Falten. „Salopp ausgedrückt“, antwortete L an Lights Stelle, „ist der menschliche Körper ein Sack voller Organe und das menschliche Selbst nur ein Gehirn, das sich diktatorisch über die anderen Körperteile erhebt und sich von ihnen herumtragen und am Leben erhalten lässt.“ „So ungefähr“, bestätigte Light, auch wenn er aufgrund des Ausdrucks jener Erklärung eine Augenbraue hob. „Genauer gesagt können den verschiedenen Bereichen unseres Gehirns verschiedene Denkstrukturen und Handlungen zugeordnet werden. Auch das Gefühl der Selbstwahrnehmung, das viele Menschen dazu bringt, in sich so etwas wie eine Seele zu vermuten, womöglich als wabernde, mit dem Körper verbundene Masse, lässt sich regional im Gehirn festlegen. Viele haben ein Problem damit, von ihrer dualistischen Vorstellung abzulassen, und unterscheiden nach wie vor zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen. Auch ohne ein religiöses Fundament ist man häufig gewillt, mehr in seinem Geist zu sehen als bloße neuronale Interaktion.“ „Dabei lässt sich bereits in verschiedener Hinsicht beweisen“, führte L mit einem Nicken die Aussage seines Partners weiter, „dass wir von unserer Hirntätigkeit bestimmt werden und nicht andersherum.“ „Ja, wie du letztens meintest, so können beispielsweise psychische Krankheiten entstehen, die vererbt sind und vielleicht nicht geheilt werden können, weil schlichtweg etwas im Kopf schief gelaufen ist.“ Jetzt mischte sich Misa mit einer Frage ein: „Meinst du etwa, man könnte theoretisch solche Krankheiten operativ entfernen, Light?“ „Im Prinzip besteht diese Möglichkeit durchaus, obwohl die Forschung sehr vieles noch nicht versteht. Doch der Mensch zögert oft schon im Grundsatz, sein Gehirn als ein Organ zu sehen wie jedes andere auch.“ „Obwohl es streng genommen keine Unterschiede gibt“, fiel L unbekümmert ein, „es ist aus Fleisch und Blut und führt seine Aufträge aus wie das Herz, die Lunge oder der kleine Finger.“ „Allerdings“, setzte nun Light dagegen, „kann eine Verletzung des Gehirns dazu führen, dass sich die komplette Persönlichkeit eines Menschen ändert. Plötzlich bevorzugt man andere Speisen, vertritt andere Anschauungen, empfindet keine Liebe mehr für seinen Partner oder seine Kinder.“ „Und damit stellt sich uns eine Frage.“ L legte die Gabel auf den Tisch und blickte die Anwesenden nacheinander an, wobei er die Hände auf seinen an den Körper gezogenen Knien ruhen ließ. „Ist es in einem solchen Fall eine andere Person, ein anderer Mensch? Woran lässt sich die Individualität eines Menschen festmachen, wenn selbst das Zellgewebe sich immer weiter erneuert, wenn auch Erinnerungen keinen Halt bieten? Manche glauben, sich durch die Vorstellung retten zu können, dass bei einer Verletzung eben nicht nur das Gehirn, sondern ein Teil unserer Seele verletzt wird, vielleicht sogar stirbt. Aber was nützt das? Wenn unsere Seele nicht existiert, dann sind wir völlig an unseren Körper gebunden. Doch wenn eine Verletzung des Körpers auch die Seele betrifft, dann ergibt sich für uns kein Unterschied. So oder so sind wir gefangen in unserem Körper und doch zur Freiheit jeglicher Entscheidung gezwungen, nicht wahr? Und das alles ohne ein ganz eigenes unzerstörbares Ich zu besitzen?“ „Das war jetzt aber nicht nur eine Frage“, meinte Matsuda. L verdrehte die Augen und schaute zu Light, der ohne auf Matsuda einzugehen schließlich sagte: „Deshalb fühlt sich der Mensch vielleicht um sein Selbst betrogen. Doch ich persönlich finde das alles zu berechnend und eigentlich auch völlig unwichtig. Ich bin ich, daran ändert sich am Ende nichts. Und unsere Gesellschaft könnte damit ebenso wenig anfangen. Wenn wir allein materialistisch determiniert sind, könnten wir nicht für unser Handeln verantwortlich gemacht werden. Wie sähe es dann mit der Bestrafung von Verbrechern aus? Das führt uns nur in eine Sackgasse, wie schon beim letzten Mal.“ „Nun gut, das stimmt“, gestand L ihm zu, differenzierte danach jedoch, „nichtsdestotrotz hält uns auch die Alltagspsychologie nicht vollständig, sondern nur zum Teil für frei. Sonst würde man solche Sachen wie Alkoholkonsum oder geistige Zurechnungsfähigkeit bei Bestrafungen nicht berücksichtigen.“ „In solchen Fällen steht trotzdem eventuelle Fahrlässigkeit zur Debatte. Sonst würde die Weiterführung einer solchen Entschuldigung irgendwann in der Annahme von Verbrechergehirnen münden. Dann könnte man alles aus den Nervenbahnen des Menschen ablesen. Frei nach Vogt, der der Meinung war, Lenins Fähigkeiten rührten von der besonderen Entwicklung der dritten Zellschicht der Hirnrinde her.“ Eine Spur von Sarkasmus hatte sich in Lights Stimme gelegt. L ließ sich davon nicht beirren. Bevor er allerdings etwas entgegnen konnte, meldete sich Misa bereits zu Wort: „Wie schlau du klingst, Light, das ist echt toll! Aber wer ist denn dieser...?“ „Oskar Vogt war ein Hirnforscher“, erklärte Light geduldig, „der den Versuch gestartet hat, alles aus dem Hirn abzulesen, und damit war er nicht der Einzige. Er fragte sogar bei den Nürnberger Prozessen nach, ob man ihm nicht die Gehirne der nationalsozialistischen Verbrecher zu Forschungszwecken geben könnte.“ „So weit würde ich aber nicht gehen“, stellte L klar, „denn ich verstehe absolut, was du damit meinst, Light-kun, dass diese Fragen am Ende keine Rolle spielen. Ich wollte nur eine kleine Diskussion anregen.“ „Kleine Diskussion...“, sagte Matsuda seltsam tonlos. „Obwohl ich älter bin, komme ich irgendwie nicht mehr mit. Worüber ihr euch in eurem Alter den Kopf zerbrecht, ist doch nicht normal.“ „Klugheit ist nicht im Alter, sondern im Kopf“, kommentierte L kühl. Daraufhin entgegnete Light ein wenig haltlos: „So gesehen ist Klugheit aber auch nur Erfahrung, die alle Menschen, die sich gleichlang mit den gleichen Dingen beschäftigen, gleichermaßen erwerben können. Was diese Gleichheit höchstens unglaubwürdig erscheinen lässt, ist die selbstgefällige Eingenommenheit von der eigenen Weisheit, weil einige Menschen meinen, sie wären klüger als andere.“ „Denkst du etwa anders?“, schoss L sofort zurück. „Mir reicht es.“ Matsuda war aufgestanden und fuhr sich verwirrt durch das Haar. „Wenn ich weiter hier bleibe, explodiert mein Kopf.“ Damit ließ er die drei Jüngeren zurück. Lights Blick war irritiert, der von Misa verständnisvoll. Und L betrachtete interessiert seine Füße. Flüchtig fuhr Light mit dem Handrücken über sein Kinn, das von dem Tritt schmerzte, den er soeben einkassiert hatte. Er spürte den Boden unter seinen Händen. Das Blut rauschte in seinen Ohren und dämpfte somit das Geräusch seines eigenen keuchenden Atems. Ruckartig richtete er sich auf und schlug L erneut ins Gesicht. Ein Stechen zuckte durch sein Handgelenk, als er an dem kalten Metall mitgezogen wurde. Wieder musste er einen harten Tritt einstecken. Für einen Moment drehte sich alles in seinem Kopf, seine Umgebung verschwamm und erschien in seiner Wahrnehmung seltsam unwirklich. Auch der Schmerz fühlte sich irreal an. Als seine Sinne zurückkehrten, nahm er das Gewicht eines anderen Körpers auf sich wahr. Schwarzes Haar berührte leicht seine Wange. Während sich L mühsam über ihm hochzustemmen versuchte, registrierte Light, dass dessen Atmung genauso schnell ging wie seine eigene. Light drückte seine Hände gegen die flache Brust unter dem weißen Shirt, um sich ebenfalls aufzurichten. Eine Sekunde lang fragte er sich, warum sie eigentlich gegeneinander kämpften. Dann wurde er jedoch von L, der seine Kräfte wiedererlangt hatte, am Kragen hochgerissen und gegen die nächste Wand geschleudert. Kurz wurde es schwarz vor Lights Augen, doch der Schmerz war nur gedämpft. Verwirrt fragte er sich, ob er wieder träumte, ob er nur eine vergangene Situation Revue passieren ließ. Doch er glaubte die Wand in seinem Rücken zu spüren, gegen die ihn L mit seinem eigenen Körpergewicht presste. Noch deutlicher nahm Light allerdings dessen Nähe wahr. Leichenblasse Haut, ein Grau von Metall oder Asche, tiefschwarze Augen. Bildete er sich den ungewohnt emotionalen Ausdruck in Ls Blick nur ein? Erschrocken öffnete Light die Lider und starrte an eine unbekannte Zimmerdecke, die nur schwach von der Nachttischlampe beleuchtet wurde. Langsam erkannte er, wo er sich befand. Die Erinnerung an ihr neues Hauptquartier kehrte zurück und an die Auseinandersetzung zwischen ihm und L. Doch das eben war tatsächlich nur ein Traum gewesen. „Alles in Ordnung?“, drang eine besorgte Stimme an sein Ohr. In liegender Position wandte Light den Blick zu L, der neben ihm halb im Schneidersitz auf dem Bett saß und sich ein wenig zu ihm herunter gebeugt hatte. Light spürte den Druck von Ls Hand auf seiner Schulter, die nun sein Schlüsselbein hinabglitt und auf seinem Brustkorb verweilte. „Beruhige dich erst einmal“, sagte L und schaute aus seinen großen dunklen Augen auf ihn hinab. Erst jetzt merkte Light, dass seine eigene Atmung noch immer unkontrolliert war und dass sein Herz unter Ls Hand schnell schlug. „Es ist okay“, antwortete Light und setzte sich auf, sodass L von ihm abließ und sich damit begnügte, ihn undurchdringlich zu mustern, „ich habe nur geträumt.“ „Ein Alptraum?“, fragte L, während er interessiert den Zeigefinger an die Lippen legte. „Nein, eigentlich nicht.“ „Aber du hast dich im Schlaf herumgeworfen.“ „So?“ Irritiert vergrub Light die Hand in seinem Haar. „Habe ich dich damit geweckt? Das tut mir leid.“ L schüttelte jedoch langsam den Kopf, während er eines seiner Beine an den Körper zog und mit den Armen umschloss. „Nein, ich habe nicht geschlafen.“ Nun betrachtete Light seinen Ermittlungspartner genauer. Dieser schaute gedankenversunken vor sich auf die Bettdecke. Das gedämpfte Licht warf Schatten unter seine Augen. Er sah erschöpft aus, matt und ziellos. Und doch fiel Light plötzlich wieder der besänftigende Druck ein, der von Ls Hand auf seiner Schulter ausgegangen war. Mit einem leichten Lächeln sagte Light deshalb leise: „Danke.“ „Wie?“ L blickte verwundert auf. „Du wolltest mich beruhigen“, erklärte Light ernst, „nicht wahr? Als du mich festgehalten hast, während ich schlief. Dabei dachte ich schon, du wärst mysophob oder so und würdest mich lieber nicht anfassen wollen.“ Wegen des verdutzten Blinzelns, mit dem L diese Aussage quittierte, musste Light unwillkürlich lachen und setzte dann zu einer Begründung an: „Ich habe dir doch schon letztens gesagt, dass du so wirkst, als würdest du den Kontakt zu anderen Menschen meiden, auch wenn du ihn manchmal zulässt.“ „Hmm... schon möglich“, entgegnete L, „aber genauso habe ich zu dir gesagt, dass das nicht auf dich zutrifft. Es stört mich nicht, von dir berührt zu werden, genauso wenig habe ich ein Problem damit, dich anzufassen.“ „Aber du hältst auch viele Dinge so vorsichtig fest.“ Zur Demonstration zog Light mit Daumen und Zeigefinger an dem Stoff der Bettdecke. „Da ist es doch kein Wunder, dass ich auf komische Gedanken komme.“ „Komisch würde ich das nicht nennen“, meinte L noch immer verdutzt, als sein Partner wieder zu lachen begonnen hatte, „das ist schon eher absurd.“ „Absurd waren eher deine ellenlangen Ausführungen heute Mittag“, widersprach Light milde schmunzelnd. „In der Uni haben wir solche Debatten oft geführt, aber selten im Beisein des Ermittlungsteams. Sonst drückst du dich doch auch allgemein verständlicher aus. Wolltest du dich über Matsuda und Misa lustig machen oder sie einfach nur loswerden?“ L zuckte mit den Schultern. „Was denkst du denn, was ich wollte, Light-kun?“ „Beweisen, dass ich Kira bin“, antwortete dieser mit Bestimmtheit, „oder zumindest aufzeigen, dass ich nicht das Gegenteil behaupten kann.“ „Erinnerungen“, raunte L grüblerisch, „nehmen maßgeblich Einfluss auf unsere Persönlichkeit.“ „Es mag sein, dass ich mein Gehirn und die meisten der körperlichen Prozesse nicht steuern kann“, räumte Light ein, „in gewisser Weise sind sie mir fremd. Aber meine Familie und Freunde, mein Denken und Fühlen, meine Qualen und meine Sehnsucht sind es nicht. Sie wären mir nur fremd, wenn ich ein Gott wäre, nicht wahr?“ Mit einem eigentümlichen Lächeln ergänzte L: „Oder ein Monster.“ Zuerst reagierte Light überrascht, dann besann er sich und entgegnete aufmunternd: „Ich glaube, die anderen haben Recht. Wir sind oft viel zu ernsthaft.“ „Meinst du?“ „Ja, meine ich.“ Light schaute nun still zum Fenster hinaus, wo der Himmel langsam die hellgraue Farbe des Morgens anzunehmen begann. „Wir sind uns zu ähnlich und vergessen beide schnell mal, wie man normal lebt. Darum sollten wir nicht alles durch Diskussionen kaputt machen. Du weißt doch, wenn wir in den alltäglichen Angelegenheiten des Lebens nichts gelten lassen wollten als den direkten klaren Beweis, dann hätten wir in dieser Welt wohl nur eine einzige Gewissheit.“ „Dass wir bald zugrunde gehen werden?“, fragte L, wobei er den Blick ebenfalls nach draußen gerichtet hatte. Nicht zum ersten Mal lag unerwartet viel Emotion in seiner Stimme, wenn die beiden jungen Männer allein waren. „Hart ausgedrückt, ja“, entgegnete Light und seufzte. Ihm war klar geworden, dass jeder Funken Menschlichkeit, der ihm von L entgegengebracht wurde, in ihm die Hoffnung aufkeimen ließ, irgendwann all die Dinge zu verstehen, die für ihn im Moment noch keinen Sinn ergaben. Bis dahin durften sie nicht gegeneinander, sondern mussten miteinander kämpfen, um Kira gemeinsam zu besiegen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)