[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 1: Tabula Rasa ---------------------- Tabula Rasa Der Metallring legte sich um sein linkes Handgelenk und mit klickenden Geräuschen rastete der Schließmechanismus ein. Als Light die Hand vor sein Gesicht hob, betrachtete er das kalte Material der Fessel, welche durch die Bewegung seinen Unterarm hinabrutschte. Die anderthalb Meter lange Kette, die daran befestigt war, verband ihn mit dem jungen Mann, der ihm gegenüberstand und nur wenig älter war als er selbst. Diese gemeinsame Gefangenschaft war der einzige Weg, um Lights Unschuld zu beweisen. Die Handschellen standen als Symbol für den Verdacht, der schwer auf ihm lastete. Der Verdacht, Kira zu sein und somit der Mörder unzähliger Menschenleben. Doch gab es keine andere Möglichkeit, ihn von dieser Last zu befreien? „Müssen wir wirklich so weit gehen, Ryuzaki?“ Fragend schaute Light zu seinem Ermittlungspartner auf, welcher den Blick ausdruckslos erwiderte und nur entgegnete: „Ich mache das nicht, weil ich es möchte.“ Das blonde Mädchen, das neben ihnen stand und dessen Blick von einem zum anderen wanderte, fiel verstehend ein: „Das meintest du also, Ryuzaki-san!“ Als dieser ihr den Kopf zuwandte, zupfte sie ein wenig an ihrem dunklen Rock, der so kurz war, dass man die Halter sehen konnte, die ihre schwarzen Overknees über der Netzstrumpfhose hielten. Skeptisch fuhr sie fort: „So etwas mit einem Mann zu machen, wirkt auf Misa irgendwie...“ Ihre unausgesprochenen Gedanken waren nicht ernst gemeint und dennoch ließ sie sich für einen Augenblick die Vorstellung durch den Kopf gehen, dass dieser ihr unbekannte und merkwürdige Typ eine pervertierte Beziehung zu der Person haben könnte, in die sie sich verliebt hatte. Ryuzakis Mimik gab keinerlei Aufschluss darüber, ob er ihre Andeutungen in irgendeiner Weise für wichtig erachtete. Er wiederholte nur: „Ich mache das nicht, weil ich es möchte.“ „Aber“, setzte sie erneut verärgert an, „wenn du vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche mit ihm zusammen bist, wann haben Light und Misa denn dann Zeit füreinander?“ „Du kannst mit ihm zusammen sein, wann immer du willst. Das ist mir egal. Ich werde weiterhin dabei sein und beobachten.“ „Ich wusste es“, rief Misa entrüstet, „du bist ein Perversling!“ Light merkte, dass ihr Verhalten seine Toleranzgrenze zu strapazieren begann, und er glaubte dies auch bei Ryuzaki mitzubekommen, obwohl weder dessen Miene noch Stimme eine derartige Emotion verriet. Allerdings bestätigte sich Lights Vermutung, als Ryuzaki ihn teilnahmslos bat: „Light-kun, kannst du bitte dafür sorgen, dass Misa-san still ist?“ Die beiden Ermittler waren sich im Klaren darüber, warum die Gefangenschaft mit den Handschellen notwendig geworden war. Zweifelte er an seinem eigenen Verstand, würde Light sich selbst am meisten verdächtigen, denn abgesehen von den jüngsten Ereignissen sprachen alle Indizien gegen ihn und Misa. Hinzu kam, dass keines der anderen Polizeimitglieder eine wirkliche Hilfe für Ryuzaki darstellte, einzig Light war dazu fähig, auf derselben Ebene zu denken. Trotz seines wachsenden Unverständnisses für Misas übertriebene Abneigung gegen diese Maßnahmen hielt sich Light zurück und meinte nur: „Du solltest dankbar sein, dass du dich noch immer frei bewegen darfst. Schließlich ist es eindeutig bewiesen, dass du es warst, die die Videobänder an die Presse geschickt hat.“ „Du auch, Light?“, fragte Misa empört. „Ich bin deine Freundin und dennoch unterstellst du mir das?“ „Auch wenn...“ Der junge Mann stockte, da Ehrlichkeit und Höflichkeit in ihm miteinander im Konflikt standen. „Auch wenn du sagst, dass du meine feste Freundin bist... du warst es, die sich auf den ersten Blick in mich verliebt hat und das seitdem behauptet.“ „Wie?“ Misa riss schockiert die Augen auf. „Warum hast du mich dann geküsst? Wolltest du mich ausnutzen?“ Nun klinkte sich Ryuzaki wieder in das Gespräch ein. Derweil war Light mit seinen eigenen Gedanken und Erinnerungen beschäftigt und hörte deshalb nur halb zu. Er wusste nicht, wieso er Misa damals geküsst hatte. Nach wie vor hatte er keine Gefühle für sie entwickelt und würde ihr auch niemals falsche Hoffnungen machen wollen, sodass sie letztlich enttäuscht werden müsste. Momentan konnte er einzig und allein den zweiten Kira mit ihr verbinden. Light verdächtigte sie nicht, dieser tatsächlich zu sein, doch er hielt die Theorie für sehr wahrscheinlich, dass sie von einem der beiden Kiras manipuliert worden war. „...Wenn sich nun herausstellen würde“, drang Ryuzakis Stimme wieder in sein Bewusstsein, „dass Light-kun Kira wäre, was würdest du dann denken, Misa-san?“ „Wenn Light Kira wäre...?“ Misa blickte zu ihrem Freund auf und klammerte sich an dessen Arm. Sie dachte darüber nach, bis sich ein Lächeln auf ihre Lippen stahl. „Das wäre das Beste, das Misa passieren könnte.“ Jene Aussage veranlasste Ryuzaki dazu, Light mit den Augen zu durchbohren, sodass dieser den in der Luft liegenden Verdacht wieder stärker auf sich lasten spürte. In der ganzen Geschichte ging es weniger um Misa; sie war nur ein weiterer Beweisträger. Light war sich bewusst, dass das eigentliche Interesse ihm galt, und darauf richteten sich nach wie vor auch die Fragen des Meisterdetektivs. Es war ein Spiel zwischen den vermeintlichen Gegnern, das schon einige Opfer auf beiden Seiten gefordert hatte. Doch Light ging es nicht um das Gewinnen. Er stand voll und ganz hinter Ryuzaki und musste für den Fortschritt ihrer Ermittlungen eindeutig beweisen, dass er nicht Kira war. Dass er kein Feind war. Leise hatte Light die Tür hinter sich geschlossen, als er an jenem schon lange vergangenen Abend in sein Zimmer getreten war. Misa hatte ihn zum zweiten Mal daheim besucht und war soeben gegangen, einen verträumten Ausdruck im Gesicht. Stille hatte sich im Haus ausgebreitet; Lights Schwester und seine Mutter waren sicher schon eingeschlafen. Warum hatte er Misa geküsst? Light war zwar bewusst, dass es nicht das erste Mal darstellte, auf diese Weise bei einem Treffen mit einer Frau umzugehen, doch das Motiv dahinter sah sonst anders aus. Hatte er nicht nur seinen Status bewahren wollen, als bester Absolvent aller Schulen, als Sohn des Polizeiinspektors, in einer Rolle, die seiner Position gerecht werden sollte? Light war kein Mensch, der andere zu seinem Vorteil missbrauchen wollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits vieles in seinem Leben geändert. Er hatte einen ebenbürtigen Freund gefunden, auch wenn er in diesem Augenblick, da er unschlüssig in der Mitte seines Zimmers stand, wieder daran zweifelte, ob Ryuga tatsächlich L war. Wieso diese Zweifel? „Ich dachte, du würdest dich an damals erinnern, als er dich seinen Freund nannte.“ Light glaubte fast, sein Gedächtnis würde ihm einen Streich spielen. „Light-kun?“ Der Angesprochene sah auf und begegnete dem durchdringenden Blick jenes Mannes, der sich selbst den Buchstaben L als Namen gewählt zu haben schien. „Ist es dir ernst mit Amane?“ Zögernd, aber dennoch seiner Worte sicher, antwortete Light: „Nein... ich sagte doch, es ist eine einseitige Liebe.“ „Wäre es nicht möglich für dich, daran etwas zu ändern?“, fragte L weiter. „Ich meine, dass du so tust, als wärst du tatsächlich in sie verliebt? Du sagtest vorhin selbst, es sei eindeutig bewiesen, dass sie die Videobänder geschickt hat. In irgendeiner Weise muss sie mit Kira in Verbindung stehen.“ Light schwieg einen Moment, bevor er ohne Vorbehalt erwiderte: „Du meinst also, ich soll sie dazu benutzen, etwas über den zweiten Kira herauszufinden?“ „Ja“, bestätigte L ohne Skrupel, „das dürfte für dich kein Problem darstellen.“ „Ryuzaki... auch wenn es dazu beitragen könnte, den Fall um Kira zu lösen, ich kann die Gefühle eines Mädchens nicht einfach dafür missbrauchen.“ L gab darauf keine Entgegnung. Die scheinbar tiefe Ehrlichkeit in Lights Verhalten irritierte ihn, als hätte dieser seine gesamte Persönlichkeit grundlegend geändert. Konnte das alles nur gespielt sein, um sie alle hinters Licht zu führen? Oder bestand die Möglichkeit, dass nicht nur Misa von Kira manipuliert worden war? Nur leicht berührte das Stück Zucker mit einer Ecke die Oberfläche des Getränks. Sofort fraß sich die Flüssigkeit hinauf in die kristalline Substanz und ließ diese bei dem Prozess allmählich zerfallen. Die weiße Farbe des Zuckers verdunkelte sich, als würde die Schwärze seine Reinheit vereinnahmen. Schließlich zerbröselte er gänzlich zwischen den Fingerspitzen, die ihn hielten. L klaubte einen weiteren Zuckerwürfel aus der Porzellanschale und wiederholte das Spiel, während er die Kaffeetasse vor sich fixierte. Den Kopf auf die Hand gestützt beobachtete Light ihn dabei. Er war müde. Erst jetzt, da er nicht mehr in einer Zelle eingesperrt war und sich erholen konnte, ergriff allumfassende Erschöpfung von ihm Besitz. Er hatte es bereits gespürt, nachdem man ihm die Fesseln von den Füßen gelöst hatte und er die ersten Schritte außerhalb der Zelle gelaufen war. Seine Muskeln gehorchten ihm kaum, seine Beine fühlten sich schwach an, jede Bewegung war anstrengend. Wochenlang hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, sich ohne Einschränkung bewegen zu können, aber nun, da er es durfte, war er aufgrund seiner Verfassung schwerlich in der Lage dazu. Noch immer war er eingesperrt, lediglich der Radius seines Gefängnisses hatte sich vergrößert und die neuen Fesseln machten mittlerweile die Tatsache sogar direkt sichtbar, dass er die Gefangenschaft mit L teilte. Trotzdem wünschte er sich keine Freiheit, sondern allenfalls Schlaf. „Light-kun.“ Seine Augen fokussierten L, als dieser ihn ansprach. „Woher kam dein plötzlicher Wandel nach einer Woche in Gefangenschaft? Auf einmal wolltest du unbedingt befreit werden, obwohl du vorher selbst daran gezweifelt hast, nicht Kira zu sein.“ „Das habe ich doch schon gesagt“, entgegnete Light ein wenig genervt. „Frag mich lieber, wieso ich mich überhaupt zur Inhaftierung entschloss. So haben wir wertvolle Zeit verloren, die wir mit der Suche nach dem eigentlichen Täter hätten verbringen sollen.“ „Wertvolle Zeit... also meinst du, es war sinnlos? Mit deiner Inhaftierung wurde uns schließlich deine Unschuld bewiesen.“ L sagte das in belanglosem Ton, während er ein weiteres Stück Zucker in seinen Kaffee fallen ließ. Mit einem resignierten Seufzen antwortete Light: „Nicht für dich. Sonst gäbe es die hier nicht.“ Er hob seinen linken Arm und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Handschellen. Schweigend starrte L auf das kalte Metall. Dann blickte er auf sein eigenes Handgelenk und schließlich erneut in Lights Gesicht. „Stört dich das so sehr?“ „Nein“, erwiderte Light irritiert, „es wäre natürlich angenehmer, sich frei bewegen zu können, aber der Grund für diese Überwachung stört mich viel mehr als die Überwachung selbst.“ „Ah, so ist das“, gab L nur zurück und hob bedacht seine Kaffeetasse an die Lippen. Die nächsten Minuten waren nur erfüllt vom Surren der Monitore und einem leisen Trinkgeräusch. Herr Yagami war schon vor längerer Zeit im Sessel sitzend eingeschlafen. Sonst befand sich niemand weiter im Raum. „Du bist müde, oder?“ Light hob den Blick, der ihm für einige Sekunden entglitten war. „Ein wenig. Was machen wir nun?“ „Uns im Kreis drehen“, antwortete L und Light schmunzelte leicht, „zumindest gedanklich. Ich lasse alles noch einmal Revue passieren und stoße immer wieder auf das gleiche Ergebnis. Das stört mich, weil ich weiß, dass es letztendlich keinen Fehler in der Kombination gab.“ Für einen Moment brannte Light eine Frage auf den Lippen, doch er entschied sich dagegen, sie zu stellen. Störte L am Ende vielleicht nur die Vorstellung, Light könnte nicht Kira sein? Wollte er nur keinen Fehler begangen haben oder jagte er vergeblich ein Ideal? Stattdessen sagte Light nach einer Weile: „Man sieht es dir nicht an, L... aber du bist ein Perfektionist.“ Erstaunt schaute L auf, entgegnete jedoch bloß: „Das hat mir noch nie jemand gesagt, der mich gesehen hat.“ „Der dich gesehen hat? Wenn du das so formulierst, dann klingt es, als sei dir dein Auftreten ganz anders bewusst, als ich anfangs dachte.“ Dieses Mal erwiderte L nichts. Eine seltsame Kälte durchlief Lights Körper, die er sich nicht erklären konnte. Das Schweigen zwischen ihnen vermittelte ihm ein Gefühl, das unangenehm war und ihn dennoch ungewohnt mit seinem Freund verband. Mit seinem Freund? Light hätte einiges dafür gegeben, in diesem Augenblick Ls Gedanken lesen zu können. Als Light am nächsten Tag erwachte, taten ihm sämtliche Knochen weh. Er war auf dem Stuhl sitzend eingeschlafen, ein Stechen breitete sich in seinem Kopf von der Stelle aus, mit der er auf dem Tisch gelegen hatte. Jemand hatte ihm eine Decke über die Schultern gelegt. Sein Vater war verschwunden, doch L saß noch immer in der gleichen Position auf seinem Stuhl, als hätte er sich die gesamte Nacht keinen Zentimeter bewegt. „Wie spät ist es?“ „Sieben Uhr Achtunddreißig“, antwortete L, ohne sich dabei umzuwenden. „Noch eine Nacht halte ich nicht so aus.“ Light begann sich zu strecken und warf dann einen Blick auf den Computermonitor, den L unentwegt anstarrte. Dort war allerdings nichts weiter zu sehen als der Desktop, kein einziges Programm war geöffnet. „Ryuzaki, ich würde es bevorzugen, in einem richtigen Bett zu schlafen.“ Es dauerte lang, bis L auf diesen Hinweis reagierte: „Das ist in Ordnung. Die anderen sind unterwegs, um alles für unseren Umzug vorzubereiten. Bis dahin sind es nur noch wenige Tage. Abgesehen von deinem Vater wirst auch du deine Familie kaum mehr sehen, Light-kun. Möchtest du jetzt etwas essen?“ „Ich habe das Gefühl, wir wären keinen einzigen Schritt vorangekommen.“ Während L am Rand des Bettes saß und auf seinem Daumennagel herumbiss, gab er keine Antwort auf Lights Aussage, als habe er ihn nicht gehört. War er angespannt oder nervös oder lediglich durch seine Überlegungen abwesend? Es war schwierig für Light, das Verhalten seines Partners zu entschlüsseln, der ihm kaum Einblick in seine Gedanken gewährte. Davon abgesehen fand Light die derzeitige Situation selbst befremdlich. Im Frühling dieses Jahres hatten sie einander kennen gelernt und eine außergewöhnliche Freundschaft geschlossen. Bis dahin hätte er niemals damit gerechnet, dem berühmten Detektiv leibhaftig zu begegnen. Sie hatten in der Universität oft gute Gespräche geführt und darüber hinaus im Kira-Fall zusammengearbeitet. Dann war Misa inhaftiert worden, kurz darauf hatte sich auch Light aus irrwitzigen Selbstzweifeln heraus festnehmen lassen und war wochenlang eingesperrt, schon fast dem Wahnsinn verfallen. L hatte in den letzten Monaten sein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt. Und jetzt waren sie hier, im schick möblierten Zimmer eines der zahlreichen Hotels im Herzen Tokyos. Eigentlich war die ganze Sache wirklich absurd. Kaum zu glauben, dass der geheimnisvolle L, der vorher niemandem auch nur sein Gesicht gezeigt hatte, nun ein derartiges Eindringen in seine Privatsphäre gestattete. Einen Perfektionisten hatte Light ihn gestern genannt. Wenn man ihn sah, in nachlässiger Kleidung, miserabler Körperhaltung, mit wirren Haaren, dann konnte man L tatsächlich kaum für einen Perfektionisten halten. Doch dahinter lag weit mehr, als der erste Blick vermuten ließ. Selbst wenn er sich zu hundert Prozent sicher war, würde L niemals seine Prinzipien verraten und einen deduktiven Schluss ohne den letzten Beweis mit allen Mitteln durchsetzen. Sonst wäre Light jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit schon tot. Das war wohl der Grund dafür, warum L derzeit so frustriert wirkte. „Vielleicht können wir in ein paar Tagen im neuen Quartier unter besseren Bedingungen arbeiten“, fuhr Light fort, wobei er umständlich seine Stoffhose auszog, um sie gegen Sachen für die Nacht einzutauschen. „Jedenfalls“, entgegnete L endlich, ohne sich dabei zu rühren, „wären wir dort vorerst sicher.“ Light schaute irritiert zu seinem Kollegen hinüber, wobei er sein Hemd aufknöpfte. Dann sagte er jedoch nur: „Glaubst du, dass ich mich so umziehen kann?“ Er hob den Arm mit den Handschellen. L starrte einen langen Moment aus seinen dunkel umschatteten Augen auf das Metall. „Schließ die Augen, Light-kun.“ Der Aufforderung nachkommend spürte Light kurz darauf kühle Finger an seinem Handgelenk, anschließend lockerten sich die Handschellen und wurden vollends gelöst. Doch mehr noch, Light fühlte die fremden Finger seine Arme hinaufgleiten, wo sie das Hemd von seinen Schultern streiften. Überrascht öffnete er die Augen und schaute L, der dicht vor ihm stand, in sein emotionsloses Gesicht. Nichts war aus dessen Blick zu lesen. Er hielt Light das Oberteil seiner Schlafsachen entgegen und beobachtete ihn unverwandt. Nachdem Light vollständig umgezogen war, rasteten sofort die Handschellen wieder ein und stellten erneut die Verbindung her, die L in der Zwischenzeit mit seinem Blick aufrechterhalten hatte. „Wir wären dort sicher, meinst du“, griff Light den Faden wieder auf. „Du bist von deiner Wichtigkeit wirklich überzeugt, nicht wahr?“ Er sagte dies ohne Vorwurf, Skepsis oder Spott. In seiner Stimme lag lediglich die Gewissheit, dass er diesen Gedanken durchaus nachvollziehen konnte. L hatte sich wieder an den Bettrand gesetzt und starrte auf seine Füße, die er an den Körper gezogen hatte. „Das ist der eine Grund“, erwiderte er, „der andere ist der natürliche Trieb des Menschen zur Selbsterhaltung.“ „Angst?“, fragte Light interessiert und setzte sich neben ihn. „Eine gute Frage. Über den Menschen wurde schon vieles gesagt, Positives wie Negatives. Er wird dem Tier gleichgestellt, über es erhoben oder auch als das niederste Lebewesen überhaupt betrachtet. Aber was steht am Ende im Mittelpunkt?“ „Das Leben.“ „Und die Sterblichkeit, die jedem allzeit bewusst ist. Exakt.“ „Aber das ist doch auch gut so.“ Light ließ sich bei diesen Worten zurück auf das Bett fallen und schaute zur Decke. „Der Wunsch zur Selbsterhaltung führt dazu, dass sich Lebewesen zusammenschließen. Ohne diese Neigung zur Gemeinschaftsbildung wäre der heutige Mensch wahrscheinlich nie entstanden.“ „Weil wir allein nicht überleben können, Light-kun?“ Ls Stimme schwankte zwischen einer Frage und dem Aufstellen einer These. Deshalb wusste Light nicht, ob L von ihm eine Antwort erwartete. Doch bevor er sich darüber klar werden konnte, sprach dieser bereits weiter. „Der Wille zur Selbsterhaltung ist allerdings nicht das einzige Motiv, das den Menschen antreibt.“ Light schaute im Liegen zu seinem Kollegen hinüber und ließ das Schweigen seine Frage stellen, bis L schließlich hinzufügte: „Der andere Grund ist die Ruhmsucht.“ Durch die halb heruntergelassenen Jalousien fiel das Licht der Nacht herein und malte helle Muster auf den Boden und die Wände des Raumes. L lag im Bett und gab sich der Sinnestäuschung hin, dass die dunklen Umrisse seiner Umgebung abwechselnd unscharf wurden, um sich kurz darauf wieder deutlich vom Hintergrund abzuheben. Er hatte Light den Rücken zugewandt und hörte dessen leisen, gleichmäßigen Atem. Ein eisiger Schauer lief durch Ls Körper, als er sich vorstellte, dass jener nur so tat, als würde er schlafen. Fast spürte er Lights stechenden Blick im Nacken, die Mordlust und den Wunsch zum Sieg. Angst? Als Light diese Frage vorhin an ihn stellte, fehlte der herablassende Tonfall, den L von Kira erwartet hätte. Welche Bedeutung jemand für das Wohl der Gesamtheit hatte, warum Menschen lebten, was sie motivierte und streben ließ, das alles konnte nicht mit ein paar simplen Worten umfasst werden. Diente die Erschaffung einer perfekten Welt dazu, um in ihr zum Gott aufzusteigen? Oder wollte Kira ein Gott werden, um die perfekte Welt zu erschaffen? L hatte es absichtlich reduziert, um bei seinem Gegner eine verräterische Reaktion zu provozieren. Doch diese blieb aus. Es schien beinahe, als hätte sich der selbsternannte Gott, der in Wirklichkeit nichts weiter war als ein gefürchteter Serienkiller, plötzlich vor Ls Augen in Luft aufgelöst. Oder schlief das Ungetüm nur, um im geeigneten Moment loszuschlagen? Lag es womöglich direkt in seinem Rücken und starrte ihn voller Blutdurst an? L setzte sich vorsichtig auf und schaute zu Light hinab. Es war keine Angst, die er empfand, während er das schlafende Gesicht im Halbdunkel betrachtete. Da waren viele widerstreitende Gefühle, die er zuvor nicht gekannt und die erst Light in ihm hervorgerufen hatte. Und dieses eine Gefühl, das ihn jetzt fortwährend wach hielt, war der Wille, nicht zu verlieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)