Nach der Schlacht von Morwen ================================================================================ Nach der Schlacht ----------------- Die Schlacht war vorbei. Am fernen Horizont ging bereits die Sonne auf und warf ihren durch Rauchschwaden gedämpften Schein auf eine weite, schlammige Ebene voller schwelender Feuer, verkohlter Baumstämme - Reste eines ehemals blühenden Laubwaldes - und aufgedunsener Leichen. Auf beiden Seiten hatte es unzählige Opfer gegeben und die wenigen Überlebenden waren noch zu betäubt von den Ereignissen, um sich um die Bestattung ihrer Gefallenen zu kümmern. In einem der Schützengräben, die sich wie Bäche über die Ebene wanden, erwachte ein junger Mann aus seiner Bewusslosigkeit - und sah in die toten, blicklosen Augen des Mannes, an dessen Seite er die letzten Tage und Wochen in dieser Hölle verbracht hatte. Das Gesicht des Toten war eingefallen und schon leicht bläulich angelaufen, und er roch nach verfaulendem Fleisch, ein Geruch, der schon seit Wochen über dem Schlachtfeld schwebte. Mit einem heiseren Schrei und weit aufgerissenen Augen wich der junge Mann zurück, doch hinter ihm türmte sich nur die Wand aus Erde auf, die ihm in der Schlacht Deckung vor den feindlichen Geschossen gegeben hatte. Seine Hände gruben sich in die lose Erde, die noch feucht vom letzten Regenfall war, doch sie fanden keinen Halt. Stattdessen bohrten sich seine Finger in das tote Fleisch eines weiteren Gefallenen, der halb unter einem Haufen herabgerutschter Erde begraben worden war; lediglich Kopf und Oberkörper ragten noch ans Licht. Der Atem des jungen Mannes beschleunigte sich, Panik stieg in ihm auf und verstärkte sich, als seine Augen hin- und herflogen und die Toten erblickten, die zu beiden Seiten im Graben lagen... Freunde und Vorgesetzte, im Tode vereint. Ihre leeren Augen starrten ihn an, als wollten sie ihn anklagen und ihm vorwerfen, noch am Leben zu sein und keinen so grausamen Tod wie den ihren erlitten zu haben. Wieder streckte der junge Mann die Arme aus, um den Hang emporzuklettern. Seine Bewegungen waren fahrig und unkontrolliert, immer wieder rutschte er mit einem Teil der nassen Erde hinab. Seine Hände starrten vor Schmutz, die Uniform, schon vorher zerrissen und blutbesprenkelt, war bald mit Schlamm vollgesogen und die kurzen, blonden Haaren dreckverklebt. Seine Stiefel stemmten sich gegen den Erdwall und suchten nach Halt, und Stück für Stück - endlich! - gelang es ihm, an der feuchten Erde hinaufzuklettern. Doch als er schließlich nur noch eine Armlänge vom oberen Rand des Grabens entfernt war, löste sich ein großer Erdbrocken, an dem seine Hände zuvor Halt gefunden hatten, und er rutschte zurück in den tiefen Graben, zurück in die kalten Arme der Toten. Der junge Mann schrie auf, als er nachgiebiges Fleisch in seinem Rücken fühlte und warf sich mit aller Macht wieder gegen den Erdwall. Wie ein Besessener arbeitete er sich empor und seine Finger gruben sich tief in die feuchte Erde. Seine Fingernägel brachen ab, doch er spürte es nicht, denn sein einziger Gedanke galt dem Entkommen aus diesem Graben des Todes. Mit blutenden Händen und schweißüberströmtem Gesicht erreichte er schließlich den Rand und schob sich darüber hinweg. Keuchend lag er auf dem Boden und sog gierig die kalte Morgenluft in seine Lungen. Hier oben war der Verwesungsgestank nicht mehr ganz so stark, wie im Graben, und langsam beruhigte sich sein Pulsschlag wieder. Nachdem einige Zeit vergangen war, regte sich der junge Mann wieder und stemmte sich mühsam auf Hände und Knie, bis er schließlich auf die Beine kam. Was er sah, wollte sich seinem Verstand zuerst nicht erschließen: Eine endlose Ebene, übersät mit Feuer, Rauch und Leichen, erstreckte sich vor ihm. Wohin er auch blickte, starrte ihn der Tod in all seinen Facetten an - durchbohrte, blutige Körper, kaum mehr noch als die von Menschen zu erkennen, vereinzelt herumliegende Körperteile, zerfetzt von Granaten, Blut, das die Erde tränkte... Nicht allzu weit entfernt hatte sich bereits ein Schwarm zerzauster schwarzer Raben zum Festschmaus eingefunden. Der junge Mann hob den Ärmel vor den Mund, während er mühsam den Brechreiz zu unterdrücken versuchte. Der beißende Rauch reizte seine Augen und ließ sie tränen. Nur mühsam konnte er den Blick von den entstellten Körpern abwenden, während er über das Schlachtfeld taumelte. Durst begann ihn zu quälen, doch alle Löcher, in denen sich im Dauerregen der letzten Wochen Wasser angesammelt hatte, waren durch Blut und verwesendes Fleisch verunreinigt. Und so schleppte sich der Junge weiter über das Feld, ohne Ziel, außer dem einen: Der Hölle zu entrinnen. Es war still auf dem Feld, sah man vom gelegentlichen Krächzen der Vögel und dem leisen Knistern der Feuer ab. Die Sonne stieg höher, wanderte weiter über den blauen Himmel. Der Rauchschleier wurde dünner und verzog sich schließlich gänzlich, und bald spürte der junge Mann die ersten, wärmenden Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, genoß das helle Licht, das sich auf seine geschlossenen Augenlider legte. Plötzlich hörte er hinter sich ein leises Klacken und bevor er sich herumdrehen konnte, war ein Schuss gefallen und eine Kugel hatte sich in seine rechte Seite gebohrt. Mit einem erstickten Keuchen fiel er auf die Seite und rollte sich unter Mühe auf den Rücken. Das letzte, was er in seinem Leben sah, war das von Grauen und Wahnsinn entstellte Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes, kaum älter, als er selbst, der ein Gewehr in den zitternden Händen hielt und erneut abdrückte. Der Soldat Friedhelm starb sofort, als die Kugel sein Herz durchbohrte. Schweißgebadet fuhr Gustav von seinem Bett hoch. Der Wecker hatte ihn aus einem furchtbaren Alptraum gerissen, dessen Nachwirkungen sich nun jedoch schnell verflüchtigten, als der Junge das Sonnenlicht erblickte, das durch die Gardinen in sein Zimmer fiel. Nach wenigen Minuten waren Angst und Schrecken des Traumes vergessen, und alles, was blieb, war die unangenehme Erinnerung daran. "Gustav?" drang die Stimme der Mutter von unten herauf. "Bist du schon wach?" "Ja, Mutter!" erwiderte der Junge, dann schlug er die Decke zurück und stand auf. Während er sich kurz mit dem Wasser aus der Schüssel, die auf der Kommode stand, das Gesicht wusch, sah er in den kleinen Spiegel, der an der Wand darüber hing. Blaue Augen sahen ihm entgegen. Sein Gesicht war schmal und auffallend hübsch, die strohblonden Haare umrahmten es wie ein Helm. Gustav lächelte und weiße Zähne blitzten im Sonnenlicht. Eine leise Melodie vor sich hinpfeifend begann er sich anzuziehen. Heute würde ein schöner Tag werden. Nicht nur das Wetter war wunderbar, auch würde Gustav an diesem Tag als einer der ersten Fahnenträger den Aufmarsch der Hitlerjugend bei den sportlichen Wettkämpfen seiner Schule anführen, bei denen der Führer höchstpersönlich anwesend sein würde. Für einen Jungen seines Alters war dies eine große Ehre. Gustav war sich sicher, dass dabei viele Blicke auf ihm ruhen würden und er hoffte insgeheim, die Aufmerksamkeit und Anerkennung des Führers zu erlangen. Erneut musste er an den Traum denken, doch er tat ihn nun als vollkommenen Unsinn ab. Nie würde es unter der Führung eines so großen Mannes zu solch schrecklichen Ereignissen kommen, wie er sie im Traum gesehen hatte. Nie wieder sollte sich ein Alptraum wie der große Krieg, der zwanzig Jahre zuvor getobt hatte, wiederholen. Hitler hatte dem Volk Frieden und Wohlstand versprochen, und Gustav Friedhelm war einer der vielen, die an ihn glaubten. Noch ein letzter Blick in den Spiegel, dann fühlte sich der Junge bereit für den Tag und verließ das Zimmer. Es war der Sommer des Jahres 1936. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)