Alles für dich, geliebte Mutter von Sitamun ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Um ehrlich zu sein ist es im Grunde und vollkommen prinzipiell gesehen total egal, was man gerade plant. Egal, ob gut oder böse. Das war so oder so eher eine Frage des Standpunktes, in jeder Weise subjektiv. Und was auch immer subjektiv ist oder auf einer subjektiven Entscheidung oder eines ebensolchen Entschlusses beruht, kann nicht allgemeingültig sein. Punkt. Aus. So ist das Leben. So ist es, wie ich es kennen gelernt habe. Nicht von Anfang an, gewiss nicht. Damals, am Anfang, besaß das Leben noch angenehme Züge. Nachdem mich dieser wandelnde Betrüger aus dem Armenhaus geholt hatte, um ihn zu assesstieren, um von ihm geschlagen zu werden, wenn ihm danach war und und und, war mein Leben deutlich besser als vorher. Vernünftige Kleidung, warme Mahlzeiten und dergleichen. Denn sofern er die Menschen zu betrügen gedachte mit Elixieren, die Wunder versprachen und als einzige Wunder, die wirklich folgten, als fürchterliche Allergien und eine scheinbar nie schwindende Übelkeit durch den unerträglichen Gestank definiert werden konnten, so brachten sie ihm doch genug Geld ein. So viel Geld, dass er es nach kurzer Zeit sogar in Betracht zog, dass ein nicht verhungernder und in akzeptable Kleider gehüllter Assistent helfen konnte, noch mehr Geld einzubringen. Wie gesagt … er schlug mich, bis mein ganzer Körper übersäht war mit blauen Flecken und meine Seele geschunden durch all die Namen, die er mir in einer anderen Sprache an den Kopf warf; als wüsste ich nicht, als würde ich nicht verstehen, wie er mich nannte. Aber nichtsdestotrotz hatte er mich aus dem Armenhaus geholt und seine Schläge waren bei weitem erträglicher als allein die Erinnerung an die Geräusche, die dort die nächtliche Stille durchbrachen. Natürlich wusste ich, was vor sich ging – jeder wusste es, – aber für eines Kindes Ohren und Gedanken war es nicht wirklich förderlich. Selbst als erwachsener Mann mit mehr Erfahrung (und diese Art von Erfahrung war selbst für einen jungen Mann wie mich – für keinen Mann irgendeines Alters – passend) ziehe ich die Schläge dem Armenhaus immer noch vor. Dabei wurde ich schon lange nicht mehr geschlagen. Solange ich bei ihm war, dann schon. Ständig und immer wieder. Oft genug frage ich mich jetzt, da ich sie nicht mehr fürchten muss, ob er mich wohl öfters schlug als dass er einen Mann versorgte, wenn er seinem Gewerbe nachging. Barbier der Könige. König der Barbiere. Oh, natürlich. Was für ein fürchterlicher Betrüger er doch war. Dabei gab es einen Mann, der ihn bei weitem übertraf. Niemand war besser als dieser Mann, selbst er nicht. Der Name dieses Mannes war Sweeney Todd. Ein unglaublicher Mann. Ein unglaublicher Barbier. In seinem Tun von niemanden geschlagen. Ich hatte ihn das erste Mal gesehen, als er jenen Mann herausforderte, der mich aus dem Armenhaus geholt hatte. Größtenteils war ich damit beschäftigt, auf die Aktivitäten des Betrügers zu achten. Er liebte es, eine große Show zu machen, die Leute mit dem zu begeistern, was er vorgab zu tun. Meine Aufgabe war es, all das mit Kleinigkeiten zu unterstreichen, die seinen Auftritt perfektionierten. Doch mir blieb genug Zeit auf das Schaffen jenes Herren Todds zu achten. Mit welch unbeschreiblicher Perfektion er an sein Werk ging! Ich hätte es nie gewagt, mein Staunen darüber auf meinem Gesicht zu zeigen – ich hätte mir nur noch mehr Schläge eingehandelt, die ich so oder so schon wegen seines Versagens einkassierte. Doch dann, eines Tages, verschwand dieser Mann plötzlich. Es war nur kurze Zeit, nachdem ich das erste Mal Sweeney Todd gesehen hatte. Wir gingen zu ihm, zu seinem Etablissement in der Fleet Street. Ich wusste nicht genau, was jener Mann dort wollte; er sagte mir nie etwas, wenn es nicht darum ging, ihn an etwas zu erinnern. Persönliches ging mich nichts an. Ich war nur ein kleiner unbedeutender Bastard, der seinem ach so königlichen Verstand und Tun nicht im Weg zu stehen hatte. Also stand ich nicht im Weg, sondern immer nur hinter ihm. In seinem Schatten, wo ich ihm nie das Licht der Sonne nehmen konnte. Ich erinnere mich noch daran, dass sie, Mrs. Lovett, welch wunderbare Frau, mir eine Fleischpastete schenkte, und noch eine und noch eine, als der Barbier mich wieder zu ihr nach unten schickte. Sie gab mir Gin und auch das, weil jener Mann es mir vorgeschlagen hatte. Sie machte alles für ihn. Ich trank den Gin, wie ich es im Armenhaus vor dem Einschlafen getan hatte, und es dauerte nicht lange, kürzer als damals im Armenhaus, bis ich eingeschlafen war. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, vielleicht aber auch nicht, ich kann nicht genau sagen, ob ich wirklich tief und fest am Schlafen oder nur am Dösen war, aber ich glaube, dass sich Mr. Todd und Mrs. Lovett unterhalten haben. Über was, weiß ich nicht. Klang geschäftlich. Ich glaube auch, Mrs. Lovett mit ihrem Nudelholz gehört zu haben. Wer weiß? Ich war ein kleines Kind, ertränkt in Gin, das nichts von all dem Grauen erahnen konnte, was seine geliebte Mrs. Lovett und dieser fürchterliche Barbier mit jenem Schläge austeilenden Mann zu tun gedachten. Ein Kind, das nicht erahnen konnte, dass die leckere Fleischpastete, die es am nächsten Morgen aß, angefüllt war mit dem Fleisch des Mannes, der am vorherigen Tag noch sein Überleben sicherte. Pah. Mrs. Lovett behielt mich bei sich. Was war sie doch für eine liebende Mutter! Eine Frau mit einem guten Herzen, wie ich es noch nie gesehen hatte und ich hätte kaum glücklicher darüber sein können, dass es ihre liebe, totenblasse Hand am Abend war, die zärtlich über meine Wange strich und mir eine gute Nacht wünschte und nicht die rote, fleischige Hand jenes Mannes, bei dem diese Geste eher an einen Schlag erinnerte, der mich in die Bewusstlosigkeit treiben sollte. Ein Mann, den ich wortwörtlich zum Frühstück verspeist hatte. Diese liebe Frau behielt mich bei sich und kümmerte sich um mich, besser als dieser Mann, kaufte mir bessere Kleidung, gab mir besseres zu essen – warme, leckere Fleischpasteten. Als Dank dafür half ich ihr in ihrem Laden aus, zumindest bei der Bedienung der Kunden, die plötzlich, als würden sie von Geisterhand angezogen werden, ihren Laden überfüllten. Es schien nie genug Tische und Stühle zu geben. Die hungrige Kundschaft quetschte sich geradezu auf die Bänke, presste jegliche Gliedmaßen an den eigenen Körper, um noch genug Platz für andere zu schaffen, nur um eine dieser wunderbaren Fleischpasteten abzubekommen. Die arme, arme Frau litt unter diesem Drang an Kundschaft. Am Abend saß sie immer auf einem Stuhl, die Beine ausgestreckt und hochgelegt auf einen Schemel und jammerte über ihre schmerzenden Beine und Knie und ihren Rücken, der sie umzubringen schien. Und doch … es war nicht immer so. Nicht jeden Tag. Es gab auch Tage, wenn nicht sogar Wochen, in denen nur sehr wenig los war und sie am Abend zwar trotzdem auf ihrem Sessel saß, die Beine hochgelegt, aber nicht jammerte, sondern las. Oder, wenn sie nicht las, dann ging sie nach oben. Zu Mr. Todd. Oder nach unten in die Backstube. Da durfte ich nie hin. Sie tat ihr möglichstes, um mich davon fernzuhalten. Doch ich versuchte es auch nicht mehr, als sie sich bereits bei meinem ersten Versuch, mich heimlich nach unten zu schleichen, fürchterlich aufregte. Das wollte ich nicht. Mrs. Lovett war besonders für mich. Sehr wichtig. Mit ihr war mein Leben lebenswerter, besser, glücklicher als es sonst jemals hätte werden können. Ich glaubte damals, ich würde sogar über Leichen gehen, um ihr Leben zu beschützen. Vor wem auch immer. Als Kind war ich ein wenig einfältig, nicht der Schlauste, hatte nie wirklich etwas Vernünftiges gelernt außer jenem, was ich mir bei jenem schlagenden Mann und später dann bei Mrs. Lovett und Mr. Todd abschaute. Es war nichts, was mir das Leben hätte sichern können, wäre ich durch einen unglücklichen Zufall von ihnen getrennt worden. Zumindest dachte ich das. Aber jetzt weiß ich, da es so gekommen ist und ich wirklich ohne irgendeinen von jenen dreien auskommen musste, dass es doch genug war. Doch in meinem damaligen Zustand war ich der festen Überzeugung, jeden umbringen zu können, der meiner geliebten Mrs. Lovett etwas antun wollte. Ich hatte ihn nicht verdächtigt, als jener Mann plötzlich verschwunden war, auch wenn es mir schwer fiel zu glauben, dass er ganz einfach gegangen sei ohne mich wieder zu sich zu holen. Ich bedeutete ihm nicht viel, das wusste ich, aber es bedeutete ihm etwas, dass ich ihm die dreckige Arbeit abnahm. Er wäre nicht einfach gegangen … Aber Mr. Todd, diesen begnadeten Barbier, verdächtigte ich nicht. Was konnte er denn schon dafür, wenn jener Mann eher ging und nicht an mich dachte? Nicht mehr wiederkam? Nie wieder? Nichts. Aber später, sehr viel später, als das Geschäft von Mrs. Lovett wieder zum Leben erwachte und Kunden kamen und gingen, da fing ich an zu sehen, was keiner sehen sollte. Ich sah es nicht klar. Ich wusste nicht im Geringsten, worum genau es ging. Ich konnte es nicht einmal erahnen; ich wusste nur, dass dieser Mr. Todd, dieser König der Barbiere, nicht so gut für Mrs. Lovett war wie sie dachte. Ich dachte nur daran, dass er ihr etwas antun konnte, ihr fürchterlich wehtun konnte, aber nicht daran, dass er das nicht machen würde. Dass sie um sein Treiben wusste. Dass sie ihn überhaupt darauf gebracht hatte. Viel zu naiv, wie ich war, sah ich nur die potenzielle Gefahr, die von ihm ausging, aber nicht gegen sie gerichtet war. Doch vergessen war all dies für den Moment, als sie mir versprach, ihre Backstube zu zeigen. Mir zu verraten, wie man ihre köstlichen Fleischpasteten backte. Wie man das Fleisch durch den Fleischwolf drehte und wie man den Ofen verschloss. Es stank grauenhaft, aber sie sagte, der Geruch käme aus der Kanalisation. Dann ging sie wieder und verschloss die Tür. Ich dachte mir nichts dabei. Sie käme wieder. Sicherlich. Sie liebte mich wie ich sie. Es gab nicht einmal den Gedanken daran, dass sie mich hier unten alleine lassen und vergessen würde. Doch was in der Zwischenzeit geschah, bis sie mit dem göttlichen Barbier wiederkam … Ein Schaudern durchdringt mich bei der entsetzlichen Erinnerung. Es war ein Albtraum. Ein Teufelskreis. Ich hasste jenen Mann für das, was er ihr angetan und mich für das, was ich ihm angetan hatte. Er war so ein guter Mann gewesen, so gut in dem, was er tat. Gut vielleicht nicht in jedermanns Definition, aber ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es eine subjektive Definition war. Damals hätte ich vielleicht auch so gedacht, doch nicht mehr heute. Sein Tun, sein Rasieren, sein Morden wurde für mich in dem Augenblick zu guten Taten, als ich verstand, dass es gut für sie war. Sie liebte ihn mit ihrem ganzen verstaubten Herzen, mehr als jenen Mann, den sie vor vielen, vielen Jahren geheiratet hatte und der vor zahllosen Jahren bereits verstorben war. Mrs. Lovett hätte für Mr. Todd wirklich alles getan. Sie arbeitete mit ihm zusammen und machte seine Kunden zu Fleischpasteten. Welch glorreiche und gleichzeitig doch so fürchterlich unmenschliche Idee, das Geschäft anzutreiben. Aber auch hier … auch das war wieder Ansichtssache. Unmenschlich ist für jemanden wie mich, für dessen Mutterersatz ein solches Verhalten nicht hätte normaler sein können, etwas ganz anderes. Unmenschlich war, dass Mr. Todd sie von mir nahm. Doch wie kann ich ihm wütend sein, wenn sie ihn so liebte? Gar nicht. Nicht mehr zumindest. Er starb nur wenige Augenblicke nach ihr, in seinen Armen eine andere Frau. Ich verstand es nicht. Verstehe es immer noch nicht. Doch es interessiert mich auch nicht. Sie, meine geliebte Mutter, liebte ihn. Das ist alles, was zählt. Und es ist mehr als Grund genug, mit dem weiterzumachen, mit dem sie aufhören musste. Mit dem, was sie beide machten. Vielleicht ist es nicht das, was man von einem jungen Mann heutzutage erwartet. Junge Männer wie ich sollten eher handwerkliche Berufe ausüben, die Kraft erforderten, in denen man sich abrackern konnte, bis man dermaßen erschöpft war, dass man zu Hause halbtot ins Bett fiel und sich nicht zu viele Gedanken um den Zustand der Gesellschaft machen konnte. Glaube ich zumindest. Ein Mann hatte es mir mal so erklärt, als er in das Etablissement Sweeney Todds kam, das ich fortzuführen gelernt hatte. Ebenso wie das Fleischpastetengeschäft von Mrs. Lovett. Ich rasierte sein Gesicht, sein Kinn bereits aalglatt als ich es aufgab, sein Gerede nicht mehr ertragen konnte und mit der scharfen Klinge seine weiche Haut streichelte. Meine bezaubernde Mutter Mrs. Lovett liebte jenen Mann so sehr, dass sie ihm das Morden gestattete, nichts sagte und mich nur in ihre Backstube ließ, weil es für mich nur zwei Möglichkeiten gab. Entweder mitmachen oder sterben. Sie liebte mich wie ich sie und sie wollte nicht, dass Mr. Todd mich umbringt. Doch es kam nie dazu. Ich konnte es ihr nicht ins Gesicht sagen. Sie und Mr. Todd starben. Nicht das, was sie wollte, aber das, was unabänderlich kam. Dasselbe Schicksal, dass diesen Wasserfall von einem Mann ereilt hatte. Ich aß ihn und seinen endlich schweigenden Mund zum Abendessen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)