An Elicoorian Christmas Carol von Saria-chan ================================================================================ Kapitel 3: Der zweite Geist --------------------------- Der Schlaf war mit langen Schatten über Albels Bewusstsein gezogen und hatte der gequälten Seele jene süße Dunkelheit gegeben, nach der sie verlangt hatte. Doch etwas störte nun diesen herrlichen Zustand der Ruhe. Licht drang in seine Finsternis – schien rötlich durch seine geschlossenen Lider – und der Geruch unzähliger Speisen hang wie eine Wolke in seiner Kammer, die von einer Wärme durchdrungen war, welche der kleine Raum wohl seit seiner Erbauung noch nicht gekannt hatte. Vergeblich versuchte er, durch simple Ignoranz dieser Begebenheiten seinen Halbschlaf wieder zu vertiefen und schlug schlussendlich doch die Augen auf. Der helle Schein eines Feuers tauchte das Zimmer in strahlendes Licht, wenngleich der Vierundzwanzigjährige es nicht benötigt hätte um die immergrünen Ranken zu erkennen, welche als undurchdringlicher Vorhang aus Blättern die Wand neben seinem Bett verdeckten und auf welche sein erwachender Blick als erstes fiel. Pralle, rote Beeren fanden sich zwischen den Gewächsen, die – wie ihm mit dem Weiterwandern seiner rubingleichen Iriden gewahr wurde – auch das übrige Mauerwerk überwuchert hatten. Die Flammen der Kerzen auf dem Standleuchter glichen winzigen Sonnenfeuern und waren zu einer Größe erwachsen, die jeglicher Realität spottete. Albel wünschte sich, dass dies alles nur ein übler Scherz sei und er den Verantwortlichen für dieses dreiste Verhalten mit seinem Schwert auf eine ihm angemessene Größe stutzen konnte. Eine anschließende Kopfbewegung zur Mitte des Raumes machte jedoch all seine Hoffnungen zunichte. Für diese Zeit des Jahres typische Gerichte hatten sich zu einem regelrechten Berg auf seinem Teppich aufgetürmt, der jedes königliche Bankett wie eine Armenspeisung erscheinen ließ: Mit Zucker überzogene Äpfel glänzten rötlich neben riesigen Gewürzkuchen, saftige Schinken lagen auf einem Bett dampfender Esskastanien, mit Dörrobst gefüllte Wildvogelbraten ruhten neben Kesseln brodelnden Eintopfs, kandierte Nüsse fanden sich neben Zuckergebäck in Sternenform und Kristallgläser gefüllt mit aromatischem, heißem Winterwein machten die Luft schwer mit dem betäubenden Aroma hochprozentigen Alkohols. Auf eine seltsame Art und Weise formten die Unmengen von Leckerbissen einen Thron, auf denen ein durchtrainierter Mann saß. Eine schlichte, grüne Robe mit weißem Fellbesatz war alles, was ihn kleidete. Zudem hing der Mantel so locker über seiner hochgewachsenen Gestalt, dass seine muskulöse Brust bar jeglichen Stoffes war. Seinen kurzen, braunen Schopf krönte ein einfacher Kranz aus Irisias Jungfrauen; durchsetzt mit funkelnden Sternen aus Eis. Ein breites Lächeln lag auf seinen Lippen und spiegelte sich in den blauen Saphiren seiner Augen wieder als er dem Elicoorianer mit seinem Trinkhorn zuprostete. „Hallo, mein Freund!“ Entsetzten ließ Albels blutrote Augen weit werden. „Nein!“ rief er protestierend und zog sich die Decke wieder über den Kopf. Sowohl Aussehen und Gebaren dieses Hünen glichen erschreckend jenem dieses blonden Gorillas aus der Truppe dieses blauhaarigen Idioten. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte der Anführer der Schwarzen Brigade sogar gewagt zu behaupten, dass dies die grauenerregende Version eines Zwillingsbruders des nervigen Affen war. Das war schlimmer als ein schlechter Scherz. Das war ein Alptraum! „Nicht so schüchtern! Wir haben viel vor und wenig Zeit!“ Die Stimme des Mannes dröhnte durch die gesamte Kammer und Sekunden später wurde Albel das Laken gewaltsam entrissen. Cliffs Doppelgänger schien in bester Stimmung, als er sich über sein Opfer beugte. Bis ein Schwert an seiner Kehle seine Bewegungen erstarren ließ. „Ich weiß nicht, was für ein Wesen du bist. Aber wenn du wenn du noch einen Schritt näher kommst und so menschlich bist, wie du aussiehst, wird es mir eine Freude sein, dein Gesicht neu auszurichten. Mit meinem Schwert.“ Die Stimme des Vierundzwanzigjährigen war ein bedrohliches Knurren, während er auf dem Rücken lag und den kühlen Stahl gegen die Haut des grüngewandeten Hünen presste, welcher sich daraufhin langsam wieder zurückzog. „Meine Güte, da hat aber jemand schlechte Laune...“ In Albels Rubinen schien sich die ganze Kälte eines eisigen Blizzards konzentriert zu haben und er richtete sich stumm auf. Sollte er etwa in Hochstimmung sein? Die Ereignisse des heutigen Tages; von jenen der Nacht ganz zu Schweigen; gaben keinesfalls einen Grund dazu. Der Kerl sollte vielmehr noch froh sein, dass sein Kopf noch auf seinen Schultern saß und das Katana des Anführers der Schwarzen Brigade ihn nicht auf eine Reise durch das Zimmer geschickt hatte. Die Selbstbeherrschung des Schwertkämpfers war in den vergangenen Stunden mehr als brüchig geworden. „Aber gut, wenn mich jemand mitten in der Nacht wecken würde, ginge es mir wahrscheinlich genauso.“ Mit diesen Worten und einem anschließenden Schulterzucken tat er Albels Verhalten als unumgängliche Begebenheit ab und wandte sich wieder direkt an den Krieger. „Lass uns den schlechten Start vergessen und mich dir vorstellen. Ich bin der Geist des diesjährigen Sternenfeuerfestes.“ „Das hatte ich befürchtet...“ murmelte Albel. Dem Kommentar des Elicoorianes ungeachtet – zumindest schien es so, obwohl der Krieger vermeinte, ein Aufblitzen boshafter Freude in den Saphiren seines Gegenübers zu erkennen – sprach Geist weiter: “Ich bin gekommen, um es dir zu zeigen.“ Der Schwertkämpfer verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte abfällig. „Was sollte es schon zu sehen geben? Es ist das gleiche, idiotische Fest wie jedes Jahr.“ “Eine ganze Menge..“ erwiderte der braunhaarige Mann mit tragender Stimme, bevor ein Ausdruck sein Gesicht überzog, der jenem eines tadelnden Vaters ähnelte. „Und nun sei ein guter Junge und fass meine Robe an, damit wir gehen können.“ „Was ist, wenn ich nicht mit dir gehen will?“ Der Geist lächelte gelassen. „Dann werde ich dir für den Rest der Nacht Gesellschaft leisten.“ Albels Augen verengten sich ob dieser wenig erfreulichen Aussicht zu schmalen Schlitzen und glichen jenen einer gereizten Bestie, welche kurz vor dem Angriff stand. Er fasste nach dem Kragen des Mantels und zog den hochgewachsenen Mann zu sich heran. „Versuch es – und du bist tot.“ Der Geist begegnete der Drohung lediglich mit einem gewinnenden Lächeln. Ein leiser Fluch entkam Albels Lippen, nachdem seine Kammer in einem Wirbel aus Farben verging und er erkannte, dass dieser braunhaarige Idiot ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen hatte. Mit dem Verebben des bunten Lichterspiels und einen frustrierten Laut ausstoßend ließ er von der Robe des hochgewachsenen Mannes ab. Seine Rubine streiften über die Konturen des Ortes, an den ihn seine unfreiwillige Reise geführt hatte. Er befand sich unzweifelhaft immer noch in der Fakultät – zu oft war er in diesen Räumen ein- und ausgegangen, um sie nicht wiederzuerkennen. Doch mit seiner Kammer hatte dieses Zimmer wenig gemein. Ob seiner großen Ausmaße war die Bezeichnung Saal sogar treffender. Riesige Holzöfen verströmten gleichermaßen Licht und Wärme und der Duft des Essens, das in großen Töpfen und Pfannen darauf briet, hatte die aufgeheizte Luft gänzlich durchdrungen. Als sein Blick allerdings auf die unüberhörbare Lärmquelle bei zahlreichen Tischreihen fiel, schlug die angenehme Stimmung, die von diesem Ort auf ihn begonnen hatte zu wirken, innerhalb weniger Augenblicke in ihr Gegenteil um. Ohne eine einzige Ausnahme hatten sich die Männer seiner Brigade auf den Bänken und Hockern eingefunden, lachten und scherzten miteinander oder holten in einer stillen Ecke einfach nur den Schlaf nach, den ihnen das tagelange Training abgefordert hatte. Albels Mine wirkte starr vor Wut. „Was tut dieser Abschaum hier drinnen? Sie sollten draußen sein und trainieren.“ „Ruhig Blut. Für diese Schatten ist der heutige Abend schon angebrochen ist. Sie haben ihre Übungen gemäß deiner Anweisungen absolviert und haben sich nun hierher zurückgezogen um zu feiern, wenn sie das Fest schon nicht bei ihren Familien verbringen können.“ „Sie haben es nicht anders verdient. Hätten diese Maden während meiner Abwesenheit nicht eine solche Disziplinlosigkeit bewiesen, hätte ich dieser törichten Bitte vielleicht nachgegeben.“ Eine Augenbraue des Geistes wanderte in Richtung seines braunen Schopfes. „Disziplinlosigkeit also..“ wiederholte er zweifelnd und trat einen Schritt näher an die Gruppe. „Lass uns hören, was sie so reden.“ „Es ist wirklich eine Schweinerei vom Kaptain, uns über das Sternenfeuerfest nicht nach Hause zu gehen lassen“, beschwerte sich ein schwarzhaariger Rekrut und ließ den Kopf niedergeschlagen auf seine verschränkten Hände sinken. Er erhielt zustimmendes Gemurmel von allen Seiten. „Ich wäre jetzt auch viel lieber bei meiner Frau und meiner Kleinen..“ seuftze ein anderer Soldat, worauf ihm sein Sitzmachbar mitfühlend die Hand auf die Schulter legte. „Wir wären jetzt alle gerne woanders, glaube ich.“ Dann grinste er, drehte sich auf seinem Platz herum und zog eine dicke Scheibe saftigen Bratens vom Tablett der jungen Köchin, die gerade damit hinter ihm vorbeischritt. „Aber seht es positiv, Männer. So kommen wir zumindest einmal mehr in den Genuss von Mayus hervorragenden Kochkünsten.“ „Als wenn ich nicht schon oft genug eure hungrigen Mäuler stopfen würde“, erwiderte Mayu und stellte die Platte in der Mitte des Tisches ab. Ein neckisches Funkeln glänzte in ihren Augen und spiegelte sich in den Zügen des schwarzgerüsteten Kriegers wieder, als dieser erneut die Stimme erhob. „Du musst wissen, während des Sternenfeuerfestes schmeckt immer alles wenigstens doppelt so gut wie sonst. Selbst dieser ewiggleiche Kasernenfraß.“ Mit gespielter Empörung spitzte sie die Lippen und wandte sich in Richtung der Öfen, wo eine ältere Frau zur Feier des Tages bereits weitere Leckereien vorbereitete. „Mutter! Für diesen netten Mann hier ab sofort nur noch Brotrinden und Wasser. Er scheint sie lieber zu mögen als unser Essen!“ Der Soldat erblasste und sein Mund klappte in Fassungslosigkeit mehrmals auf und zu, ohne jedoch einen Protest hervorbringen zu können, was ein allgemeines Gelächter zur Folge hatte „Und trotzdem..“ warf der schwarzhaarige Mann von zuvor ein, nachdem Mayu selbstzufrieden einen Tisch weitergezogen war. „Aber meinst du nicht, dass er zumindest ein wenig recht mit seiner Entscheidung hat? Wir waren wirklich ziemlich faul, während er nicht da war“, entgegnete einer seiner Kameraden, sein bärtiges Kinn nachdenklich auf eine Hand stützend Man konnte regelrecht beobachten, wie die Frustration im Gesicht seines Gegenübers sich in Wut umwandelte und er mit einer weit ausholenden Geste seinem Ärger Luft machte. „Es ist Frieden, Mann!“ „Es war nicht immer Frieden, falls du das schon vergessen hast“, erwiderte der bärtige Soldat und verschränkte die Arme. Ein undeutliches Grummeln des Schwarzhaarigen war die Antwort. „Jetzt hört auf zu streiten. Es ist Sternenfeuerfest“, mischte sich ein dritter Krieger in das Gespräch ein. „Du hast recht. Es ist eine Schande, an einem solchen Tag zu streiten“, gab der Verursacher der Auseinandersetzung zu und sein Gegenredner nickte bestätigend. Er hob seinen Becher. „Also gut, dann lasst uns anstoßen. Auf das Sternenfeuerfest, unsere Brigade und unseren Kaptain. Auch wenn seine Methoden manchmal etwas fragwürdig sind.“ Ein wissendes Lächeln ging durch die Reihen, anschließend stießen unter einem dumpfen Klappern Holzkrüge aneinander. „Auf uns und den Kaptain!“ Wo sich auf den Zügen anderer Menschen Rührung und Herzenswärme ob dieses Trinkspruches gefunden hätte, zeigte Albels Miene nur Kritik und Zweifel – letzteres wohl aus der Frage über den Geisteszustand seiner Männer entsprungen. „Was denkst du?“ hörte er den Geist zu seiner Rechten fragen. Der Elicoorianer machte sich erst gar nicht die Mühe, zu dem Hünen aufzublicken, sondern starrte weiterhin grübelnd auf die ihm unterstellte Brigade. Er verstand es einfach nicht. “Sie sollten mich hassen, so wie ich sie behandelt habe.“ Die leise gesprochenen Worte waren einem schuldbewussten Zugeständnis an sein eigenes Verhalten nicht unähnlich, wenngleich dies von Albel selbst unbemerkt blieb. Viel zu sehr beschäftigte ihn die Frage, warum ihm seine Soldaten nicht die Pest an den Hals wünschten. Ihn verfluchten, weil er ihnen ihr ach so geliebtes Fest verdorben hatte. Der Vierundzwanzigjährige hatte griesgrämige Gesichter und eine niedergeschlagene Stimmung erwartet... aber nicht dies hier. „Hass ist nicht alles. Es gibt auch noch etwas anderes, dass die Menschen verbindet. Etwas – und damit meine ich nicht die gemeinsame Religion- , was die Menschen; ganz besonders zu dieser Jahreszeit; nach Frieden wünschen lässt.“ Als der Krieger es wagte, seine Augen für einen kurzen Moment von Geschehen abzuwenden und in das Gesicht des Geistes zu schauen, sah er auf ein Lächeln voller Milde. Angewidert wandte er seinen Blick ab. „Was soll das sein?“ fragte er beinah schon bissig. Dieses besserwisserische Getue des transzendenten Wesens verursachte ein unangenehmes Kribbeln in seiner Schwerthand, das nach Befriedigung suchte. Etwas Stärkeres als Hass? Dass er nicht lachte. Bis zum heutigen Tage und auf all seinen Reisen war ihm noch keine Kraft begegnet, die beständig genug gewesen wäre, um sich gegen die zerstörerische Macht von Hass und Feindseeligkeit behaupten zu können. Ein Moment bedeutungsvoller Stille verstrich, dann stieß Albel ein frustriertes Knurren aus und hob den Arm. Konsequent wehrte er die Hand ab, die sich freundschaftlich über seine Schulter legen wollte und revidierte augenblicklich den eben gewonnen Eindruck, dass diese überirdische Gestalt vielleicht doch einen Funken Verstand besaß. „Die Liebe, mein Freund.“ Nun war Albel wirklich zum Lachen zumute. Dieser Geist war tatsächlich ein genauso großer Idiot wie sein fleischliches Ebenbild. „Bah, Liebe“, stieß der Schwertkämpfer hervor. Anschließend richtete er mit einem abfälligen Lächeln auf den Lippen seinen Blick auf den hochgewachsenen Mann. „Mach dich nicht lächerlich. Diese Maden sind doch nur hier, weil ich ihnen ihren Sold bezahle.“ Ein unergründlicher Ausdruck lag in den tiefblauen Seelenspiegeln der Verkörperung des diesjährigen Sternenfeuerfestes, als das Rot des Elicoorianers ihnen begegnete. Fast mochte Albel ihn als Mitleid deuten, doch der grüngewandete Geist ließ ihm keine Gelegenheit, darüber in Wut zu geraten, indem er zurück zu den feiernden Kämpfern blickte und sich so die seinen den Augen des Anführers der Schwarzen Brigade entzog. „Es gibt nicht nur eine Art von Liebe“, erwiderte er. Dann schaute das unirdische Wesen mit dem widerlich-freundlichsten Lächeln, dass der Schwertkämpfer jemals gesehen hatte, ihm wieder direkt ins Gesicht. „Und jetzt komm. Wir haben noch viel vor uns und wenig Zeit.“ „Je eher ich dich los bin, desto besser“, murrte der Krieger und langte übel gelaunt nach der tannenfarbenen Robe seines Gegenübers. Die Umgebung zerstob in Myriaden von funkelnden Farbpartikeln, die sich rasch zu einem neuen Bild anordneten, welches sich beinah gänzlich von dem vorherigen unterschied. Sanftes, silbriges Licht floss durch die verglasten Fensterscheiben von den sternenförmigen Leuchten in das kleine Zimmer und vermischte sich mit dem rötlichen Schein des Kerzenleuchters auf dem hölzernen Beistelltischchen. Eine blondhaarige Frau hatte sich einen Stuhl an die Lichtquelle gezogen, auf dem sie nun in Festtagsgewand saß und in ihre Stickarbeit vertieft war. Ihre smaragdgleichen Augen verließen den gerahmten Stoff in ihren Händen nur selten, und wenn sie es taten, blickten sie traurig und voller Sehnsucht aus dem Fenster. Nachdem Albel das Schauspiel eine Weile betrachtet hatte, ohne jedoch einen Sinn dahinter zu sehen, wandte er sich verärgert an den Geist. „Wo sind wir hier?“ „Bei einer der Familien deiner Männer. So wie sie verbringen heute viele von ihnen den Abend.“ „Bah, warum sollte mich das interessieren?“ Noch bevor der Geist zu einer Erwiderung ansetzten konnte, ertönte ein leises Knarren des Dielenbodens hinter ihm und ließ den Krieger seinen Kopf unwillkürlich in diese Richtung wenden. Ein kleines Mädchen erschien im Zwielicht des Türrahmens. Sie mochte kaum älter als sechs Jahre sein und zog einen recht mitgenommen aussehenden Teddybären hinter sich her. Ihr zerzaustes, rotes Haar floss wie flüssiges Feuer über ihre Schultern. Ihre Wangen glühten von der Hitze eines Fiebers und ein leises Husten aus ihrer Kehle zog die Aufmerksamkeit der stickenden Frau von ihrem Bild auf das Kind. Ihre grünen Augen zeigten Besorgnis. „Geh wieder zurück ins Bett, Lea. Vater wird heut nicht mehr kommen“ Die Kleine blähte ihre Backen auf und verschränkte energisch die Arme. Trotzige Entschlossenheit lag in ihrem Blick. „Aber er hat es versprochen!“ Ob der Aufregung wurde ihr zierlicher Körper von einem Hustenkrampf geschüttelt und schwankend klammerte sie sich an das Holz des Türrahmens. Ihre Mutter war augenblicklich auf den Beinen und kniete sich zu ihrer Tochter auf den Boden. Sanft legte sie ihre Hände auf die Schultern des Mädchens. „Hör zu, Liebes...“ Sie stampfte zornig auf dem Dielenboden auf. „Nein! Ich bleibe so lange wach bis, Papa nach Hause kommt!“ Ihre Finger ballten sich zu Fäusten zusammen. „Er ist nie da! Und er hat gesagt...!“ Plötzlich wurde ihr schmales Gesicht ausdruckslos und blanke Panik trat in ihre tiefgrünen Seelenspiegel. Sie begann röchelnd nach Luft zu schnappen und ruderte wild mit den Armen, während sie um ihr Gleichgewicht kämpfte. Erschreckt zog die blondhaarige Frau ihr Kind an sich und versuchte, mit beständigem Klopfen zwischen dessen Schulterblätter die Blockade in seinen Atemwegen zu lösen. Endlich begann Lea zu husten. Ihre Arme umschlangen verkrampft den Hals ihrer Mutter und wütende Tränen perlten aus ihren Augenwinkeln, während die blondhaarige Frau sie tröstend über den Rücken strich. „Es tut mir so leid, Lea...“, wisperte sie. Albels Rubine wandten sich vom Geschehen ab. Selbst sein erkaltetes Herz blieb von diesen Bildern nicht unberührt. Sie hatten etwas Grausames an sich. Denn der Anführer der Schwarzen Brigade wusste, dass nicht jeden Moment ein Klopfen an der Tür erklingen würde und sich alles zum Guten wendete. Er hatte selbst gründlich genug dafür gesorgt. Sein Blick fiel auf die beiden traurigen Gestalten im Kerzenschein zurück. Er erinnerte sich seiner eigenen Enttäuschung damals und um wie vieles schlimmer es für das Kind sein musste, welches fest mit der Ankunft seines Vaters rechnete. Mit einem Schaudern die Schuldgefühle abzuschütteln, die ihre Finger nach dem jungen Mann ausstreckten. „Dies wird übrigens das letzte Sternenfeuerfest dieses Kindes sein.“ Die Augen des Schwertkämpfers fixierten das Mädchen. „Was?!“ „Ihre Krankheit wurde nach diesem Abend schlimmer. Tatsächlich ist sie gestorben, ohne ihren Vater zuvor noch einmal gesehen zu haben.“ Der sachliche Tonfall des Geistes bohrte sich in seiner Endgültigkeit kalt wie der Dolch eines Meuchlers in seine Brust. Obwohl bei Weitem nicht so tödlich, hinterließ er ein unangenehmes Stechen zwischen seinen Rippen. Zwar hatte er nach dem Tod seines Vaters aufgehört, sich um solch nichtige Dinge wie Moral zu kümmern, aber das dem Mädchen zugeschriebene Schicksal erschien ihm grundlegend.. falsch. „Gibt es nichts, was man dagegen tun kann?“ Die Worte verließen seine Kehle schneller als er sie überhaupt gedacht hatte. Das darauf folgende Kopfschütteln des Geistes ließ Albels Herz unweigerlich sinken. „Wenn die Schatten der Zukunft unverändert bleiben, sehe ich keine Hoffnung für sie.“ Dann lächelte der hochgewachsene Mann eisig. „Aber sie hat es ja nicht anders verdient. Wenn ihr Vater während deiner Abwesenheit auch nur etwas disziplinierter gewesen wäre, hättest du seiner törichten Bitte vielleicht sogar nachgegeben.“ Mit der Gewalt einer angreifenden Armee stürmten Gefühle von Schuld und Reue auf den Vierundzwanzigjährigen ein. Bittere Erkenntnis fraß sich wie Säure durch seine Lunge, nahm ihm die Luft zum Atmen und brannte ein Loch an jene Stelle, wo sich sein Herz befand. Die Worte, welche der Geist benutzt hatte, waren eine Wiederholung jener eigenen des Anführers der Schwarzen Brigade gewesen. Er starrte betroffen zu Boden; jeder einzelne Schlag in seiner Brust eine Qual. Albel war sich nicht sicher, wie lange er dort reglos gestanden hatte – sich wünschend, das Weinen des Mädchens würde endlich Enden und ihn nicht immer wieder an seinen Fehler erinnern – , aber schließlich senkte sich eine Hand auf seine Schulter. „Komm...“, hörte er den Geist sagen, ohne es jedoch bewusst wahrzunehmen. Dieses Mal protestierte er nicht, als er nach dem Gewand des Mannes griff. Ein weiteres Mal veränderte sich die Welt um ihn.. Der Ort, an dem ihn der Geist dieses Mal gebracht hatte, war Albel ebenso vertraut wie zuvor schon die Räumlichkeiten seiner Kaserne, wenngleich der Festtagsschmuck eine erstaunliche Veränderung in den sonst so düsterem Gängen und Kammern des Schlosses bewirkt hatte. Runologen hatten es vortrefflich verstanden, das Licht der Sterne in dessen künstliche Abbilder zu bannen, die nun zu großer Zahl unter der Decke funkelten und eine Illusion des Nachthimmels erschufen. Goldene und silberne Girlanden waren zwischen Gebinden aus immergrünen Zweigen und den Blumen der Mondgöttinnen gespannt, während die Gänge mit hellen Teppichen ausgelegt waren, auf denen stilisierte Sonnen in kräftigem Rot leuchteten. An Albel zog all dies glanzlos vorüber. Nicht nur, weil er es schon lange zuvor als unnötigen und nutzlosen Kitsch abgetan hatte. Ihn verfolgte immer noch das Bild des kleinen Mädchens. Natürlich, wenn er mit seinem Schwert karmesinrote Rosen auf dem Schlachtfeld durch das Blut anderer zum erblühen brachte, so hatte er den Fakt, Söhne und Väter zu töten, nie verdrängt. Aber es war ein Schicksal gewesen, welches sie selbst gewählt hatten, indem sie ihn herausgefordert hatten. Es war Resultat ihrer eigenen Schwäche, eine Unumgänglichkeit des Krieges. Das Gesetz des Stärkern. Aber niemand hatte es verdient, auf so eine Weise wie dieses Kind zu sterben – besonders, wenn sich ein solch sinnloser Tod verhindern ließ. Ebenso sinnlos wie jener seines Vaters... Erst der Lärm einer lebhaften Feier vermochte es, seine Aufmerksamkeit von diesen Gedanken abzuziehen. Gleichsam dem Rest des Schlosses erstrahlte auch der Thronsaal in vollem Feiergewand und war kaum wiederzuerkennen. Die Musik eines kleinen Orchesters hatte mehrere Menschen auf die Tanzfläche gezogen und führte nun deren Bewegungen mit ihrer vergnügten Melodie. Ein Büfett lockte mit auserwählten Köstlichkeiten hungrige Gäste in seine Nähe, obwohl viele der hier Anwesenden sich auch einfach nur zu kleinen Gruppen zusammengefunden hatten und sich angeregt unterhielten. Lediglich eine einzelne Person hatte sich dem Trubel entzogen. Ohne gro0e Mühe fanden die Augen des Elicoorianers die schlanke Gestalt des Jugendlichen, der einsam am Fenster stand und den Tanz der Schneeflocken im dunklen Firmament betrachtete. „Wieso ist dieser Idiot nicht bei den anderen Schwachköpfen?“ Albels tiefe Stimme verriet unterschwellige Wut. Was dachte sich dieser Erdling eigentlich? Zuerst groß von einer Wiedervereinigung tönen und dann ausgerechnet an einem Abend wie diesem, der wie geschaffen für die glückliche, kleine Traumwelt des Wissenschaftlersohns schien, sein Heil in der Flucht vor dieser Truppe von Narren suchen. Dieses heuchlerische Verhalten widersprach dem Bild, welches der Krieger sich von dem Neunzehnjährigen erschaffen hatten, auf jede erdenkliche Art und Weise. Ob sein Zorn nun seiner Frustration wegen dieser Fehleinschätzung von Fayts Charakter oder der unüblich unaufrichtigen Haltung des Teenagers entsprang, konnte der Elicoorianer nicht genau sagen, aber es war ihm in diesem Moment auch herzlich egal. „Ist das nicht offensichtlich?“ fragte der Geist. „Nein“, knurrte Albel und heftete seine Augen auf Fayts Züge, als könne er in dem erwartungsvollen Smaragdgrün die Antwort finden. Kurz darauf spürte er die Hände des braunhaarigen Mannes an seinen Schläfen. Mit sanfter Gewalt drehte er den Kopf des Vierundzwanzigjährigen in Richtung der feiernden Massen, sodass er die nahende Gestalt eines blonden Affen in Menschengestalt kaum übersehen konnte. Der Schwertkämpfer stöhnte innerlich. Hatte man ihn mit dieser Heimsuchung, welche gerade hinter ihm stand, heute Nacht nicht schon genug gestraft? Musste es ausgerechnet dieser klausianische Grobian sein? Dennoch richtete er seinen Blick auf die beiden Personen am Fenster, zu sehr interessierte ihn der Grund für den sehnsuchtsvollen Ausdruck auf Fayts Gesicht. Ein mattes Lächeln schob sich auf Fayts Züge, als Cliff ihn erreichte. Der Sechsunddreißigjährige verschränkte die Arme vor der Brust, sein Kopf neigte sich leicht in einer Geste von Unverständnis zur Seite und der leise Ton, der beim Ausatmen die Lippen des Klausianers verließ, war von Besorgnis geprägt. „Junge, ich sag es nicht gern... aber du machst ein Gesicht als wenn irgendjemand gestorben wäre.“ Sofort bemühte der Jugendliche sich um Haltung. Er stieß sich vom Fensterrahmen ab, an dem er bisher gelehnt hatte und strafte die Schultern. Trotzdem schien er seinem Freund nicht in die Augen sehen zu können. Eine seiner Hände verweilte weiterhin auf der kalten Glasscheibe, während der Teenager selbst hinaus in die Dunkelheit starrte. „Ich finde es nur schade, dass Albel nicht hier ist. Er ist zwar manchmal unausstehlich, aber trotz allem Teil unserer Gruppe. Ohne ihn ist es nicht das selbe.“ Cliff blinzelte fassungslos, bevor er den Neunzehnjährigen vollends entgeistert ansah. Ebenso wie Albel. Er konnte einfach nicht glauben, dass der Neunzehnjährige immer noch zu warten schien, obwohl der Anführer der Schwarzen Brigade mehr als deutlich gemacht hatte, dass er nicht zu dieser idiotischen Feier kommen würde. Er hatte dem Erdling vieles zugetraut. Jedoch nicht, ein so gro0er Narr zu sein. „Was?! Du lässt dir den ganzen Abend verderben, nur weil dieser Kerl sich zu fein ist, hierher zu kommen und dieses Fest mit uns zu feiern? Um den würde ich mir keine Sorgen machen.“ Fayt schüttelte den Kopf uns richtete seine Augen auf die im Saal verteilten Menschengruppen. Gleichzeitig erschien es Albel, als würde ihn der blauhaarige Jugendliche direkt ansehen. „Er hat bestimmt seine Gründe, warum er dieses Fest so hasst.“ Fayts Mundwinkel wanderten ein wenig nach oben, ehe er weitersprach. „Ich weiß, er würde mir niemals von sich aus eines wünschen, aber ... ich wünsche ihm trotzdem eines frohes Sternenfeuerfest, was immer er auch gerade tut.“ Cliffs Gesichtsausdruck auf diese Worte war bestenfalls als Resignation zu deuten, danach zuckte er mit den Schultern. „Wahrscheinlich quält er gerade irgendetwas und ist zufrieden mit sich und der Welt.“ Der Klausianer klopfte dem Neunzehnjährigen mit beiden Händen auf die Schultern, sodass der Wissenschaftlersohn unweigerlich ein wenig in die Knie ging. „Komm schon, Fayt. Jetzt lass dir von diesem Miesepeter nicht die Stimmung verderben und feier ein wenig mit uns.“ Der Anführer der Schwarzen Brigade erkannte den Fehl der Freude hinter Fayts Lächeln, welches er dem blonden Mann schenkte. Er hatte ein ähnliches häufig auf den Zügen seines Vaters gesehen, wenn Albel ihn auf den frühen Tod seiner Mutter angesprochen hatte. So lächelte jemand, der er nicht wollte, dass jemand anders als er selbst traurig war. „In Ordnung...“, willigte der Erdling schließlich ein. Doch schon bald legte sich ein ehrliches Lachen auf Fayts Lippen und seine Freunde ließen ihm keine Gelegenheit mehr, niedergeschlagen zu sein. Schon bald war er Teil jener ausgelassenen Feier, tauschte Worte und Erinnerungen mit seinen Gefährten und erhielt kleine Geschenke von ihnen ebenso wie er sie selbst verteilte. Während Albel das fröhliche Treiben beobachte, regte sich plötzlich der Wunsch in ihm, auch zu dieser Gemeinschaft gehören zu wollen. Nicht mehr nur ein schattenhafter Zuschauer zu sein. Er stellte fest, wie sehr er das Reisen vermisste, die fast schon zur Gewohnheit gewordenen Wortgefechte. Für einen Moment war er tatsächlich bereit, seine abwehrende Haltung gegenüber diesem Fest aufzugeben, nur um sich für einen Moment in diesem wunderbar wohltuenden Licht des Glücks zu wärmen, dass diese kleine Gruppe ausstrahlte. An dieser Freude war nichts aufgesetzt oder falsch, sie würde auch nach diesem Fest bestand haben, wenn Schmuck und Lichter dieser Zeit des Jahres schon lange vergangen waren. Sie benötigte keine Geschenke. Das hatte sie nie. Es waren die gemeinsamen Stunden, aus der sie ihre Kraft zog. Vielleicht waren die Worte eines Kindes in einem Winter vor sechzehn Jahren, an einem Tag wie diesem doch nicht so naiv gewesen, wie er zunächst gedacht hatte. Er senkte den Blick und bewegte den Kopf in einer verneinenden Bewegung. Womöglich wurde er auch einfach nur weich. Er sollte besser von hier verschwinden, bevor diese übelkeitserregende Glückseeligkeit seinen Verstand noch mehr zersetzte. Egal, wie sehr sein Innerstes sich der Ausführung dieses Gedankens auch erwehrte. Dann fühlte der Anführer der Schwarzen Brigade einmal mehr die Hand des Geistes auf seiner Schulter. „Es ist Zeit zu gehen.“ Albel war diesem Wesen fast schon dankbar dafür, dass es seinen Zwiespalt beendete, wenngleich er es niemals offen zugegeben hätte. Er nickte und warf einen letzten Blick auf die Gruppe – auf Fayts unverfälschtes Lachen – , bevor ihre Umrisse zu schemenhaften Farbflecken verschwammen und schließlich in der Dunkelheit seiner Kammer versanken. Eine Kammer, die dem Vierundzwanzigjährigen seltsam leer und verlassen vorkam. Kalt und einsam. War dieser Raum schon immer so gewesen? Die Stimme des Geistes ließ den Krieger herumfahren. „Meine Stunden sind fast gezählt, aber lass mich dir eines sagen: Solltest du weiterhin auf deinem bisherigen Weg verweilen...“ „Ich wähle meinen Weg immer noch selbst, also spar dir deine Worte und verschwinde endlich“, fiel ihm der Elicoorianer ins Wort. Albel hätte allerdings nicht erwartet, dass die Reaktion auf seinen barschen Kommentar so unmittelbar erfolgen würde. Innerhalb eines Lidschlags war die Gestalt des Geistes aus seinem Blickfeld verschwunden. Er runzelte die Stirn und sah sich noch einmal in der Kammer um, aber der hochgewachsene Mann blieb verschwunden. Als sein Blick jedoch zurück zu seinem Ausgangspunkt kehrte, erinnerte er sich augenblicklich wieder an Vox’ Vorhersage. Drei Geister. Drei Geister würden ihn diese Nacht besuchen. Und der letzte von ihnen stand am anderen Ende der Kammer – sein Körper verhüllt von einem dunklem Umhang. Das Wesen hob den Kopf, und unter der weiten Kapuze wurde das blasse, feine Gesicht einer Frau offenbar. Tiefrote Strähnen umspielten ihr Gesicht und die grünen Augen, die nur für den Bruchteil einer Sekunde unter den Schatten des Umhangs hervorblitzten, waren kühl und hart. Ein Anblick; schön und schrecklich zugleich – wie der Tod selbst. Schließlich begann sie, gemessenen Schrittes auf Albel zuzuschreiten. Die eisigen Nebelschwaden, welche ihr vorauseilten, schienen dabei nur die Vorboten auf noch ein viel größeres Grauen zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)