An Elicoorian Christmas Carol von Saria-chan ================================================================================ Kapitel 2: Der erste Geist -------------------------- Als der Anführer der Schwarzen Brigade die Augen wieder öffnete, empfing ihn vollkommene Dunkelheit. Die Kerzen auf dem Standleuchter waren zu formlosen Stümpfen zerschmolzen und ihr rötliches Licht verloschen. Der eisige Atem des Winters hatte den kleinen Raum gänzlich mit seiner Kälte durchdrungen und ließ die warme Luft auf den Lippen des Elicoorianers zu feinen Kristallen erstarren. Albel streckte seine steifen Glieder von sich und verzog beim Bewegen der ausgekühlten Muskeln schmerzvoll das Gesicht, während das Leben mit peinigender Hitze in sie zurückkehrte. Es sprach alles dafür, dass er während seiner Grübeleien eingeschlafen sein musste. Andernfalls wäre er jetzt nicht dermaßen durchgefroren und seine Kammer so erbärmlich kalt. Ein kindliches Kichern ließ ihn auffahren. Auf dem durchgelaufenen Teppich in der Mitte seines Zimmers stand ein junges Mädchen. Es konnte kaum älter als zwölf Sommer sein, doch ihren amethystfarbenen Augen wohnte eine Weisheit inne, die ein Kind dieses Alters unmöglich besitzen konnte. Schulterlanges Haar umrahmte in weißen Wellen sein sonnengebräuntes Gesicht und die schneefarbene Tunika, welche ein schmales, strahlendes Band um ihre Hüften raffte, schien im Halbdunkel zu leuchten. Filigraner Goldschmuck blitzte an den entblößten Armen und Beinen der kleinen Dame und das kunstvoll gearbeitete Diadem um ihre Stirn funkelte in einem überirdischen, schwachen Licht, welches die Finsternis zurück in die Ecken des Raumes trieb. Sie grinste. „Du bist niedlich, wenn du schläfst.“ Die sanfte, hohe Stimme wirkte um Jahre zu reif für diesen schmalen Körper. Den Vierundzwanzigjährigen interessierten diese Widersprüchlichkeiten in der Erscheinung des Kindes jedoch gerade herzlich wenig. Heute war ein Ereignis dem nächsten gefolgt, welche in ihrer Summe die ohnehin schon schlechte Laune des Schwertkämpfers auf einen ungeahnten Tiefpunkt hatte sinken lassen. Dass nun schon zum zweiten Mal ungefragt jemand sein Zimmer betrat, brachte das Maß zum überlaufen. Geist hin oder her. „Was bist du?“ fragte er harsch, worauf das Mädchen eine Schnute zog. „Und so ein alter Griesgram, wenn du wach bist.“ „Raus mit der Sprache.“ Von der Wut des jungen Mannes unbeeindruckt lächelte es und vollführte vor Albel einen formvollendeten Knicks, der jede Hofdame vor Neid hätte erblassen lassen. „Ich bin der Geist der vergangenen Sternenfeuerfeste.“ Augenblicklich kam dem Schwertkämpfer das Gespräch mit Vox wieder in den Sinn, welches er als schlechten Traum abgetan hatte. Doch augenscheinlich war es tatsächlich Wirklichkeit gewesen, wenn er den Mädchen Glauben schenkte – und unter der Vorraussetzung, dass dies hier nicht nur ein weiteres, verrücktes Gespinst seiner Fantasie war. Ein weiteres Mal ließ Albel seine Rubine über die kleine Dame wandern und versuchte, sich einen Reim auf die Anwesenheit seines ungewollten und seltsamen Gastes zu machen. Der Name für sich allein war schon lächerlich genug. Geist der Sternenfeuerfeste. Was für ein ausgemachter Unsinn. Es war ohnehin alles nur Humbug. Dennoch beschloss er, sich auf ihr Spiel einzulassen. Ihm war momentan jedes Mittel recht, solange ihn dieses Kind dadurch wieder in Frieden ließ und er in Ruhe weiterschlafen konnte. „Aller Feste?“ brummte er, schlicht und ergreifend deshalb, weil ihm keine bessere Erwiderung er auf die Vorstellung des Mädchens einfiel. Mit einem Kopfschütteln verneinte es die Frage des Vierundzwanzigjährigen. „Deiner“, erklärte das Geisterkind und trat einen Schritt näher an Albels Bett. Es lehnte sich über die Kante der Schlafstätte und umschloss in einer raschen Bewegung das Handgelenk des Kriegers mit einer Stärke, die der junge Mann der kleinen Dame ob der zierlichen Gestalt nicht zugetraut hatte. „Ich bin gekommen, um sie dir zu zeigen.“ Es schien ihr keine Mühe zu bereiten, den sehr viel größeren Elicoorianer mit einem sanften Ruck von seiner Matratze auf dessen Beine zu befördern. Die wenigen Momente einer möglichen Gegenwehr Albels verstrichen ungenutzt. Die kaum fassbare Dreistigkeit und Stärke des jungen Mädchens hatte eine lähmende Welle des Unglaubens durch seinen Körper rollen lassen, welche nun erst wieder versiegte. „Komm mit“, forderte es ihn auf und hob die freie Hand zu einer einladenden Geste. Der Anführer der Schwarzen Brigade schnaubte und ergab sich voller Widerwillen dem ständigen Ziehen ihrer Finger. Das Verhalten des Kindes ließ erahnen, dass sie ihn ohnehin nicht eine Sekunde früher gehen lassen würde. Bevor er nicht das gesehen hatte, das er ihrer Ansicht nach unbedingt sehen sollte. Nachdem seine Führerin allerdings begonnen hatte, entschlossen in die Richtung einer Zimmerwand zu marschieren, erklärte er das Mädchen endgültig für die personifizierte Form einer schweren Geisteskrankheit. Vielleicht konnten übersinnliche Wesen wie sie Mauern durchschreiten – Albels Körper hingegen bestand aus Fleisch und Muskeln, für die der dicke Stein sehr wohl ein Hindernis darstellte. „He, Made...“ merkte er an, doch der zwitschernde Sopran unterbrach ihn, kaum dass er die Stimme erhoben hatte. „Vertrau mir“, erwiderte sie geheimnisvoll und seine Gedanken erratend. Albel indessen kniff die Lider zusammen und bereitete sich innerlich auf einen schmerzhaften Zusammenstoß mit der Zimmerwand vor – welcher jedoch wider Erwarten ausblieb. Stattdessen liebkoste eine von Feuer gewärmte und von Rauch geschwängerte Luft seine Wangen. Der vertraute Geruch winterlicher Gewürze kitzelte seine Nase und das Knistern munterer Flammen drang an seine Ohren. Vorsichtig öffnete er die Augen wieder um zu sehen, an welchen Ort ihn das Mädchen gebracht hatte. Albels Magen zog sich stechend zusammen als er den Raum wiedererkannte, in dem er sich befand. Ein dicker, rubinfarbener Teppich, in dessen Mitte man mit Goldgarn kunstvoll das Emblem eines Drachen eingewirkt hatte, bedeckte fast den gesamten Boden der weitläufigen Wohnstube und schütze die Füße vor der Kälte des Steinbodens darunter. Schwere Vorhänge in der selben, kräftigen Farbe leuchteten gleich den letzten Strahlen der Abendsonne im schummrigen Licht neben den Glasfenstern, welche der Schneesturm, welcher draußen in der Dunkelheit tobte, durch einen eigenen Schleier weißer Flocken hatte erblinden lassen. Ein helles Feuer tanzte auf den Holzscheiten im großen Kamin und verbreite Licht und Wärme. „Wollt Ihr zumindest nicht etwas Schmuck aufhängen?“ Die nahezu schon flehende Stimme einer Frau veranlasste den Krieger, sich herumzudrehen. Bei einer Sitzgruppe aus Polstermöbeln konnte er zwei Personen ausmachen. Eine davon – jene, die soeben gesprochen hatte – war eine junge Dienstmagd. Sie schob sich scheu eine braune Locke, welche sich unter ihrer Haube gelöst hatte, hinter ihr Ohr und fügte wesentlich sanfter hinzu: „Es ist schließlich Sternenfeuerfest.“ Ihr Gegenüber war ein Junge von vielleicht acht Jahren. Die Arme vor der Brust verschränkt hatte er sich in einem der Sessel niedergelassen. Das weiße Hemd aus feingewobener Wolle mit dem malvefarbenen Brokatwams darüber wiesen ihn eindeutig als Sohn eines Adligen aus und das schulterlange Haar, dessen einzelne Strähnen wie flüssiges Gold und schimmernder Onyx sein Gesicht umspielten, hatte er zu einem Zopf im Nacken zusammengefasst. Die blutroten Augen des Kindes zeigten grenzenlose Enttäuschung. „Das bin ich“, murmelte der Vierundzwanzigjährige und näherte sich seinem jüngeren Ebenbild ein wenig, bevor seine Rubine auf das Mädchen zurückfielen. „Können sie uns sehen?“ Ihr Haar tanzte wie Silberdunst um ihr Gesicht, während sie den Kopf schüttelte. „Sie sind Schatten deiner Erinnerung, wie dies alles hier. Sie können uns weder sehen noch hören. Wir sie aber sehr wohl.“ Albel blickte zurück auf den Jungen, der er vor sechzehn Jahren gewesen war und ihm war noch genau der Laut jener Worte im Gedächtnis, welche dieser auf die Bitte der Angestellten erwidern würde. „Nein. Es ist sowieso niemand da, der es sehen würde. Vater ist noch Wochen auf dieser dummen Mission und alle anderen Diener haben frei.“ Der Anführer der Schwarzen Briagde konnte beobachten, wie ein trauriges Lächeln sich auf die Züge der Magd legte. Es war das gleiche Lächeln, welches er erst vor wenigen Stunden auf dem Gesicht einer Person gesehen hatte, die er mit einer ähnlich harten Gegenrede abgewiesen hatte und er konnte nicht verhindern, dass jene schuldvollen Gefühle erneut nach seinem Herz griffen. Die junge Frau seufzte resigniert, nickte jedoch kurz darauf verständnisvoll. „Wie Ihr wünscht. Dann werde ich uns jetzt das Abendessen zubereiten.“ Mit diesen Worten zog sich die Angestellte des Hauses Nox zurück in die Küche. Der jüngste Spross des Adelsgeschlechts hingegen verweilte weiterhin in der großen Wohnstube, welche plötzlich erdrückend leer und vereinsamt wirkte. Er stieß die Luft mit einem frustrierten Laut zwischen den Lippen hervor, überschlug die Beine in der engen, schwarzen Hose und starrte hinaus in den tobenden Schneesturm. Niedergeschlagenheit hatte den wütenden Ausdruck auf seinem kindlichen Gesicht ersetzt. „Es ist grausam, dieses Fest allein verbringen zu müssen“, kommentierte der Geist der vergangenen Sternenfeuerfeste mitfühlend. „Warte...“ widersprach der Krieger. Ein wissendes Leuchten lag in den Rubinen und etwas umspielte seine Mundwinkel, das zu einem Lächeln werden mochte, sollte es jemals seine volle Stärke entfalten. Fast zeitgleich mit der Erwiderung des Vierundzwanzigjährigen erzitterte die hölzerne Tür des Zimmers unter einem kraftvollen Klopfen. „Ich will niemanden sehen!“ murrte der achtjährige Albel, worauf nach einem entrüsteten Auflachen eine Stimme hinter dem Portal erklang, die eine gealterte Reflektion seiner eigenen zu sein schien. „Du willst Apris den Einlass verwehren? Dann wird es dieses Jahr aber keine Geschenke geben.“ Die blutfarbenen Augen des Jungen waren weit vor Unglauben und augenblicklich gab er seine unbequeme Haltung auf, schob dabei hastig seinen schmalen Körper aus dem Sessel. Anschließend stürmte er zur Tür und riss sie auf. „Vater!“ rief er atemlos. Der damalige Anführer der Drachenbrigade hatte sich einen weißen Umhang über seine dunkle Rüstung geworfen und ihn mit einer sonnenförmigen Brosche festgeschnallt. Es war eines der dürftigsten Apris-Kostüme, die Albel jemals gesehen hatte... und gleichzeitig eines der besten. Die Maskerade fiel jedoch schnell und gab das liebende Familienoberhaupt dahinter preis, als Glou sich lächelnd niederkniete und den Achtjährigen in eine innige Umarmung schloss. „Hallo, mein Sohn... und ein frohes Sternenfeuerfest.“ Das jüngste Mitglied des Hauses Nox war immer noch sichtlich überwältig von diesem kleinen Wunder; seine kindliche Stimme sich mehrfach überschlagend und den unsteten wie fröhlichen Schlag seines Herzens reflektierend. „Wie kommst du hierher? Du warst doch auf einer Mission in Aquaria.“ Sein Vater legte die behandschuhten Fäuste auf die Schultern des Kindes und schob ihn ein wenig von sich. „Waffenstillstand“, erklärte das Familienoberhaupt simpel, wobei die Erleichterung deutlich in seinen Zügen lesbar war. „Während des Sternenfeuerfestes kämpft niemand gern.“ Dann blickte Glou ein wenig reumütig zu Boden. „Leider hatte ich nicht mehr die Zeit, Geschenke zu besorgen.“ Der Achtjährige schüttelte den Kopf und seine Mundwinkel kräuselten sich sanft. „Die brauche ich nicht. Ich habe das Beste schon längst...“ Warmherzig lächelnd zerzauste der damalige Anführer des Drachenbrigade seinem Sohn das Haar. Das gleiche, zufriedene Strahlen fand sich auch auf den Lippen des jungen Mannes und jegliche Kälte war aus dem einst so kühlem Rot gewichen, während er die Szene betrachtete. „Es brauchte nicht viel, um dich glücklich zu machen, nicht wahr?“ fragte der kindliche Geist. „Nein...“ gab Albel zu und wandte seinen Blick von den beiden Gestalten in der Tür ab. Unmittelbar darauf erlosch das sanfte Leuchten auf seinen Zügen und wurde von der üblichen Verbitterung überdeckt. „Aber ich war ein Kind. Diese Zeit ist lange vorbei“ Die beiden Amethyste des Mädchens fixierten den Schwertkämpfer. Das helle Violett war unleserlich und ihre glatte Stirn legte sich in Falten. Plötzlich grinste sie zufrieden. „Auf zum nächsten Fest!“ rief der Geist voller Tatendrang und ehe Albel reagieren konnte, hatte sie erneut sein Handgelenk umschlossen und zog den Elicoorianer durch die Zimmerwand neben ihnen. Die Sonne verwandelte die dichte Schneedecke auf den Stra0en Ariglyphs in ein Meer aus zahllosen, falschen Diamanten, welche der Wind gleich feinen Nebel aus glitzerndem Sternenstaub aufwirbelte. Dem Erscheinungsbild des jungen Albel Nox nach zu urteilen, der gerade wie ein Verbrecher durch die verschneiten Gassen schlich, mussten seit der letzten Erinnerung einige Jahre ins Land gezogen sein. Aus dem kleinen Kind war ein stattlicher Rekrut der Drachenbrigade geworden. Von den Augen des Jugendlichen ungesehen standen auf einem nahen Hausdach ein junges Mädchen und das ältere Ebenbild des Soldaten in Ausbildung. „Was tust du da?“ fragte der Geist der vergangenen Sternfeuerfeste. Zweifel hatten sich ob des seltsamen Verhaltens des Rekruten zu ihren Füßen in ihre hohe Stimme geschlichen. Albel grummelte etwas Unverständliches. Es war der Winter vor zehn Jahren gewesen. Natürlich wusste er noch um den Grund für die Heimlichtuerei seines jüngeren Spiegelbildes. Doch mittlerweile war er ihm... nun, nicht direkt peinlich. Er konnte nur einfach nicht glauben, zu einer solchen Sentimentalität fähig gewesen zu sein. Eine bekannte Männerstimme ersparte dem Krieger die Antwort, indem es die gleichen Worte an den Rekruten unter ihnen richtete, welcher ertappt zusammenzuckte. „Solltest du nicht in der Kaserne sein und trainieren?“ fuhr Glou in einem tadelnden Ton fort. Der Vierzehnjährige verschränkte die Arme vor der Brust und reckte herablassend das Kinn in die Höhe. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ In seinem Stolz hätte er nicht mit einer einzigen Silbe zugegeben, dass ihn Suche nach Geschenken für das Sternenfeuerfest seine Übungen hatte unterbrechen lassen, da ihm das harte Training schon mehrmals zuvor die Zeit dafür gestohlen hatte. „Sehr viel, wo ich das Oberhaupt der Brigade bin, dessen Führung du eines Tages übernehmen sollst“, erwiderte sein Vater. Ein fast schon diabolisches Grinsen ließ die Lippen des Jugendlichen nach oben wandern. „Sieh lieber zu, dass DU nicht außer Form gerätst, ALTER Mann“ rief Albel und er ging schnell in die Hocke, um mit einem raschen Griff einen Schneeball zu formen. Seinen Bewegungsablauf nicht unterbrechend, schleuderte er die kleine Kugel in die Richtung seines Vaters, an dessen Schulter sie in eine Wolke aus Eiskristallen zerstieb. „... sonst kommt dieser Tag früher als du denkst! Deine Reflexe waren auch schon einmal besser!“ höhnte er und konnte nur mit Mühe dem kalten Gegenangriff des älteren Mannes ausweichen. „Und deine noch niemals so schlecht!“ konterte Glou und bereitete seine nächste Attacke vor. „Wenn ich es mir recht überlege, könnte ich dich für diese Disziplinlosigkeit eigentlich von der Feier heute Abend ausschließen“, sprach der damalige Anführer der Drachenbrigade weiter und stand in aller Seelenruhe auf – sein Sohn würde nicht zurückschlagen. Die Kraft trat ob dieser Worte aus Albels Gesicht wie Wasser aus einem lecken Eimer. Keinen Augenblick später explodierte ein feuchter Schneeball auf den fassungslosen Zügen des Vierzehnjährigen. Glou lachte. „Seit wann glaubst du eigentlich alles, was man dir erzählt?“ Der junge Rekrut entgegnete nichts. Obwohl das leichte Grinsen den Ausdruck tödlicher Entschlossenheit in seinen blutroten Augen trübte, tauchte er herausfordernd beide Hände in das kühle Weiß. Das letzte Wort in diesem Kampf war noch nicht gesprochen. „Bist dieser undisziplinierte Kerl wirklich du?“ Der Geist blickte ungläubig an dem Vierundzwanzigjährigen herauf. „Du verstehst das nicht“, knurrte Albel. „Ich war...“ Er verstummte als er die Bedeutung der Worte realisierte, die kurz davor gewesen waren, über seine Lippen zu kommen. Er war glücklich gewesen. Hatte Erfüllung in diesen einfachen Dingen des Lebens gefunden, ohne nach ihr gesucht zu haben. Es war eine sorgenfreie Zeit gewesen. Nun jedoch... Sein Blick wanderte auf die eiserne Kralle, welche seine linke Hand ersetzte, und er ballte sie zusammen. ... was war von all dem noch geblieben? Befriedigte der Kampf ihn wirklich so sehr, wie er bisher immer geglaubt hatte, oder war er nicht viel mehr ein Mittel, jenen Schmerz zu betäuben, den dieses fürchterliche Ereignis vor neun Jahren in seine Seele geschlagen hatte. Albel spürte den fragenden Blick des Mädchens auf ihm ruhen und funkelte es finster an. „Vergiss es, Made.“ Die junge Dame legte die Hände auf ihrem Rücken zusammen und bog den Kopf ein wenig zur Seite – eine Bewegung, die man bei Kindern so oft sah, wenn sie etwas nicht vollkommen verstanden. Schweigen war die einzige Antwort, welche der Anführer der Schwarzen Brigade ihr gewährte. Daraufhin zuckte sie mit den Schultern. „Naja, egal. Ich will ohnehin viel lieber diese Feier sehen.“ Das bloße Aussprechen dieser Worte ließ die Umgebung verschwimmen und wie der Wind mit einem kräftigen Luftstoß gefallene Herbstblätter als bunten Sturm vor sich hertreibt, so veränderten sich auch die Farben ihrer schemenhaften Umwelt. Strahlendes Weiß wich warmen Braun und helles Sonnenlicht verwandelte sich in den rötlichen Schein mehrerer Petroleumlampen. Fröhliche Musik gewann an Lautstärke, je mehr sich die Konturen des Raumes festigten, und vermischte sich mit den ausgelassenen Stimmen und Gesängen feiernder Menschen. Der Vierundzwanzigjährige erkannte viele Gesichter der hier anwesenden, jungen Männer auf Anhieb wieder. Einst waren es seine Kameraden gewesen. Doch anstatt in glücklichen Erinnerungen an die vergangene Zeit zu schwelgen, begann Albels Herz zu rasen. Panisch hielt er Ausschau nach seinem Vater, welcher das vierzehnjährige Ebenbild des Elicoorianers soeben aus einer Gruppe gleichaltriger Krieger zu sich gewunken hatte. „Tu es nicht, du verdammter Idiot!“ brüllte der Schwertkämpfer – sein Schicksal als ungesehner Zuschauer ignorierend – und stürmte vorwärts.; direkt in die Richtung des damaligen Anführers der Drachenbrigade. „Schick ihn weg! Sag es ihm nicht!“ Er stand nun ummittelbar vor seinem Vater, den Albels verzweifelte Rufe jedoch in keiner Weise berührten. „Was ist, Vater?“ hörte der Vierundzwanzigjährige seine eigene Stimme hinter seinem Rücken fragen. Er biss sich gequält auf die Lippen und schüttelte den Kopf, als er das verschmitze Lächeln die Lippen seines Vaters umspielen sah. „Weißt du, Albel, dieses Jahr will ich dir ein ganz besonderes Geschenk machen...“ Mit der Gewissheit, das Unabwendbare nicht mehr verhindern zu können, schwenkten seine Rubine zurück auf das Geistermädchen. Er wollte das nicht hören. Nicht noch einmal. „Bring mich weg von hier.“ Unverständnis trübte den klaren Blick des Mädchens. „Aber warum denn?“ „Tu, was ich dir sage! Sofort!“ herrschte er den Geist an, doch es war zu spät. Glou sprach jene Worte... jene verhängnisvollen Worte bereits aus. „... ich denke, du bist so weit. Im Frühjahr wirst du am Ritual der Flammenwürde teilnehmen und deinen eigenen Flugdrachen bekommen.“ Albel stöhnte gepeinigt auf und vergrub das Gesicht in seinen ungleichen Händen. Die lebhafte Musik wurde von den unmenschlich schrillen Schreien seines Vaters übertönt, als Drachenfeuer dessen Muskeln und Knochen zu einer brodelnde Masse zerkocht hatte und Phantomschmerzen pochten im gefühllosen Metall seines linken Arms mit sengender Hitze. Er zitterte am ganzen Körper, während der Vierundzwanzigjährige das gebrochene Rot auf das Mädchen richtete. Die Stimme des jungen Mannes war ein schwaches Flehen. „Bring mich zurück.. bitte...“ Ihre blassvioletten Augen zeigten Kummer und stumm hob sie ihre Hand. Innerhalb von Sekundenbruchteilen schrumpfte der große Festsaal zusammen, Wände rückten näher, die Lichter verloschen und es war wieder eisige Nacht in Albels Kammer. Den Anführer der Schwarzen Brigade achtete nun nicht mehr auf den Geist. Ihm war alles egal, nichts mehr dieser Welt war mehr von Bedeutung. Er taumelte zu seiner Schlafstätte, ließ sich auf sein Bett fallen und zog sich die Decke über die Schultern. Er fror. Ihm war erbärmlich kalt. Er wollte nur noch schlafen. Vergessen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)