Digital Cyber Vision von Technomage (Digimon Cyberpunk AU) ================================================================================ Kapitel 2: downward spiral -------------------------- Es dauerte eine Weile bis TK sich wie mechanisch angetrieben begann zu bewegen, während seine Gedanken immer noch an Ort und Stelle festhingen. Der Weg durch die dunklen Korridore war nur ein schwaches Hintergrundrauschen. Zuerst kreisten seine Gedanken nur um die Frage, wo alles schief gelaufen war, doch bald verlor sich die sinnlose Überlegung in zwei Richtungen. Der eine Weg war eine verlassene, monochrome Gasse, fern von jeder Bedeutung und ohne Gefühl; der andere Weg dagegen eine überfüllte Straße und ein Schleier von Rot, eine schleichende Wut. Ohne wirkliche Konzentration folgte er den Abzweigungen zum Treffpunkt seiner Gruppe. Er kniete kurz vor den Magschlössern von zwei Türen, doch sie knackten sich praktisch wie von allein. Er rechnete nach, wie lang es her war, dass Kari das Runnerteam und vor allem ihn verlassen hatte, um zu ihrem Bruder und seinen Freunden zurückzukehren. Zwei Monate? Drei Monate? Seine wütende Benommenheit verglich das Mädchen, das sich damals von seinem Verhalten zutiefst verletzt von ihm abgewandt hatte, und die Person, die ihm vor wenigen Minuten gegenüber gestanden hatte. Er erkannte sie als dieselbe Person, doch kaum wieder. Waren wirklich nur drei Monate vergangen oder drei Jahre? War sie, wie er, immer noch 18 oder vorschnell auf die Altersstufe ihres Bruders herangewachsen? Er hörte das Trampeln von Stiefeln aus dem Quergang der nächsten Kreuzung kommen. Zwei? Drei? Drei. Er lehnte sich kniend gegen die Wand des Korridors und zog die Brille mit der Sichtverbindung über die Augen. Neben der Restlichtverstärkung leuchteten die Symbole der Smartgun-Verbindung auf, als er seine Ares Predator zielend auf Augenhöhe hob. Was hatte sein Bruder einmal über das Alter von Menschen aus den Sprawls gesagt, als sie noch miteinander sprachen? Das Leben in der Ebene unter Tokyos Kanälen lässt die meisten Menschen ihre Kindheit überspringen, weil sie so schnell wie möglich erwachsen werden müssen, um überleben zu können. Das Leben als Runner beschleunigt diesen so schon wahnwitzigen Prozess um ein Vielfaches. „Werde niemals Runner, Takeru“, hatte Matt damals gesagt, als er TK noch in die Augen sehen konnte, „bleib’ einfach mein kleiner Bruder.“ Wie die anderen Kinder aus ihrem Bezirk des Sprawls war auch TK uneinsichtig für das Wohlwollen seines großen Bruders gewesen. Die erste Gestalt trat um die Ecke. Konzernsicherheit. Sofort durchschlug eine Kugel seinen Oberschenkel und riss ihn von den Füßen. Die Defiance T-250 glitt ihm aus den Händen und rutschte über den Boden. Ruhig wartete TK auf das nächste Ziel. Kari war mit Abstand das Unschuldigste, was er in den Sprawls je gesehen hatte. Niemand wuchs in der Unterstadt ohne Himmel auf und blieb unberührt – besser gesagt ungeschädigt – von der Verzweiflung und dem Überlebenskampf, doch von allen Menschen aus seiner Kindheit konnte TK sie am ehesten mit der Bedeutung „Kind“ in Verbindung bringen. Dieser Meinung war nicht nur er, sondern fast jeder Mensch, der sie schon einmal getroffen hatte. Besonders ihr älterer Bruder Tai und seine Freunde hatten diese verhältnismäßige Reinheit stets bewahrt wie eine seltene Blume. „Ihr Körper schimmerte durch ihre schäbige Kleidung wie die Lilie, da wo sie steht unter schwarzen Dornen, weiß“, hörte er in seiner Erinnerung Sora aus einem ihrer alten Texte rezitieren, als er einmal vor Jahren mit ihr, Matt und Tai über Kari gesprochen hatte. Der zweite Wachmann leistete sich den unvorsichtigen Fehler ebenfalls in den Gang hinauszutreten und mit seiner Pistole in die Richtung zu feuern, in der er den Angreifer vermutete. TK traf ihn zuerst an der Hand und dann ebenfalls ins Bein, während die für ihn bestimmten Kugeln weit über ihn hinweg durch die Mitte des Korridors jagten. „Pass’ gut auf sie auf“, hatte Tai nur gesagt und ihm mit einem ermutigenden Grinsen auf die Schulter geklopft. TK schluckte schwer und die Erinnerungen blieben ihm im Hals stecken. Irgendwo entlang des Weges, den sie zusammen gegangen waren, musste er aufgehört haben sie zu beschützen. Der letzte Wachmann verhielt sich professioneller und ließ sich auch von den beiden Verletzten, die sich ächzend und fluchend auf dem Boden wälzten, nicht aus der Deckung locken. Es würde nicht lange dauern, bis die beiden sich vom ersten Schock der Treffer erholen würden, deshalb kroch TK an der Wand entlang auf die Ecke zu. Nachdem er die Pistole zu Boden gelegt hatte, griff er mit seiner noch gesunden, linken Hand in den hinteren Teil seines Waffengürtels und holte ein Objekt von der Größe einer Zigarettenschachtel heraus. Er schaltete den Sichtmodus der Brille von Restlichverstärkung auf Blitzkompensation und für einen Moment wurde es wieder stockfinster. Dann warf er mit derselben Bewegung das kleine Gerät in einem flachen Bogen mitten in den Gang und nahm seine Ares Predator wieder auf. Das Objekt schlitterte eine Sekunde über den Boden, bis plötzlich alles in grelles Licht getaucht wurde. Sich um die Ecke neigend versuchte TK nicht in die Flash-Pack-Granate zu schauen, die selbst durch seine verbesserte Sicht den Korridor in oszillierendem Blitzgewitter tanzen ließ wie eine hyperaktive Rave-Party. Der Junge hatte alle Zeit der Welt, um auf den geblendeten Wachmann zu schießen, doch lag dieser bereits mit einer Kugel im Knie am Boden, ehe die zweite Ladung der Blendgranate verbraucht war. Er deaktivierte das Gerät, während er es aufhob und schob es sich wieder in den Gürtel, um dann kostenlose Bewusstlosigkeit in Form von Tranq-Patches an das Sicherheitsteam zu verschenken. Es war nicht mehr weit bis zum Treffpunkt und er musste sich beeilen, um nicht zu überfällig zu sein. Davis würde sich sicher zu gerne den Spaß machen ihn hier zu lassen, weil er das Zeitfenster überschritten hatte. In seinen Gedanken tobten weiter die Erinnerungen umher wie eine Katze mit einem Wollknäuel, doch mit einem Mal löste aus dem Geflecht der Sprawlkindheit, der Selbstanschuldigungen und des tauben Pochens von Wut ein neuer, unbemerkter Faden heraus. Wie eine zügelnde Schlange wickelte sich der Faden aus dem fehlenden Gefühl in seiner rechten Hand den Arm hinauf und durchflutete seinen Körper wie ein zweiter Blutkreislauf. Ich bin nicht der Einzige, der Fehler gemacht hat. Wenn du mich verletzen willst, dann kann ich dir gerne dabei helfen. Wenn du mich verletzen kannst, dann kann ich das vermutlich auch. Als TK die Beifahrertür des Einsatzvans aufriss, verstummte die gerade tobende Diskussion so abrupt als hätte man den Mute-Knopf einer Fernbedienung gedrückt. Yolei erlangte als erste ihre Fassung wieder. „Ich hatte ja gesagt, dass er kommt“, verkündete sie von der Rückbank, während TK sich in den Sitz warf und die Tür hinter sich zuzog. „Ich meinte ja nur, länger zu warten wäre ein Sicherheitsrisiko gewesen.“, murmelte Davis beleidigt vom Fahrersitz aus. Der Ki-Adept würdigte TK wie so oft keines Blickes. Seine Cyberaugen, deren Form an eine Fliegerbrille erinnerten, fixierten nur die Straße vor der Windschutzscheibe, obwohl er den Wagen noch nicht angelassen hatte. Es trat Stille ein, die entweder daraus resultierte, dass die vier Anwesenden versuchten ihr Bild Daisuke Motomiyas, ihres furchtlosen Anführers, mit der Sorge um Sicherheitsrisiken in Einklang zu bringen, oder aber aus der Erwartung auf TKs Erklärung für sein verspätetes Erscheinen. Es blieb ruhig. Der blonde Runner seufzte. „Davis, solltest du nicht losfahren, bevor die Sicherheit uns endgültig bemerkt und den Ebenenlift nach Unten abriegelt.“, warf er kaum als Frage in den Raum, um sich dann freundlicher und tatsächlich fragend nach Hinten zu wenden, „Cody, kannst du mir ein Medkit geben?“ Der etwas zu kurz geratene Junge hinter ihm – zu klein und vor allem zu jung für den Job, wie TK meinte – verzog die Miene zu einem schwachen Lächeln. „Gern.“ „Captain Daisuke Motomiya für dich“, meldete sich Davis lautstark zu Wort, „solange du in meinem Flamedramon Bulldog Step-Van mir Vorschläge machst.“ TK hatte ein Déjà vu, das gleichzeitig Kopfschmerzen anzukündigen schien. Immerhin gesellte sich etwas Kontrastprogramm zum tauben Gefühl in seiner Hand. Als könne sie seine Gedanken lesen, gab Yolei einen erschrockenen, hohen Ton von sich. „TK“, sie schien schon durch seinen Namen ihre ganze Luft verbraucht zu haben und atmete hörbar ein, „was ist mit deiner Hand passiert?“ Wie eine stille Erläuterung hob er die Rechte hoch, sodass jeder im Innenraum sie sehen konnte, wo sie wie auf Befehl zurückklappte. Cody schien zu zittern, doch wandte er seinen starren Blick nicht ab, während Yoleis Augen von Sekunde zu Sekunde bestürzter die Hand fixierten. Davis und TK sahen sich nur mit routinierter Ausdruckslosigkeit an. „Durchtrennte Sehnen“, kommentierte der Teamleiter und ließ den Motor an. „Ich bin Kari begegnet“, antwortete TK im gleichen Tonfall, während sich auf der Rückbank zwei Augenpaare weiteten. „Die Bioware, um das anständig wieder herzustellen, wird teuer, Chummer; und wir sollten uns beeilen.“ Er lenkte den Wagen durch die Konzerntiefgarage. „Ich schätze damit haben wir wohl Gleichstand, was es Hikari betrifft.“ TK wollte etwas sagen, doch noch bevor er detaillierte Anschuldigungen und griffige Beleidigungen zusammen hatte, kam Yolei ihm zuvor. Er zog seinen Handschuh aus und begann die tiefe, aber hauchdünne Wunde mit den unzureichenden Inhalten des Medkits zu behandeln, so gut er konnte. Das Hintergrundrauschen der Diskussion zwischen dem Fahrer und der Straßensamurai flimmerte noch eine Weile, ebbte dann aber ohne eine nennenswerte Erkenntnis in kleinere Sticheleien ab. Der massive Van näherte sich dem Ebenenlift, der bis hinab in die Unterstadt reichte. „Ich denke, ich will mir gerade kein Hightech leisten, Chummer. Fahr’ direkt in die Schatten und setz’ mich auf dem Weg beim Doc ab.“ Dieses Mal sah selbst Davis ihn entgeistert an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)