Verrottet und hässlich von Sitamun ================================================================================ Prolog: Anfang und Ende ----------------------- Ein besonderes Leben, neu gegeben von den Händen, die aus dem Dunkeln kommen, kein Körper zu entdecken, ist außergewöhnlich und es zu besitzen, zu beherrschen, zeugt von großer Kraft, die nicht jedem innewohnt. Ohne Herz ist es ungewöhnlich, aber mit dem neuem Leben ward nicht der Verstand genommen und der Gebrauch der Logik ist jedem gestattet, der etwas auf sie baut. Am Ende stehen nur noch die Fragen offen, die man sich nicht stellte und auf die man deshalb auch keine Antwort suchen konnte. Wissen hat keine Grenzen und jene, die eine neue Chance bekamen, haben unbegrenzt Zeit. Ein unvollständiges, neues Leben altert nicht. Grenzenlos. Nicht jeder ist sich dessen bewusst, weiß überhaupt, dass er die Möglichkeit dazu hat. Und nie kann es passieren, dass er das Gefühl bekommt, die Welt wäre falsch, denn ohne Herz fühlt er nichts. Deswegen verdienen all jene mit jenem neuen Leben jemanden, der sie führt, der sie aufklärt, damit ihnen ihre unglaubliche Macht bewusst wird. Damit sie wissen, dass sie von keinen Grenzen aufgehalten werden können. Damit sie wissen, dass sie alles wissen können was sie wollen. Das ist unser Grundgedanke. Das sagte ich ihnen. Ganz zu Anfang. Immer noch. Mittlerweile ist einige Zeit verstrichen und wir konnten diesen Kern unserer Arbeit schriftlich festhalten, wie eine ganze Menge anderer Resultate unserer Forschung, damit wir uns jedes Mal, immer und immer wieder, daran erinnern können, warum wir das tun. Sammeln. Nicht aber irgendetwas, das selten ist, nur uns gehören darf. Wir begehren nach etwas anderem, etwas, das viel häufiger vertreten ist. Aber vielleicht tun wir dies auch nur aus reiner Neugier. Unser törichter Meister hatte uns darauf gebracht. Uns auf diesem Weg, der ins dunkle Nichts führt, die Lampe hochgehalten, auf dass wir nicht stolpern. Doch dann brach er, dieser feige Mann, seinen Weg ab, kehrte um und nahm die Lampe mit. Sah sich nicht einmal nach uns um, ob wir ihn folgten. Sah es für selbstverständlich an. Wir folgten ihm nicht. Wir blieben im Finstern. Und mit der Zeit merkten wir, dass wir keine Lampe brauchten, um etwas zu sehen. Aber der Meister merkte, dass wir ihm nicht folgten. Doch er kam nicht zurück, rief nur unsere Namen und wie hätten wir ihn aus der Entfernung hören sollen? Seine Stimme war nichts weiter als ein kleines, schwaches Echo, das bereits so undeutlich war, dass selbst die besten Ohren es nicht mehr hätten verstehen können. Und trotzdem erwartete er, dass wir auf ihn hörten. Keiner tat es. Er war enttäuscht von uns, aber es kümmerte niemanden mehr. Pläne, ihn verstummen zu lassen, erweckten zum Leben, doch einen wirklichen Grund, sie umzusetzen, hatten wir nicht. Er war alles andere als eine Bedrohung für uns. Wir hatten die Macht. Nicht er. Er verstand dies nicht. Und wir taten, was wir wollten. Vollendeten die Forschung, die er begonnen hatte, und benutzten sie für eigene Zwecke. Und der Zweck beheiligte die Mittel – war es nicht so? Wir bekamen, was wir wollten. Mehr sogar, als wir jemals zu erhoffen gewagt hatten. Und bald, sehr bald, würden wir, die wir so gnädig sind und anderen Hilfe anbieten, die wir selbst nicht hatten, genug an der Zahl sein, um nicht mehr nur die Hand nach unserem Ziel auszustrecken, sondern es auch zu erreichen. Welch Triumph … Kapitel 1: Das Ende der Straße ------------------------------ Ansem der Weise; Radiant Garden Langsam steigt die strahlende Sonne den Himmel hinauf, lässt ihre wärmenden Strahlen über die Erde gleiten, erweckt die Pflanzen zum Leben und küsst die Blüten in den schönsten Farben wach. Liebevoll. Alles glänzt und leuchtet. Und selbst das Schloss der bösen Hexe scheint in dem Licht der aufgehenden Sonne nicht mehr ganz so grauenhaft und schrecklich, wirkt zauberhaft auf eine ganz groteske Weise. Seufzend wende ich mich von dem Fenster ab. Ich könnte mich an diesem Bild nie satt sehen, jeden Morgen aufs Neue und wenn im Winter und im Herbst die Blüten welken, dann bricht es mir fast das Herz dieses triste und graue Bild zu sehen. Könnte unzählige Tränen weinen. Doch nicht nur die Jahreszeiten bedrohen meinen strahlenden Garten. Irgendwo da draußen gibt es garantiert irgendjemanden, der meinen Garten verwüsten will, auf dass nie wieder eine Blüte in ihm wachsen wird. Der Gedanke ist erschreckend, gar schon todbringend. Verfolgt mich bis in meine schlimmsten Träume, wiederholen sich immer und immer wieder. Es war aber nicht immer so. Irgendwann hatte ich diese Albträume noch nicht. Wann weiß ich nicht mehr – die Zeit, seit dem ich sie habe, scheint zu grausam, viel zu grausam, als dass ich wirklich noch daran glauben könnte, dass es diese eine sorgenfreie Zeit wirklich gegeben hat. Dass sie nicht mehr als eine Erinnerung ist, mehr als eine, die ich mir nur einbildete, um mir ein wenig Hoffnung zu schenken, die ich nicht mehr bekam. Es begann, als ich zum ersten Mal diese schwarzen kleinen Wesen sah. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie waren keine verkleideten Kinder, die sich gegenseitig spielerisch Angst einjagen wollten. Es waren auch keine Tiere, denn solche Tiere gab es nicht. Nirgendwo in meinem strahlenden Garten. Die Forschung, die meine Kollegen in dem tierischen Bereich betrieben, hatte nie ein solches Tier entdeckt und es war unmöglich, dass eine neue Tierart einfach aus dem Nichts entstehen könnte. Es müsste eine lange Evolutionsgeschichte durchlaufen, und die Vorstufen hätte man sicherlich entdeckt, vorsichtig erforscht ohne ihm zu schaden und dann wieder freigelassen, es beobachtet und sicherlich noch eine Menge anderer Sachen mit ihm gemacht. Ich bin auf dem Gebiet der Biologie nicht sehr weit bewandert, zumindest nicht was die betrifft, die sich nicht auf Menschen bezieht. Die menschliche Anatomie kenne ich bestens, und auch was den psychologischen Zustand eines Menschen betrifft, besaß ich außergewöhnliche Kenntnisse. Und deswegen verwunderte es mich mehr als ich je gedacht hatte. Anfangs war ich wirklich nur ein wenig verwundert. Beim ersten „Kontakt“ mit diesen Wesen war es dämmrig und ich konnte nichts genau erkennen. Doch beim zweiten Mal war hellster Tag und dieses Wesen war komplett schwarz, finster wie die Nacht. Außer mir schien es noch keiner gesehen zu haben. Bei meinen Gesprächen mit anderen Gelehrten versuchte ich das Thema dieser neuen Art vorsichtig mit einzubringen, machte leichte Andeutungen, die sie, wäre es ein andere Fragestellung, normalerweise sofort aufgegriffen und vermutlich bis spät in die Nacht diskutiert hätten. Doch das geschah nicht. Sie verstanden nicht, was ich sagen wollte, und sprachen über irgendetwas anderes, belangloses. Und da sie es nicht merkten, versuchte ich, es zu vergessen, nicht weiter darüber nachzudenken. Bis jetzt erblühten meine Blumen jeden Morgen neu und auch wenn mich die Sorge jeden Morgen neu zerfraß, der Grund, sie nicht zu vergessen, wurde mit jedem Blick aus dem Fenster schwächer. Und ich vergaß. Erst, als Kinder verschwanden, die, die meinen Garten dieses unschuldige, strahlende Licht verliehen, fielen sie mir wieder ein und mich ließ der Gedanke nicht los, dass sie damit etwas zu tun hatten. Auch wenn ich nicht wusste, was. Ich verfolgte sie, nicht wissend, in welche Gefahr ich mich begab und studierte ihr Verhalten. Bisher jedoch hatte ich nur den Eindruck, dass sie rein instinktiv handelten, eher primitiv als klug. Und heute, an diesem strahlenden Tag, würde ich mich wieder auf die Suche nach ihnen begeben, würde versuchen, sie zu verstehen und ihnen die Schuld an dem Verschwinden der Kinder nachweisen zu können. Ich verstehe noch nicht, wie sie das hätten tun können in ihrer notdürftigen Denkweise, aber das würde ich noch. Da bin ich mir sicher. Seufzend verlasse ich mein Haus, mein Labor, und gehe durch die Stadt, mit keinem festen Zielort, aber dennoch die Augen wachsam auf jede dunkle Ecke gerichtet, auf jeden dunklen Schatten, der sich bewegte, obwohl er nicht durfte. Stunden vergehen. Doch heute scheint nicht ein Tag gekrönt von Erfolg zu sein. Kein Schatten, der sich bewegt, wenn sein Medium es nicht auch tut. Keine Ecke, die besonders verdächtig aussieht. Nichts. Alles ist so, wie ich es mir von meinem strahlenden Garten wünschte. Doch es macht mich nicht glücklich. Zu wissen, dass sie da sind, wer oder was auch immer sie sind, reicht aus, um jegliches Glück aus meinem Herzen zu nehmen. Mit einem von Trauer erfüllten Blick sehe ich auf das Ende der Straße, welche aus der Stadt hinausführt. Dort geht es nicht weiter. Das Ende unserer Welt und niemand geht dort hin, freiwillig. Alte Erzählungen sind Beweis und Grund genug, sich von ihr fernzuhalten. Niemand lebt hier. Niemand kommt hierher. Die letzten Häuser hier stehen bereits seit sehr vielen Jahren verlassen. Sie sind halb zerfallen, und solche, die noch bewohnt sind, stehen mehrere Kilometer von hier entfernt. Nur Menschen, die in ihrer fast schon vollkommenen Jugend ihre rebellischen Gedanken nicht loswerden können, leben dort. Ihnen wohnt noch der Mut inne, der uns älteren und auch den jungen fehlt. Damals, vor vielen, vielen Jahren, als ich noch selbst zu ihnen zählen konnte, da habe ich auch hier ganz in der Nähe gewohnt. Heute jedoch wohne ich weit weg von hier, in der Mitte meines Gartens. Das Ende der Straße ist dunkel, obwohl es erst später Nachmittag ist. Bäume und Felsen versperren zum Teil die Sicht auf das, was keiner sehen will. Vielleicht sind sie dort, die, die ich suche, aber das nützt mir reichlich wenig. Selbst wenn sie dort wären, ich ginge nicht dorthin. Ich mag viele wagemutige Schritte in meiner Vergangenheit getan haben, manche von ihnen sind nicht ganz so lange her wie andere, aber diesen Schritt würde ich sicherlich nicht wagen. Von hier sehe ich nichts und dabei werde ich auch belassen. Und niemals würde ich von irgendeinem Bewohner meines strahlenden Gartens, der morgens frohen Mutes aufwacht, glücklich darüber, dasselbe am nächsten Morgen wieder tun zu können, verlangen, sich dort hinzubegeben, sie vielleicht sogar zu sehen, aber nicht wiederzukehren. Nie. Ich gebe auf für heute. In meinem Labor habe ich sicherlich noch Arbeit zu einem anderen Thema, das mich ablenken kann, mich beschäftigt, mir vielleicht eine Antwort gibt, auch wenn es nicht die ist, nach der ich mich sehne. Plötzliche Geräusche, die ich erst für ein Hirngespinst hielt, lassen mich in meiner Bewegung innehalten. Mich wieder umdrehen und nach ihrer Quelle suchen. Ich hätte niemals gedacht, hier irgendjemanden zu treffen geschweige denn etwas zu hören. Niemand ist hier. Selbst die Vögel lassen sich nicht auf den Bäumen nieder und selbst wenn man versucht, noch so genau hinzuhören, auch der Wind pfeift hier nicht. Nichts. Doch dieses Geräusch … Mittlerweile wirkt es für mich unwirklich, nichts weiter als erfunden und meine Augen, vermutlich schon etwas schwach von meinem Alter, sehen nicht in der Ferne außer dem, was sie gerade schon sahen. Keine Bewegung. Aber das Geräusch wiederholt sich. Vielleicht doch ein Tier? Aber welches? Es klingt, als würde es Schmerzen empfinden. Ein leises Stöhnen, das dem Mund eher zufällig entrann, weil es doch schweigen wollte. Die Stimme ist hoch – ein Kind womöglich? Dann wieder eines. So, als wäre jemand hingefallen, auf harten Stein. Groben Kies vielleicht. Der leise raschelt, als sie sich wieder aufzurichten versucht. Vermutlich. Ich weiß es nicht. Aber der Gedanke, und sei es auch noch so ein absurder, dass es ein Kind ist, das dort gefangen ist, nicht weiß wohin in all dem Dunkel, trägt mich zum Ende der Straße, das ich nie erreichen wollte. Meine Schritte werden schneller als sich die Geräusche wiederholen, lauter werden, und damit meine Vermutung, es handle sich um ein Kind, immer weiter bestärken. Möglicherweise ist es eines der Kinder, die verschwanden? Aber warum sollten sie hierher gehen, zu diesem grauenhaften Ort? Das Tageslicht schwindet mit jedem Schritt mehr und dennoch kann ich noch klar erkennen, wohin mich meine Schritte tragen, und – ja, tatsächlich – ein Kind liegt dort vorne auf dem Boden, versucht sich aufzuraffen, schreit mittlerweile und Tränen rinnen unaufhaltsam über seine Wangen. Seine Beine sind von Finsternis verschlungen und es strampelt mit ihnen, versucht sich freizukämpfen, aber keiner seiner Versuche ist erfolgreich. Er kneift seine Augen zusammen, als würde alles verschwinden, wenn er es nicht mehr sieht. Ich denke nicht nach, als ich mich neben seinen Körper knie, mit meinen Händen seine Waden festhalte, die ich durch das Dunkel ertastet hatte und sie aus den Klauen des Dunkeln hinauszieht. Panisch greift der Junge nach mir, versucht auch mich loszuwerden, aber mit einer Kraft, die ich selten zuvor verspürt habe, halte ich sein Handgelenk fest. Ich ziehe ihn auf seine Beine, endlich befreit, und lasse ihn nicht mehr los, während ich mit ihm das Ende der Straße wieder verlasse, erst stehen bleibe, als wir die Straße verlassen. Erst jetzt mustere ich ihn genau, sehe ihn an. Ich kenne ihn nicht, aber seine Haut ist geziert von fürchterlichen Wunden, von denen einige älter aussehen und nur wenige von ihnen sind aufgebrochen. Doch all das Blut, das fließt, lässt alles sehr viel schlimmer aussehen. Langsam und erschöpft und von der Kraft verlassen, die mich gerade noch durchfuhr, gehe ich vor ihm in die Knie; sein Gesicht ist so nur etwas über dem meinen. Vorsichtig streiche ich ihm die Tränen aus dem Gesicht, fahre mit der Hand durch seine Haare, ein erstaunliches Weiß. Verstrubbelt hängen sie ihm über die Schultern. Ich glaube, er hatte kein zu Hause. Und so dünn wie er ist, wagte er sich selten in die Stadt um Essen zu stibitzen. „Sag, mein Junge, wie heißt du?“ „Xe-xehan-nort …“ Er stottert und schnieft zwischendurch, seine Stimme ist rau und er klingt ein wenig heiser. Verständnisvoll lächelnd nehme ich den Umhang von meinen Schultern und lege ihn über die seinen. Seine Klamotten sind zerrissen, doch so werden sie gut verdeckt. Die frische Abendbrise, die aufzieht, scheint ihn nicht mehr zu stören. „Also, gut, Xehanort. Du kommst am besten mit mir nach Hause. Dort gebe ich dir etwas Vernünftiges zu essen und ein warmes Bad und ein weiches Bett werden dir sicherlich auch gut tun.“ Der Junge nickt und folgt mir. Er wirkt immer noch verängstigt und geht nahe bei mir. Es wundert mich nicht. Vielleicht habe ich heute meine Forschung nicht weiterführen können, aber erfolgreich ist dieser Tag auf jeden Fall gewesen. Kapitel 2: Fast alle -------------------- Braig; Radiant Garden Das Kind, das der Meister mitbrachte, wirkt verwahrlost, ausgehungert und – auch, wenn es hart klingt – erbärmlich. Die mageren Arme schaffen es kaum, den schweren Mantel des Meisters selbst von den eigenen Schultern zu nehmen und ich wundere mich, wie es so lange da draußen überleben konnte. Es sei denn natürlich, es wäre er vor kurzer Zeit zu einem obdachlosen Kind geworden, dann würde es nicht weiter verwunderlich sein. Der Junge sieht mich, ständig kurze Blicke, die von mir unentdeckt bleiben sollen, aber er schweigt, spricht kein einziges Wort mit mir, aber es stört mich auch nicht. Im Gegensatz zu ihm hat mich der Meister nicht aufgenommen – meine Eltern schickten mich zu ihm, damit ich bei ihm lernte und nicht in der öffentlichen Schule. Sie hatten wohl schlummerndes Potenzial in mir entdeckt und wollten es von ihm wecken lassen. Ich lernte zwar, bisher allerdings schien von diesem Potenzial nichts durchzuschimmern. Zumindest was den normalen Unterricht betraf. Was die Forschungen des Meisters anbelangt … das ist ein komplett anderes Thema. Auf jeden Fall … seit jenem Tag lebe ich bei dem Meister und kurze Zeit, nachdem er mich aufnahm, kam ein zweiter Schüler dazu – Dilan. Wir sind gute Freunde. Aber er ist im Moment nicht da, draußen. Immerhin sind wir auch noch Kinder. Meister Ansem hatte diesen Jungen vorhin Xehanort genannt – ist dies sein Name? Oder spricht er nicht und der Meister hatte sich den Namen ausgedacht? Ich weiß es nicht, und als der Meister wieder zurückkommt, in seinen Händen ein Tablett mit zwei Tellern, gefüllt mit Suppe, frage ich ihn. „Warum fragst du ihn das nicht selbst?“, antwortet er mit milder Stimme und stellt einen Teller vor ihn und den zweiten vor mich, gibt uns Löffel dazu und wünscht uns einen guten Appetit, während er sich selbst auf einen anderen Stuhl am Tisch setzt. „Er sieht nicht sehr gesprächig aus“, sage ich knapp und fange an zu essen. „Ich habe ihn am Ende der Straße entdeckt. Du hättest dich von dem Schock sicherlich auch noch nicht erholt.“ „Am Ende der Straße? Wow, Junge – da traut sich niemand hin!“ Voller Begeisterung wende ich mich mitten in meiner Aussage von meinem Meister ab und dem Neuling zu, der seinen Blick jedoch beschämt gesenkt hält. So wie es aussieht, scheint er nicht freiwillig dort gewesen zu sein, aber es interessiert mich auch nicht. Wer am Ende der Straße war und von dort lebendig wieder zurückkam, der musste was auf dem Kasten haben, egal, ob er nun spricht oder nicht oder immer noch schrecklich schockiert war. Sicherlich. Der Meister hat Recht. Wenn ich dort gewesen wäre, würde ich mich garantiert tagelang nicht mehr aus meinem warmen, weichen, kuscheligen Bett trauen, in dem die einzige Gefahr darin bestand, von meinen Kissen erschlagen zu werden. Aber trotzdem … „Berechtigt …“ Es ist nur ein kleines Wort, das er murmelt, sehr leise. Hätte er seinen Löffel nicht gerade in der Suppe gehabt, hätte ich gedacht, er hätte nichts gesagt, nur den Mund aufgemacht, um weiter zu essen, aber so sehe ich sofort, dass er sprach. Mit einem triumphierenden Lächeln sehe ich zu meinem Meister und er erwidert es. Even; Radiant Garden, Jahre später Damals, als Xehanort zu ihm kam, erstrahlte der Meister geradezu zu neuem Leben und ungeahnten Kräften. Seine Augen leuchteten wieder diese unglaubliche Autorität aus, die der einzige Grund war, warum ich mich ausgerechnet diesem Lehrer anschloss. Die anderen, die schon länger hier sind als ich, erzählten mir davon. Ich traf sie vor zwei, drei Jahren rein zufällig auf der Straße; sie suchten nach etwas, sagten mir aber nicht was, als ich sie fragte. Ich sah sie immer öfter und immer mehr wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich ihnen bei ihrer Suche helfen konnte. Also ging ich mit ihnen, nicht wissend, wonach sie suchten. War einfach nur bei ihnen und unterhielt mich mit ihnen über Ansem, den Weisen. Ihrem Meister und Lehrer. Sie erzählten mir eine Menge interessante Sachen, die er lehrte, in der gewöhnlichen Schule aber komplett ausgelassen wurden. Und jetzt, da ich sie von ihnen erfuhr, fragte ich mich, wie man ohne sie überhaupt auskommen konnte. Damals war ich zarte 15 Jahre jung und damit immer noch mindestens zwei Jahre jünger als die anderen beiden. Braig wirkte für mich weit über die 20, aber irgendwie konnte ich das nicht glauben. Aber ihm und Dilan habe ich es zu verdanken, dass sie mich Ansem, dem Weisen, nun unseren Meister, vorstellten und er mich bei sich aufnahm um mich zu lehren und zu unterrichten. Ich war ein gelehriger Schüler, bin es immer noch. Und solche um mich zu haben, mit denen ich darüber reden kann, mir Fragen stellen kann, und sie mein wissenschaftliches Interesse verstehen, ist ein reinster Hochgenuss. Dennoch … zu Anfang war ich ein wenig schockiert, weil sie alle so eigenartig sind … Braig – der, der heimlich, still und leise kleine Wurfgeschosse baute und das, obwohl er bereits so alt aussieht. Dilan schien meiner Meinung nach irgendwelche kleine Pillen zu schlucken, die ihm mehr Energie gaben, als je ein Mensch verkraften könnte. Aeleus war der seltsamste von allen. Er sprach kaum, nur sehr selten und wenn man mal seine Stimme hörte, sollte man sich das Datum in den Kalender eintragen und deutlich markieren. Aber ihn kannte ich bereits von vorher und wir waren gute Freunde gewesen, weswegen mich seine Art nicht wirklich verwunderte. Es war eine sehr seltsame Freundschaft, die jetzt wieder auflebte. Und Xehanort … das, was ihn so besonders wirken ließ, war wohl, dass er so normal schien. Braig hatte mir erzählt, dass er am Ende der Straße gewesen sei und diesen Ausflug überlebt hatte, dafür aber keine seiner Erinnerung behalten habe. Seine Erinnerung beginnt an dem Tag, als der Meister ihn rettete. Vor was auch immer. Niemand weiß das. Außer der Meister. Und vielleicht auch Xehanort. Wer weiß. Aber ich frage mich, wie es überhaupt dazu kam, dass der Meister ihn retten musste. Was Xehanort dort zu suchen hatte, bleibt auf ewig ungeklärt, aber der Meister ist bei bestem Verstand. Es gibt nichts, was ihn irgendwie verwirrt hätte. Das sagten die anderen. Und man sieht es außerdem sehr deutlich. Also warum war er dort? Warum war er dort, um ihn dann retten zu können, wenn auch eher zufällig? Hat der Meister auch nach gesucht, nach was auch immer? „Hey … Dilan … was habt ihr damals gesucht?“ „Du meinst, als wir uns kennen gelernt haben?“ „Ja.“ „Keine Ahnung … wir wollten herausfinden, warum unser Meister ausgerechnet an dem Tag, an dem er Xe-kun rettete, am Ende der Straße war.“ Schon lustig. Jeden Namen spricht er vollkommen aus. Er hasst es, wenn andere Leute sich irgendwelche Spitznamen geben oder geben lassen. Er kann nicht einmal die Suffixe ausstehen, die fast jeder benutzt außer ihm. Doch Xehanorts Namen, den verkürzt er immer und verstößt dabei gleich gegen zwei seiner Prinzipien. Der Name ist ihm wohl zu lang, zu unaussprechlich. Wer weiß. Wie gesagt. Auf eine seltsame Weise lustig. „Was habt ihr gefunden?“ „Nichts – was hast du denn erwartet? Wir hatten keinerlei Anhaltspunkte und die einzigen Informationen, die wir hatten, waren ein wenig … unzuverlässig …“ „Hat Braig gelauscht, während der Meister seine Selbstgespräche führte?“ „Mh.“ „Na, dann wundert es mich nicht wirklich.“ „Wieso fragst du?“ „Weil ich es wissen will, darum.“ Wir beide sind gerade in dem Schlafzimmer, dass wir vier Jungs uns allesamt miteinander teilen. Wir haben keine Probleme damit. Verstehen uns bestens. Reden über alles. Nur Dilan und ich sind hier. Xehanort und Aeleus sind beim Meister, Braig lauscht entweder ihnen oder uns. „Weißt du, wo der Meister seine Notizen aufbewahrt?“ „Forschungslabor drei, vierter Schrank auf der rechten Seite, linke Seite, erste Schublade von unten.“ In Gedanken folge ich dem Weg, den er mir beschrieb … aber das … meine ich nicht … „Ich meine nicht die Notizen der allgemeinen Lehren, sondern die seiner besonderen. Die der Lehren, die ihm zu diesem außerordentlichen Lehrer machen.“ „Was meinst du?“ Braig kommt rein, auf seinem Gesicht ein verstehendes Lächeln, auf Dilans hingegen jedoch nur ein verwirrter Ausdruck. Erwartungsvoll sehe ich zu ihm. „Selbes Labor, zweiter Schrank auf der linken Seite. Da dürftest du das finden, was du wissen willst.“ „Wenn du weißt, wo es ist, dann müsstest ihr doch wissen, was ihr damals gesucht hab.“ „Ja … sollten wir … vielleicht … aber bisher … nun, wie soll ich sagen? Meister Ansem hat sie ein wenig … verschlüsselt …“ „Heißt was?“ „Zu viel Mathe.“ „Was?“ Er zuckt nur mit den Schultern, setzt sich auf sein Bett und greift zu einem Buch, liest. Ein Blick auf den Rücken desselben und ich weiß, dass ich es bereits gelesen habe. Der Gärtner ist der Gesuchte, derjenige, den niemand verdächtigt. Ich sage es ihm nicht. „Bis später.“ „Der Meister wird in einer Dreiviertelstunde mit den anderen beiden fertig sein, also beeil dich am besten.“ Dürfte nicht allzu schwer sein. Ich nicke Dilan zu und renne los. Kapitel 3: Unerwartet --------------------- unbekannter Musiker; andere Welt Sie würden mich gleich finden. Sehr viel Zeit habe ich nicht mehr. Nur wenige Meter, garantiert. Es ist grauenhaft, dass ich mich mit meinem gesamten Hab und Gut nicht schneller fortbewegen kann. Vielleicht hätte ich mittlerweile geübter darin sein sollen, da es ja jeden Monat passiert. Vielleicht hätte ich mich einfach einiger Sachen, die ich nicht mehr gebrauchen konnte, entledigen sollen. Dennoch … Ich habe zwar eine kleine Wohnung, die viel eher an eine Bruchbude erinnere. Sie ist baufällig, in der untersten Etage eines Hauses, das mit jedem Tag weiter verfällt. Aber ich kann es nicht riskieren, meine Sachen dort zu lassen und sie ihnen auf einem Silbertablett zu servieren. Und wegschmeißen kann ich auch nichts – es ist so oder so schon so wenig. Das letzte Mal, als ich das getan hatte, war nur das übrig geblieben, das ich nun mit mir rum trage. Vielleicht hätte ich die Wohnung wechseln sollen, aus der Stadt ausziehen und irgendwo anders mein Glück versuchen sollen. Dort, wo meine Musik eher geschätzt war als hier, an diesem Ort voller Ignoranten, die von Kunst keinerlei Ahnung haben. Die liebliche Wirkung klassischer Musik scheint wohl keiner mehr zu kennen … Ein panischer Blick nach hinten. Ich schultere meine Taschen noch einmal neu, damit ich sie besser festhalten kann, und renne weiter. Die Straße wird bald ihr Ende finden, und dann würde ich in den Wald gelangen, in den sie führte. Danach müsste ich auf Trampelpfaden weiterlaufen und dadurch würde mein Tempo erheblich eingeschränkt werden. Vielleicht würden sie mich schneller einholen können. Aber dort war es dunkel. Sie würden mich nicht finden – vorerst. Zahltag war erst in einer Woche. Und bis dahin würde ich das Geld haben. Sicherlich. Ich hoffe es … Aber kämen sie jetzt, wäre ich so gut wie … Ich will nicht daran denken, renne erschöpft weiter und verschwinde im Dunkel des Waldes. Ein weiterer Blick nach hinten. Sie sind nicht sehr weit hinter mir gewesen. Sie hätten mich sehen müssen, sehr deutlich sogar, bevor das Licht der Straßenlaterne nicht mehr zu mir reichte. Aber sie folgen mir nicht in den Wald, geben auf. Ausnahmsweise. Noch lange höre ich ihr lautes Lachen, das mich geradezu verfolgt. Ich weiß, dass ich es heute Abend in meinen Träumen in noch hören werde, nur um dann panisch wieder aufzuwachen. Ich hasse es. Ich hasse es abgrundtief. Und das einzige, was ich noch mehr hasse, ist die Tatsache, nichts dagegen tun zu können. Absolut nichts. Xehanort; Radiant Garden Bisher hatte ich nicht viel von Even gehalten. Er war für mich ein Anhängsel, ein kleines, nervendes, das Dilan und Braig mitgebracht hatten. Vielleicht mochte er schlau sein – und er war in der Tat ein guter Lerner –, aber das interessierte mich reichlich wenig. Er buhlte um die Gunst des Meisters und schien derjenige sein zu wollen, den der Meister am meisten mochte. Am liebsten hätte ich ihn … Die warnenden Blicke Braigs halten mich auf, jedes Mal, und Dilans kraftvolle Hand auf meiner Schulter hält mich zusätzlich zurück. Ich hatte nie wirklich vor, gewalttätig zu werden. Nicht ihm gegenüber. Was hätte es mir gebracht? Nichts. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Auch an ihn. Als ich das Forschungslabor zusammen mit Aeleus verlasse und mit ihm zu unserem Schlafzimmer zurückkehre, merke ich erleichtert, dass Even nicht da ist. Irgendwo anders. Nur nicht hier. Dilan sitzt auf seinem Bett und liest ein Buch. Ein Blick auf den Rücken und ich weiß, ich habe es bereits gelesen. Der Gärtner ist der Gesuchte, derjenige, den niemand verdächtigt. Ich sage es ihm nicht. Braig sitzt ihm gegenüber und starrt aus dem Fenster, gedankenverloren, als würde er über irgendetwas nachdenken und sich gleichzeitig auf irgendetwas besonders freuen. Den morgigen Unterricht? Wohl kaum. Auch wenn ich weiß, dass Braig derjenige ist, der von unserem Meister am längsten unterrichtet wird, scheint er den normalen Unterricht genauso wenig zu mögen wie wir alle. Nur die Forschungen des Meisters … Wir sitzen schweigend minutenlang einfach da. Dilan liest weiter und Aeleus greift zu einem seiner Rätsel, versucht es zu lösen und ist vollkommen konzentriert. Schreckt deswegen umso mehr zusammen, als die Tür weit aufgerissen wird. Even. Ich sage nichts. Folge ihm aber dennoch mit meinem Blick, während er sich neben Braig auf dessen Bett setzt. „Hier“, meint er und holt den älteren Schüler aus seinen Gedanken. Das, auf was Even zeigt, sind die verschlüsselten Notizen zu den Forschungen des Meisters und zwar diejenigen, die er uns nicht lehren will. Diejenigen, die mit dem Tag zu tun haben, an dem er mich zu sich holte. Rettete vor dem, was mich am Ende der Straße nicht loslassen wollte. Ich erinnere mich an jenen Tag genau, aber an nichts, was davor geschah und manchmal frage ich mich, ob ich das wirklich will. Wer weiß, was da passierte? „Sind das die Originalnotizen? Bist du bescheuert?!“ Even antwortet nicht, sondern sieht Braig nur fragend und misstrauisch zugleich an; dieser Blick ist Antwort genug. Er geht nicht weiter darauf ein. „Ich hab verstanden, was du mit zu viel Mathe meintest. Diese Zahlenkombinationen haben mich auch ein paar Minuten gekostet, um ein System in ihnen zu erkennen.“ „Ein paar Minuten? Ich habe es in Tagen nicht geschafft!“ „Nicht dein Ernst, oder? Der Meister hat uns in letzter Zeit doch ständig versteckte Hinweise gegeben. Mit ihnen war dieser Text ganz einfach zu verstehen. Also, wenn ich berücksichtige, dass …“ Er spricht nicht weiter, sondern bewegt nur noch den Mund. Kein einziger Ton entweicht ihm, aber er scheint zu wissen, was er tut. Neben der Kopie liegen mehrere leere Zettel. Mit seiner rechten Hand schreibt er, während er mit der linken Hand Zeile für Zeile durchgeht und sie übersetzt. Wir anderen warten schweigend. Ich weiß nicht, über was sie vorher gesprochen haben und eigentlich interessiert es mich auch nicht. Es ist Even, der meint, er hätte den Durchbruch geschafft, nicht einer der anderen. Warum sollte es mich überhaupt interessieren? Langweilig. Es konnte nichts von Bedeutung sein. Aber … die Notizen des Meisters … dazu noch die verschlüsselten … Es stimmt, Braig hatte sich wirklich tagelang daran versucht, ebenso wie Dilan und ich, Aeleus hatte es selbst nicht versucht, sich aber dennoch liebend gerne Ablenkungsmanöver für den Meister ausgedacht und auch in die Tat umgesetzt. Der Meister war nie misstrauisch geworden. Wie kann es dann sein, dass Even es so schnell schafft, wenn kein anderer es von uns tut? Das ist nicht möglich. Und dennoch … als er aufhört zu schreiben blickt er noch weiterhin auf das, was er gerade aufschrieb, liest es sich noch einmal durch, so als hätte er gerade nicht einmal im Ansatz verstanden, was er übersetzt hatte. „Und?“ Braig klingt nachdrücklicher als sonst, wenn er etwas wissen will, aber das ist auch nicht weiter verwunderlich. Even sieht auf und schaut direkt zu mir. „Betrifft dich“, sagt er und schweigt, den Blick nachdenklich gesenkt. Ich nehme die Papiere entgegen und lese sie mir durch. Kapitel 4: Der erste Schritt ---------------------------- junger Spieler; andere Welt „Verdammt! Das Geld wird schon wieder knapp!“ Er murmelt nur leise vor sich hin, während er den Wert der Scheine zwischen seinen Fingern schnell und gekonnt zählt. Gestern Abend, bevor er sich schlafen legte, hatte er gehofft, dass es reichen würde. Dass es genug wäre, um das Spiel am heutigen Abend noch ein wenig spannender zu machen. Er wollte den Einsatz erhöhen, weil er in letzter Zeit eine solch unglaubliche Glückssträhne hatte. Doch jetzt – mit ebensolch flinken Fingern faltet er die Scheine einmal und lässt sie in seiner Tasche verschwinden – war’s das wohl mit seiner Glückssträhne. Nur wie, verdammt, soll er dann heute Abend wieder ins Casino kommen? Ohne genug Geld lassen sich die nervigen Aufpasser nicht bestechen und er würde rausfliegen, weil er zu jung ist. Noch. Ein paar Monate noch, dann hat er das richtige Alter und er kann in sein zweites Zuhause ein- und ausgehen wie es ihm beliebt. Am liebsten ist es ihm, wenn jener Zeitpunkt schon jetzt wäre. Aber sein Ausweis sieht die ganze Sache ein wenig anders … Und er kann ihn nicht wegschmeißen – dann würde er nie wieder irgendwo hinkommen. Apropos zweites Zuhause und noch ein paar Monate … Er hatte nicht einmal mehr genug Geld, um seinen Freunden (die Gruppe von Vollidioten, die er liebevoll als Freunde bezeichnete und die von ihm jedes Mal eine Riesensumme verlangten, wenn er gewann) ihren Anteil zu geben. Wie sollte er ihnen das erklären? Tief durchatmend geht er von hier weg. Er muss sich irgendetwas einfallen lassen, um an Geld zu kommen. Und das bis heute Abend. Ansonsten wird die Begrüßung mit seinen Freunden sehr schmerzhaft enden – ihm tut jetzt noch der rechte Arm ein wenig weh, wenn er ihn heben will, weil er beim letzten Mal so unglücklich gefallen ist. Aber … ist heute nicht Sonntag? Wie soll er das schaffen? Klauen auf keinen Fall, zumindest nicht in Geschäften. Die haben heute so oder so nicht auf. Bei Passanten vielleicht? Oder irgendeinen Vollidioten zu einem Spiel herausfordern, das er nicht gewinnen kann und einen saftigen Einsatz verlangen? Alles möglich und vermutlich absolut nichts von allem wahrscheinlich. Dilan; Radiant Garden Der Ausdruck in Xe-kuns Augen ändert sich nicht ein Stückchen, während er das durchliest, was Even gerade so schnell übersetzt hat. Ich hatte mir die Notizen auch angesehen. Ein weiterer Blick zu Xe-kun. Er scheint noch eine Weile beschäftigt. Ich greife zu dem Notizzettel von Even, auf dem kleine Nebenrechnungen und ähnliches stehen. Jetzt, da ich es sehe, ergibt es Sinn. Und ja, er hatte Recht. Der Meister hatte uns in letzter Zeit wirklich ständig irgendwelche Hinweise gegeben, Lösungswege für mathematische Aufgaben gezeigt, die eigentlich auf das Thema bezogen komplett überflüssig gewesen wären. Aber für die Lösung dieser Texte waren sie notwendig. Ich frage mich, wie er darauf kam … Xe-kun hatte sich schon oft über Even beschwert, wenn er nur mit Braig und mir zusammen war. Wir sind die ersten drei Schüler des Meisters. Uns verbindet das meiste. Und vor allen Dingen die Erinnerung an den Tag, als er am Ende der Straße gewesen ist. Wir konnten bisher nicht viel darüber herausfinden, obwohl Braig und ich Xe-kun diesen Gefallen liebend gerne getan hätten. Etwas, über seine Erinnerung herauszufinden. Denn das ist sein innigster Wunsch. Wir dachten, dass diese Notizen uns dabei helfen könnten, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Deswegen und aus purer Neugier versuchten wir sie zu verstehen, zu übersetzen, damit wir Xe-kuns Erinnerung wieder auffüllen konnten. Bisher war jedoch jeder Versuch erfolglos. Was er wohl von Even denken wird? Nun, da der Neuankömmling das übersetzte, was uns nicht gelang. Und das innerhalb weniger Minuten. Even blickt, wie Braig es vorhin tat, aus dem Fenster, tief in Gedanken versunken. Und Xe-kun, der den Text bereits durch gelesen hat, sieht zu ihm. Ich kann den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Wütend und dankbar zugleich. Als könnte er sich nicht entscheiden, welcher Empfindung er die Oberhand geben soll. Er öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen, doch er schweigt weiterhin. Scheint zu überlegen. „Ich frage mich …“, fängt Even nach einiger Zeit des Schweigens plötzlich an, schaut weiterhin aus dem Fenster und streicht sich mit der Hand durch die blonden Haare, gedankenverloren. „Ich frage mich, warum er mit der Erforschung der Dunkelheit im Herzen aufgehört hat … was er wohl am Ende der Straße gesehen hat? Was hat ihn aufgehalten? Warum schien er plötzlich der Meinung zu sein, da wäre nichts mehr, dass es zu erforschen gilt? Warum hat er den Bericht abgebrochen? Der letzte Satz ist nicht vollständig – war das Ergebnis so erschreckend? Oder hat er sich einfach nur gefürchtet? War zu feige, weiter zu gehen?“ Wieder Schweigen. Dann lächelt er. Hochnäsig und fast schon arrogant. „Er war eindeutig zu feige.“ Er steht auf, greift zu den Originalnotizen und bringt sie weg. Kaum ist die Tür hinter ihm geschlossen, schüttelt Aeleus den Kopf, sagt aber nichts. „Der Meister … feige?“ Ich kann selbst die Ungläubigkeit aus meiner Stimme heraushören. Mein Blick hängt auf der Tür, die unbewegt in ihrem Rahmen hängt und kein einziges Geräusch durchlassen. Es ist unnatürlich still. Nach wenigen Sekunden in dieser Stille beschleicht mich das Gefühl, das Gesagte nur gedacht zu haben. „Er hat Recht.“ Xe-kun sieht niemanden an, sondern ist einfach irgendwo anders mit seinen Gedanken, aber doch noch soweit hier, dass er das mitbekommen hat, was ich sagte. Mit seinen Fingern rollt er abwesend das Papier, beschrieben mit Evens ordentlicher und gerader Schrift, das Geheimnis enthüllend, dass wir nicht enträtseln konnten. „Womit hat er Recht?“ „Unser Meister war einfach nur feige. Damit hat er Recht, Braig.“ Und mit diesen Worten kehrt er vollends in die Wirklichkeit zurück, in seinen Augen wieder so ein Ausdruck, den ich nicht deuten kann. So ein unglaubliches, fast schon wildes und gieriges Funkeln. Vielleicht mag es mal einen Moment gegeben haben, in dem er nichts von alldem erfahren wollte, was damals geschah. Aber jetzt, da er diese Notizen gelesen hat, brennt in ihm ein Feuer, das alles wissen will. Und seine Abneigung gegenüber Even scheint auch nicht mehr zu existieren. Was steht in diesem Text, verdammt? Kapitel 5: Mitläufer -------------------- außergewöhnlicher Träumer; andere Welt Meine Mutter sagt gern, wie besonders sie meine Vorliebe für ihr Hobby, ihren Beruf, ihr Leben finden würde. Es erfüllte sie so mit unglaublichem Stolz. Mein Vater erwähnt umso öfter, wie schrecklich erbärmlich er seinen Sohn fände. Ich verstehe keinen von ihnen. Dabei habe ich es bereits öfters versucht, als mir lieb ist. Ich wollte ein guter Sohn sein. Lieb, nett und brav. Das reinste Vorzeigekind. Hatte gehofft, das wäre es, was meine Eltern wollten. Und deswegen machte ich mir immer und immer wieder Gedanken um ihr Verhalten, wollte sie verstehen und ihnen nie einen Grund, jemals auf mich sauer zu sein. Warum auch immer. Niemals. Wollte, dass beide glücklich sind. Ich weiß, ich werde es nie schaffen. Eine kleine Leidenschaft, etwas, dass ich gerne tue, ohne von irgendjemanden unterbrochen zu werden, zerstörte alles. Außerordentlich … wie schnell so etwas gehen kann. Ein einziger Nachmittag reichte aus, um meinen Vater geradezu wortwörtlich an die Decke gehen zu lassen. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so wütend gesehen, als seine Fassungslosigkeit, mich an diesem Ort entdeckt zu haben, langsam seinem Zorn Platz machte. Es war nichts Außergewöhnliches. Fand ich. Finde ich. Ich war öfters dort. Hatte auch immer gesagt, dass ich dort hingehe, meine Aussage nur nicht vollständig spezifiziert. Vater dachte wohl, ich wäre auf dem Sportplatz, am anderen Ende des Parks. Und nicht in den strahlenden und lieblich duftenden Blumenbeeten auf der anderen Seite. Seit dem Tag war’s das mit dem lieben, netten und braven Vorzeigekind. Zumindest was meinen Vater betrifft. Versuch gescheitert. Auf ganzer Linie. Ob das irgendetwas änderte? Oder vielleicht sogar mich? Konnte mich so etwas leicht beeinflussen? Meinen Charakter? Den stetigen, den unveränderlichen, der so von meiner Mutter geschätzt wurde? Aeleus; Radiant Garden „Womit hat er Recht?“ „Unser Meister war einfach nur feige. Damit hat er Recht, Braig.“ Xehanorts Worte haben einen eigenartigen Klang, fast schon geradezu besonders. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals ein solches Funkeln in seinen Augen gesehen zu haben. Es ist nicht angsteinflößend. Dafür kenne ich ihn zu gut. Glaube ich zumindest. Um manche Rätsel lösen zu können, muss man manchmal von Vermutungen ausgehen, um einen möglichen Lösungsweg zu finden. Vielleicht erweisen sie sich als falsch, aber das macht nichts. Dann beginnt man einfach noch mal von vorne und stellt neue Vermutungen auf. Und bisher hat Xehanort meine Theorien noch nicht widerlegt. Nein, sogar immer wieder aufs Neue bestätigt. Immer und immer wieder. Er ist nicht einfach zu verstehen, aber doch berechenbar. Mein Lieblingsrätsel. Und vor wenigen Augenblicken gab es mir ein neues Rätsel. Ich selbst habe es nie versucht, die verschlüsselten Texte des Meisters zu übersetzen. Habe mir nur Ablenkungsmanöver einfallen lassen. Wir Schüler sind wie Brüder füreinander. Auch wenn ich selbst nie wagte, war es doch das mindeste, was ich tun konnte, indem ich dafür sorgte, dass sie unentdeckt blieben und sie keinen Ärger bekamen. Und jetzt, ohne irgendein Ablenkungsmanöver oder sonst irgendeine Planung schlich sich Even in das Labor des Meisters, holte die verschlüsselten Lehren und übersetzte sie problemlos und brachte sie ebenso ungesehen wieder zurück. Die Tür öffnet sich und Even macht sich nicht einmal im Ansatz die Mühe, leise zu sein. Er lässt sie laut hinter sich ins Schloss fallen und setzt sich breit grinsend auf sein Bett, ja geradezu strahlend pfeift er leise vor sich hin. Keiner sagt etwas. „Woher kommt deine gute Laune, Even?“ Dilan bricht das Schweigen, aber er sieht ihn nicht an; ich glaube nicht mal, dass er überhaupt irgendetwas ansieht. Sein Blick ist starr. „Und seit wann kannst du pfeifen?“, kommentiert Braig Evens Verhalten mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme, seine Augen wirken jedoch ehrlich neugierig. Gespannt auf die Antwort auf Dilans Frage. „Ist das nicht offensichtlich?“, fragt er erstaunt in die Runde, sein Grinsen nicht verblassend. „Der Meister war viel zu feige“, bei diesem Wort konnte der Spott in seiner Stimme kaum größer sein, „um seine Forschungen zu beenden. Außerdem wird er alt …“ Seine Begeisterung verfliegt nicht – in seinen Augen ist sie immer noch deutlich zu erkennen. Aber seine Stimme bricht ab, verliert sich wieder in seinen Gedanken, spricht sie nicht zu Ende. Es passiert ihm öfters. Er merkt gar nicht, dass er aufhört zu reden. „Er wird alt und?“ Xehanort greift seinen Satz wieder auf, nachdem Even minutenlang einfach nur in die Gegend sah und nichts sagte. Seine Finger spielen mit der Decke unter ihm. Beinahe wie von der Tarantel gestochen erwidert er Xehanorts Blick, sein Grinsen bleibt und ist jetzt voller Hohn. „Er wird alt und wird nicht das Geringste merken, wenn wir unsere eigene Forschung beginnen.“ „Und wenn er doch etwas merkt, wird es bereits zu spät sein oder wie?“ Der Sarkasmus in Braigs Stimme hat nicht nachgelassen. Ist eher noch eine Spur schärfer geworden. Ich lache über seinen Kommentar und Even schließt sich an. „Stimmt genau. Wenn er es merkt, fragen wir einfach, ob wir sie fortsetzen dürfen. Wenn er unsere Ergebnisse sieht, wird er gar nicht anders können als seiner geweckten Neugier nachzugeben.“ „Weißt du das genau, oder vertraust du einfach nur darauf?“, fragt Braig zweifelnd. „Ich weiß, dass es eine der beiden Möglichkeiten ist, die eintreten können“, antwortet Xehanort an Evens Stelle, der zwar bereits den Mund aufgemacht hatte, um zu antworten, aber er beschwert sich nicht. Irgendetwas an dem jüngeren ‚Bruder’ scheint ihn plötzlich zurückzuhalten, geradezu zu beherrschen. Was, vermag ich nicht zu erkennen – für mich ist Xehanort seit je her ein Rätsel. Vollständig unergründlich und doch hege ich nicht den beinahe zweifelhaften Wunsch, es doch zu lösen. „Und was soll die andere Möglichkeit sein, Xehanort?“ „Ganz einfach.“ Even ist schneller als der eigentlich Angesprochene, doch der macht sich ebenso wenig etwas daraus, unterbrochen worden zu sein wie vorhin Even, in dessen Augen immer noch der Spott für seinen Meister und Lehrer zu erkennen ist, an den er heute Morgen noch nicht einmal im Traum gedacht hätte. Er öffnet wieder seinen Mund, will antworten, doch Braig hebt eine Hand und lässt seinen Mitschüler und Bruder verstummen. „Was ist?“ „Der Meister kommt.“ Fast schon wie nebenbei verschwindet der Zettel mit den übersetzten Notizen aus meinem Sichtfeld und ich kann nicht einmal mehr sagen, aus welcher Richtung die Bewegung kam. „Ist es nicht noch ein bisschen früh für seinen letzten Kontrollgang?“ „Darum geht es auch sicherlich nicht.“ Braig klingt nachdenklich, fast schon so, als wüsste er von irgendetwas. Ich lache in mich hinein. Wäre nicht verwunderlich. Er weiß so oder so viel mehr als alle anderen, wenn es um Sachen geht, die uns nichts angehen. Ein gutes Gehör und die Fähigkeit, beim Lauschen immer unentdeckt zu bleiben, erlauben, die einen oder anderen Hintergrundinformationen zu erhaschen. Und während ich ihn still bewundere, blicke ich zur Tür und warte darauf, dass der Meister sie öffnet. Kapitel 6: Der Neue ------------------- Ienzo; Radiant Garden Es war nicht meine Entscheidung. Ich wollte gar nicht. Wollte nicht weg von meinem Zuhause und dort auch noch jahrelang bleiben. Ich bin noch jung. Zwar kein Kind mehr – ihr Kind, ja. Doch nicht in meinen Augen. Aber ich habe noch jedes Recht der Welt, weiter zu Hause zu wohnen. Doch warum um alles in der Welt habe ich dieses Recht auf einmal nicht mehr? Nur weil sie meine Eltern sind … haben sie deswegen das Recht, mir meines zu nehmen? Wer gab es ihnen? Und, wer auch immer es auch war, konnte er mir meines nicht wiedergeben? Ich weiß, wohin sie mich schicken. Ich hatte selbst oft genug davon geträumt. Doch ich wollte diesen Traum erst in Erfüllung gehen lassen, wenn ich älter war. Sehr viel mehr wusste als jetzt. Mein jetziger Wissensstand reicht doch nie im Leben aus, um mich mit den restlichen Schülern des unglaublichen Ansem, des Weisen, messen zu können. Sie sind viel zu schlau für mich. Viel zu gut ausgebildet. Wie sollte ich da mit ihnen mithalten können? Dieser Blamage setzen mich meine Eltern eiskalt aus! Und die geht nebenbei noch Hand in Hand mit der Tatsache, dass ich in das Schloss des weisen Mannes einziehen soll. Ich bleibe ja weiterhin in meiner Welt, wenigstens das ändert sich nicht. Dennoch … Vielleicht ist meine Argumentation doch ein wenig kindisch. Wo ich mich selbst doch nicht mehr als Kind sehe. Was soll ich ändern? Ich kann mich nicht widersetzen. Muss den Worten gehorchen, die mir meinen weiteren Lebensweg weisen. Auch wenn ich nicht will. Darf mich nicht widersetzen. Denn war es immerhin nicht mein Wunsch, dort unterrichtet zu werden? Vielleicht war es auch keine allzu große Blamage, nicht so viel zu wissen, wie ich es gerne hätte. Kein Kind mehr, nein, aber mein junges Alter konnte man mir definitiv ansehen. Die restlichen Schüler – ich hatte gehört, untereinander fühlten sie sich fast wie Brüder – könnten mir sicherlich sogar helfen. Mit ein bisschen Selbstbewusstsein wäre es sicherlich nicht allzu peinlich. Hoffe ich zumindest. Seufzend denke ich daran, dass ich es sicherlich gleich herausfinden werde. Vermutlich schneller als mir lieb ist. Ich klammere mich an das Buch in meiner Hand, als würde es irgendeinen Schutz zwischen mir und dem, was kommt, errichten können. So schlimm kann es nicht werden. Glaube ich. Schweigend folge ich meinem zukünftigen Lehrer, während er mich durch sein Schloss führt, den einen oder anderen Kommentar zu entsprechenden Räumen, Skulpturen und Bildern abgibt, die in sein Sichtfeld fallen. Es dauert noch weitere Augenblicke, bis wir endlich bei unserem Ziel ankommen und er an eine Tür klopft, auf keine Antwort wartet und sie einfach öffnet. Ansem, der Weise; Radiant Garden Ienzo wirkt in der Tat ein wenig jung, besonders im Vergleich mit Braig, dem Schüler, der bereits am längsten in den Genuss meiner Lehren kommt, aber er ist deswegen sicherlich nicht dümmer als die anderen. Ich habe von seinen Eltern gehört, was sie von ihrem Sohn erwarten, habe gehört, was ihr Sohn von sich selbst erwartet und es ist sicherlich nicht wenig. Aeleus, mein schweigsamster, doch gelehriger Schüler, hatte bei Weitem weniger Ansprüche an sich selbst gestellt, als ich ihn unter meine Fittiche nahm und er hat sich prächtig entwickelt. Ich weiß nicht, warum ich, während ich durch mein Schloss laufe, meinem neuen Schüler gleichzeitig auch die Räumlichkeiten erkläre und versuche, die Stimmung ein wenig aufzulockern. Er sagt kein Wort, dabei sei er so ein höflicher junger Mann. Natürlich sagte das jede Mutter über ihren Sohn, doch sah ich ihn an und dachte an ihre Worte, dann war ich sofort von ihren Worten überzeugt. Nichts in seinen Augen sprach gegen ihre Worte. Tut es auch jetzt nicht. Mein prächtiger Garten strahlt bereits den ganzen Tag über in matten Farben und mit jedem weiteren Blick aus einem Fenster wirken sie matter. Es wird gleich regnen und je öfter ich über die Schulter zu dem Jungen hinter mir schiele, desto besser scheint er mit seinen traurig wirkenden Augen in das regnerische Bild vor dem Fenster zu passen. Eine schreckliche Vorstellung, dass ein Kind dieses schönen Gartens so ein markantes Gegenbild zu ihm selbst darstellt. Ein weiterer Blick nach hinten, während ich das Portrait eines einigermaßen bekannten, aber längst verstorbenen Wissenschaftlers kommentiere; er blickt ebenfalls zur Seite, mustert den Mann in längst aus der Mode gekommenen Kleidern – hätte ich nicht meine Schüler, des Öfteren liebevoll sogar ‚Söhne’ genannt, die mich eines Besseren belehrt hätten, fände ich seine Bekleidung nicht so altmodisch. Der junge Ienzo hat ein Buch an sich gepresst und ich weiß, dass sich dasselbe bereits irgendwo im Schloss befindet; sicherlich in der eigens für meine Schüler eingerichteten Bibliothek. Ich habe bereits viele Bücher für sie besorgt, ihnen damit kleine Wünsche erfüllt wie es ein jeder Vater für seine Söhne macht. Ich weiß nicht, wie das Buch heißt, und als Ienzo seinen Blick wieder nach vorne richtet, folge ich seinem Beispiel. Seufzend – und nur wenige Schritte danach höre ich auch ein Seufzen von ihm; er ist wirklich so grau wie das Wetter vor den Fenstern – biege ich um eine letzte Ecke. Das Zimmer meiner Schüler ist zwar groß genug, um jeden von ihnen noch ein wenig Privatsphäre geben zu können, aber im Schloss an sich liegt es ein wenig abseits. Kein einziges Geräusch dringt durch die Tür und ich glaube auch, dass ich schon, bevor wir um die letzte Ecke bogen, keine Stimme hören konnte. Es ist immer still, wenn ich mich diesem Zimmer nähere. Doch ich weiß, sie sind dort alle zusammen. Ich klopfe, doch ich warte nicht auf eine Antwort. Meine geliebten Söhne unterbreiteten mir schon vor Jahren das Angebot, nach einem kurzen Zeichen und zwei Sekunden Wartezeit die Tür alleine öffnen zu dürfen und das Zimmer zu betreten. Dankend hatte ich es angenommen und mich bisher auch immer daran gehalten. Natürlich respektiere ich sie, meine fleißigen Kinder dieses schönen Gartens. Prasselnd klopft der Regen gegen die Fenster. Der Himmel ist bereits nun nicht mehr nur grau; die Nacht bricht an und zieht ihren schwarzen Mantel über meinen strahlenden Garten. Das restliche Licht lässt mich in den dunklen Wolken Wesen erkennen, die es nicht geben sollte. Schnell wende ich den Blick von dem finsteren Firmament, schaue auf meine Söhne. Jeder sitzt auf seinem Bett oder auf dem von jemand anderem, sie sind einander alle zugewandt, als wären sie gerade noch in ein Gespräch vertieft gewesen. Waren sie? Hätte ich es nicht hören müssen? Der Flur war still … Ich öffne die Tür vollständig und trete einen Schritt beiseite, Ienzo nun nicht mehr von mir verdeckt. Ihre neugierigen Blicke mustern ihn genau. „Ein neuer Mitschüler?“, fragt Aeleus höflich und ich bin mir nicht sicher, ob er mir, seinen Brüdern oder gar die Ienzo die Frage stellte. Seine Augen blieben nicht lange an ihm haften, sie hängen schon wieder an dem, mit was auch immer seine Hände beschäftigt sein mögen. „Offensichtlich“, antwortet Even und klingt dabei genauso sachlich wie üblich. „Das ist Ienzo, in der Tat ein neuer Mitschüler von euch. Seine Eltern bestanden darauf, dass er so schnell wie möglich an eurem Unterricht teilnimmt.“ „Unserem Unterricht? Kann er da überhaupt mithalten?“ „Braig, bitte.“ „Ich bitte um Verzeihung, Meister.“ „Das wird er sicherlich. Seine bisherigen Noten bezeugen eindeutig, dass er ein schlauer Junge ist. Es könnte in der Tat einige Startschwierigkeit geben, aber ihr werdet ihm sicherlich helfen können.“ Und bitte verhindern, dass dieses liebe Kind noch grauer wird, als er es ohnehin bereits ist. „Es wäre hilfreich, wenn ihr Ienzo auf seinen ersten Unterrichtstag morgen vorbereiten könntet.“ Damit winke ich den Jungen herein, damit er sehen kann, dass ich auf ein Bett direkt neben der Tür deute. Aeleus blickt nicht auf, als der Junge sich mit seinem Buch in der Hand auf das Bett neben ihm setzt. Ein letzter Blick zum schwarzen Himmel. Zu den Schatten, die auf ihm herumtanzen und eigentlich stillstehend nicht von der Nacht zu unterscheiden sein sollten. Seufzend verlasse ich den Raum und schließe die Tür hinter mir. Niemals werde ich wohl vergessen können, was damals am Ende der Straße geschah … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)