Verrottet und hässlich von Sitamun ================================================================================ Kapitel 6: Der Neue ------------------- Ienzo; Radiant Garden Es war nicht meine Entscheidung. Ich wollte gar nicht. Wollte nicht weg von meinem Zuhause und dort auch noch jahrelang bleiben. Ich bin noch jung. Zwar kein Kind mehr – ihr Kind, ja. Doch nicht in meinen Augen. Aber ich habe noch jedes Recht der Welt, weiter zu Hause zu wohnen. Doch warum um alles in der Welt habe ich dieses Recht auf einmal nicht mehr? Nur weil sie meine Eltern sind … haben sie deswegen das Recht, mir meines zu nehmen? Wer gab es ihnen? Und, wer auch immer es auch war, konnte er mir meines nicht wiedergeben? Ich weiß, wohin sie mich schicken. Ich hatte selbst oft genug davon geträumt. Doch ich wollte diesen Traum erst in Erfüllung gehen lassen, wenn ich älter war. Sehr viel mehr wusste als jetzt. Mein jetziger Wissensstand reicht doch nie im Leben aus, um mich mit den restlichen Schülern des unglaublichen Ansem, des Weisen, messen zu können. Sie sind viel zu schlau für mich. Viel zu gut ausgebildet. Wie sollte ich da mit ihnen mithalten können? Dieser Blamage setzen mich meine Eltern eiskalt aus! Und die geht nebenbei noch Hand in Hand mit der Tatsache, dass ich in das Schloss des weisen Mannes einziehen soll. Ich bleibe ja weiterhin in meiner Welt, wenigstens das ändert sich nicht. Dennoch … Vielleicht ist meine Argumentation doch ein wenig kindisch. Wo ich mich selbst doch nicht mehr als Kind sehe. Was soll ich ändern? Ich kann mich nicht widersetzen. Muss den Worten gehorchen, die mir meinen weiteren Lebensweg weisen. Auch wenn ich nicht will. Darf mich nicht widersetzen. Denn war es immerhin nicht mein Wunsch, dort unterrichtet zu werden? Vielleicht war es auch keine allzu große Blamage, nicht so viel zu wissen, wie ich es gerne hätte. Kein Kind mehr, nein, aber mein junges Alter konnte man mir definitiv ansehen. Die restlichen Schüler – ich hatte gehört, untereinander fühlten sie sich fast wie Brüder – könnten mir sicherlich sogar helfen. Mit ein bisschen Selbstbewusstsein wäre es sicherlich nicht allzu peinlich. Hoffe ich zumindest. Seufzend denke ich daran, dass ich es sicherlich gleich herausfinden werde. Vermutlich schneller als mir lieb ist. Ich klammere mich an das Buch in meiner Hand, als würde es irgendeinen Schutz zwischen mir und dem, was kommt, errichten können. So schlimm kann es nicht werden. Glaube ich. Schweigend folge ich meinem zukünftigen Lehrer, während er mich durch sein Schloss führt, den einen oder anderen Kommentar zu entsprechenden Räumen, Skulpturen und Bildern abgibt, die in sein Sichtfeld fallen. Es dauert noch weitere Augenblicke, bis wir endlich bei unserem Ziel ankommen und er an eine Tür klopft, auf keine Antwort wartet und sie einfach öffnet. Ansem, der Weise; Radiant Garden Ienzo wirkt in der Tat ein wenig jung, besonders im Vergleich mit Braig, dem Schüler, der bereits am längsten in den Genuss meiner Lehren kommt, aber er ist deswegen sicherlich nicht dümmer als die anderen. Ich habe von seinen Eltern gehört, was sie von ihrem Sohn erwarten, habe gehört, was ihr Sohn von sich selbst erwartet und es ist sicherlich nicht wenig. Aeleus, mein schweigsamster, doch gelehriger Schüler, hatte bei Weitem weniger Ansprüche an sich selbst gestellt, als ich ihn unter meine Fittiche nahm und er hat sich prächtig entwickelt. Ich weiß nicht, warum ich, während ich durch mein Schloss laufe, meinem neuen Schüler gleichzeitig auch die Räumlichkeiten erkläre und versuche, die Stimmung ein wenig aufzulockern. Er sagt kein Wort, dabei sei er so ein höflicher junger Mann. Natürlich sagte das jede Mutter über ihren Sohn, doch sah ich ihn an und dachte an ihre Worte, dann war ich sofort von ihren Worten überzeugt. Nichts in seinen Augen sprach gegen ihre Worte. Tut es auch jetzt nicht. Mein prächtiger Garten strahlt bereits den ganzen Tag über in matten Farben und mit jedem weiteren Blick aus einem Fenster wirken sie matter. Es wird gleich regnen und je öfter ich über die Schulter zu dem Jungen hinter mir schiele, desto besser scheint er mit seinen traurig wirkenden Augen in das regnerische Bild vor dem Fenster zu passen. Eine schreckliche Vorstellung, dass ein Kind dieses schönen Gartens so ein markantes Gegenbild zu ihm selbst darstellt. Ein weiterer Blick nach hinten, während ich das Portrait eines einigermaßen bekannten, aber längst verstorbenen Wissenschaftlers kommentiere; er blickt ebenfalls zur Seite, mustert den Mann in längst aus der Mode gekommenen Kleidern – hätte ich nicht meine Schüler, des Öfteren liebevoll sogar ‚Söhne’ genannt, die mich eines Besseren belehrt hätten, fände ich seine Bekleidung nicht so altmodisch. Der junge Ienzo hat ein Buch an sich gepresst und ich weiß, dass sich dasselbe bereits irgendwo im Schloss befindet; sicherlich in der eigens für meine Schüler eingerichteten Bibliothek. Ich habe bereits viele Bücher für sie besorgt, ihnen damit kleine Wünsche erfüllt wie es ein jeder Vater für seine Söhne macht. Ich weiß nicht, wie das Buch heißt, und als Ienzo seinen Blick wieder nach vorne richtet, folge ich seinem Beispiel. Seufzend – und nur wenige Schritte danach höre ich auch ein Seufzen von ihm; er ist wirklich so grau wie das Wetter vor den Fenstern – biege ich um eine letzte Ecke. Das Zimmer meiner Schüler ist zwar groß genug, um jeden von ihnen noch ein wenig Privatsphäre geben zu können, aber im Schloss an sich liegt es ein wenig abseits. Kein einziges Geräusch dringt durch die Tür und ich glaube auch, dass ich schon, bevor wir um die letzte Ecke bogen, keine Stimme hören konnte. Es ist immer still, wenn ich mich diesem Zimmer nähere. Doch ich weiß, sie sind dort alle zusammen. Ich klopfe, doch ich warte nicht auf eine Antwort. Meine geliebten Söhne unterbreiteten mir schon vor Jahren das Angebot, nach einem kurzen Zeichen und zwei Sekunden Wartezeit die Tür alleine öffnen zu dürfen und das Zimmer zu betreten. Dankend hatte ich es angenommen und mich bisher auch immer daran gehalten. Natürlich respektiere ich sie, meine fleißigen Kinder dieses schönen Gartens. Prasselnd klopft der Regen gegen die Fenster. Der Himmel ist bereits nun nicht mehr nur grau; die Nacht bricht an und zieht ihren schwarzen Mantel über meinen strahlenden Garten. Das restliche Licht lässt mich in den dunklen Wolken Wesen erkennen, die es nicht geben sollte. Schnell wende ich den Blick von dem finsteren Firmament, schaue auf meine Söhne. Jeder sitzt auf seinem Bett oder auf dem von jemand anderem, sie sind einander alle zugewandt, als wären sie gerade noch in ein Gespräch vertieft gewesen. Waren sie? Hätte ich es nicht hören müssen? Der Flur war still … Ich öffne die Tür vollständig und trete einen Schritt beiseite, Ienzo nun nicht mehr von mir verdeckt. Ihre neugierigen Blicke mustern ihn genau. „Ein neuer Mitschüler?“, fragt Aeleus höflich und ich bin mir nicht sicher, ob er mir, seinen Brüdern oder gar die Ienzo die Frage stellte. Seine Augen blieben nicht lange an ihm haften, sie hängen schon wieder an dem, mit was auch immer seine Hände beschäftigt sein mögen. „Offensichtlich“, antwortet Even und klingt dabei genauso sachlich wie üblich. „Das ist Ienzo, in der Tat ein neuer Mitschüler von euch. Seine Eltern bestanden darauf, dass er so schnell wie möglich an eurem Unterricht teilnimmt.“ „Unserem Unterricht? Kann er da überhaupt mithalten?“ „Braig, bitte.“ „Ich bitte um Verzeihung, Meister.“ „Das wird er sicherlich. Seine bisherigen Noten bezeugen eindeutig, dass er ein schlauer Junge ist. Es könnte in der Tat einige Startschwierigkeit geben, aber ihr werdet ihm sicherlich helfen können.“ Und bitte verhindern, dass dieses liebe Kind noch grauer wird, als er es ohnehin bereits ist. „Es wäre hilfreich, wenn ihr Ienzo auf seinen ersten Unterrichtstag morgen vorbereiten könntet.“ Damit winke ich den Jungen herein, damit er sehen kann, dass ich auf ein Bett direkt neben der Tür deute. Aeleus blickt nicht auf, als der Junge sich mit seinem Buch in der Hand auf das Bett neben ihm setzt. Ein letzter Blick zum schwarzen Himmel. Zu den Schatten, die auf ihm herumtanzen und eigentlich stillstehend nicht von der Nacht zu unterscheiden sein sollten. Seufzend verlasse ich den Raum und schließe die Tür hinter mir. Niemals werde ich wohl vergessen können, was damals am Ende der Straße geschah … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)