Cold Case von june-flower (Anthologie) ================================================================================ Cold Case - Winter. Licht gegen das Dunkel ------------------------------------------ Juchuu! Früher als normalerweise hatte ich wieder das Gefühl, ich könnte außerhalb der Regelzeit eine Portion Cold Case vertragen... Das kann daran liegen, dass die letzte Freitags-Folge absolut genial (in meinen Augen) war. Ich befürworte nicht, dass Lil und Scotty sich streiten (wer war der Grund? Chris natürlich...) Aber ihr Konflikt hat mich sehr berührt. Man hat in einer Folge mehr von Lils Gefühlen gesehen als in vielen zuvor... Jetzt warte ich darauf, wie sie sich wieder arrangieren. Ich weiß nicht mehr, wie dieser doofe Typ Saccardo mit Vornamen hieß, also hab ich ihn Eduard genannt. Ich schätze, von meinem Missfallen an ihm ist eine Menge in dieses Kapitel miteingeflossen - aber es hat Spaß gemacht, Lil eine Person mal so richtig nicht mögen zu lassen... In einer FF habe ich Andeutungen entdeckt (sehr, sehr deutliche) dass die beiden eine Beziehung eingehen könnten - und ich bete, dass dies nicht geschieht. Er passt nicht zu ihr - er ist ihrer nicht wert^^ Okay, jetzt dreh ich endgültig durch. Viel Spaß beim Lesen. Wer genaueres über Saccardo weiß und Lust hat, es mir mitzuteilen - ich würde mich freuen. So wie über jedes Kommentar. Liebe Grüße, june Licht gegen das Dunkel Für Lilly Rush war ihre Arbeit ihr Leben und der Status eines Detective etwas, dessen man sich als würdig erweisen musste. Etwas, für das sie lange hatte arbeiten und das sie sich hart hatte erkämpfen müssen. Ein weiblicher Detective – in einen solchen Rang stieg man als Frau nur auf, wenn man drei Dinge besaß: Köpfchen, Aussehen und Hartnäckigkeit. Und deshalb konnte sie Eduard Saccardo nicht ausstehen. Der verdeckte Ermittler der Philadelphia Police besaß von allen drei Qualitäten wohl nur eines: Hartnäckigkeit. Und dies in einem solchen Übermaß, dass es einfach nicht gesund für ihn sein konnte. Wie hatte er so lange auf den Straßen überlebt, ohne dass irgendwelche Drogenbosse den Wunsch danach verspürten, ihn einfach umzulegen? Die Art, wie er lässig in die Mordkommission hineinschneite, Grillfleisch und Bier in den Tüten als Bestechung für Vera, Jeffries, Miller und Scotty – die Art, wie er ihr Reich durcheinanderbrachte, mißfiel ihr aufs Schärfste. Missmutig starrte sie auf den Bericht auf dem Tisch vor ihr, ohne ihn überhaupt zu sehen. Was bildete sich dieser Mann nur ein? Gut, einer seiner Informanten war ermordet worden. Gut, einer seiner Verdächtigen war der Mörder. Gut – er hatte genug Grund gehabt, tagelang in diesem Büro herumzuhängen. Vielleicht – vielleicht! Sie sagte nicht, dass es stimmte – hatte er ihr auch geholfen. Aber nun war der Fall erledigt und er konnte getrost wieder gehen und sie in Frieden lassen. Vom Nachbartisch her erklang das Klirren von aneinanderstoßenden Bierflaschen und gedämpftes Gelächter. Ihre Kollegen schienen es scheinbar nicht angebracht zu finden, den Mann darauf hinzuweisen, dass a) der Genuß von alkoholischen Getränken vor 18Uhr verboten war, b) dass er ihre Arbeit störte und c) dass er sie störte. Nein – sie feierten auch noch mit ihm! Als hätte er ihren stechenden Blick gespürt, drehte sich Saccardo zu ihr um und grinste sie provozierend an. „Sind Sie sicher, dass Sie nicht auch eines möchten?“ Kalt erwiderte sie seinen Blick. „Ziemlich“, antwortete sie tiefgekühlt. „Ich bin im Dienst.“ „Komm schon, Rush“, sagte Detective Nick Vera und hob sein eigenes Bier. „In fünf Minuten ist Feierabend.“ „Schön für Sie“, gab sie so ironisch wie möglich zurück. „Ich wünsche Ihnen viel Freude.“ Achselzuckend wandte der bullige Mann sich ab und tauschte einen Blick mit seinem Freund Will Jeffries, der sie manchmal in den Wahnsinn treiben konnte. Besonders an Tagen wie diesen. Es war der typische „Sie-ist-schlecht-gelaunt-ignoriert-ihren-Sarkasmus-einfach-Blick“. Der sie wie immer nur noch mehr in Rage versetzte als sie bereits gewesen war. In diesem Moment öffnete sich die Glastür am Ende des Großraumbüros und ihr Chef, Lieutenant John Stillman, trat aus seinem Büro, den Mantel über dem Arm. Sein Blick flog über die Versammlung, nahm in Sekundenschnelle alles in sich auf. Unwillkürlich versuchten Vera, Jeffries, Miller und Valens, ihre Getränke irgendwie zu verbergen. Der Boss zog die Brauen hoch und warf einen Blick auf die Uhr. Er hätte dies nicht zu tun brauchen: Er verliess sein Büro jeden Abend um Zwei Minuten vor Achtzehn Uhr. Sich der plötzlichen Stille nicht bewusst, hob Saccardo seine Flasche. „Wie steht es mit Ihnen, Chef? Oder tun sie es Ihrer blonden Kollegin gleich?“ Wofür sollte sie ihn mehr hassen – dafür, dass er John respektlos „Chef“ nannte, oder dafür, dass er ihre Haarfarbe absichtlich so betonte, dass es schien, als hielte er blonde Frauen für Minderwertig? Der Boss schob seelenruhig seine Arme in die Mantelärmel und richtete den Kragen. „Danke, nein, Ed. Ich habe heute noch etwas vor.“ „Vielleicht ein andermal“, gab der gut gelaunt zurück. Oh nein. Nur über ihre Leiche. Auf seinem Weg zum Fahrstuhl passierte John Lillys Schreibtisch. Es war nicht zu übersehen, dass sie vor Wut kochte – zumindest nicht für ihn. „Machen Sie auch Schluss, Lil“, sagte er, und im selben Moment bewegte sich der Zeiger der großen Uhr auf die Zwölf. Miller seufzte hörbar auf. Schwer lag seine warme Hand auf ihrer rechten Schulter. Lilly entspannte sich merklich. Ihre Wut verrauchte. Was sollte es auch... Der Fall war abgeschlossen. Morgen ging Saccardo zurück auf die Straße – verdeckt ermitteln, oder was auch immer er da tat. Es interessierte sie nicht. Und der Gedanke daran, den arroganten Mann nie wieder sehen zu müssen, heiterte sie auf. „Ist gut, Boss“, sagte sie und lächelte ihm zu. Stillman zog die Mundwinkel Millimeter nach oben und verliess mit langen Schritten das Büro. ~***~ „Der Weg ist ja gar nicht lang“, sagte Eduard Saccardo und Kat Miller musste lachen. „Ich habe es Ihnen doch gesagt“, gab sie zurück. Obwohl es erst kurz nach Achtzehn Uhr war, leuchteten die Straßenlaternen bereits matt. Im Sommer stand die Sonne hoch am Himmel Philadelphias – aber im Winter wurde es empfindlich früh dunkel. Und empfindlich kalt. Langsam näherten sie und ihr Begleiter sich der Haustür, hinter dessen Fenster ein kleines Licht brannte. „Wie Sie sehen, hätten Sie mich nicht zu begleiten brauchen“, wiederholte Kat und nahm ihre Tasche, um nach dem Haustürschlüssel zu suchen. Saccardo schüttelte gespielt entsetzt den Kopf. „Ich kann Sie doch im Dunkeln nicht alleine nach Hause laufen lassen! Bei allem, was hier so auf der Straße herumkriecht...“ „Das müssen Sie mir nicht sagen. Ich war auch einmal Undercoveragent, ich kann mich verteidigen“, erinnerte sie ihn. „Aber auf jeden Fall – vielen Dank, Saccardo. Kehren Sie morgen in den Dienst zurück?“ „Ja.“ Der Mann seufzte so übertrieben, dass sie es nicht ernst nahm. Sowieso konnte man den ganzen Mann wohl kaum ernst nehmen: sein ganzes Benehmen schrie gerade zu nach der Straße. Ungekämmte Haare, eine viel zu weite Hose, die ihm in die Kniekehlen hing, ein verwaschenes Sweatshirt mit einer Aufschrift, die sie nicht entziffern wollte, und ein Baseballcap auf dem Kopf. Er wirkte alles andere als seriös – und mit Sicherheit auch viel jünger, als er war. Kat hatte da ein Auge für. „Böse Jungs jagen und in den Knast schicken“, fügte er hinzu und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Erwartete er jetzt Bewunderung? Die konnte er haben. „Spannender als die Mordkommission, da bin ich mir sicher“, gab sie zurück. „Tja, was sind Sie auch in der Abteilung für Tiefkühlmorde...“ Oh-oh. Das sollte er Rush besser nicht hören lassen. Statt etwas zu sagen, lächelte sie nur und steckte den Schlüssel ins Schloss. Saccardo starrte sie an, dann erst rückte er damit heraus. „Miller – darf ich Sie etwas fragen? Es betrifft Ihre Kollegin – Rush. Lilly heißt sie, wenn ich mich nicht irre.“ Kat Miller nahm die Art und Weise zur Kenntnis, mit der er den Vornamen aussprach, und lachte in sich hinein. „Lilly? Warum denn? Was wollen Sie wissen?“ „Nun...“ Der ansonsten so wortgewandte Cop druckste eine Weile herum, dann platzte er heraus: „In was für einer Beziehung lebt sie gerade?“ „Ich würde sie als Single bezeichnen, denke ich“, antwortete sie belustigt und strich sich eine schwarze, krause Strähne aus dem Gesicht. „Wirklich? Gut!“ Das Gesicht des Mannes hellte sich in Sekundenschnelle auf. „Ihnen dann noch einen schönen Abend, Miller. Danke vielmals.“ „Gleichfalls“, sagte Kat. „Aber, Saccardo, wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Lassen Sie es lieber.“ „Warum denn!“ Eine Mischung aus Verwirrung und Empörung. Männer. „Lilly ist nichts für Sie. Vergessen Sie es besser gleich.“ „Hat das etwas mit Valens zu tun? Mit Scott Valens?“ Nicht dumm. Aber nicht annähernd klug genug. „Nein, hat es nicht.“ Zumindest die halbe Wahrheit. „Trotzdem, Saccardo. Nicht Lilly Rush. Glauben Sie mir einfach.“ Sie konnte sehen, wie die Gefühle in ihm miteinander rangen: der Wunsch, die Frau, die ihn so offensichtlich nicht leiden konnte, für sich zu gewinnen – und der widerwillige Respekt vor Kats Ratschlag. Schliesslich siegte sein Verstand und sie seufzte erleichtert auf. „Gut.“ „Sehr gut. Dann gute Nacht, Saccardo.“ Sie trat in ihre kleine Wohnung und schaltete das Licht im Flur an. „Warten Sie!“, rief er ihr hinterher. „Und was ist mit Ihnen, Miller?“ A-ha. „Ich bin ebenfalls Single,“ antwortete sie und freute sich auf das, was als nächstes kommen würde. „Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Essen einlade?“, fragte der Mexikaner erwartungsgemäß und setzte sein unwiderstehliches Lächeln auf. Das wohl nur bei zwei Frauen auf der Welt nicht zog – und leider hatte er das Pech, dass beide Frauen in der selben Abteilung der Philadelphia Mordkommission arbeiteten. Bevor Kat antworten konnte, trappelten kleine Füße die Treppe herunter und ihre Tochter warf sich in ihre Arme. „Mama!“ Der Anblick war sehenswert. „O-o-oder vielleicht doch nicht“, stotterte Saccardo und sprang einen Schritt zurück, als hielte sie eine Giftschlange und nicht ihre zehnjährige Tochter im Arm. „Guten Abend, Miller, vielleicht...“ Und dann war er auf und davon. Typisch Männer, dachte Kat amüsiert. Tun so groß, aber wenn sie alleinerziehende Mütter sehen... „Was wollte er denn?“, fragte Veronica, die um ihre Hüfte herumlinste und nur noch Saccardo ruhmlosen Abgang beobachtet hatte. Kat zog sie in die Wohnung und schloss die Tür hinter ihnen. „Tja... Wenn ich das wüsste.“ ~***~ Sanft schaukelte das Boot auf den Wellen des Hafens von Philadelphia. Mit einem leisen, kontinuierlichen Geräusch schwappte das Wasser gegen den Bug. Eigentlich war es mittlerweile schon zu kalt, um Abends draußen zu sitzen. Aber der sternklare Himmel in der fast schon erfrischend eisigen Nacht... John Stillman schaute hinauf zu den funkelnden Sternen und atmete tief ein und wieder aus. Weißer Nebel entwich in die Nacht. Warum er wohl noch immer Chef der Mordkommission war? Er hatte sich im Sommer so fest vorgenommen, endlich in den wohlverdienten Ruhestand zu treten. Für ein paar Wochen hatte er es tatsächlich geschafft. Und dann – dann war wieder nichts daraus geworden. Was Nick Vera, Will Jeffries, Scott Valens und Kat Miller in Wochen nicht gelungen war, hatte Lil an einem einzigen Abend geschafft. Was für ein hundsgemeiner Trick, dachte er, ohne einen Anflug von Wut oder Reue zu spüren. Er wusste, was sie vorgehabt hatte, als sie ihn in der Bar aufgesucht hatte: sie hatte ihn in den Fall hineinziehen wollen, den sie gerade bearbeiteten, hatte ihm zeigen wollen, dass er noch gebraucht wurde. Und dass es ihm noch immer nicht egal war, wenn draußen in der Welt geschah und geschehen war. Und zum Teil hatte sie Recht gehabt. Wenn sie in der Annahme zu ihm gekommen war, dass sie ihn gut kannte, so hatte sich diese Annahme wohl bestätigt. Es war ihm einfach nicht egal, was mit den Menschen geschehen war und noch immer geschah. Aber womit Lil nicht gerechnet hatte, war, dass es eine Sache gab, die ihm noch mehr kümmerte als alle Verbrechen und Morde der Welt... Und das war sie. Lil. Er konnte es an der Art sehen, wie sie ging, wie sie sprach, wie sie lächelte: es ging ihr nicht gut. Es war ihr selten schlechter gegangen. Warum kam das Schlimme immer in Schüben, und nicht, so wie das Glück, in kleinen, gut dosierten Häufchen? Erst der Tod ihrer Mutter. Dann die knappe Begegnung mit dem Tod. Dann... John Stillman seufzte. Er hatte Lilly Rushs psychologisches Gutachten gesehen, verfasst von der Psychologin, zu dessen Therapie er sie hatte zwingen müssen: sie war wieder voll einsatzfähig. Gut, sie war also wieder fähig zu arbeiten. Aber ob sie wieder fähig war zu leben? Schritte ertönten auf den hohlen Planken des Kais, Schritte, die er kannte. „Abend, Will“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Abend, John. Ist Ihnen nicht kalt?“ „Wäre mir kalt, wäre ich drinnen. Kommen Sie rauf.“ Will Jeffries kletterte behäbig an Bord des Bootes, umrundete die Kajüte und liess sich neben seinen Vorgesetzten und Freund sinken. „Saccardo ist schon ein lustiger Typ“, sinnierte er und fing sich einen scheelen Seitenblick ein. „So?“ „Ja. Er ist sehr... natürlich.“ „Natürlich?“ „Ja.“ „So nennt man das heute also.“ Sehr harmlos ausgedrückt. „Haben alle anderen auch Feierabend gemacht?“ John konnte sich nicht helfen. Es ging ihn nichts an, wie lange seine Untergebenen im Büro saßen. Aber für ihn, der er lange geschieden war und dessen Tochter sich von ihm entfremdet hatte, hatte nun einmal keine andere Familie als... „Alle. Bis auf Rush. Saccardo und Miller sind zuerst weg – er wollte sie nach Hause bringen – Nick ist gleich drauf gegangen. Als ich weg bin, war Scotty auch schon fertig.“ Typisch Lil. Eine Weile herrschte Stille. Nur der Wind strich über sie hinweg. Dann sagte John leise: „Meinen Ruhestand wollte ich auf diesem Boot hier verbringen. Weit weg von der Stadt, einfach irgendwo hin segeln, keine Morde, keine Toten...“ „Keine Typen wie Saccardo“, beendete Will seinen Satz. „Wir brauchen Sie hier, John, das wissen Sie. Aber was hält Sie eigentlich überhaupt noch in Philly?“ ~***~ Zwei kleine Lampen. Zwei Lichter in einem ansonsten leeren und dunklen Büro. Wo tagsüber viele Menschen lautstark ihren jeweiligen Arbeiten nachgingen, herrschte nun fast unheimliche Stille – bis auf Lilly Rushs Füller, dieses schreckliche, altmodische Ding, mit dem sie immer schrieb. Leise, aber hörbar kratzte die Feder über das Papier. Scott Valens trug bereits seinen Mantel und hatte seine Aktentasche fertig gepackt neben seinem Schreibtisch stehen. Ungeduldig klingelte der Fahrstuhl sein Glockengeräusch und schloss die Türen wieder. Die Dunkelheit wurde noch greifbarer. Irgendwann hob Lil den Kopf. „Was ist los, Scotty?“ Ihr Partner fuhr auf, als ihre Stimme die Stille durchschnitt, und zuckte peinlich berührt die Schultern. „Nichts. Warum?“ „Sie sitzen jetzt schon seit einer Stunde im Mantel hier herum und starren Löcher in die Wände.“ „So lange schon?“ Erschrocken sah er auf die Uhr an seinem Handgelenk. Tatsächlich – es war schon Neunzehn Uhr! Dabei hatte er vorgehabt zu gehen. Normalerweise vermied er es, länger im Büro bleiben zu müssen als notwendig. Die meisten Cops waren so: Man konnte am Tag nur eine begrenzte Menge an Gewalt, Mord und anderen kriminellen Ergüssen ertragen. Nur Lil schaffte ihr Pensum und das ihrer Kollegen dazu.. Was war los? Kurz spielte er mit dem Gedanken, seine Lampe auszuschalten und sich auf den Weg nach Hause zu machen. Aber dann würde die Dunkelheit, die so bedrohlich wirkte, sich nur noch weiter an die schlanke, blonde Frau heranschleichen können, die hinter ihrem Schreibtisch saß und nicht so aussah, als würde sie vorhaben, heute noch einmal nach Hause zu gehen. „Was machen Sie da eigentlich?“, fragte er stattdessen. „Berichte“, gab sie zurück, ohne aufzusehen. Merkwürdig, wie knapp ihre Antworten immer ausfielen, wenn sie beschäftigt war. Als würde sie nicht gleichzeitig schreiben und reden können – dabei konnte sie es, das wusste er. Der Füller unterbrach seinen rasenden Lauf über das Papier kurz, als sie etwas in dem Papierstapel neben sich nachschlug, dann nahm er wieder an Fahrt auf. Die Stille wurde fast unangenehm für Scotty. Im schonungslosen Licht ihrer Schreibtischlampe betrachtete er seine Partnerin und Kollegin: ihr blondes Haar, welches glänzte wie Gold, ihre graublauen Augen, die tiefen Ringe unter ihnen, die man nur sah, wenn das Licht sie von unten anstrahlte... „Wann gehen Sie nach Hause?“, fragte er und vermied, ihren Nachnamen auszusprechen. „Rush“ hörte sich so fremd an, klang so abweisend, so kalt. Der Boss nannte sie Lil. Als Einziger. Dabei war das der einzige Name, der ihr wirklich und wahrhaftig zu passen schien. „Wenn ich fertig bin“, sagte sie, ohne aufzusehen. Lautlos seufzend stand Scotty auf und griff nach seiner Tasche. „Dann mache ich mich wohl besser auf den Weg.“ „Ist gut. Bis Morgen.“ „Bis Morgen.“ Zielstrebig machte er sich auf den Weg durch das Schreibtischlabyrinth zum Fahrstuhl. Mit einem Klingen öffnete sich die Doppeltür, aber Scotty blieb stehen und drehte sich noch einmal um. „Haben Sie Lust, etwas zu Abend zu essen?“, fragte er und erschrak im selben Moment. Etwas Essen zu gehen würde bedeuten, eine Linie zu übertreten, die Lil seit dem Beginn ihrer Zusammenarbeit vor einigen Jahren streng gezogen hatte. Eine Grenze, die niemals angesprochen wurde – aber sie war so real wie er und die Dunkelheit vor dem Fenster. Lil hob den Kopf und sah ihn an – und ihr seltenes Lächeln blitzte über ihr Gesicht hinweg. Versteckt unter einer ziemlichen Menge anderer Dinge – aber es reichte locker aus, um ihm warm werden zu lassen. Tatsache war, dass er eigentlich für den Rest des Winters keinen Mantel mehr brauchen würde... „Danke, Scotty“; gab sie zurück. „Vielleicht ein anderes Mal, ja?“ Sicher. „Dann bis Morgen“, sagte er und betrat den Fahrstuhl. Vielleicht war es ohne Mantel draußen doch etwas zu kalt. Erst, als er das Gebäude verlassen hatte und auf der kalten, neon-erleuchteten Straße stand, fiel ihm ein, dass er das Licht seiner Schreibtischlampe hatte brennen lassen. Durch das Fenster im sechsten Stockwerk floß ein gedämpfter Schein. Sonst waren alle Fenster dunkel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)