Die Akte Wheeler von Idris (Seto/Joey) ================================================================================ Kapitel 1: we are everything we are ----------------------------------- „Also gut, Joey …“ Der Kugelschreiber klickt geschäftsmäßig und eine schwarze Mappe wird gezückt. Erwartungsvoll richten sich zwei Augenpaare hinter mehr oder weniger identischen Brillen auf Joey, der prompt beginnt, unbehaglich auf seinem Stuhl herumzurutschen. Ich bin sicher, er fühlt sich wie bei einer Prüfung in der Schule. „Wir dürfen doch Joey sagen, nicht wahr? Fabelhaft. Wo möchtest du denn anfangen?“ „Weiß nicht …“ Er zuckt mit den Schultern und seine Augen flackern kurz in meine Richtung. „Was wollen Sie wissen?“ „Jenny-Darling“, näselt mein Marketingberater, den ich mehr hasse, als meinen Zahnarzt und die Steuerfahndung zusammen, und schnippt mit den Fingern. „Die Akte Wheeler bitte.“ Die Akte Wheeler. Ich halte mich grade noch so davon ab, die Augen zu verdrehen. „Vollständiger Name: Joseph Jay Wheeler. Alter: 21. Geboren in Domino City am 25. 01. 1987 …“, rasselte ‚Jenny-Darling’ herunter. Es folgen tausend kleine Dinge und Informationen über Joey, die ich längst weiß, also blende ich ihre eintönige Stimme aus und sehe aus dem Fenster nach draußen, als ob mich das alles gar nichts angeht. Es ist April. Die Sonne scheint und der Himmel ist ekelhaft blau, und ich weiß, dass Joey alles lieber tun würde, als hier drin zu sitzen und diese bescheuerten Fragen zu beantworten. Er tut es mir zuliebe. Irgendwie. „Sind diese Angaben alle korrekt?“ „Joah, denke schon …“ Joey nickt und schafft es irgendwie dabei so planlos zu wirken, als wären Informationen wie sein Geburtstag und seine Adresse vollkommen neu für ihn. Er hat sich vorgebeugt und die Hände auf die Stuhlkante zwischen seinen Knien abgestützt, so dass er aussieht wie ein zappeliges und ziemlich ungezogenes Kind. „Gut.“ Donovan nickt. „Dann kommen wir jetzt zu den ganz persönlichen kleinen Details. Wir müssen dich ja dem breiten Publikum irgendwie schmackhaft machen, nicht wahr? Ha ha.“ Er lacht und Jenny-Darling stimmt pflichtschuldig mit ein. Ich werfe beiden einen finsteren Blick zu und sie räuspern sich hastig. „Sie vergeuden meine Zeit – kommen Sie zum Punkt“, befehle ich ein wenig schärfer als beabsichtigt. „Natürlich, Sir.“ Er nickt. „Aber Sie verstehen doch sicher, dass das von immenser Wichtigkeit ist.“ Ich nicke mit zusammengebissenen Zähnen, was ihn leider nicht davon abhält, mit seiner penetranten Stimme fortzufahren. „Niemand kann zurzeit absehen, was für eine Auswirkung das Ganze auf den Ruf ihrer Firma, auf die Aktien, die Verkaufszahlen, auf einfach alles haben wird. Und jetzt wo leider Informationen zur Presse durchgesickert sind, können wir nichts anderes tun, als den Schaden zu begrenzen, so gut es geht.“ Joey hat aufgehört zu wippen und sitzt ganz still. Ich weiß, dass er das alles hasst. Wenigstens einmal sind wir uns einig. Ich hasse das alles auch. „Vielen Dank für die Lehrstunde über den Zustand MEINER Firma“, erwidere ich bissig. Das Ganze, hat er gesagt. Das Ganze ist natürlich eine besonders schöne, besonders nichtssagende Umschreibung. Das Dossier ‚Joseph Jay Wheeler’ ist seit vorgestern die aktuelle Hauptpriorität der Kaiba Corporation. Zumindest laut meiner Marketingabteilung. Sie sagen, wir brauchen etwas Offizielles. Etwas, das wir an die Presse herausgeben können, jetzt wo ohnehin durchgesickert ist, dass er und ich … nicht nur Karten zusammen spielen. Sie sagen, wir brauchen irgendetwas, um den Schaden zu begrenzen. Um Sympathiepunkte zu gewinnen für die Tatsache, dass der Junggeselle des Monats (in den Monaten März, Juni, Juli, September und November) einen kleinen Straßenköter als Bettgenossen hat. Damit die Kaiba Corp. weiterhin konkurrenzfähig bleibt. Deshalb arbeiten sie jetzt daran, die ganze Naturkatastrophe mit Namen ‚Joey’ sympathischer und umwerfender rüberkommen zu lassen als Mutter Theresa und Marilyn Monroe zusammen. Ich hätte ihnen sagen sollen, wie hoffnungslos das ist. Donovan hat den Anstand unter meinem eisigen Blick ein wenig kleiner zu werden. Hastig räuspert er sich. „Jenny-Darling …“ Er schnippt erneut - eine Angewohnheit, die mir jetzt schon mächtig auf den Keks geht – und sie zückt einen Stift. „Erzähl mir doch ein bisschen über deine Hobbies und Freizeitaktivitäten“, flötet sie in einem Tonfall, als wäre Joey fünf Jahre alt und geistig zurückgeblieben. Ich verdrehe die Augen. Er ist vielleicht ein bisschen doof, aber er ist nicht so zurückgeblieben. Geistig ist er bestimmt mindestens … zwölf. „Ich ähm …“ Joey räuspert sich und kommt sich sichtbar blöde vor. „Ich mache gerne was mit meinen Freunden … im Park rumhängen … Videos spielen oder so …“ „Freunde – das ist gut.“ Donovan schnippt erneut. Ich stelle mir vor, wie seine manikürten Finger sich in einen Mixer verfangen. „Zu deinen engeren Freunden gehört meines Wissens auch der diesjährige DuellMonsters-Champion … wie heißt er doch …?“ „Yugi“, sagt Joey und klingt wie ein Fragezeichen. „Yugi Mutou.“ „Ausgezeichnet.“ Donovan reibt sich enthusiastisch die Hände. „Prominente Unterstützung macht sich immer fabelhaft. Mutou ist total angesagt bei der Jugend – wenn wir ihn dazu bringen, überall zu erzählen, wie sehr er dich unterstützt und euch nur das Beste wünscht …“ „Nein!“, widerspricht Joey. Sein nervöses Zappeln ist mit einem Mal wie weggewischt. Er wirft mir einen kurzen, wütenden Blick zu, als wäre das hier alles meine Schuld, und verschränkt kategorisch die Arme. „Halten Sie Yugi da raus. Halten Sie alle meine Freunde da raus. Die werden nicht vermarktet.“ „Junge, du verstehst nicht, wie wichtig …“ „Nein. Sie verstehen nicht! Das kommt nicht in Frage. Das ist NICHT verhandelbar.“ Er ist aufgesprungen und seine Augen funkeln. Donovan fährt sich gequält durch die perfekt sitzende Frisur. „Ich kann so nicht arbeiten! Sir?“ Seh ich aus, als sei ich der Hundebändiger? Ich schaue über ihn hinweg und erwidere Joeys Blick. Er durchbohrt mich förmlich mit seinen bernsteinfarbenen Augen, die sonst immer eher treudoof und planlos vor sich hingucken, und ich denke, dass er in diesem Punkt niemals nachgeben wird. Schließlich sehe ich zurück zu Donovan und schüttele den Kopf. „Lassen Sie das weg.“ Ich winke ab. „Wer interessiert sich schon für Yugi Mutou.“ Als bräuchte ich diesen Zwerg, um mich für meine Bezie-… Bettkis … für irgendwas zu rechtfertigen. Wenn man erstmal die Unterstützung von Menschen mit dreieckigen Frisuren, denen das Wort ‚Schicksal’ praktisch auf die Stirn tätowiert ist, angenommen hat, ist der Untergang der Zivilisation nicht mehr weit. Joey sieht vollkommen perplex aus und sein finsterer, entschlossener Gesichtsausdruck weicht beinah so etwas wie zaghafter Überraschung. Pah. Nicht, dass er das in den falschen Hals kriegt. Ich habe das nur aus vollkommen eigennützigen Gründen getan. Er grinst mich an. Ich spiele ungeduldig mit einem Lineal und bedeute ihnen weiterzumachen. „Also keine prominente Freunde … hoffentlich ist Ihnen klar, dass uns damit eine Menge Bonuspunkte verloren gehen.“ Donovan klingt gekränkt. „Jenny-Darling …?“ „Wir waren bei den Hobbies“, fährt sie geduldig vor. „Was haben wir bis jetzt?“ „Ich hänge gerne im Park rum und zocke Videospiele …“, wiederholt Joey folgsam. Jenny-Darling wirft ihm einen herablassenden Blick zu. „Leidenschaftlicher Einsatz für den Naturschutz und Interesse an Technik und moderner Kommunikation“, liest sie vor. „Gut, gut.“ Joeys Mund klappt auf. „Äh …?! Aber …“ „So funktioniert das nun mal in der Werbung, mein Junge“, erklärt Donovan herablassend. „Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die Kaiba Corporation eins der weltweit ausgeklügelten und erfolgreichsten Marketingsysteme hat, die sich aktuell finden lassen. Nein? Sehr schön. Weiter im Text … sonstige Hobbies?“ „Na ja, Duell Monsters …“ „Duell Monsters …“ Bedeutsames Schweigen liegt in der Luft während Donovan und Jenny-Darling zweifelnde Blicke austauschen. „Also, das ist vielleicht ein wenig zu dick aufgetragen …“ Er schüttelt den Kopf. „Ich bin da eher skeptisch. Das könnte nach hinten losgehen – das klingt wie ein Werbetrick, wenn ausgerechnet du dich fürs Duellieren interessierst. Das ist so …“ „… kommerziell.“ „Danke, Jenny.“ „Was? WAS?! Hey! Wieso Werbetrick …? Ich war Zweiter im Königreich der Duellanten! Ich war im Finale von Battle City! Ich habe neulich Yugi geschlagen … beinah. Das könnt Ihr nicht einfach weglassen!“ Joey klingt, als würde man ihm grade ein Bein amputieren. „Tut mir leid, aber das ist einfach zu abgeschmackt …“ Donovan schüttelt bedauernd den Kopf. „Du wirkst auch nicht wie der Typ, dem man so was abkauft.“ „Ich … WAS? Hallo?! Haben Sie einen Sprung in der Schüssel, man?! Ich bin gut! Ich gehöre zu den verdammt noch mal Besten! Das können Sie nicht weglassen! Seto!“ Ich seufze und sehe ihn nicht an. „Du hast versprochen, kooperativ zu sein.“ „Weißt du, wohin du dir dein kooperativ mal stecken kannst?! Einen Scheißdreck hab ich dir versprochen …!“ Er flucht leise und Jenny-Darling sieht aufrichtig schockiert aus. Aber er setzt sich tatsächlich wieder hin, steif und bockig und mit verschränkten Armen. „Noch etwas?“, fragt Donovan mit aufgesetzter Geduld. Joey schüttelt stumm den Kopf. Er sieht mehr als angefressen aus. Irgendwie habe ich das dumpfe Gefühl, dass mich allein das mindestens zwei Wochen Sex-Entzug kosten wird. „Er mag Comics“, antworte ich für ihn und sehe erneut aus dem Fenster. „Punkmusik. Hunde.“ „Liest klassische amerikanische Literatur, progressiver Musikgeschmack“, murmelt Jenny-Darling. „Setzt sich für den Tierschutz ein …“ Joey schweigt verbissen, aber ich spüre seine Augen auf meinem Nacken. Ich weiß nicht, ob er sich von mir verraten fühlt oder ob er nur erstaunt ist, dass ich das über ihn weiß. Jenny-Darling fragt ihn nach seinen Lieblingsfarben, Lieblingsessen, Lieblingssportarten (Dunkelblau, Pizza und Basketball, falls das von Interesse ist …), und ich denke, dass das alles vollkommen belanglos ist. Ich schlafe nicht mit Joey, weil er laute, schnelle Musik hört oder Comics liest, in denen inflationär häufig die Worte Bam, Boom, Bang auftauchen und Frauen mit riesigen Brüsten die Welt retten. Ich schlafe auch nicht mit ihm, weil er blau mag und gerne Pizza isst. (Ich vermute, Jenny verwandelt es ohnehin in ‚Aquamarin, italienische Küche und Tennis’.) Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, warum ich mit ihm schlafe, bekomme ich Kopfschmerzen. Sie fragt ihn nach Lebenszielen, beruflichen Zielen, persönlichen Zielen. Joey nickt und schluckt, starrt auf die Spitzen seiner Turnschuhe und weiß nicht, was er darauf antworten soll. Seine Schultern wandern höher und höher, so angespannt sitzt er irgendwann auf seinem Stuhl. „Ausgezeichnet“, sagt Donovan aufmunternd in meine Richtung. „Machen Sie sich keine Sorgen, Sir, das wird alles prächtig funktionieren. Wir werden ihn der Welt als jemand präsentieren, den man unmöglich nicht lieben kann.“ Ich schweige und wünsche mir, dass er einen Herzinfarkt bekommt und auf der Stelle tot umfällt. „Kommen wir zu deiner Familie“, lächelt Jenny-Darling mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Ihre langen Fingernägel klacken aneinander, als sie in die Hände klatscht. Joey, der inzwischen aussieht wie jemand, dem man stundenlang ohne Betäubung Zähne gezogen hat, wirft ihr einen erschöpften Blick zu. „Ich habe eine kleine Schwester“, sagt er. „Aber sie wohnt nicht hier und Sie schreiben nichts über sie, klar? Meine Eltern leben getrennt – und darüber schreiben Sie auch nichts. Das war’s eigentlich auch schon … “ „Wir haben gehört, dein Vater …?“ „Nein!“ faucht er. „Natürlich, ganz klar, fabelhaft.“ Donovan sieht inzwischen aus, als sei es ihm völlig egal was Joey sagt, und das finde ich beunruhigend. Joey redet zwar die meiste Zeit über nichts als Schwachsinn, aber sogar das ist besser, als das, was das Idioten-Duo daraus zusammenschustert. „Kommen wir doch jetzt zu …“ Die beiden tauschen einen bedeutungsvollen Blick aus, bevor sie sich mit zwei identischen breiten Lächeln an mich wenden. „… zu den zarten Knospen einer aufblühenden Beziehung. Einer Liebe gegen alle Standesunterschiede“, sagt Donovan und sieht völlig erstaunt aus von seiner eigenen Genialität. „Wie findest du das als Headline, Jenny-Darling?“ „Fabelhaft!“ haucht sie. „So … total auf ‚emotion‘.“ Sie sagt tatsächlich imohschän. Ich hasse sie. „Vergessen Sie es“, entgegne ich kalt. „Aber Sir, das wird das Publikum im Sturm erobern! Die Leute lieben so etwas!“ Donovan springt auf und beginnt hektisch hin und her zu rennen. Ich verziehe angewidert das Gesicht. In meinem Büro hat nur einer hektisch hin und her zu rennen und das bin ich. „Ich sehe das ganz groß!“ Er fuchtelt mit den Händen. „Ich seh das …“ „…dramatisch“, souffliert Jenny-Darling. „… dramatisch! Leidenschaftlich! Tragisch! Zwei Welten treffen aufeinander. Gefühle, denen man sich nicht entziehen kann.“ Joey blinzelt und wirft mir einen verwirrten Blick zu. Was soll ich dazu sagen. Ja, ich denke auch, dass ich dringend eine generelle Gehaltskürzung vornehmen sollte, damit meine Leute nicht mehr so viel Geld für bewusstseinserweiternde Substanzen ausgeben. Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme. „Sie haben drei Minuten. Wie stellen Sie sich diesen Schwachsinn genau vor?“ Das könnte eventuell lustig werden. „Wir haben hier alles …“, Donovan macht eine dramatische Pause, „… was die Menschen lieben.“ Jenny-Darling hängt an seinen Lippen und nickt gespannt. „Leidenschaft, Gefühle, emotions – und natürlich die Tragik ihrer Umstände. Auf der einen Seite haben wir Sie …“ Er macht eine Handbewegung in meine Richtung. „Den Geschäftsmann. Erfolgreich, gutaussehend, wohlhabend, einflussreich …“ Ich werfe einen vielsagenden Blick auf die Uhr „Sparen sie mit den Adjektiven. Die Zeit läuft.“ Joeys Mundwinkel zucken. „Ja, Sir. Natürlich. Also Sie haben alles, was man mit Geld kaufen kann, ABER …“ Erneut folgt eine dramatische Pause, „… Sie haben keine Liebe. Sie sind einsam! Und verbittert.“ „Abgestorben …“, flötet Jenny-Darling. Joeys Hand schießt nach oben. „Gefühlskalt“, fügt er hilfsbereit hinzu. „Und gemein!“ Ach. Auf einmal geht es doch mit der Kooperation? Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. Er zuckt mit den Schultern und sein Mund formt ein lautloses ‚Ist doch so!‘. „Genau.“ Donovan nickt zufrieden. „Ausgezeichnet. Und auf der anderen Seite haben wir Joseph Wheeler … den Underdog.“ „UnderDOG?“ Joey stöhnt und vergräbt das Gesicht in den Händen. Und ich würde hämisch grinsen, wenn er in meine Richtung sehen würde. „Die brutale Kindheit“, spinnt Donovan weiter, „das Trauma der Scheidung! Aufgewachsen in den Slums von Domino …“ Ich glaube das nicht. Die Slums von Domino. Wo sollen die sein? Hinter Yugis Spielzeugladen? „Aber sensibel“, ergänzt Jenny-Darling mit einem Blick auf ihren Notizblock. „Künstlerisch begabt …“ „… und engagiert für den Umweltschutz und sozial schwache Menschen.“ Joey gibt wimmernde Geräusche von sich. „Einsam …“ „Einsam hatten wir schon“, bemerke ich giftig. „Bei mir.“ „Das ist es ja“, erwidert Donovan eifrig. „Sie sind vollkommen verschieden – aber die Einsamkeit ist das, was sie verbindet.“ Oh fabelhaft. Jetzt wird es so aussehen, als hätten Joey und ich aus reiner Verzweiflung Sex. So verzweifelt bin ich nicht. Ich kann mir guten Sex kaufen, wenn ich will. Jederzeit. Mit Leuten, die nicht dauernd zu früh kommen und nach dem Sex nicht mein ganzes Bett mit Chips vollkrümeln. Oder so etwas geschmackloses wie ‚Baby‘ sagen, wenn sie versuchen ein Vorspiel in die Wege zu leiten. „Ihr Kennenlernen wird natürlich ganz großes Kino.“ Donovan reibt sich die Hände. Seine Augen glänzen ein wenig manisch. „Es ist mitten in der Nacht …“ „… und es regnet“, haucht Jenny-Darling. „Ihre Limousine ist unterwegs auf den einsamen Straßen von Domino City. Und wieder erwartet Sie ein einsamer, verbitterter Abend zuhause. Niemand, der auf Sie wartet. Niemand, der …“ „Sie haben noch dreißig Sekunden“, unterbreche ich. Langsam habe ich genug von Einsamkeit und Verzweiflung in den Slums von Domino City. „Oh ja, natürlich.“ Er räuspert sich hastig. „Die Kurzfassung. Kein Problem. Sie überfahren Joey …“ „Was?!“, faucht Joey. „… Joey, der auf der Flucht vor seinem trunksüchtigen, gewalttätigen Vater auf die Straße rennt – eventuell auch auf der Flucht vor einer Straßengang, da habe ich mich noch nicht so entschieden…“ „Im Regen.“ „Danke, Jenny. Also, im Regen, blutüberströmt läuft er schließlich direkt vor Ihre Limousine. Sie fahren ihn an. Schrecksekunde! Ist er tot? Sind Sie ein Mörder? Aber nein …! Sie sehen seinen leblosen Körper auf der Straße liegen … Sie sind hin und weg, ihr verbittertes Herz erweicht sich … Sie nehmen ihn bei sich auf, erlösen ihn aus seiner Armut …“ „… ermögliche ihm Klavierstunden?“, ergänze ich trocken. „…ihre Liebe erblüht … durch alle Standesunterschiede hinweg und …“ Ich blende seine nervtötende Stimme aus und sehe zu Joey. Er blickt zurück. Seine Augenbrauen sind so weit hochgezogen, dass sie beinah unter seinem wirren Pony verschwinden. Sein ausdrucksvoller Mund zuckt und ist hin und hergerissen zwischen hemmungslosem Gelächter und fassungslosem Offenstehen. Und vielleicht tut es mir ein kleines bisschen Leid, dass ich ihn da durch gequält habe. Nur ein bisschen. Und nur vielleicht. Ich hätte wissen müssen, dass es eine dämliche Idee war. Niemand kann Joey Wheeler populär und publikumstauglich machen. Die Wahrheit über uns ist wie üblich irgendwo dazwischen. Zufälligerweise habe ich Joey nie mit dem Auto angefahren. Nur um das klarzustellen. Und Joey würde mir was husten, wenn ich ihn bitten würde, bei mir einzuziehen. Und warum um Himmels Willen sollte ich das tun? Ich kann ihn auch so kaum ertragen. „… wie finden Sie das?“, endet Donovan, und er und Jenny-Darling drehen sich mit erwartungsvollen Gesichtern zu mir um. Ich hebe eine Augenbraue. „Sie sind gefeuert.“ Sie starren mich an, als hätten sie das nicht erwartet. „Uhm …“ Donovan spielt nervös an seinem Kugelschreiber. „Falls das nicht Ihre Zustimmung findet, hätten wir auch eine B-Variante …“ „Tatsächlich.“ Ich lege die Fingerspitzen aufeinander. „In dieser Variante würden Sie Joey von seinem Abstieg in Drogenkriminalität und Prostitution erretten … wir dachten an eine Art „Pretty Woman“ meets „Oliver Twist“ meets „Brokeback Mountain“ meets …“ „Geht’s noch?“, faucht Joey. „Prostitution?! Ich habe zufällig einen tollen Nebenjob!“ … bei Carly‘s Pizza. Ich seufze und massiere mir die Schläfen. Langsam macht das keinen Spaß mehr. „Sie sind immer noch gefeuert, Donovan, und sie verschwenden meine Zeit.“ „Aber … Sir … die Akte Wheeler … der Skandal … wir müssen …!“ „Und da Sie sich als entlassen betrachten dürfen, befinden Sie sich derzeit als Unbefugter auf meinem Firmenbesitz. Falls Sie sich nicht unverzüglich entfernen sollten, sehe ich mich gezwungen, den Sicherheitsdienst einzuschalten. Danke und auf Wiedersehen.“ Ich wedele mit der Hand und schließe die Augen. Fabelhaft. Ich hätte meinen Donnerstagnachmittag auch sinnvoller nutzen können. Vielleicht damit, Papierkugeln nach meiner Sekretärin zu schnippen. Ich höre hektisches Papierrascheln und Schritte auf meinem Perserteppich. Sehr gut, ich konnte das dynamische Duo ohnehin nicht ausstehen. Roland soll sich um die Formalitäten kümmern. Und darum, dass meine Marketingabteilung mich nicht mehr mit diesem Müll belästigt. Skandal hin oder her - die Akte Wheeler bleibt vorerst geschlossen. Als die Tür ins Schloss fällt, stehe ich auf und fixiere Joey mit einem scharfen Blick. Er sieht verplant aus und starrt abwechselnd zwischen mir und meiner Bürotür hin und her. „Uhm … war das …? War das meine Schuld …?“ Ich seufze. „Nein.“ So gerne ich das auch bejahen möchte, muss ich zugeben, dass er sich wirklich kooperativ verhalten hat. Zumindest soweit es im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten liegt. „Ich denke, damit kannst du diese unerfreuliche Angelegenheit vorläufig als erledigt betrachten“, fahre ich fort. „Möglicherweise wird das Thema im nächsten Kapital noch einmal auftauchen und ich erwarte, dass du dich jederzeit willig zur Verfügung stellst, aber bis dahin verweigerst du einfach jedes Statement. Und falls … falls …“ Ich komme nicht dazu, diesen Satz zu beenden, denn mit einem Mal hängt Joey an meinem Hals wie eine Klette. Sein breiter, grinsender Mund ist direkt vor meinem und die letzte Warnung, die ich bekomme ist ein enthusiastisches „Baby!“, bevor er seine Lippen auf meine presst. Okay. Was? „Bitte erspar mir die Termini deiner fortgeschrittenen infantilen Regression“, befehle ich, als ich wieder Luft bekomme. „… huh?“ „Nenn mich nicht ‚Baby‘! Das ist widerlich und geschmacklos.“ „Okay. Kaiba.“ Er nickt und zerrt an meinem perfekt sitzenden Kragen. „Wir müssen jetzt sofort Sex haben!“ „Wieso?!“ „Das. War. So. Scharf!“ Tatsächlich? Also gut … möglicherweise lässt sich dieser Nachmittag noch halbwegs produktiv fortsetzen. „Hey Kaiba …“ „Was?“ „Wir sollten total mal Rollenspiele spielen, das macht mich irgendwie an. Ich bin der scharfe Millionär und du bist mein verkrampfter, aber williger Sekretär… oder so!“ „…“ „… was?“ „Wir könnten auch ein Rollenspiel spielen, wo ich dich mit meiner Limousine überfahren lasse, Wheeler. Siebzehnmal!“ „… das war nur ein Vorschlag!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)