Feuervogel von abgemeldet (Ein Junge und sein Benu gegen den Rest der Welt) ================================================================================ Kapitel 1: Dichtung und Wahrheit -------------------------------- Geschichten über Feuervögel, Benu genannt, die Boten und Gefährten der Götter, gab es viele in Kemet. Die Alten erzählten sie den Kindern und diese erfanden neue hinzu. All diesen Geschichten war gemeinsam, dass diese sagenhaften Vögel von großer Schönheit und Anmut waren, Wunderkräfte besaßen und Unsterblichkeit. Sie waren ebenso alt wie die Welt, von Ptah geschaffen, als er die Erde schuf, geschlüpft aus Eiern, die nicht gelegt worden waren, ebenso wie Re. Seth glaubte nichts von diesen Geschichten, sie waren eben nur das: Schöne Märchen für kleine Kinder, die an Wunder glaubten. Und er glaubte nicht an Wunder. Ein Glück bringender Vogel war ein Tier, das man entweder essen oder für gutes Geld auf dem Markt verkaufen konnte. Dennoch hörte er diese Erzählungen über die geflügelten Boten der Götter gern. Sie ließen ihn vergessen, dass es für ihn und seine Mutter, seit sein Vater sie ohne Grund einfach verlassen hatte, schwierig geworden war an das für das Leben Notwendige zu gelangen. Er war sechs Jahre alt, als er herausfand was es tatsächlich mit diesen Feuervögeln auf sich hatte und ein Benu ein fester Bestandteil seines Lebens wurde. Seth kletterte, wie häufiger in letzter Zeit, in den nahe dem Dorf gelegenen Felsen herum. Als er durch einen schmalen Gang auf eine höher gelegene Felsplatte gelangte, die rings von hoch aufragendem, glattem Gestein umgeben war, hörte er ein leises, traurig ängstliches Piepsen. Er sah sich nach der Quelle des Geräusches um und entdeckte bei näherem Hinsehen, am anderen Ende des Felskessels etwas Kleines, Fussliges, das sich unbeholfen zu bewegen versuchte. Als er näher trat, sah er, dass es sich um ein winziges Vogelküken handelte, dessen Flaum aschgrau und zerzaust war. Neben dem Küken lag ein verkohlter Pfeil, während sich rings um die Beiden, wie feiner Staub, hellgraue Asche verteilte. Seth hockte sich vor das Küken und beobachtete es eine Weile dabei, wie es sich abmühte auf die Beine zu kommen. Schließlich hob er es vorsichtig hoch und setzte es auf seine Handfläche. Die Augen des Kükens besaßen die Farbe von dunkelbraunen Schilfkolben und Seth hatte den Eindruck, dass es ihn doch tatsächlich neugierig überrascht betrachtete. Vorsichtig strich er über den Flaum des kleinen Wesens, „wie kommst du denn hier her? Hier nisten keine Vögel und du bist noch viel zu klein, um fliegen zu können.“ Das Küken piepste nur einmal auf und begann sich in die Hand des Jungen zu kuscheln. Seth sah sich um, ob nicht irgendwo ein Vogel zu sehen war, zu dem das Kleine gehörte, aber er konnte nichts dergleichen entdecken. Gerade als er sich erhoben hatte, um die Felsen zusammen mit dem Küken zu verlassen, hörte er sich nähernde Stimmen. Instinktiv sah er sich nach einem Versteck um, hierher kamen nur selten Menschen und selbst wenn sie nichts Böses im Schilde führten, hatte er keine Lust sich eine Strafpredigt darüber anzuhören, dass er sich unnötig in Gefahr brachte, indem er allein hier herum kletterte. Er hatte Glück, links von ihm, im Schatten gelegen, entdeckte er eine schmale Felsspalte. Er lief hinüber und versuchte sich darin zu verstecken; es gelang ihm nur mit Müh und Not, obwohl er nicht sonderlich groß oder kräftig war, war die Spalte doch äußerst eng und unbequem. Das Küken in seiner Hand begann aufgeregt zu piepsen, während Seth sich langsam tiefer in die Spalte schob, beruhigend streichelte er mit dem Daumen über die Brust des kleinen Wesens. „Du musst jetzt still sein, Kleiner, sonst erwischen sie uns doch noch.“ Als hätte der Vogel verstanden, was Seth gesagt hatte, schwieg er daraufhin wieder, drückte sich aber noch fester in die Hand des Jungen. Kaum hatte Seth sich so gut es ging in den Tiefen der Spalte verborgen, konnte er hören wie jemand das steinerne Tal in den Felsen betrat. „Wir müssen den Vogel unbedingt finden, Kawab. Wenn es wirklich ein Benu war, sind wir gemachte Männer!“ „Aber Feuervögel sind nur eine Legende, an die Alte und kleine Kinder glauben“, war die skeptische Erwiderung des mit ‚Kawab’ Angesprochenen. „Du hast ihn doch auch brennen sehen, nachdem ich ihn in der Luft mit einem Pfeil getroffen habe. Wie willst du mir das erklären, wenn nicht damit, dass es ein Feuervogel war?“, fragte der erste Mann seinen Begleiter. Seth konnte hören, wie sie sich während ihres Gesprächs langsam seinem Versteck näherten. „Ich weiß es nicht, Pepi, aber vielleicht, wollte dich Re für etwas bestrafen, dass du getan hast und hat dir auf diese Weise deinen Jagderfolg versagt.“ Pepi schnaubte daraufhin nur ungläubig und äußerte dann: „Sieh mal, da ist mein Pfeil. Der Vogel muss hier herunter gefallen sein. Aber wo ist er hin?“ „Vielleicht hatte ich ja doch Recht und er wurde in der Luft von Re verbrannt, um dich zu bestrafen, dann können wir gar nichts finden. Oder er ist nachdem er verbrannt ist, sofort wieder auferstanden und davon geflogen. In beiden Fällen wäre unsere Suche jedenfalls völlig vergeblich“, war Kawabs Meinung dazu, während sich die Beiden offenbar wieder Richtung Ausgang des Felskessels begaben. „Vielleicht ist uns aber auch nur jemand zuvor gekommen und hat ihn mitgenommen“, spekulierte Pepi düster. „Sei nicht dumm, hier kommt so gut wie nie jemand her, wer hätte ihn vor uns finden sollen?“, tat Kawab diese Vermutung ab, „komm, lass uns nach Hause reiten, wir finden ihn ja doch nicht mehr. Ich lade dich auch auf ein Bier ein, als Trost.“ Was Pepi darauf antwortete, konnte Seth in seinem Versteck nicht mehr verstehen. Er wartete noch einen Moment, um sicher zu sein, dass die beiden Männer wirklich verschwunden waren und begann dann sich aus der Felsspalte heraus zu winden. Nachdem er mit einigen Kratzern und Schrammen wieder in dem Felstal stand, sah er sich seinen Fund genau an. Das sollte ein Feuervogel sein? Wohl kaum, von der viel gerühmten Schönheit und Eleganz war jedenfalls nichts zu erkennen. Der kleine Vogel war unförmig, zerzaust und niedlich, aber das waren alle Tierkinder. Ob es sich nun um einen dieser sagenumwobenen Vögel handelte oder nicht, er würde ihn mitnehmen, denn wenn er ihn hier zurückließ, würde er jämmerlich zu Grunde gehen. Das Küken immer noch in der Hand haltend, machte Seth sich auf den Rückweg, musste schließlich jedoch inne halten, da er für den weiteren Abstieg beide Hände benötigen würde. Aber wo sollte er den kleinen Kerl in seiner Hand solange lassen? Da ihm nichts anderes einfiel, ließ er ihn vorsichtig in das Oberteil seines ausgefransten, alten Gewandes gleiten. Er konnte spüren, wie das kleine Ding, für einen Moment verängstigt, an seinem Bauch herumhüpfte und mit Zehen und Schnabel versuchte wieder heraus zu kommen. Beruhigend legte er von außen eine Hand auf die kleine Beule oberhalb seines Gürtels und flüsterte: „Du brauchst keine Angst haben, dir passiert nichts, ich pass auf dich auf“, und wie schon in der Felsspalte schien der Vogel auf das Gesagte zu reagieren, vielleicht war es auch nur der Tonfall oder Seths Körperwärme, auf jeden Fall beruhigte sich das Tier schnell und ließ sich nun widerstandslos durch die Gegend tragen. Zu Hause angekommen, lief der kleine Junge schnell, um nicht von seiner Mutter gesehen zu werden, in den kleinen Verschlag, der ihnen als Vorratskammer diente, die meiste Zeit jedoch eine gähnende Leere aufwies. Aus alten Stoffresten baute er für seinen Schützling ein weiches Nest und setzte das Küken hinein. Nachdem er ihm befohlen hatte leise zu sein, ging er auf die Suche nach etwas Essbarem. Er wusste nicht genau, was sein kleiner Vogel fraß, aber er würde es schon herausfinden. Schließlich kam er mit einigen grünen Gräsern, einer Handvoll Körnern, die er den Hühnern der Nachbarn gestohlen hatte, einem Regenwurm und einer kleinen Schale Wasser wieder in die Kammer, wo das Küken sich in die Fetzen gekuschelt hatte und ruhig schlief. Der Junge ließ sich vor dem Stoffnest nieder, zog die Beine an seinen Körper und sah seinem Küken mit um die Beine gelegten Armen und auf den Knien aufgestütztem Kinn beim Schlafen zu. Die Wasserschale, das Grünzeug und die Körner hatte er neben sich gelegt, nur der Wurm hing noch immer zwischen zwei Fingern von seiner Hand herab. Seine blauen Augen, die er ebenso wie seine braunen Haare, die nur in der landesüblichen Kinderlocke existent waren, von seiner hethitischen Mutter geerbt hatte, waren nachdenklich auf das kleine Flaumbündel vor ihm gerichtet. Er fragte sich, ob es vielleicht doch ein Feuervogel sein könnte und wenn ja, ob er sich dann etwas von ihm wünschen konnte. Er würde es herausfinden, wenn nicht jetzt, dann mit der Zeit. Schließlich erwachte der kleine Vogel aus seinem Schlaf und riss sogleich den Schnabel auf, um nach Futter zu schreien. Als Seth jedoch versuchte ihm den Wurm zu füttern, weigerte sich der Kleine diesen zu fressen, indem er immer wieder dem von Seths Fingern baumelnden Tier auswich. Letztendlich gab Seth seufzend auf und ließ den Wurm frei, um es mit seinen anderen Mitbringseln zu versuchen. Dieses Mal hatte er mehr Glück, er musste zwar Körner, Grünzeug und Wasser zunächst zu einem Brei vermanschen, um es dem kleinen Gierschlund in den Hals tropfen zu können, aber sobald er das herausgefunden und in die Tat umgesetzt hatte, ging das Füttern erstaunlich problemlos von statten. Nachdem das Küken satt war, begann es bettelnd zu piepsen, mit den winzigen Stummelflügeln zu schlagen und versuchte sich hoch auf zurichten. Seth war sich nicht sicher was der kleine Kerl von ihm wollte, aber er beschloss, dass er einfach etwas Nähe brauchte, nahm ihn aus seinem Nest und setzte ihn auf seinen angezogenen Knien ab. Da saßen sie nun, der kleine Junge und sein Vogelküken, sahen einander in die Augen und waren’s zufrieden. Seth begann wieder vorsichtig mit seinem Zeigefinger die Brust des kleinen Kerlchens zu streicheln, welcher dies zufrieden genoss und schließlich ebenso vorsichtig begann am Daumen des Jungen zu knabbern. Eine etwas schmerzhafte Zuneigungsbekundung, dennoch lächelte Seth glücklich. Am Abend, nachdem Seth und seine Mutter sich in dem einzigen Raum ihres winzigen Hauses zur Ruhe begeben hatten, hörte er plötzlich ein leises Piepsen aus dem Verschlag dringen, in dem er das Vogelküken untergebracht hatte. Auch seine Mutter hörte es und stand schließlich verwundert auf, um nachzusehen, ob sich tatsächlich ein Vogel in ihre Speisekammer verirrt hatte. Als sie das aschefarbene Küken in seinem Stoffnest entdeckte, sah sie ihren Sohn fragend an und wartete auf eine Erklärung. „Ich hab ihn neben seiner toten Mutter in einem heruntergefallenen Nest gefunden und hab mir gedacht, dass ich ihn behalten könnte, bis er groß genug ist, um für sich selber zu sorgen. Darf ich, bitte?“, mit flehendem Blick sah Seth zu seiner Mutter auf, geduldig auf eine Antwort wartend. Seths Mutter schwieg zunächst nachdenklich und sah ihren Sohn nur an. Seth war ein Einzelgänger, er hatte keine Freunde, was ihr Sorgen bereitete, man konnte nicht völlig allein und ohne die Hilfe Anderer durchs Leben gehen. Vielleicht war dieser Vogel eine Möglichkeit, dass sich ihr Sohn begann anderen Menschen zu öffnen. Schließlich nickte sie zustimmend, „behalt ihn, aber du musst dich auch gut um ihn kümmern.“ Seth lächelte glücklich, was er nur sehr selten tat und versicherte seiner Mutter, dass er sich ganz bestimmt gut um den Kleinen kümmern würde. Eine Weile nachdem sich die Beiden wieder hingelegt hatten und Seth schon beinahe eingeschlafen war, fühlte er plötzlich etwas Weiches gegen sein Gesicht plumpsen, das sich danach an ihn kuschelte. Seine Mutter musste die Tür der Kammer nicht richtig geschlossen haben, sodass das Küken sich hindurch quetschen konnte und zu ihm getapst war. Er hob eine Hand, legte sie um das kleine Flaumknäuel und zog es an seine Brust; so aneinander geschmiegt schliefen sie schließlich ein. tbc Für Besserwisser und solche, die es werden wollen: Es existierte in der altägyptischen Mythologie tatsächlich ein als Benu bezeichneter Vogel, dem die typischen Phönixeigenschaften zugeschrieben wurden. Allerdings wurde er zunächst als Bachstelze, später als Reiher dargestellt. - Ich hab mir die Freiheit genommen, ihn nach meinen Vorstellungen abzuändern. Bier war in Ägypten seit dem 4. Jahrtausend vor Christus bekannt und ein sehr verbreitetes Getränk. Allerdings weit weniger haltbar als heutige Varianten und vermutlich um einiges berauschender. Kapitel 2: Ein Ring sie zu binden --------------------------------- In den folgenden Monaten wurden die Beiden unzertrennlich, egal wohin Seth ging, sein kleines Flaumknäuel war dabei. Mit der Zeit bekam das Küken überall orangefarbene Flecken, sodass es eine zeitlang aussah als hätte es einen äußerst merkwürdigen Ausschlag, bis der kleine Vogel schließlich eines Tages gänzlich in tieforangefarbenes Gefieder gekleidet war. Dieses Federkleid hatte die seltsame Eigenart im Dunkeln schwach zu leuchten, es erinnerte an glimmende Glut, nachdem das Feuer gänzlich herab gebrannt ist. Aber nicht nur das Federkleid veränderte sich, auch die Silhouette erfuhr eine Wandlung. Das Vogeljunge wurde größer, sein Hals verlängerte sich ebenso wie sein Schwanzgefieder und seine Flügel und Beine wuchsen. Als es etwa die Größe eines Perlhuhns erreicht hatte, allerdings mit einer wesentlich schlankeren und grazileren Körperform, hörte es auf zu wachsen. Sein Schwanzgefieder war zu einer Schleppe geworden und der Hals wies nun eine anmutig gebogene Form auf. Es konnte nicht mehr lange dauern und er würde das Fliegen lernen und Seth verlassen. Der Junge dachte nur ungern und mit wachsender Unruhe an diesen Tag. Er hatte sich an seinen gefiederten Gefährten gewöhnt. Er erzählte ihm alles was ihn beschäftigte und hatte nach wie vor das Gefühl, sein stiller Zuhörer verstand jedes Wort, das er zu ihm sagte, wenn er Seth aufmerksam aus seinen tiefbraunen Augen ansah. Eines Tages schlenderte Seth mit seinem Benu auf der Schulter über den Markt und betrachtete die verschiedenen Auslagen der Stände, als er an einem Stand mit den verschiedensten Schmuckstücken auch einen Ring aus leuchtendem Lapislazuli entdeckte, in den ein Schriftzug eingraviert war. Seth konnte nur wenige Schriftzeichen lesen, genau genommen, kannte er nur die für seinen Namen. Und genau dieser Umstand hatte ihn, abgesehen von dem leuchtenden Blau, auf den Ring aufmerksam gemacht: Ein Teil des Schriftzuges bestand aus seinem Namen. Während er den Ring stumm betrachtete, kam ihm eine Idee. Allerdings war sie für ihn unmöglich in die Tat umzusetzen, wo hätte er das Geld hernehmen sollen diesen Ring zu kaufen? Dennoch fragte er den Besitzer des Standes nach dem Preis. Er war horrend, es bestand für Seth nicht mal eine vage Hoffnung soviel Geld zusammen zu bekommen. Der Besitzer des Standes war ein gutmütiger, kräftiger Mann mittleren Alters. Als er das enttäuschte Gesicht des Jungen vor ihm sah und den sehnsüchtigen Blick, mit dem er sich wieder dem Ring zuwandte, hatte er Mitleid mit ihm. „Wenn du diesen Ring unbedingt haben möchtest, mein Junge, wäre ich damit einverstanden ihn dir zu überlassen, wenn du mir drei Federn deines bemerkenswerten Vogels für meine Frau überlässt und einen Monat lang für mich arbeitest.“ Seth sah den Mann mit großen Augen an, ohne ein Wort zu sagen. Als er spürte wie ihn jemand sanft ins Ohr zwickte, drehte er den Kopf und sah sich dem freundlichen Blick seines gefiederten Begleiters gegenüber, der ein kurzes zustimmendes Tschilpen hören ließ und wieder verstummte. Und wenn Seth nicht genau gewusst hätte, dass es unmöglich wäre, hätte er geschworen ein kleines Lächeln auf dem Gesicht des Vogels zu sehen. Da er mittlerweile felsenfest davon überzeugt war, dass sein Wundervogel alles verstand was Menschen sagten und er ihm offensichtlich gerade mitgeteilt hatte, dass er mit dem Opfern dreier seiner Federn einverstanden sei, wandte sich der Junge nun mit ernstem Gesicht an den Schmuckverkäufer und erklärte diesem, dass er mit dem Angebot einverstanden sei. Sobald der Kaufmann erfreut genickt hatte, hob Seth auffordernd seinen linken Arm. Nachdem sich der Benu auf diesem niedergelassen hatte, griff Seth mit der rechten Hand in die Schwanzschleppe seines Freundes und meinte leise, mit einem entschuldigenden Blick: „Das wird jetzt gleich weh tun, tut mir leid.“ Der Vogel tschilpte nur beruhigend und krallte sich etwas fester in das Handgelenk des Jungen, um von dem Ruck nicht herunter gerissen zu werden. Als Seth drei der schönen Schwanzfedern ausgerupft hatte und sie dem Mann hinhielt, blieb der Vogel ruhig wo er war, lediglich seine Krallen hatten sich wieder entkrampft. Der Mann nahm die Federn dankend entgegen, fragte Seth nach seinem Namen und stellte sich selbst als Meni vor. Anschließend erkundigte er sich, wie denn der edle Spender der schönen Federn hieß. „Er hat noch keinen Namen, ich konnte mich bisher nicht entscheiden welcher Name am besten zu ihm passt“, erklärte Seth mit der ganzen Ernsthaftigkeit zu der ein beinahe Siebenjähriger fähig ist und setzte den glutfarbenen Vogel wieder auf seine Schulter. Meni nickte verständnisvoll, sah dann auf den Ring und fragte lächelnd für wen Seth diesen denn haben wolle, für einen Liebhaber wirke er doch noch etwas zu jung auf ihn. Erstaunt sah der Junge den Mann an und erwiderte nur zurückhaltend: „Er ist als Erinnerungsgeschenk für jemanden gedacht.“ Gleich darauf fragend, sowohl um von dem vorherigen Thema abzulenken als auch, weil er wirklich neugierig war: „Was für Arbeiten soll ich denn für dich erledigen?“ „Hauptsächlich Botengänge", gab Meni Auskunft, "und du wirst mir beim Auf- und Abbau des Marktstandes helfen. Traust du dir das zu?“ Seth nickte lediglich knapp und überzeugt, dann schwiegen sie einträchtig. Eindrucksvoll, mit verschränkten Armen ragte Meni hinter seinen Waren auf, sorgfältig darauf achtend, dass niemand nahm, was ihm nicht gehörte, während Seth sich auf dem Boden hinter dem Stand an die Hauswand gelehnt hatte und geduldig auf seinen ersten Auftrag wartete. Als eine vornehm wirkende Dame an ihren Stand heran trat und offensichtlich nach etwas bestimmtem Ausschau hielt, was sie in der Auslage nicht finden konnte, war es soweit. Nachdem Meni, nach einer ausführlichen Beschreibung der Dame, meinte, er hätte das Gesuchte mit Sicherheit in seinem Lager, trug er Seth auf, zu ihm nach Hause zu laufen und das entsprechende Schmuckstück zu holen. Mit einer genauen Wegbeschreibung und einem Kennwort ausgestattet, das Menis Frau wissen lassen sollte, dass Seth tatsächlich von ihrem Mann geschickt worden war, machte sich der Junge zusammen mit seinem Vogel auf den Weg. Er fand das Haus problemlos und erhielt auch ebenso leicht das Gewünschte. Auf dem Rückweg begegnete er jedoch einer Gruppe junger Männer, die, obwohl es gerade erst später Nachmittag war, bereits angetrunken waren und begannen ihn anzupöbeln. Seth versuchte so gut es ging ihnen auszuweichen, darauf bedacht schnellst möglich seinen Auftrag zu erledigen. Aber die Männer waren ihm an Zahl, Größe und Stärke überlegen und hielten ihn mühelos auf. Seth spürte wie hilflose Wut in ihm hoch stieg und ballte die Hände zu Fäusten. Dennoch versuchte er ruhig zu bleiben und überlegt zu handeln, blinder Aktionismus würde ihm hier kaum weiter helfen. Die Jugendlichen hatten unterdessen einen Kreis um ihn gebildet, den sie langsam immer enger zogen, sich genüsslich darüber unterhaltend, was sie mit einem kleinen Jungen und einem Vogel alles anstellen könnten. Das ging von relativ harmlosen Vorschlägen, wie ihn in den Fluss zu werfen und den Vogel in einem Käfig auszustellen, bis hin zu Perversitäten. Während sich sie Männer gegenseitig immer weiter anstachelten, nahm Seth ruhig den Benu von seiner Schulter und klemmte ihn vorsichtig unter seinen Arm, gleichzeitig der Hand dessen Zehen festhaltend und konzentriert die Bewegungen der Männer vor ihm beobachtend. Als der Kreis sich beinahe so weit zugezogen hatte, dass Seth keine Möglichkeit mehr geblieben wäre sich zu bewegen, schoss der Junge urplötzlich auf einen der Männer zu, von dem er den Eindruck gewonnen hatte, dass er am unsichersten auf den Beinen stand und rammte ihm seinen Kopf in die Magengegend. Mit schmerzverzerrtem Gesich und einem Stöhnen knickte der Betrunkene zusammen, während die anderen noch zu berauscht und überrumpelt waren, um etwas anderes zu tun, als überrascht dem Geschehen zu zusehen. Seth hielt sich nicht damit auf, auf eine Reaktion zu warten, sondern drängte sich schnell durch die entstandene Lücke und rannte, wie von tollwütigen Hunden gehetzt, die Gasse entlang in Richtung Markt. Völlig außer Atem kam er schließlich bei Meni an, der ihn verwundert ansah und wissen wollte, was denn geschehen wäre, dass Seth so keuche. Der Junge schüttelte nur den Kopf, zum Sprechen hatte er noch nicht genug Luft, und holte das Schmuckstück hervor. Nachdem er es Meni übergeben hatte, zeigte dieser es der Dame, die Gefallen an dem Stück fand und es erwarb. Der Rest des Tages verlief weit weniger spektakulär als die Begegnung mit den Betrunkenen, verbrachte Seth doch die meiste Zeit damit zu warten, dass er einen weiteren Auftrag erhielt. Es waren nur zwei, die er an diesem Tag noch zu erledigen hatte, bevor es an der Zeit war den Stand für den Tag zu schließen und abzubauen. In den folgenden Tagen wurde es Routine, dass Seth frühmorgens bei Menis Haus erschien, um ihm beim Transport seiner Waren auf den Markt zu helfen, dort den Stand aufzubauen und sich dann wartend hinter diesem an eine Hauswand gelehnt auf den Boden zu setzen und auf Aufträge zu warten. Abends half er Meni dann wiederum bei Abbau und Rücktransport. Während der Zeit, die sie den Tag über zusammen verbrachten, lernte Seth von Meni einiges über grundlegende Mathematik und die verschiedenen Eigenarten von Edelmetallen, Steinen und Hölzern, die für Schmuck Verwendung fanden. Einmal fragte Seth den Kaufmann, was die anderen Schriftzeichen, auf dem Ring bedeuteten und Meni erklärte: „Auf dem Ring steht ‚Merenseth’, das heißt ‚von Seth geliebt’. Siehst du“, wies Meni auf das Ende der Inschrift, „hier fehlt das Zeichen für Mann oder Frau, deshalb, kann es von beiden getragen werden.“ Als Seth wissen wollte, wie diese Zeichen denn aussähen, malte Meni sie für ihn in den Staub und erläuterte, dass es mit diesen Zeichen als Zusatz nicht mehr ‚von Seth geliebt’ sondern ‚die oder den Seth liebt’ hieße. Nachdenklich betrachtete der Junge daraufhin eine Weile en Ring, während er über das Gefieder des Vogels strich, der auf seinen angezogenen Knien saß. Der Name gefiel ihm und er passte… Ernst, feierlich sah er dem glutfarbenen Vogel schließlich in die Augen. „Ich denke, ich weiß jetzt einen Namen für dich. Was hältst du von Merenseth?“ Die Antwort des Benu bestand in einem stolzen Aufrichten, wobei er mit den Flügeln schlug und einem zustimmenden Tschilpen. Seth lächelte, „freut mich, dass er dir gefällt.“ Sobald Seth den vereinbarten Monat Arbeit abgeleistet hatte, erhielt er wie versprochen den Ring. Und obwohl er nun nicht mehr verpflichtet war Meni zu helfen, ging er dennoch häufig zu ihm, um Botengänge oder andere Aufträge zu erledigen oder um dem Kaufmann einfach zu zuhören. Er selbst redete grundsätzlich nicht viel, es sei denn mit Merenseth oder seiner Mutter, aber er mochte den Schmuckhändler und was dieser erzählte war interessant. Am Abend des Tages, an dem Seth den Ring erhalten hatte, saß er am Rand des Dorfes unter einem Baum, nicht weit von dem Haus, in dem seine Mutter mit Webarbeiten beschäftigt war. Merenseth hockte, wie so oft, auf seinen angezogenen Knien und betrachtete Seth neugierig, als dieser den Ring aus einem kleinen Beutel an seiner Hüfte zog und ihn kurz zwischen den Fingern drehte, um noch einmal die Gravur zu betrachten. Schließlich griff Seth sanft nach dem rechten Bein des Vogels und zog vorsichtig daran, bis Merenseth sein Gewicht verlagerte und ihm den Fuß entgegenstreckte, nicht ohne ein verwundertes Tschilpen hören zu lassen. „Keine Sorge, das tut nicht weh. Es soll dich an mich erinnern, wenn du fort geflogen bist. Und wenn du wiederkommst, werde ich dich an dem Ring erkennen“, erklärte Seth ihm mit ruhigem Ernst, während er den Ring vorsichtig über die zusammengehaltenen Zehen Merenseths streifte. Als der Vogel seinen Fuß wieder abgesetzt hatte, konnte der Junge sehen, dass der Ring etwas locker saß, aber die Zehen würden schon verhindern, das Merenseth, sein Geschenk verlor. Der Benu hatte währenddessen seinen Kopf vorgebeugt, um sich ebenfalls dieses seltsame Etwas an seinem Bein zu betrachten. Nachdem er es neugierig und ausgiebig gemustert hatte, hob er den Kopf und sah mit seinen klugen, braunen Augen nachdenklich in Seths blaue, traurige. Einen Moment sahen sie einander regungslos an, dann streckte der Vogel den Hals und strich mit seinem Kopf sanft über Seths Wange, um ihn gleich darauf frech an seiner Kinderlocke zu zupfen, was wohl soviel heißen sollte wie: ‚Sei nicht traurig, ich vergesse dich schon nicht.’ Und Seth lächelte, noch immer ein wenig traurig, aber bemüht tapfer. In der folgenden Nacht schreckte Seth aus einem Traum hoch, an den er sich beim Erwachen bereits nicht mehr erinnern konnte und bemerkte, dass Merenseth nicht wie üblich neben ihm lag, sondern verschwunden zu sein schien. Leicht besorgt, wo sein Benu wohl sein könnte, wollte er gerade aufstehen und nach ihm suchen, als plötzlich von außerhalb des Häuschens ein Gesang von unbeschreiblicher Schönheit erklang. Er ließ vor Seths Augen die stille Schönheit des Sonnenaufgangs erstehen, gefolgt von einem Grashalm, an dem, von der Sonne beschienen, ein einzelner Tautropfen glänzte. Obwohl er sich immer noch im Haus befand, hatte der Junge mit einem Mal den Eindruck eine sanfte, warme Brise über seine Haut streichen zu fühlen und den vielfältigen Duft eines Frühlingstages zu riechen. Es war… Er konnte es nicht in Worte fassen, aber er konnte spüren, wie sich sein Körper entspannte, in dem sicheren Wissen, dass nichts Schlechtes geschehen konnte, solang dieser Gesang ertönte. Er war wie eine weiche Decke, die ihn einhüllte, Schutz und Sicherheit bot, ohne einzuengen. Beruhigt hatte Seth sich wieder auf die Schilfmatte sinken lassen, wickelte sich in seine abgewetzte Decke und schlief bald darauf wieder ein. Am nächsten Morgen fand er Merenseth wie gewohnt neben sich liegend. Da Seth in den folgenden Nächten durchschlief, wusste er nicht, ob der Gesang häufiger zu hören oder ob dieser eine einmalige Sache gewesen war. Dafür konnte er in den folgenden Wochen etwas anderes beobachten: Da wo zuvor nichts als Sand und Steine zu sehen gewesen waren, begannen nun Gras und Blumen zu wachsen. In dem kleinen Garten, den sie im Windschatten ihres Häuschens errichtet hatten und aus dem sie bisher nur mühsam hatten etwas ernten können, fingen Getreide, Kräuter und Gemüse regelrecht zu wuchern an. Auf einem seiner Streifzüge in der Umgegend des Dorfes, fand Seth in der Nähe der Felsen ein kleines Feld wilden Hanfs. Er staunte darüber, wie in dieser trockenen Gegend Pflanzen gedeihen konnten und grübelte kurz darüber, ob an dieser Stelle bis vor kurzem nicht tatsächlich nichts gewachsen war, sammelte aber schließlich nur mit einem gleichgültigen Schulterzucken einen Teil der Pflanzen ein und brachte sie seiner Mutter, damit sie aus ihnen Leinen herstellen konnte. Ein weiteres Wunder bestand in der Entdeckung einer neuen unterirdischen Wasserstelle, um die alsbald ein Brunnen errichtet wurde, damit sich das Dorf aus dieser versorgen konnte und auf diese Weise die Menschen nicht mehr beständig an den Fluss hinunter laufen mussten. Die Entwicklung des Dorfes von einem am Rand der Wüste existierenden Ort zu einer blühenden Oase sprach sich in der folgenden Zeit herum, sodass zunehmend Karawanen in das Dorf kamen, um dort Rast zu machen und sich für die Weiterreise zu rüsten. Trotzdem das Leben für Seth und seine Mutter auf diese Weise einfacher und angenehmer wurde, konnte sich der Junge dennoch nicht so unbeschwert darüber freuen, wie es angesichts der vielen Wunder wohl verständlich gewesen wäre. Der Grund dafür war noch immer Merenseth und eines Tages war es schließlich so weit. Die Beiden waren gerade auf dem Rückweg von einem Auftrag, den sie für Meni erledigt hatten, als Seth spürte wie sich Merenseth von seiner Schulter abstieß, hörte wie der Vogel mit den Flügeln schlug und ihn schließlich vor sich mit elegantem Schwung in den Himmel aufsteigen sah. Er wurde kleiner und kleiner vor dem unendlichen Blau des Horizonts und schließlich war nicht einmal mehr ein kleiner, schwarzer Punkt zu erkennen, sondern nur noch unendliches, gnadenloses Blau. Traurig hatte Seth seinem Freund nachgesehen und sich stumm von ihm verabschiedet. Selbst nachdem Merenseth längst aus seinem Blickfeld verschwunden war, verharrte er noch immer an derselben Stelle und starrte in das wolkenlose Blau über ihm, bis ihm begannen die Augen zu tränen. Da erst wandte er den Blick ab, wischte sich ungehalten mit der Hand über die Augen und setzte seinen eingeschlagenen Weg fort. Kurz bevor er sein Ziel erreicht hatte, hörte Seth plötzlich ein fröhliches Tschilpen über sich, das ihn verwundert den Kopf drehen ließ. Im nächsten Moment sah er einen glutfarbenen Blitz auf sich zu rasen, der schließlich knapp über seinen Kopf hinweg fegte, sodass Seth den Luftzug spüren konnte. Wieder wandte der Junge den Kopf, um das eigens für ihn inszenierte Schauspiel weiter zu verfolgen und sah, wie Merenseth sich in eleganten Kreisen hoch in die Luft schraubte, einige Loopings vorführte und schließlich pfeilgerade, mit angelegten Flügeln auf die Erde zu schoss. Erst kurz bevor er Gefahr lief unsanft auf dem Boden aufzuschlagen, breitete der Benu wieder die Flügel aus, bremste so den Sturzflug und landete sanft auf dem Boden. Mit unzweifelhaft stolzgeschwellter Brust und leicht erhobenen Schopffedern stand der zierliche Vogel nicht weit von Seth entfernt und schien mit einem kurzen Tschilpen zu fragen: ‚Na, was meinst du? Hat es dir gefallen, war ich gut? Ich bin toll, nicht wahr?’ Seth lachte. Nicht nur weil er gerade herausgefunden hatte, dass sein Benu offenbar ein eitler, kleiner Gockel war, sondern auch weil er so froh war, dass Merenseth ihn nicht einfach verlassen hatte. Dass er trotz seiner neu gewonnen Freiheit zu ihm zurückgekehrt war. Flink überwand der Junge die kurze Distanz und bestätigte seinem gefiederten Freund gleich darauf, dass er von dessen Flugkünsten sehr beeindruckt sei, während er ihm auffordernd die Hand hinhielt, damit der Benu darauf hüpfte und er ihn anschließend wieder auf seine Schulter setzen konnte. Doch dieses Mal verschmähte Merenseth diese Prozedur und flog stattdessen kräftig mit den Flügeln schlagend von selbst auf die Schulter Seths, um sich dann stolz auf dieser thronend durch die Gegend tragen zu lassen. Numismatische Wahrheitsfindung Geld in Form von geprägten Münzen ist tatsächlich erst für die Ptolemäerzeit nachweisbar. Silberstücke mit Gewichts- und Herkunftsangabe sind allerdings bereits seit lybischer Zeit bekannt. Während des MR und besonders des NR erfüllten Ringe oder Barren aus Gold, Silber und Kupfer die Funktion von Geld. Das Gewicht ebenso wie die Metallwerte zueinander war jeweils eindeutig festgelegt. Darüber hinaus diente Getreide als Wertmesser, wobei das Verhältnis von Getreide/Metallwert offenbar von Jahr zu Jahr entsprechend der Ernte wechselte. Kapitel 3: Schein und Sein -------------------------- Während der Mittagshitze wirkte das Dorf stets wie ausgestorben, da jeder etwas Erholung in den kühlen Mauern der Häuser suchte. Einige Tage nach der Vorführung seiner Flugkunststückchen, hatte Merenseth sich genau zu dieser Zeit, unbemerkt von einem vor sich hindösenden Seth, auf und davon gemacht und war zu den Felsen geflogen, zwischen denen Seth ihn vor Monaten gefunden hatte. In dem Felsental angekommen, ließ der Vogel sich auf einem großen Felsbrocken nieder und schien auf etwas zu warten. Tatsächlich war es so, dass er weniger auf etwas wartete, als vielmehr über etwas nachdachte und sich anschließend mit geschlossenen Augen auf einen Punkt in seinem Inneren konzentrierte. Als er die Augen wieder öffnete und vorsichtig an sich hinunter schielte, stellte er fest, dass er sich nicht verändert hatte. Es war auch schon eine ganze Weile her, seit er es das letzte Mal getan hatte und eigentlich mochte er es überhaupt nicht. Aber auf Dauer ging es nicht anders, wollte er mit dem Jungen befriedigend kommunizieren und seit er den Ring trug, hatte er ohnehin keine andere Wahl. Also versuchte Merenseth erneut sich zu verwandeln, wieder ohne sichtbaren Erfolg. Über den zahl- und fruchtlosen Versuchen Merenseths eine Veränderung seiner selbst zu erzeugen, verging langsam und allmählich der Nachmittag, ohne dass der Vogel darauf oder seine Umgebung achtete. Seth war durch Meni geweckt worden, der ihn an der Schulter schüttelte und ihm erklärte es gäbe Arbeit für ihn. Benommen von der Hitze und noch leicht verschlafen sah Seth einen Moment zu ihm hoch, bevor er sich gähnend erhob und gewohnheitsmäßig nach Merenseth auf seiner Schulter tastete. Nur, da war nichts und auch ein suchender Blick in die Umgebung brachte keinen Aufschluss über den Verbleib des Benus. Für den Augenblick stellte Seth die Gedanken um den Vogel zurück, vermutlich flog er nur irgendwo herum oder hing kopfüber an einem Ast und beobachtete das Geschehen unter sich. Er würde schon wiederkommen und Seth hatte für den Moment andere Dinge zu erledigen. Als es jedoch Zeit wurde Menis Stand für den Tag zu schließen und Merenseth noch immer nicht zurückgekehrt war, begann sich der Junge doch ernsthafte Sorgen zu machen. Wo blieb der Kleine bloß? Nachdem die Waren Menis sicher in dessen Lager verstaut waren, machte Seth sich auf die Suche nach seinem Freund und fragte im Dorf herum, ob jemand seinen Vogel gesehen habe. Nach vielen enttäuschenden Verneinungen seiner Frage, erhielt er schließlich doch noch von einem alten Mann, der zufrieden auf einer Bank vor seinem Haus saß, eine ausführlichere Antwort. „Wenn mich meine Augen und die Mittagssonne nicht getäuscht haben, ist heute Mittag ein Vogel in Richtung der Felsen geflogen. Ich habe mich noch gewundert, was den Vogel wohl dazu veranlaßt hat, wenn sich doch sonst alles ausruht. Aber meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher. Dass es dein Benu war, kann ich nicht sicher sagen.“ Trotz dieser Antwort machte sich Seth mit neuer Hoffnung auf Richtung Felsen und kletterte flink und mit dem Geschick langer Übung, einer Vermutung folgend, zu dem Felskessel in dem er Merenseth gefunden hatte. Mit einer seltsamen Mischung aus Zufriedenheit und Unverständnis sah Merenseth an sich herab. Endlich hatte sie es geschafft. Aber warum Menschen an so einem unvollkommenen Körper hingen verstand sie nicht. Er hatte an den unmöglichsten Stellen störende Huckel und Dellen, statt ihren zweimal vier Krallen besaß sie nun nutzlose zweimal fünf Zehen und weder Flügel noch einen Schwanz. Die Körperproportionen und die Haltung sorgten dafür dass sie starke Schwierigkeiten hatte ihr Gleichgewicht zu halten, während sie sich gleichzeitig fragte, wie Menschen nur ohne Gefieder und mit so schlechten Augen überleben konnten. Nein, in Menschengestalt zu leben war wirklich kein Vergnügen und wenn es ihr möglich war, würde sie diesen Zustand so selten wie möglich herstellen. Mit einem kleinen Seufzen erhob sich Merenseth von dem Stein, an dem sie bis zu diesem Moment gelehnt hatte, um nicht gleich im Staub zu landen, und begann mit weit von sich gestreckten Armen, schwankend, torkelnd und immer wieder in die Knie gehend das Laufen zu üben. Als Seth sein Ziel in den Felsen erreichte, erblickte er ein nacktes, schmales Mädchen von etwa zwölf Jahren, mit dunkelbraunen Haaren und weit ausgebreiteten Armen, das verzweifelt versuchte sein Gleichgewicht zu halten, während es langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Das Seltsame an dem Mädchen war nicht nur, dass es offenbar Schwierigkeiten mit einer so einfachen Sache wie dem Gehen hatte, sondern auch, dass es bei diesem Versuch des Öfteren ruckartig den Kopf nach vorn bewegte, wie es Tauben und andere Vögel beim Laufen taten. Am rechten Knöchel des Mädchens entdeckte Seth einen schmalen, lapislazuliblauen Reifen, der so eng saß, dass es ein Rätsel war, wie das Mädchen diesen Reifen je anlegen konnte. Obwohl der Reifen um einiges größer war als der Ring, den Seth seinem Benu geschenkt hatte, erinnerte ihn der Reifen doch an diesen, zumal selbst die Schriftzeichen auf dem Reifen mit seinem Geschenk übereinstimmten. Währenddessen hatte das Mädchen entdeckt, dass es von Seth beobachtet wurde und kam langsam, mit hochkonzentriertem Gesichtsausdruck, noch immer ausgebreiteten Armen und bemüht nicht mit dem Kopf zu rucken auf ihn zugeschwankt. Als sie nur noch ein oder zwei Schritte von dem Jungen entfernt war, blieb sie stehen, ließ die Arme sinken und äußerte mit einer Stimme, die viel zu alt für ihre zwölf Jahre, dunkel und warm klang: „Ich wollte es dir eigentlich erst zeigen, wenn ich es richtig kann, so wie beim Fliegen, aber das lässt sich jetzt wohl nicht mehr bewerkstelligen.“ Seth sah sie nur aus großen, erstaunten Augen an, wer war dieses Mädchen und warum redete es mit ihm, als würden sie sich schon seit einer Weile kennen? Merenseth hatte währenddessen den Kopf leicht zur Seite geneigt und betrachtete ihn amüsiert. „Du hast keine Ahnung wer ich bin, stimmt’s?“ Seth runzelte verärgert die Stirn, „Natürlich nicht, woher auch?!“, entgegnete er ungehalten und wollte sich bereits wieder umdrehen, um zu gehen und weiter nach seinem Benu zu suchen, als er von der Stimme des Mädchens aufgehalten wurde, das plötzlich Dinge zu erzählen begann, von denen er geglaubt hatte, dass außer Merenseth niemand eine Ahnung davon hätte. „Vor sechs Monaten hat du hier ein Vogelküken gefunden und dich zusammen mit ihm vor zwei Männern versteckt, die es mitnehmen wollten. Später hast du es mit nach Hause genommen und in einer kleinen Kammer einquartiert. Deiner Mutter hast du eine Lüge erzählt wie du mich gefunden hast, weil du nicht wolltest, dass sie sich Sorgen darüber macht, wenn du einfach allein in den Felsen herum kletterst. Als du vier warst, hat dein Vater dir das Reiten beigebracht. Du hattest Angst vor dem Pferd, wolltest aber nicht, dass dein Vater es merkt, sondern dass er stolz auf dich ist, wie schnell du reiten lernst. Als er euch dann von einem Tag auf den anderen verlassen hat, hast du beschlossen so schnell wie möglich erwachsen zu werden, um deine Mutter versorgen zu können und heraus zu finden, warum dein Vater das getan hat. Am ersten Tag, als du begonnen hast, für Meni zu arbeiten, sind wir von einer Gruppe Trunkenbolde angegriffen worden. Du hast einem der Männer den Kopf in den Bauch gerammt und nie jemandem erzählt was passiert ist. Den Ring hast du mir geschenkt, damit ich dich nicht vergesse und du mich wieder erkennst, wenn ich davon geflogen bin und eines Tages wiederkommen sollte.“ Nachdem Merenseth geendet hatte, schwiegen Beide eine Weile, Merenseth auf eine Reaktion wartend, Seth viel zu geschockt um irgendetwas zu sagen. Sein Merenseth, sein Benu, sein Freund und Vertrauter hatte sich soeben als ein MÄDCHEN entpuppt. Das war so ziemlich das Schlimmste, was ihm passieren konnte. Mädchen waren dumm, nervig, kicherten ständig, tuschelten einander hinter vorgehaltener Hand irgendwelche Lügen zu und konnten kein Geheimnis auch nur fünf Minuten für sich behalten. Es war schlicht eine Katastrophe, er hatte einer dieser hinterhältigen und unzuverlässigen Gänse mehr erzählt als irgendwem sonst und er konnte sich die Schreckensbilder nur zu gut ausmalen, die das zur Folge haben würde. Seth fühlte sich betrogen, er hatte seinem Freund vertraut und jetzt stellte sich heraus, dass es gar kein Freund war, den er da all die Monate auf seiner Schulter herumgetragen hatte, das war einfach nicht gerecht. Den letzten Rest seines stark angeschlagenen Stolzes zusammenkratzend, richtete Seth sich kerzengerade auf, sah direkt in die freundlichen, braunen Augen seines Gegenübers und erwiderte so entschlossen wie irgend möglich: „Ich habe keine Ahnung wovon du redest.“ Anschließend dreht er sich schwungvoll herum und verließ mit schnellen Schritten den Felskessel. Merenseth sah ihm verblüfft hinterher, mit soviel Ablehnung hatte sie nicht gerechnet. Im Gegenteil, ihre letzte Besitzerin war hellauf begeistert gewesen, als sie sich in menschlicher Form präsentiert hatte und bestand darauf, dass Merenseth sich stets in dieser Gestalt in ihrer Nähe aufhielt – was eine reine Tortur für Merenseth gewesen war, aber die Wünsche des Besitzers waren Gesetz, bis der Benu aus dessen Diensten entlassen wurde. Wieder einmal den Kopf über menschliche Eigenarten schüttelnd, begann Merenseth dem Jungen, der nun ihr Besitzer war, hinterher zu laufen. Wobei schwanken und stolpern es wohl eher trafen, sodass sie schließlich abwechselnd leise vor sich hin jammerte, wenn sie sich wieder einmal an einer Felskante gestoßen hatte, was in etwa alle zwei Schritt vorkam, und Seth hinterher rief er solle stehen bleiben. Da der Junge jedoch nicht hörte und Merenseth schließlich die Nase davon voll hatte, sich beständig an irgendwelchen spitzen Steinen Schrammen und blaue Flecken zu holen, verwandelte sie sich wieder in die ihr angenehmere Gestalt eines Vogels zurück und holte mit wenigen kräftigen Flügelschlägen den flüchtenden Jungen ein. Kurzerhand versperrte sie ihm den weiteren Rückweg, verwandelte sich wieder in ihre menschliche Gestalt und fragte Seth: „Warum läufst du vor mir davon? Ich kann nichts dafür, dass ich diese hässliche Form annehmen muss, wenn ich mit dir reden will, anders würdest du mich nun einmal nicht verstehen.“ Noch immer wütend starrte Seth seinen ehemaligen Freund an und spuckte dann förmlich die Bemerkung heraus: „Du bist ein Mädchen!“, es klang wie die schlimmstmögliche Beleidigung in ganz Kemet. Erneut verwirrt runzelte Merenseth die Stirn, „ich verstehe nicht. Ich kann ebenso wenig dafür, dass ich ein Weibchen bin, wie du dafür, dass du ein Männchen bist. Also, warum bist du so wütend?“ Seth verschränkte die Arme vor der Brust und starrte das Mädchen mit gerunzelter Stirn ungehalten an, wie sollte er einem Vogel bitte erklären, dass er das Gefühl hatte belogen worden zu sein? Sie hätte ihm verdammt noch mal von Anfang an sagen müssen, dass sie kein Junge war, dann hätte er sie doch gar nicht erst mitgenommen. Währenddessen stand Merenseth geduldig abwartend vor dem Jungen, der noch immer stur vor sich hin schwieg. „Warum hast du mir nicht schon früher gesagt, dass du kein Junge bist?“, knurrte Seth schließlich missmutig, während er das Wesen aus verengten Augen wütend ansah. „Weil ich es nicht konnte. Wir müssen ausgewachsen sein, bevor wir die Gestalt von Menschen annehmen können. Ein Mensch zu werden, ist nämlich nicht gerade einfach“, erklärte Merenseth ihrem neuen Herren mit freundlichem Ernst, völlig unbeeindruckt von dessen schlechter Laune. „Und wann hattest du vor mir das zu sagen?“ „Sobald ich es richtig gekonnt hätte.“ „Schön. Da du es kannst und ich es gesehen habe, kannst du dich jetzt wieder in einen Vogel verwandeln und davon fliegen!“, erklärte Seth bestimmt und wollte sich an dem Vogelmädchen vorbeidrängen, als er durch die Frage „Wohin soll ich fliegen?“ kurz aufgehalten wurde. „Weg!“, erwiderte Seth kurz angebunden, warf ihr noch einen grimmigen Blick zu und machte sich anschließend auf den Weg nach Hause. Auf die ihm nachgerufene Frage Merenseths, wann sie denn zurückkehren solle, antwortete er nicht mehr. Zu Hause angekommen hüllte Seth sich in grimmiges Schweigen. Auch auf die wiederholten Nachfragen seiner Mutter, wo denn Merenseth und warum Seth so schlecht gelaunt sei, antwortete er nicht, sondern stocherte nur lustlos in seinem Abendessen herum. In der Nacht lag er wach, mit unter dem Kopf verschränkten Händen auf seiner Schilfmatte und starrte durch die Deckenöffnung der Feuerstelle hinaus in den Nachthimmel. Er konnte es immer noch nicht so recht fassen, dass sein bester Freund sich als eine üble Fälschung heraus gestellt hatte. Gleichzeitig dachte er über die Auseinandersetzung am Nachmittag nach und begann sich das erste Mal über die Fragen zu wundern, die ihm Merenseth zum Schluss gestellt hatte. Als Seth am nächsten Morgen aus dem Haus trat, um sich auf den Weg zu Menis Haus zu machen, nahm er aus dem Augenwinkel einen glutfarbenen Schimmer in einem der nahe stehenden Bäume wahr; ignorierte diesen jedoch und lief einfach weiter. Die Menschen im Dorf sahen Seth verwundert hinterher, als dieser das erste Mal seit langer Zeit ohne seinen Benu unterwegs war und so manch einer murmelte, dass das womöglich ein schlechtes Zeichen sei und Unglück für das Dorf verhieß. Wie bereits Seths Mutter, erkundigte sich auch Meni, wo denn Seths treuer Begleiter abgeblieben sei. Scheinbar völlig desinteressiert an dieser Frage zuckte Seth nur mürrisch mit den Achseln und erledigte die ihm aufgetragenen Arbeiten. Schweigend beobachtete Meni hin und wieder seinen jungen Gehilfen, während er hinter seinem Stand auf Kundschaft wartete und fragte ihn schließlich: „Ist Merenseth davon geflogen?“ Seth schüttelte nur missmutig den Kopf, während er murrte: „Obwohl sie es besser getan hätte.“ Erstaunt drehte sich Meni vollständig zu dem Jungen herum, der hinter ihm an einer Hauswand saß, und fragte ihn: „Wieso bist du denn auf einmal so schlecht auf deinen Freund zu sprechen?“ Wütend hob Seth den Blick zu Menis Gesicht und erwiderte: „Sie hat mich angelogen! Ich hab ihr vertraut und sie hat mich einfach hintergangen!“ Meni schmunzelte bei diesem Ausbruch amüsiert, „wie kann dich ein Vogel denn hintergehen? Hat sie sich nachts heimlich davon gestohlen, um sich bei euren Nachbarn ein paar Körner zu holen?“ Mürrisch runzelte Seth die Stirn, während er diese Frage verneinte. „Dann hat sie sich vielleicht bei einem Anderen auf die Schulter gesetzt?“ „Merenseth, lässt sich nur von mir tragen“, lautete die entschiedene Verneinung Seths auf Menis zweite Vermutung. Kopfschüttelnd erklärte Meni: „Also dann weiß ich wirklich nicht, warum du so schlecht auf deinen Benu zu sprechen bist.“ Mit auf den angezogenen Knien verschränkten Armen erklärte Seth: „Sie ist ein Weibchen!“ Belustigt erkundigte sich Meni: „Und das ist so schlimm?“ Seth seufzte und lehnte die Stirn auf die verschränkten Arme. So wie Meni fragte, kam er sich langsam wirklich lächerlich vor, dass er sich über die Tatsache, dass Merenseth kein Junge war, so ärgerte. Andererseits wusste Meni ja auch nicht, dass der Benu Menschengestalt annehmen konnte. Währenddessen fuhr Meni fort: „Bisher hast du dich doch auch nicht an der Tatsache gestört, warum also jetzt?“ „Weil ich es bis Gestern nicht wusste“, brummte Seth verärgert vor sich hin. „Du hast bis Gestern nicht gewusst, dass Merenseth ein Weibchen ist?“, wiederholte Meni verwundert. „Nein, woher denn auch?“, lautete die ungehaltene Antwort auf diese Nachfrage. „Hm, da hast du Recht, bei Vögeln ist das schwer zu erkennen“, stimmte Meni Seth nachdenklich zu und erkundigte sich dann: „Wie hast du es heraus gefunden? Hat sie Eier gelegt? Könnte ich dann eines ihrer Küken haben?“ Geschockt riss Seth den Kopf nach oben und starrte den Schmuckhändler einen Moment sprachlos an, bevor er ihm energisch antwortete: „Nein, sie hat keine Eier gelegt und wenn, könnte ich ihr doch nicht einfach ihre Kinder wegnehmen, das geht doch nicht.“ Lächelnd betrachtete sich Meni das entschlossene Gesicht des Sechsjährigen vor ihm und erkundigte sich schließlich: „Glaubst du, du wirst es deinem Freund eines Tages verzeihen können, kein Männchen zu sein, wenn sie weiterhin nicht bei Anderen Essen stibitzt und sich nur bei dir auf der Schulter niederlässt?“ Seths Gesicht hatte sich bei dieser Frage wieder verdüstert und er schwieg verbissen. Nachdem Meni eine Weile vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, wandte er sich von Seth ab und begrüßte freundlich einen an den Stand getretenen Passanten. Als Seth am Abend nach Hause zurückkehrte, hockte Merenseth scheinbar unverändert in einem nahestehenden Baum und wartete. Doch auch diesmal beachtete der Junge den Vogel nicht weiter, sondern ging ohne ein Wort oder eine Geste ins Haus. Später trat Seths Mutter ins Freie, stellte dem Benu Futter und Wasser hin, sah zu dem Vogel auf und murmelte leise vor sich hin: „Ich hatte gehofft, dass du ihm hilfst, aber es scheint, als würdest selbst du an dieser Aufgabe scheitern. Ist es denn zuviel verlangt, wenn ich mir wünsche, dass mein Sohn glücklich ist?“ Mit einem leisen Seufzen drehte sich Seths Mutter anschließend wieder um und kehrte ins Haus zurück. Ohne das hingestellte Futter zu beachten, saß der Benu weiter still in seinem Baum, rührte keinen Muskel und wartete, während Seth sich weiterhin bemühte den Vogel vor dem Haus zu ignorieren und sich doch hin und wieder vorsichtig zu Tür oder Fenster schlich und verstohlen beobachtete, ob Merenseth nicht vielleicht doch endlich davon geflogen war. Jedes Mal, wenn Seth feststellte, dass der Vogel noch immer ruhig auf ein und demselben Ast saß, spürte er ein seltsam erleichtertes Prickeln in seinem Bauch. Am nächsten Morgen saß Merenseth noch immer im Baum, das Futter nach wie vor unangerührt, als schließlich Seth mit einem kleinen Bündel Stoff in den Händen aus dem Häuschen, unter den Baum trat und dem Benu erklärte, dass er mit ihm reden wolle. Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sich Seth anschließend Richtung Fluss, während der Benu ihm fliegend mühelos folgte. Als Beide am Flussufer angekommen waren, sich zwischen den hoch aufragenden Papyrusstauden niedergelassen und Merenseth wieder die Gestalt eines Menschen angenommen hatte, drückte Seth ihr zunächst das Stoffbündel in die Hand, mit der Aufforderung: „Zieh das an!“ Widerspruchslos gehorchte Merenseth und schlüpfte in das alte, noch gut erhaltene Leinengewand, während sie fragte: „Woher hast du das?“ „Es gehört meiner Mutter, aber sie trägt es nicht mehr und wird es wohl auch nicht vermissen“, antwortete Seth leicht ungeduldig, bevor er fortfuhr: „Wieso bist du nicht weggeflogen, wie ich es dir gesagt habe?“ „Du hast nicht gesagt wohin und du hast mir den Ring nicht abgenommen“, erklärte Merenseth ruhig. „Was hat denn der Ring damit zu tun?“, fragte Seth mit einer Mischung aus Verärgerung und Erstaunen. „Solange ich deinen Ring trage, werde ich bei dir bleiben“, erwiderte Merenseth mit ruhiger Gelassenheit. Worauf Seth sie einen Moment in schweigender Verblüffung ansah, dann riss er sich zusammen und äußerte hoheitsvoll: „Also gut, ich bin einverstanden, dass du bei mir bleibst. Aber du darfst mich nie wieder anlügen oder hintergehen!“ Merenseth nickte daraufhin zustimmend und zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Nachdem die grundlegenden Regeln für ihre zukünftige Beziehung geklärt waren, schwiegen sie einen Moment und sahen auf das fließende, bräunlich grüne Wasser des Nils, der träge dahin floss. Schließlich begann Seth ein neues Gespräch, indem er die für ihn wichtige Frage stellte: „Legen Benu eigentlich Eier?“ Erstaunt über die Besorgnis in Seths Stimme, betrachtete Merenseth den Jungen einen Augenblick, bevor sie den Kopf schüttelte und erklärte: „Nein, wir sind unsere eigenen Nachkommen.“ „Dann kennt ihr auch nicht so etwas wie Familien, oder?“, erkundigte sich Seth neugierig geworden und Merenseth erwiderte: „Nicht so wie ihr. Wir wissen zum Beispiel nicht, was es heißt Kinder zu haben und sie groß zu ziehen. Aber man könnte sagen, dass die Götter so etwas wie unsere Eltern sind, denn nur auf Grund ihres Willens existieren wir und ihnen haben wir in erster Linie zu gehorchen. Außerdem sind die anderen Benu für jeden von uns so etwas wie seine Geschwister.“ „Verstehst du dich denn mit deinen Geschwistern?“, wollte Seth als nächstes wissen. „Benu sind meist Einzelgänger, sodass ich meine Geschwister nur selten sehe. Aber wie bei den Menschen, haben sie unterschiedliche Charaktere, sodass die einen sich besser, die anderen schlechter verstehen“, entgegnete Merenseth. „Hm“, lautete Seths Antwort darauf bevor er gleich die nächste Frage stellte: „Kannst du Wünsche erfüllen?“ Merenseth lächelte leicht bei dieser Frage und erklärte dann: „Das kommt auf die Art deines Wunsches an. Wenn du beispielsweise möchtest, dass ich dir Gesellschaft leiste oder irgendwo hinfliege, dann ja, diese Wünsche kann ich erfüllen. Wenn du aber möchtest, dass ich einen Toten in diese Welt zurückhole oder vor deinen Augen plötzlich ein köstliches Festmahl erstehen lasse, dann nein, das kann ich nicht.“ „Dann kannst du auch nicht dafür sorgen, dass Mutter wieder glücklich ist?“, erkundigte sich Seth etwas enttäuscht. „Nein, aber ich kann dir dabei helfen, es zu erreichen.“ Seths Reaktion auf Merenseths Äußerung bestand wiederum nur in einem nachdenklich gebrummten „hm.“ Anschließend sah er zum Himmel auf, prüfte den Stand der Sonne und erklärte, dass sie nach Hause gehen sollten, seine Mutter würde sicher bereits mit dem Essen auf sie warten. Wortlos nickend erhob sich Merenseth daraufhin, um ihren Besitzer zurück ins Dorf zu begleiten, wurde jedoch von Seth mit der Bemerkung aufgehalten, sie solle sich wieder in ihre gewohnte Gestalt verwandeln. Mit einem erleichterten und dankbaren Lächeln folgte Merenseth umgehend dieser Aufforderung, sodass einen Augenblick später ein ungebleichtes Leinengewand auf dem Boden lag, aus dem sich ein glutfarbener Vogel heraus arbeitete. Seth musste bei dem Anblick grinsen, hob anschließend das Gewand vom Boden auf und machte sich zusammen mit seinem Vogel auf den Heimweg. Kapitel 4: Glücksprinzip ------------------------ Kurze Vorbemerkung: Ich bin mit dem Kapitel nicht wirklich zufrieden. Da es trotz Überarbeitung nicht besser geworden ist, ich es aber für den Fortgang der Geschichte für wichtig halte, stelle ich es dennoch on und hoffe einfach mal auf die großmütige Nachsicht der ehrenwerten Leser. Ich danke für die Aufmerksamkeit und hoffe das Lesevergnügen wird nicht allzu sehr geschmälert. ^^ Der Geburtstag eines Kindes war in Kemet stets eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit. Es war nicht nur eine Gelegenheit zu zeigen wie viel einem sein Kind bedeutete, sondern gleichzeitig Dank und Versicherung an die Götter. Dank dafür, dass dieses Kind geboren wurde und aufwachsen durfte und Versicherung, sich dieses Geschenks würdig zu erweisen. Seit sein Vater verschwunden war, hatte Seth nie große Lust verspürt seinen Geburtstag zu feiern, dieses Jahr jedoch war das anders. Er hatte Meni und dessen Frau eingeladen und mit Merenseth einen Plan ausgeheckt, damit auch diese in menschlicher Gestalt an der Feier teilnahm. Der Grund für das alles, war der schlichte Wunsch seine Mutter wieder lächeln zu sehen und wenn sie sah, dass er Freunde hatte, sich also keine Sorgen machen musste, er wäre ein trauriger Einzelgänger und Menschenverächter, würde sie doch bestimmt glücklich sein. Am Abend vor Seths Geburtstag war Merenseth auf Befehl des Jungen davon geflogen, um sich bis zum Abend des folgenden Tages nicht mehr zu zeigen. Stattdessen sollte sie sich in dieser Zeit in dem schon erprobten Felskessel verbergen und dort auch ihre menschliche Gestalt annehmen. Seths Mutter wunderte sich zwar über das Verschwinden des sonst so treuen Vogels, da Seth selbst jedoch nicht besorgt schien, machte sie sich darüber weiter keine Gedanken. Ungeduldig wartete Seth am Tag darauf auf seine Gäste. Bei dem Anblick, wie ihr Sohn unruhig auf- und abging, hinaus lief, um nachzusehen, ob denn noch niemand zu sehen war, wieder ins Haus zurückkehrte und sich für einen Moment still hinsetzte, nur um wenig später erneut aufzuspringen und herum zu laufen, musste seine Mutter lächeln. So kindlich hatte sie ihn schon lang nicht mehr erlebt. Als Seth schließlich wieder einmal das Innere des Hauses betrat, nachdem er Ausschau nach seinen Gästen gehalten hatte, wurde er von einem etwa zwölfjährigen Mädchen begleitet. „Das ist Meren“, stellte er das Mädchen seiner Mutter vor und betrachtete mit gespannter Neugier sowohl die Reaktion seiner Mutter, als auch das Verhalten Merens. „Schön, dich kennen zu lernen, Meren“, begrüßte Seths Mutter das Mädchen mit einem freundlichen Lächeln und erkundigte sich anschließend: „Bist du zu Besuch hier? Ich habe dich vorher im Dorf noch nie gesehen.“ Nachdem Meren die Begrüßung erwidert hatte, beantwortete sie die gestellte Frage, so wie sie es mit Seth abgesprochen hatte: „Ich besuche hier meine Tante.“ „Wer ist denn deine Tante, vielleicht kenne ich sie ja“, hakte Seths Mutter neugierig nach. „Maatkare, Tochter des Sethnacht und der Tausret“, lautete Merens bedächtige Antwort. Diese war zwar mit Seth nicht abgesprochen, aber durch ihre Beobachtungen der dörflichen Vorgänge wusste Merenseth, dass Maatkare, eine reife Matrone, nur sehr selten ihr Haus verließ und auch nicht mit Seths Mutter bekannt war. Nachdem diese das mit ihrer Aussage bestätigt hatte, erkundigte sich Seths Mutter wie ihr Sohn und Meren sich kennen gelernt hätten und fügte mit einem Lächeln hinzu, dass Seth nur selten etwas erzählen würde. Die Wangen des Jungen röteten sich daraufhin etwas verlegen, bevor er selbst auf die Frage seiner Mutter antwortete. „Sie hatte sich verlaufen und ich hab ihr den Weg gezeigt.“ Bevor Seths Mutter weitere Fragen stellen konnte, war durch die offene Hüttentür die dröhnende Stimme Menis zu vernehmen, der sich erkundigte, wo denn das Geburtstagskind stecke. Sofort sprang Seth auf und lief hinaus, um seine weiteren Gäste zu begrüßen. Meni überreichte Seth als Geschenk ein Amulett, das alles Böse von diesem fernhalten würde, solang er es um den Hals trug. Als schließlich alle in der Hütte zusammen saßen, sich die von Seths Mutter bereiteten Speisen schmecken ließen und über Geschichten lachten, die Meni zum besten gab, blieb es nicht aus, dass Meren ein weiteres Mal ausgefragt wurde. Woher sie ursprünglich komme, wer ihre Eltern wären und wie lang sie im Dorf bleiben würde. Der Name, den Meren auf die erste Frage nannte, bedeutete soviel wie „Ort der Seligkeit“, keiner hatte je von einem solchen Ort gehört, außer in Zusammenhang mit dem Leben nach dem Tod, aber niemand wäre wohl so blasphemisch das Jenseits ins Diesseits versetzen zu wollen. Mit einem Schmunzeln erklärte Meni: „Bei einem solchen Namen, ist die Versuchung groß, das Dorf kennen zu lernen, um sich zu überzeugen, dass es diesen Namen auch verdient.“ „Ich bin sicher, dass du es eines Tages sehen wirst“, erklärte Meren mit einem freundlichen Lächeln, bevor sie die Frage nach ihren Eltern beantwortete und erklärte sie hießen Ptah und Maat. „Gleich zwei Götter in der Familie und an einem Ort der Seligkeit aufgewachsen, du musst vom Glück bevorzugt sein.“ War es Spott oder Anerkennung, die bei diesen Worten in der Stimme von Menis Frau mitschwangen? Seth konnte es nicht genau sagen, beschloss jedoch, dass es letzteres wäre und lauschte der Antwort Merens auf die Frage, wie lang sie im Dorf bleiben würde. „Das weiß ich nicht, vielleicht ein Menschenleben lang“, erklärte Meren unterdessen, mit einem nachdenklichen Blick auf Seth. „Das ist eine lange Zeit, aber ich bin sicher, du wirst dich bei uns wohl fühlen“, erwiderte Seths Mutter freundlich, bevor sie die Freundin ihres Sohnes erlöste und ein allgemeineres Thema anschnitt. Als es schließlich für die Gäste Zeit wurde zu gehen, bestanden Meni und dessen Frau darauf, Meren zum Haus ihrer Tante zu begleiten, um sicher zu gehen, dass ihr im Dunkeln nichts passierte. Das kam unerwartet. Fieberhaft überlegte Seth, wie er verhindern konnte, dass ihr Schwindel auffiel. Den Vorschlag zu machen, dass Meren bei ihm und seiner Mutter übernachten könne, würde nichts bringen. Zum einen würden die Erwachsenen darauf bestehen, dass Merens „Tante“ benachrichtigt würde, zum anderen gab es in ihrem Haus keine weitere Schlafgelegenheit. Der Vorschlag, dass Seth selbst Meren nach Hause begleitete war angesichts seines Alters und der Tatsache, dass Meni und dessen Frau ohnehin durch das Dorf mussten, lächerlich. Also blieb dem Jungen nichts anders übrig, als zu zusehen, wie Meren zusammen mit den anderen beiden Gästen schließlich das Haus verließ. Schweigend durchquerten die drei das Dorf auf dem Weg zu Maatkares Haus. Im Gegensatz zu Seth, war Merenseth völlig gelassen. Sie wusste, dass Maatkare bereits im hinteren Teil ihres Hauses schlafen und nicht mitbekommen würde, wenn sie selbst das Haus betrat. Die Tür des Hauses wurde nur selten verriegelt, für den Fall, dass ein Feuer ausbrach, wollte Maatkare sicher sein, dass sie rechtzeitig aus dem Haus käme und nicht durch die für sie schwierige Prozedur des Balkenentfernens aufgehalten würde. So war es Merenseth möglich unbemerkt das Haus zu betreten und durch einen schmalen Gang zur Hintertür zu laufen, die in einen Garten führte. Dort verwandelte sie sich wieder in ihre Vogelgestalt und kehrte zum Haus von Seth und dessen Mutter zurück. Wo sie bereits ungeduldig von Seth erwartet wurde. Als er den Benu heran fliegen sah, streckte er einen Arm aus, damit dieser darauf landen konnte. Kaum hatte Merenseth auf dem Arm Platz genommen und die Flügel angelegt, erkundigte sich Seth: „Bist du erwischt worden?“ Ein kurzes, verneinendes Tschilpen war die Antwort. „Dann glauben sie immer noch, dass du ein Mädchen auf Tantenbesuch bist?“, hakte Seth sicherheitshalber noch einmal nach. Zustimmend senkte Merenseth den Kopf, während sie wieder ein Tschilpen von sich gab. Erleichtert atmete Seth auf, das war gerade noch einmal gut gegangen. Bevor er sich jedoch weiter mit seinem Benu unterhalten konnte, rief ihn seine Mutter ins Haus. Nachdem Seth den Vogel auf seiner Schulter hatte Platz nehmen lassen, gehorchte er dem Ruf und kehrte in die Hütte zurück. „Da ist Merenseth ja wieder“, lautete der Kommentar von Seths Mutter, als sie die Beiden herein kommen sah. „Wo hast du denn gesteckt, du Herumtreiber? Du hast ja Seths ganzen Geburtstag verpasst.“ Angesichts dieses mütterlichen Verweises trippelte Merenseth unruhig auf Seths Schulter herum und plusterte sich verlegen auf, sodass der Junge beruhigend über die Brust des Vogels strich und erklärte: „Das ist schon in Ordnung, jetzt ist sie ja wieder da“, um sich anschließend gespielt beiläufig zu erkundigen, wie der Tag denn seiner Mutter gefallen hatte. Diese lachte fröhlich auf, während sie ihrem Sohn über den Kopf strich und erwiderte: „Das sollte ich dich fragen, schließlich ist heute dein Geburtstag.“ Mit nachdenklichem Ernst sah Seth zu seiner Mutter auf, „gut, denke ich.“ „So, du denkst“, noch immer lächelte seine Mutter und fügte mit einem Zwinkern hinzu: „Ich auch.“ Anschließend schickte sie Seth ins Bett. Am darauf folgenden Tag hatte sich Seth samt seinem geflügelten Schatten wieder an das Flussufer zurückgezogen, um nicht gestört zu werden. „Sind deine Eltern wirklich Ptah und Maat?“, hatte er Merenseth gefragt, die wieder in Menschengestalt neben ihm saß und diese Nachfrage bestätigte. „Dann sind alle Benu Kinder von den Beiden?“, hakte Seth neugierig geworden nach. „Nein, nicht alle. Auch die anderen Götter haben einige von uns geschaffen“, erwiderte Merenseth ruhig und wartete auf die nächste Frage des Jungen, von der sie sicher war, dass sie kommen würde. „Und ihr lebt alle im Jenseits?“ „Nein, nicht immer, aber es ist der Ort, den wir als zu Hause bezeichnen.“ „Kannst du mich dahin mitnehmen?“, Seth klang von diesem Gedanken fasziniert, wurde jedoch von Merenseths Antwort enttäuscht: „Wenn du an diesen Ort kommst, kannst du nicht mehr hierher zurückkehren.“ Daraufhin schwiegen die Beiden für eine Weile, bevor sich Seth mit leicht schläfriger Stimme erkundigte: „Wie kommst du eigentlich dorthin?“ „Durch das Benben“, lautete die Erwiderung. „Und wenn du dorthin geflogen bist, kommst du so auch wieder zurück?“ „Ja.“ „Hm“, war alles, was Seth zufrieden auf die letzte Antwort Merenseths brummte. Knowledge to go and forget: Als Benben wird/wurde u. a. das Pyramidion, die Pyramidenspitze, bezeichnet. Es wurde als Sinnbild des Urhügels betrachtet und galt als das Haus des Benu. Kapitel 5: Mythos und Wirklichkeit ---------------------------------- Eines Nachmittages, nicht lange nach seinem Geburtstag, trieb sich Seth wieder einmal am Flussufer herum. Er hatte einige Fische gefangen, lag nun ausgestreckt auf dem Rücken und starrte in den wolkenlosen, blauen Himmel über ihm. Neben ihm saß Merenseth in ihrer menschlichen Gestalt und schien völlig darin versunken das träge dahin fließende, braungrüne Wasser des Nils zu beobachten. „Wie ist es eigentlich zu fliegen?“, beendete Seth schließlich mit schläfrig verträumter Stimme die einträchtige Stille zwischen ihnen, während er blinzelnd dem kreisenden Flug zweier Vögel zusah. Merenseth hatte bei dieser Frage ihr Gesicht dem Jungen zugewandt, schwieg für einen Moment nachdenklich und erwiderte dann: „Es ist Freiheit. Losgelöst sein von allem, was versucht einen in Ketten zu legen.“ Daraufhin schwiegen die Beiden erneut für einen kurzen Augenblick, bevor Merenseth ihren Worten hinzufügte: „Würdest du gern fliegen wollen?“ Verwundert wandte Seth seinen Kopf zu dem Benu und erkundigte sich: „Geht das denn?“ Statt einer Antwort erhob sich das Mädchen, nahm ihre Vogelgestalt an und schwang sich mit wenigen, kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Verwundert hatte Seth sich aufgerichtet, während er zusah wie der glutfarbene Vogel zu wachsen begann. Als Merenseth in etwa die Größe eines ausgewachsenen Löwen erreicht hatte, ließ sie sich Richtung Erde sinken, packte Seth mit ihren Krallen vorsichtig an den Schultern und warf ihn im nächsten Moment hoch in die Luft, sodass er sich überschlug. Seth war von den Vorgängen viel zu überrascht gewesen, als dass er hätte einen Laut von sich geben können. Als er jedoch spürte, wie er immer schneller Richtung Boden sauste, keuchte er erschrocken auf und versuchte instinktiv diesem Fall irgendwie entgegen zu wirken, so aussichtslos dieses Unterfangen auch sein mochte. Seine Angst erwies sich schnell als unbegründet, denn nur einen Wimpernschlag später, landete er weich auf Merenseths Rücken und fühlte, wie er höher und höher hinauf getragen wurde. Etwas beunruhigt vergrub Seth zunächst sein Gesicht im Gefieder des Benu und krallte krampfhaft seine Finger um die glutfarbenen Federn. Je länger sie jedoch ruhig und gleichmäßig dahin flogen, umso mutiger wurde auch der Junge, setzte sich auf dem Rücken des Feuervogels auf und blickte um sich, sah hinab auf die Erde, die nun klein und weit weg erschien; ließ die Federn los, breitete die Arme aus und genoss mit geschlossenen Augen das Erlebnis zu fliegen. Ein kurzes Tschilpen Merenseths ließ ihn schließlich die Augen wieder öffnen, da er nicht wusste, was der Vogel als nächstes vorhatte, hielt er sich vorsichtshalber wieder an den Federn fest und umklammerte mit den Beinen den Vogelkörper, wie er es beim Pferdereiten gelernt hatte. Darauf schien der Benu nur gewartet zu haben, denn im nächsten Augenblick wandte er sich in einem steilen Sturzflug Richtung Boden, der Seth den Atem nahm und ihn zwang die Augen zu schließen. Nur wenig später landeten die beiden sanft wieder auf der Erde und Seth kletterte mit etwas wackligen Beinen von seinem Begleiter herab, sich anschließend umsehend, wo sie sich denn überhaupt befanden. Es handelte sich um einen großen Innenhof, der durch künstlich zugeleitetes Wasser in einen üppig blühenden Garten verwandelt worden war. Während Seth sich umsah, hatte der Vogel wieder seine menschliche Form angenommen und erklärte, die entsprechende Frage vorwegnehmend: „Das ist der Tempel von Nubet.“ Anschließend wandte sie sich um und ging auf eine einfache Tür aus schwerem, dunklem Holz zu, den Jungen dabei auffordernd ihr zu folgen. Widerspruchslos gehorchte Seth, während er noch die Tatsache zu verdauen versuchte, dass er sich nicht nur in Nubet befand, dem Ort an dem sich das Orakel des Gottes Seth befand, sondern auch dass sie sich im Inneren der Tempelanlage befanden – etwas, das einfachen Menschen wie ihm streng untersagt war. Nur Priester, sehr hohe Beamte und der König selbst durften das Innere der Tempel betreten, alle anderen verrichteten ihre Gebete vor den Türen. Dementsprechend neugierig war Seth, heraus zu finden, wie es im Inneren eines Tempels aussehen mochte. Dunkel, wie Seth im ersten Moment enttäuscht feststellte, bevor sich seine Augen nach dem gleißenden Sonnenlicht allmählich an das schummrige Dunkel gewöhnten, das nur von Schalen brennenden Öls erhellt wurde. Dem Öl in den Schalen waren Kräuter beigemischt worden, die beim Verbrennen einen schweren Duft freiließen, der sich überall im Tempel ausgebreitet hatte, das Atmen erschwerte und ein merkwürdiges Schwindelgefühl im Kopf erzeugte. Die Wände der Gänge und der ineinander übergehenden Säle waren sorgfältig bemalt und mit Hieroglyphen versehen worden. Sie erzählten von der Größe des Gottes Seth, von seinen guten und seinen schlechten Taten. Davon, wie er als Herr Oberägyptens dieses Land beschützt hatte und es als Herr der Wüste zum Blühen brachte. Davon, wie er seinen Bruder Osiris zum Herrn der Unterwelt werden ließ und gegen dessen Sohn und seinen Neffen im Kampf unterlag und ihm Oberägypten als Herrschaftsgebiet überlassen musste. Es gab Bilder von Oasen in sattem Grün, die durch den Willen Seths lebten, Bilder des Meeres in leuchtendem Blau, wie es nach dem Willen Seths die Frevler strafte und die Gerechten in den sicheren Hafen führte, Bilder, die zeigten wie Seth über Stürme und Unwetter gebot; mit seiner Schwestergemahlin Nephtys zusammen Huldigungen entgegennahm und Segen spendete. Aus einem der Räume der Tempelanlage erklang entfernt und leise ein dumpfer Gesang, während die Priester offenbar ihre Opferdienste versahen. Zugleich hatte Merenseth auf Seths Aufforderung hin mit ruhiger Stimme die Inschriften vorgelesen – Hymnen auf die Größe und Stärke Seths und Bitten um sein Wohlwollen. Fasziniert von dieser unwirklich erscheinenden Situation betrachtete Seth die Bilder an den Wänden, die vom Schein der brennenden Öllichter erhellt wurden und lebendig zu werden schienen, wenn ein Luftzug das Feuer flackern ließ. Lauschte der Stimme Merenseths und dem fernen Gesang und entschloss sich ebenso stark zu werden wie der Gott, dessen Namen er trug. Sich nicht von seinem Weg abbringen zu lassen und das, was ihm wichtig war um jeden Preis zu schützen. Schließlich setzten Seth und seine Begleiterin ihren Weg fort und erreichten einige Zeit später den innersten Raum des Tempels, in dem sich das Orakel befand, das die Priester im Auftrag von Bitttellern befragten, dessen Antworten sie deuteten und sie anschließend den Fragenden mitteilten. – Selbstredend gegen ein entsprechendes Entgelt. Es handelte sich um einen hohen, kahlen Raum, der zum Großteil von einem künstlich angelegten Wasserbecken eingenommen wurde, Ein- und Ausgänge sorgten für eine gewisse Wasserströmung, sodass die schmalen, herrenlosen Barken auf dem Wasser ziellos dahin trieben. Aus der Stellung dieser Boote lasen die Priester die Antworten ab, nach einem System, das nur mündlich von einem Priester zum nächsten weiter gegeben wurde. Seth hätte ebenfalls gern eine Frage an das Orakel gerichtet, aber zum einen war ihm unbekannt, wie die einzelnen Barkenstellungen zu deuten waren, zum anderen befanden sich einige Priester in dem Raum, die mit der Befragung des Orakels beschäftigt waren. Neugierig schob sich Seth etwas weiter in den Raum hinein, um die Vorgänge besser beobachten zu können, als ihn auch schon im nächsten Moment einer der Priester entdeckte und rief: „Was machst du hier? Sieh zu, dass du von hier wegkommst und wage es nicht noch einmal diesen Ort zu entweihen!“ Wohlweislich zog sich Seth schleunigst zurück, besser den Mann in dem Glauben lassen, er gehöre in den Tempel und würde in diesem ausgebildet werden, andernfalls würde dieser Ausflug für ihn üble Folgen haben. So machten sich Merenseth und ihr Besitzer auf den Rückweg, verneigten sich ehrerbietig vor einer tempelhohen Steinstatue des Gottes, um ihn sicherheitshalber gnädig zu stimmen und verließen schließlich den Tempel wieder durch den Innenhof, so wie sie gekommen waren. Auf ihrem Rückweg in das Dorf überquerten sie erneut einen Teil der Wüste und als Seth hinab blickte entdeckte er zwei winzige Punkte, die sich langsam zu bewegen schienen. Er bat den Benu etwas tiefer zu fliegen, um sich diese Punkte näher ansehen zu können und erkannte schließlich, dass es sich bei diesen Punkten um zwei, in Tücher gehüllte Menschen handelte, die sich vollkommen allein und ohne jedes Gepäck langsam durch den heißen Sand der Wüste kämpften. Verwundert über diesen Anblick, ließ Seth den Vogel nicht weit von den Wanderern landen und lief anschließend auf die beiden Menschen zu, die verängstigt stehen geblieben waren und ihn wachsam musterten. Seth konnte nun erkennen, dass es sich bei den beiden Wanderern um eine Frau, die etwa so alt wie seine eigene Mutter war, und ein Mädchen handelte, das zwei oder drei Jahre jünger als er sein mochte, die Frau hatte das Mädchen schützend hinter sich geschoben, während sie misstrauisch abwechselnd auf den Benu und den Jungen vor sich sah. Als jedoch weder Seth noch sein Vogel Anstalten machten Frau und Kind anzugreifen, entspannte sich die Frau etwas und erwiderte auf Seths Frage, was sie in der Wüste täten: „Wir wollen zum Dorf meines Bruders.“ „Völlig allein?“, Seth klang erstaunt selbst die Kleinsten lernten bereits, dass es eine sehr dumme, meist sogar tödliche Idee war der Wüste ohne jede Begleitung die Stirn bieten zu wollen. Die Frau wirkte angesichts dieser Frage merkwürdig verbittert, während sie antwortete: „Es blieb uns ja wohl keine andere Wahl“, nur um sich im nächsten Moment auf die Lippe zu beißen, als sie sich dem erstaunten Blick des Jungen ausgesetzt sah. Da die Frau offenbar nicht erklären wollte, warum und wie sie in diese Lage geraten war, blickte Seth von ihr zu dem kleinen Mädchen und sah sich einem schüchtern, ängstlichen Blick aus blauen Augen gegenüber. Für einen Moment erwiderte der Junge diesen Blick ruhig und gleichmütig, drehte sich dann herum, lief die wenigen Schritte zu Merenseth und fragte sie, ob sie zusätzlich zu ihm noch die Frau und das Mädchen auf ihrem Rücken tragen könnte. Mit einem Neigen des Kopfes und einem kurzen Tschilpen bejahte Merenseth dies und wuchs noch einmal ein kleines Stück in die Länge, während Seth zu der Frau zurückkehrte und ihr den Vorschlag machte, sie und das Mädchen in das Dorf ihres Bruders zu fliegen. Im ersten Moment wirkte die Frau überrascht, lehnte dann jedoch hastig ab. „Du brauchst keine Angst haben, es ist nicht gefährlich und zum Dorf deines Bruders zu fliegen ist sehr viel sicherer als zu versuchen zu Fuß dahin zu gelangen“, erklärte Seth der Frau mit entschiedenem Ernst, die ihn daraufhin unschlüssig musterte, hinüber zu dem gelassen wartenden Vogel sah und schließlich erwiderte: „Also gut, du hast sicher Recht… Du scheinst auch einer von ihnen zu sein.“ Jetzt blickte Seth die Frau erstaunt an, „von ihnen?“ „Einer von denen, die Dämonen beherrschen“, erwiderte die Frau leise und müde, zugleich auf den Benu weisend. Seth musste lächeln, „Merenseth ist kein Dämon. – Kommt jetzt, es wird spät“, damit wandte er sich um und lief den Beiden voraus, bei seinem Benu auf sie wartend, um ihnen hinauf zu helfen. Sobald auch Seth selbst auf dem Rücken seines geflügelten Gefährten saß und die Frau auf seine Frage hin, den Namen des Dorfes genannt hatte, in dem ihr Bruder lebte, erhob sich Merenseth sanft in die Luft. Es dauerte nicht lang und der Benu landete wieder, unweit des Dorfes, in das die Frau wollte. Nachdem Seth Frau und Kind beim Absteigen behilflich war und sie ein kleines Stück in Richtung Dorf begleitet hatte, um sicher zu gehen, dass ihnen nicht doch noch etwas zustieß, verabschiedete er sich und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als ihn die Frau plötzlich fragte: „Wie heißt du eigentlich?“ Mit unverkennbarem Stolz in Haltung und Blick antwortete der Junge, während er sich bereits abwandte: „Ich bin Seth.“ Mit vor Staunen weit geöffneten Augen sah die Frau dem sich entfernenden Jungen hinterher, der kurze Zeit später auf seinem glutfarbenen Reittier davonflog. Der Herr der Wüste selbst hatte ihr und ihrer Tochter geholfen?! Vielleicht war ihre Kleine doch nicht verflucht, wie alle in ihrem Dorf angenommen hatten, sondern stand tatsächlich unter dem besondern Schutz der Götter - oder doch zumindest eines Gottes. Kapitel 6: Die Göttin des Krieges --------------------------------- Seth und sein Benu schafften es gerade noch rechtzeitig vor der Dämmerung wieder in ihrem Dorf anzukommen, sodass Seth ein eingehendes Verhör seiner Mutter, wo er denn den ganzen Tag über gesteckt hätte, erspart blieb. Allerdings schützte es ihn nicht vor der Frage, wo er den versprochenen Fisch gelassen hätte. Ziemlich betreten erklärte Seth schließlich nach kurzem Schweigen, er hätte ihn vergessen. Erstaunt musterte seine Mutter ihn nach dieser Antwort, ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern ermahnte ihn lediglich, das nächste Mal nicht wieder so nachlässig zu sein. Erleichtert nickte Seth und versprach es. Am nächsten Tag half Seth wieder einmal Meni beim Verkauf von dessen Waren, wobei dieser ihm die Frage stellte: „Wie geht es eigentlich deiner Freundin Meren? Ich habe sie seit deinem Geburtstag nicht mehr gesehen und sie meinte doch, sie würde wahrscheinlich eine ganze Weile hier bleiben?“ Für einen Moment war Seth um eine Antwort verlegen, das hatte er völlig vergessen, dann erwiderte er jedoch: „Sie musste wieder nach Hause, hrem Vater geht es nicht gut.“ Zufrieden klopfte er sich gedanklich auf die Schulter, so konnte niemand etwas dagegen sagen, wenn Meren im Dorf nicht zu sehen war und auch nicht, wenn sie wieder einmal auftauchen sollte. Meni schien sich denn auch mit dieser Antwort zufrieden zu geben und fragte nicht weiter nach. Nachdem er seine Arbeit für den Tag erledigt hatte, verließ Seth den Kaufmann wieder und ging wie so oft zum Ufer des Nils. Dort konnte er sich ungestört mit Merenseth unterhalten; gab es doch einige Dinge, die er neugierig war zu erfahren. Und so verlangte er, kaum dass der Vogel menschliche Gestalt angenommen hatte, um ihm antworten zu können: „Die Frau gestern hat von Leuten gesprochen, die Dämonen beherrschen können. Erzähl mir mehr davon.“ Für einen Moment wirkte Merenseth überrascht, erklärte dann aber: „Es gibt unter Menschen einige Magier und Priester, die in der Lage sind, sich durch ihren Willen Dämonen eine zeitlang dienstbar zu machen. Es gibt aber auch Dämonen die in der menschlichen Seele leben, ohne dass ihre Wirte davon wissen. Nur wenn diese Menschen große Angst haben oder sehr wütend sind, kommt es vor, dass die Dämonen ihre Macht zeigen, um die Seele zu schützen, in der sie wohnen. Denn würde dem Menschen etwas geschehen, in dessen Seele sie sich verbergen, würden auch sie Schaden nehmen.“ „Könnte ich lernen, Dämonen zu beherrschen?“, fragte Seth neugierig, sobald Merenseth wieder schwieg. Das Vogelmädchen sah den Jungen nachdenklich an, „ich nehme an, dass es möglich wäre, wenn du die entsprechende Ausbildung erhieltest. Aber überlege dir gut, ob du das wirklich willst. Dämonen sind keine Werkzeuge, die man einfach benutzt. Sie haben ihren eigenen Willen und wenn du einen von ihnen verärgerst oder ungebührlich behandelst, kann das schlimme Folgen haben.“ Der Junge gab daraufhin ein nachdenkliches Brummen von sich, schwieg einen Moment und wechselte dann das Thema: „Kannst du mir lesen und schreiben beibringen? Meni hat mir zwar einige Zeichen gezeigt, aber im Tempel gestern konnte ich trotzdem kaum etwas entziffern.“ Merenseth lächelte, „das liegt an den verschiedenen Schriftsystemen. Ich zeige es dir gern, aber du wirst Geduld haben müssen, die meisten Schreiber erlernen ihr Handwerk nur mit langjähriger Übung.“ „Dann sollten wir keine Zeit verlieren und bald damit anfangen“, erklärte Seth entschieden, während Merenseth nur leicht den Kopf neigte, auf diese Weise zeigend, dass sie sich seiner Entscheidung fügen würde. Nachdem Seth bereits zwei der Punkte, die ihn beschäftigten, geklärt hatte, wandte er sich dem letzten und für ihn interessantesten Punkt zu: „Können wir so einen Ausflug wie gestern wiederholen? Ich würde gern einmal das Meer sehen.“ Merenseth nickte daraufhin erneut, fügte jedoch hinzu: „Wir werden dafür aber länger als einen Tag unterwegs sein und wenn du ohne Erklärung verschwindest, wird sich deine Mutter Sorgen machen.“ Das war tatsächlich ein Problem, zumal ihn seine Mutter vermutlich auch nicht einfach ziehen lassen würde, wenn sie wüsste, was er vorhatte. Die Möglichkeit, dass er seine Geheimnisse, die den Benu betrafen, preisgeben müsste, behagte Seth ganz und gar nicht. Die Tatsache etwas zu wissen von dem sonst niemand auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, gefiel ihm viel zu sehr, als dass er gern darauf verzichtet hätte. Aber er konnte auch nicht einfach zu seiner Mutter gehen und sagen: „Mach dir keine Sorgen, ich bin ein paar Tage nicht da, aber ich komme bald wieder.“ Sie würde ihm das nie durchgehen lassen… Andererseits, wenn er alles gut vorbereitete und schnell genug verschwand, bevor sie ihn aufhalten konnte, würde es vielleicht doch gelingen. Nur, was sollte er ihr sagen, wenn er von seinem Ausflug zurückkäme? Seth entschied, dass er sich darüber Gedanken machen würde, wenn es soweit wäre und konzentrierte sich lieber wieder auf die Durchführung seines Abenteuers. Zunächst füllte er einen Leinensack mit einem Vorrat an Essen und Wasser und deponierte ihn etwas abseits des kleinen Hauses zwischen einigen Büschen. Dann wartete er bis seine Mutter im Haus mit Näharbeiten beschäftigt war, stellte sich in die Eingangstür und blickte einen Moment schweigend auf den über die Handarbeit gebeugten Kopf seiner Mutter. Kurz kam ihm der Gedanke in den Sinn, ob sein Vater, bevor er verschwunden war, auch so dagestanden und seine Frau beobachtet hatte. Ob er auch gezögert und sich gefragt hatte, ob er tatsächlich das Richtige tat. Anders als sein Vater hatte Seth jedoch fest vor zurückzukommen. Er wollte nicht, dass seine Mutter völlig allein zurückblieb oder wieder weinte, wie in den ersten Nächten, nach dem Verschwinden des Vaters. Aber genauso sehr wollte er auch die ihm noch unbekannten Dinge der Welt entdecken und kennen lernen. Sich innerlich einen Ruck gebend, holte der kleine Junge tief Luft und sprudelte dann hastig hervor: „Ich will mit Merenseth für einige Tage durch die Gegend wandern. Bitte, mach dir keine Sorgen um uns, wir kommen bestimmt wieder, versprochen.“ Jetzt war es heraus; brauchte er sich keine Gedanken mehr darüber machen, ob er es sich nicht doch besser anders überlegte. Erleichtert sanken seine Schultern ein wenig herab und wartete er auf die Reaktion seiner Mutter. Bei den ersten Worten ihres Sohnes hatte sie mit einem fragenden Lächeln von ihrer Arbeit aufgesehen. Aber dieses Lächeln war sehr schnell von einem ernsten Blick voller Sorge abgelöst worden. Schweigend betrachtete die Mutter ihren Sohn mit prüfendem Blick und erkannte, wie ernst es ihm mit seiner Ankündigung war und hätte es ihm doch gern instinktiv verboten. Unwillkürlich dachte sie an den Vater des Jungen, der ihr genauso zielstrebig und überzeugt verkündet hatte, dass er an der Seite seines Bruders gebraucht werde und deshalb Frau und Kind verlassen müsse. Sie hatte nie verstanden, warum seine Familie ihn nicht begleiten durfte und dennoch war ihr letztendlich nichts anderes übrig geblieben, als ihren Mann gehen zu lassen. Alles in ihr sträubte sich nun dagegen auch noch ihr Kind zu verlieren. Aber er war nun einmal der Sohn seines Vaters - hielte sie ihn auf, würde er eines Tages ohne ein Wort für immer verschwinden. Also nickte Seths Mutter letztendlich nur, das Gesagte widerwillig akzeptierend sich zu der besorgten Forderung hinreißen lassend: „Pass auf dich auf und halte dein Versprechen!“ Seth nickte bekräftigend, während er seiner Mutter aufmunternd zu lächelte, sich anschließend hastig verabschiedete und gleich darauf eilig zu Merenseth und dem Leinenbeutel rannte, bevor seine Mutter es sich vielleicht doch noch anders überlegte oder er sich entschied die Reise zu verschieben. Auf dem Rücken seines Benu flog Seth schließlich Richtung Norden, sich stetig u seinem Wunschziel, dem Meer, nähernd. Unterwegs legten sie jedoch immer wieder Pausen ein, wenn der Junge etwas entdeckte, das vorübergehend seine Aufmerksamkeit fesselte und er sich genauer ansehen wollte. Am Merwer im Schedet legten sie schließlich Rast ein, um sich von der bisherigen Reise auszuruhen und dem furchteinflößenden Krokodilgott, dem Schedet geweiht war, ein Opfer darzubringen unddiesen so friedlich zu stimmen. Während ihrer Rast hörte Seth, wie sich eine Gruppe reisender Händler mit besorgten Mienen darüber unterhielt, dass weiter im Norden an der östlichen Grenze Kemets die Streitmacht des Landes zusammengezogen wurde und immer mehr Bauern und Handwerker dazu gezwungen wurden Haus und Hof zu verlassen, um die Zahl der Soldaten zu vergrößern. Offenbar war der Feind so mächtig und überlegen, dass die normale Heeresstärke Kemets nicht ausreichte, um das feindliche Heer erfolgreich in die Flucht zu schlagen. Etwas, das umso besorgniserregender war, wenn man bedachte dass Menschen, die im Krieg starben, nur in den seltensten Fällen ein Begräbnis und somit die Möglichkeit für ein Leben nach dem Tod erhielten. Seth beschloss, sich die ganze Sache genauer anzusehen und so änderte Merenseth nach ihrem Aufbruch aus Schedet die bisherige Flugrichtung gen Osten ab. Schu, der Luftgott, war ihnen wohlgesonnen, bereits nach wenigen Stunden erreichten sie ihr Ziel: Das Lager der ägyptischen Streitmacht. Merenseth landete etwas entfernt von dem großen Heerlager auf einem Felsplateau, das ihnen einen guten Blick über die Gegend und die Armee bot. In dem Lager herrschte rege Betriebsamkeit: Rekruten exerzierten und wurden darauf gedrillt mit Waffen umzugehen und Befehle zu befolgen; Karawanen mit Nahrungsvorräten, Waffen und Zelten kamen an; Boten brachen Nachrichten; Offiziere berieten über geeignete Strategien und die Aussichten, sie erfolgreich einzusetzen. Über dem gesamten Lager hing wie eine schwere Decke eine angespannte, emsige Atmosphäre. Man konnte die Nervosität und Angst der Männer geradezu körperlich spüren. Es war, als könnte man sie riechen und schmecken. Seth merkte, wie diese Stimmung allmählich auch von ihm Besitz ergriff. Wie er unruhig wurde, sich plötzlich merkwürdig gespalten fühlte, weil ein Teil von ihm diese Vorbereitungen auf einen Kampf spannend, belebend fand und ihn eine seltsame Gier danach überfiel ebenfalls an dieser Schlacht teilzunehmen, um seinen Mut und sein Geschick zu beweisen und seine Heimat vor allem Übel zu bewahren. Zugleich war da aber auch noch ein besorgter, ängstlicher Teil in ihm, der sich bekümmert fragte, wie viele dieser Männer den Kampf überleben würden. Seth dachte an Meni und war froh zu wissen, dass dieser sich sicher in ihrem Dorf befand und seine Waren verkaufte. Der Gedanke, dass der kräftige, gutmütige Mann verstümmelt wurde oder qualvoll in einem Kampf starb, sei es auch zum Wohl und Ruhm Kemets, gefiel ihm nicht. Es war diese unbestimmte Sorge, die ihn zu der Frage trieb: „Gibt es keinen anderen Weg, um Kemet zu schützen, einen der weniger Opfer kosten würde?“ Obwohl Seth diese Frage seinem Benu gestellt hatte, war es nicht das Vogelmädchen, das ihm antwortete: „Wenn es erst einmal soweit ist, dass sie mich rufen, gibt es keinen anderen Weg.“ Erstaunt und neugierig hatte sich Seth zu der Stimme hinter ihm herumgedreht und sah sich einer im Waffenrock dastehenden Frau gegenüber, die auf dem Kopf die rote Krone Unterägyptens trug und in der Hand ein Futteral mit zwei Bögen hielt. Auch Merenseth hatte sich der Frau zu gewandt, demütig den Kopf geneigt und geäußert: „Ich grüße dich, ehrwürdige Göttin Neith.“ Mit großen Augen starrte Seth die Frau an, die die Göttin des Krieges und die Mutter der Krokodile war. Kein Lächeln war in dem strengen Gesicht Neiths zu erkennen, als sie an den Jungen gewandt feststellte: „Du bist entweder sehr mutig, sehr dumm oder sehr schlecht erzogen.“ Für einen Moment war Seth verwirrt, bevor er begriff, dass die Göttin von ihm eine höfliche Begrüßung erwartete. Eilig holte er sein Versäumnis nach; Neith zu erzürnen war nichts was man mehr als einmal tat und er hatte noch zu viel vor, um es auch nur das eine Mal zu tun. Die Mutter der Krokodile schien besänftigt und verlangte nun zu wissen: „Was führt euch her; dies ist kein Ort für Kinder.“ Merenseth setzte gerade zu einer Antwort an, als ihr Seth zuvor kam und ruhig erklärte: „Ich habe davon gehört, dass Kemet sich für den Krieg rüstet und wollte mich mit eigenen Augen davon überzeugen.“ „Und bist du nun zufrieden, nachdem du gesehen hast?“, fragte Neith in gleichmütigem Ton, während sie mit ihren harten Augen den schmalen Jungen vor sich durchdringend musterte. Der ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern, schüttelte verneinend den Kopf und verlangte zu wissen: „Wogegen kämpfen sie?“ „Gegen Isfet. Es ist nicht stark genug Kemet selbst zu zerstören, deshalb versucht es mit Hilfe der hethitischen Armee Kemet zu schwächen.“ Mit unruhiger Besorgnis sah Seth zu der Göttin auf, „wird ihm das gelingen oder wird unsere Armee siegen?“ „Das, Sohn der roten Erde, hängt von dem Glauben und dem Vertrauen derer, die kämpfen ab. Ich werde ihnen voranschreiten, ihnen die Wege öffnen und mit ihnen kämpfen. Zweifeln sie jedoch, wird Isfet an Stärke gewinnen.“ Nachdenklich hatte Seth bei den mit gelassener Endgültigkeit vorgebrachten Worten Neiths über die Schulter in das Lager hinabgesehen, in dem noch immer eine hektisch nervöse Betriebsamkeit herrschte. „Ich sehe, du hast es bereits bemerkt“, stellte die Göttin fest und Seth nickte zustimmend. Ja, er hatte die Unsicherheit und Zweifel bemerkt, sie waren nur allzu deutlich, beinahe schon greifbar. Entschlossen wandte er sich wieder ganz Neith zu, sah sie ernst an und fragte: „Gibt es etwas, dass ich tun kann, damit Isfet nicht stärker wird?“ Für einen kurzen Augenblick schwieg die Göttin, musterte den Jungen vor sich erneut gründlich und erwiderte dann: „Fliege auf dem Rücken deines Benu, gut sichtbar für alle, über das Heerlager und lass die Tochter Maats singen.“ „Singen?“, wiederholte Seth verblüfft und Neith nickte, „sie wird wissen, welches Lied notwendig ist, um den Männern Mut zu machen.“ Damit schien die Göttin das Gespräch als beendet zu betrachten, denn ebenso plötzlich wie sie erschienen war, verschwand sie auch wieder Mensch und Vogel sich selbst überlassend. Verunsichert sah der Junge zu dem Vogelmädchen, das diesen Blick ruhig erwiderte und darauf wartete, dass Seth seine Entscheidung traf. Schließlich nickte der Junge mit entschlossenem Gesichtsausdruck und erklärte: „Lass uns fliegen.“ Infothek der Selbstbedienung Isfet, oder auch Isefet, war die altägyptische Vorstellung von Chaos und Unordung, das absolute Gegenteil zur angestrebten Maat. Es musste möglichst verhindert werden, wenn die Welt bestehen bleiben sollte. Kapitel 7: Meer und Zeit ------------------------ Der Schatten eines großen Vogels, der ruhig über ihnen in der Luft schwebte, ließ die Menschen im Lager zunächst besorgt aufsehen; nicht wenige von ihnen bereit, dieses Zeichen als schlechtes Omen zu werten. Dann jedoch erblickten sie einen glutfarbenen Benu mit langer Schwanzschleppe und schlankem Hals auf dessen Rücken hoch aufgerichtet mit stolzem Blick und gereckten Schultern ein siebenjähriger Junge saß, der gelassen auf die Menge unter sich herabsah. Keiner der Beiden machte einen feindlichen Eindruck, sondern sie wirkten in ihrer selbstverständlichen Gelassenheit, mit der sie über der Menge schwebten, auf diese merkwürdig beruhigend. Kurz bewegten sich die Lippen des Jungen, als würde er zu seinem Vogel sprechen und im nächsten Augenblick öffnete der Benu seinen Schnabel und begann zu singen. Es war ein wortloses Lied über Mut und Hoffnung. Klanggewordener Ausdruck des unbeugsamen Willens zu schützen und sich nicht besiegen zu lassen. Sich gegen Chaos und Unordnung zur Wehr zu setzen, es nicht die Oberhand über das gewinnen zu lassen, was in mühsamer Arbeit aufgebaut worden war. Ein überzeugender Gesang, dass sich Gerechtigkeit, Ordnung und das gute Leben - all das, was in Kemet unter Maat verstanden wurde, niemals kampflos Isfet ergeben würde. Solang das Lied des Benu erklang schien die Welt ringsum den Atem anzuhalten, still zu stehen. Gefangen in einem Zauber, der so unbeschreiblich wie unauflösbar war. Selbst als der Vogel schließlich verstummte, noch für einen Moment reglos in der Luft schwebte, sich schließlich sanft in die Höhe schraubte und lautlos davonflog, herrschte noch eine Weile atemloses Schweigen. Schließlich schien ein stiller Seufzer durch die Menschenmenge zu gehen, der den Bann des Liedes beendete und die Menschen aus ihrer reglosen Starre weckte, in der sie seit Beginn des Liedes verharrt hatten. Wie von Neith vorhergesehen, hatte sich die Stimmung im Lager verändert: Jetzt konnte man neugewonnenen Mut spüren, von Zuversicht erfüllte Hoffnung und den Glauben, dass sie das Richtige taten, die Götter Kemets mit ihnen waren und für einen guten Ausgang der Ereignisse sorgen würden. Abseits vom Lager der Ägypter, unweit der Stelle an der bald darauf die beiden feindlichen Armeen aufeinander trafen, standen die schmale Gestalt eines Jungen und die große, vertrauenerweckende eines glutfarbenen Benu. Reglos beobachteten sie die Vorgänge zu ihren Füßen. Das schweigende Gegenüberstehen der beiden Armeen, das an den Nerven zerrte und einen nervös mit den Füßen scharren ließ in der Hoffnung es möge endlich etwas geschehen, um die unerträgliche Spannung zu mildern. Dann das von ihrem Standpunkt aus kaum wahrnehmbare Signal der Befehlshaber zum Angriff, das aufeinander zu Stürmen der Soldaten, die schnell entfachenden Kämpfe Mann gegen Mann. Das Zufügen von Verletzungen, das Zusammensacken von Schwerverletzten und tödlich Getroffenen. Und schließlich den Rückzug des hethitischen Heeres, das unter schweren Verlusten auf beiden Seiten siegreich geschlagen worden war. Als die Armeen bereits wieder in ihre jeweiligen Lager zurückgekehrt waren, standen Seth und sein gefiederter Begleiter noch immer auf der Anhöhe und starrten auf das Schlachtfeld herab, auf dem nichts anderes mehr zu sehen war als Leichen von Menschen und Tieren, zerbrochene Waffen, kaputte Streitwagen und sich über allem der giftige Geruch von Tod ausbreitete. Mit blassem Gesicht wandte Seth sich schließlich ab, stieg wortlos auf den Rücken seines Benu und ließ sich davon tragen. Es interessierte ihn nicht wohin sie flogen. Er achtete nicht auf seine Umgebung, sondern hatte sein Gesicht im Gefieder Merenseths verborgen und weinte. Weinte, wie er wohl noch nie geweint hatte und wie er nie wieder weinen würde. Weinte um die Leben der Toten, die sie nun nie würden leben können. Weinte um das, was sie verloren hatten. Weinte, weil sie selbst nicht mehr weinen konnten. Irgendwann versiegten seine Tränen, ohne dass er sich besser gefühlt hätte. Noch immer ruhte seine Wange auf dem Rückengefieder des Benu, der unterdessen über die scheinbar endlose Weite des Meeres flog, ohne dass Seth für das Ziel seiner Wünsche einen Blick übrig hatte. Er war in Gedanken noch immer auf dem Schlachtfeld, sah noch immer Menschen sterben, hatte noch immer den Geruch von Schweiß, Angst, Kot, Blut und Tod in der Nase und fühlte sich schuldig. Schuldig, weil er diese Männer ermutigt hatte in den Kampf zu ziehen, der sie das Leben gekostet hatte. Schuldig, weil er nicht mit ihnen gekämpft hatte. Schuldig, weil er tatenlos mit angesehen hatte, wie sie gestorben waren. Stunden nachdem sie das Schlachtfeld hinter sich gelassen hatten, erreichten sie die schneebedeckten Gipfel eines Hochgebirges. Auf dem höchsten dieser Gipfel ragte, entgegen aller Logik, ein hoher, durchscheinend wirkender Turm aus Alabaster empor. Dieser Turm besaß weder Tür noch Fenster, nur im oberen Drittel befand sich eine türgroße Öffnung, vor der sich ein kunstfertig aus dem gleichen Stein gehauener Balkon befand. Auf diesem Balkon landete der Benu, ließ Seth von seinem Rücken steigen und forderte ihn auf sich auf die Bank zu setzen, die an der Wand neben der türlosen Öffnung stand, sobald sie ihre menschliche Gestalt angenommen hatte. Anschließend verschwand Merenseth ohne ein weiteres Wort im Inneren des Turmes, während Seth vor Kälte zitternd auf der Bank Platz nahm. Als er sich an die Wand in seinem Rücken lehnte, stellte er irritiert fest, dass diese sanft und gleichmäßig zu vibrieren schien. Je länger er sich auf dieses Phänomen konzentrierte, umso deutlicher wurde, dass nicht nur die Wand im immer gleichen Rhythmus schwach bebte, sondern dass der gesamte Turm in einer gleichbleibenden, kaum merklichen Bewegung hin und her schwang. Sobald Merenseth zu ihm zurückgekehrt war, fragte Seth sie, was es mit dieser seltsamen Eigenart auf sich hatte, während er sich gleichzeitig erleichtert in einen federleichten, rauchgrauen Umhang wickelte, den Merenseth ihm entgegen hielt, um sich zu wärmen. „Im Inneren des Turmes befindet sich ein Pendel, seine Bewegung bringt den Turm dazu ebenfalls zu schwingen“, erklärte Merenseth, während sie sich neben dem Jungen auf der Bank niederließ und ihm anschließend Wasser und Essen aus dem Leinensack reichte. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn kaute Seth auf einem Hirsefladen herum, schluckte und erkundigte sich: „Und was machen das Pendel und der Turm hier?“ „Sie beherbergen und messen die Zeit“, erwiderte Merenseth ruhig, während ihr Blick über die schneebedeckten Gipfel der Berge glitt. „Wessen Zeit?“, verlangte Seth zu wissen und erhielt darauf die Antwort: „Die Zeit der Welt. – Hier gelangt niemand her, der es nicht darf und wer es doch versucht, muss es mit dem Wächter dieses Ortes aufnehmen.“ „Hm“, gab Seth lediglich zur Antwort, während er noch über das Gesagte nachdachte und sich dann erkundigte: „Wer ist der Wächter und warum dürfen wir hier sein?“ „Der Hüter des Turmes heißt Oreithys, er ist auch ein Benu. Du bist hier willkommen, weil du Neith einen Dienst erwiesen hast.“ War zunächst alles was Merenseth darauf erwiderte, bevor sie nach einer Pause hinzufügte: „Du hast den Tod gesehen. Dieser Ort birgt nicht nur die Zeit der Welt, er kann auch die Wunden der Seele heilen.“ Seth schwieg reneut eine Weile, um über die Antwort seiner Begleiterin nachzudenken. Nachdem er Neiths Vorschlag in die Tat umgesetzt hatte, war er der Überzeugung gewesen, dass er die Soldaten nicht einfach verlassen durfte. Sondern ihnen zumindest in Form seiner Anwesenheit und seines Vertrauens in ihre Überlegenheit beistehen müsste, wenn er auch nicht in der Lage war, mit ihnen zu kämpfen. Aber dieses Zusehen war schlimmer gewesen, als er es sich je hätte vorstellen können. Dass er bei dieser Schlacht zugesehen hatte, hatte seine Welt in Blut getaucht, seine Ohren mit gellenden Schreien, qualvollem Stöhnen und verängstigtem Wiehern gefüllt. Seine Nase mit den Gerüchen des Krieges betäubt, sodass er weder hatte klar denken können, noch in der Lage war irgendetwas anderes als diese Geschehnisse auf dem Schlachtfeld wahrzunehmen, die in seiner Erinnerung immer wieder in viel zu klarer, erschreckender Deutlichkeit abliefen. Erst seit er sich auf dem Balkon des Alabasterturmes befand, gelang es ihm die Ereignisse aus einer gewissen Distanz zu betrachten und auch wieder andere Dinge wahrzunehmen. War wieder Ruhe in sein Herz eingekehrt, die es ihm möglich machte, für sich selbst eine Entscheidung zu treffen. Er beschloss, dass er sich die Macht und den Einfluss verschaffen würde, der nötig war um Konflikte zum Wohl Kemets anders als durch Krieg zu lösen und wenn das hieß, dass er sein eigenes Leben opfern musste, dann würde er das tun. Nie wieder wollte er tatenlos zu sehen, wenn andere für den Schutz und das Leben der Menschen Kemets kämpften. Mit der Gelassenheit eines Wesens, das mehr als 5000 Sommer und Winter erlebt hat, hatte Merenseth schweigend gewartet und beobachtet, wie die seelischen Verletzungen ihres jungen Besitzers mit jedem Atemzug mehr verheilt waren und wie Seth für sich selbst zu einem Entschluss kam, den er mit der ihm eigenen Sturheit sehr wahrscheinlich auch durchhalten würde. Sie hatten eine lange Zeit geschwiegen, als Seth schließlich die Stille brach und an ihr vorheriges Gespräch anknüpfte, als hätte nie eine Pause dazwischen bestanden, indem er neugierig fragte: „Gehört Oreithys zu den Geschwistern, mit denen du dich verstehst?“ Merenseth lächelte bei dieser Frage und erwiderte: „Niemand versteht sich mit Oreithys, es sei denn er ist Oreithys.“ „Du magst ihn“, stellte Seth mit der instinktiven Erkenntnisfähigkeit von Kindern fest und erhielt darauf nur ein bestätigendes Nicken von Merenseth, bevor er die Frage stellte: „Wie ist er?“ „Er ist am liebsten allein, die Anwesenheit der meisten Wesen, Götter und Benu eingeschlossen, empfindet er als Zumutung. Deshalb werden wir ihn auch nicht zu sehen bekommen. Er verlässt nur sehr selten und nur mit einem sehr triftigen Grund diesen Ort und hält von Menschen im Allgemeinen nur sehr wenig. Meist versteht er nicht, warum die Götter sich so um euch kümmern, wo ihr so unzulängliche Wesen seid. Und obwohl er die Vorhaben und Absichten der Götter nur allzu oft in Frage stellt und sie misstrauisch beobachtet, wird er sich doch den Göttern und ihrem Willen nie entgegenstellen, sondern tun, was sie von ihm verlangen.“ „Warum haben die Götter jemanden wie ihn erschaffen, wenn es so schwierig ist mit ihm auszukommen?“, wollte Seth darauf irritiert und verwundert zugleich von seinem Benu wissen. Der lächelte nur vieldeutig und erwiderte nachdenklich: „Wer weiß, vielleicht aus dem gleichen Grund, warum sie euch Menschen erschaffen haben.“ Nach einer kurzen Pause wechselte Merenseth das Thema und erkundigte: „Wollen wir wieder aufbrechen, damit du doch noch das Meer zu sehen bekommst?“ Seth nickte zustimmend und erhob sich, um den Mantel, den Merenseth ihm geliehen hatte abzulegen und anschließend wieder auf den Rücken des Benu zu steigen. Auch Merenseth war aufgestanden und wollte gerade auf die Brüstung des Balkons zugehen, als sie in der Bewegung innehielt und Seth erklärte: „Behalte ihn an, er gehört dir.“ Erstaunt sah der Junge das Vogelmädchen an, blickte dann kurz auf den Stoff zwischen seinen Fingern und hakte nach: „Bist du sicher?“ Auf das entschiedene Nicken des Mädchens bedankte sich Seth kurz und legte den äußerst leichten Stoff, der dennoch hervorragend wärmte wieder um seine Schultern und rückte ihn zurecht, bevor er sich den Leinensack auf den Rücken schnürte. Dabei fragte er neugierig: „Was ist das eigentlich für Stoff, so etwas habe ich noch nie gesehen.“ „Das wäre auch sehr ungewöhnlich“, erwiderte Merenseth ruhig, während sie auf die Brüstung zuging und sich hinauf schwang, „dieser Mantel wurde aus Kranichfedern gewebt. Er wird dich vor Kälte, Hitze und Nässe schützen. Pass gut auf ihn auf, es gibt nur wenige davon.“ Versonnen strich Seth über den ungewöhnlichen Stoff. Er stellte es sich ziemlich schwierig vor, Federn zu weben. Aber auch ohne dieses Wissen hätte er gut auf den Umhang geachtet, war er doch angenehm zu tragen und etwas, was der Junge zuvor noch nie besessen hatte. Nachdem er versprochen hatte, gut auf den Mantel acht zu geben, Merenseth wieder ihre Vogelgestalt angenommen hatte und Seth auf ihren Rücken gestiegen war, schwang der Benu sich hinauf in die Lüfte und flog in gemächlichem Tempo zunächst über Berge und flaches Land, bevor sie schließlich wieder ans Meer gelangten, dem Seth dieses Mal seine volle Aufmerksamkeit widmete. Fasziniert beobachtete er, wie sich das Sonnenlicht im Wasser brach und einen glitzernden Weg aus blassem Gold in das blaue Wasser zu zeichnen schien. Verfolgte mit stetem Blick das Auf- und Abtauchen von Fischen und bat schließlich Merenseth so tief wie möglich über der Wasseroberfläche zu fliegen. Sobald der Vogel seiner Bitte nachgekommen war, ließ er seine Hand durch das kühle Wasser gleiten und führte schließlich eine Handvoll Wasser zum Mund, um es zu kosten. Er stellte fest, dass es widerlich salzig schmeckte. Während er all diese neuen Eindrücke in sich aufsog, traf er eine weitere Entscheidung. Er trug den Namen eines großen und mächtigen Gottes, eines Gottes der über die Wüste und das Meer herrschte und von dem es in keiner einzigen Geschichte hieß, dass er auch nur eine einzige Träne vergossen hatte. Seth beschloss, dass auch er nie wieder weinen würde. Es machte die Dinge nicht besser, war nur ein Zeichen von Reue, Bedauern und Schwäche – nichts von alldem konnte er auf dem Weg, den er zu gehen beabsichtigte gebrauchen. Jemand der schwach war konnte nicht beschützen. Jemand der bedauerte, was er getan hatte, war schwach und lähmte sich selbst, wurde handlungsunfähig. Er wollte stark sein und tun können, was getan werden musste, ohne dabei die zu verraten, die ihm wichtig waren und von ihm abhängig sein würden. Kapitel 8: Erwachsen werden --------------------------- Fünf Jahre waren vergangen, seit Seth das Innere des Tempels von Ombos gesehen hatte. Fünf Jahre seitdem er Neith begegnet war und begonnen hatte zu reisen. Zusammen mit seinem Benu hatte er jeden Winkel des Reiches erforscht, Menschen ebenso wie Tiere beobachtet, Erfahrungen gesammelt und das gelernt, wofür er sich interessierte. Er hatte den Glasbläsern im östlichen Nildelta bei ihrer Arbeit zu gesehen und bei dem Versuch selbst Glas herzustellen sehr schnell festgestellt, dass ihm die ganze Sache entschieden zu heiß war. Er hatte versucht Handwerkern bei der Herstellung von Schmuck, Spielzeug, Waffen und anderen Gegenständen zur Hand zu gehen und herausgefunden, dass er soviel Begabung für die Herstellung solcher Gegenstände besaß, wie ein Ziegenbock zum Eier legen. Dann hatte er sich auf den großen Baustellen umgesehen, sich mit der dort verwendeten Technik beschäftigt und den Arbeitern Löcher in den Bauch gefragt, die die meisten auch bereitwillig beantworteten, waren sie doch stolz auf ihre Arbeit und genossen es, dass sich jemand dafür interessierte. Im Alter von zwölf Jahren war er zusammen mit den gleichaltrigen Jungen seines Dorfes beschnitten worden, als Zeichen, dass er offiziell in die Reihe der Männer aufgenommen wurde. Dafür, dass es eine äußerst schmerzhafte Angelegenheit war und praktisch nicht viel mehr bedeutete, als dass er sich die Haare wachsen lassen oder eine modische Perücke tragen durfte und berechtigt war zu heiraten, ein ziemlich unverhältnismäßiger Aufwand, wie Seth fand. Allerdings wusste er, dass diese Beschneidung auch aus gesundheitlichen Gründen erfolgte, denn er hatte sich bei seinen Reisen auch in den Behandlungstuben von Ärzten herumgetrieben. Am Anfang war es schwierig gewesen, diese Medizinmänner zum Reden zu bringen, waren sie doch eifersüchtig darauf bedacht keines ihrer Geheimnisse preis zu geben, um nicht an Macht und Einfluss zu verlieren. Aber schließlich hatte er einen älteren Mann gefunden, der bereit war sein Wissen mit ihm zu teilen und ihn auch bei Behandlungen zusehen ließ. Allerdings hatte Seth sehr schnell herausgefunden, dass auch Medizin nichts für ihn war. Wenn er Blut und verletzte Gliedmaßen sah, wurde ihm jedes Mal speiübel und sich die unzähligen Kräuter, Tinkturen, Pastillen, Rezepturen und Tränke für die Behandlungen zu merken war ihm einfach unmöglich, es interessierte ihn wohl nicht genug. Ganz im Gegensatz zur Astronomie, Mathematik und Physik. Etwa ein halbes Jahr nachdem er beschnitten worden war, fand er es an der Zeit, dass er das Land kennen lernte aus dem seine Mutter stammte. Deise sah ihn ungläubig an, als Seth ihr seine Absicht schließlich mitten in der Hütte stehend mitteilte. Sie hatte sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnt, dass ihr Sohn sagte, er wäre eine zeitlang unterwegs und anschließend zusammen mit Merenseth für geraume Zeit verschwand. Obwohl sie noch immer gern gewusst hätte, wo die beiden sich jedes Mal herumtrieben, war es ihr doch nie gelungen genaueres darüber aus ihrem Sohn heraus zu bekommen. Anfangs hatte sie sich jedes Mal große Sorgen um Seth gemacht, da er jedoch stets unversehrt zurückgekehrt war, wenn auch hin und wieder äußerst wortkarg und nachdenklich, hatten sich ihre Sorgen allmählich gelegt und sie ließ ihn widerspruchslos gewähren. Sie vertraute ihrem Sohn und für den Notfall verließ sie sich ganz auf die glückbringende Magie Merenseths, die Seth sicher vor allem Unheil beschützen würde. Dass Seth ihr nun jedoch erklärte, er wolle Kemet verlassen, erstaunte sie. Für die Bewohner Kemets war ihr Land das gelobte und einzige, alles außerhalb der Grenzen Kemets erschien ihnen als wüste Einöde und Ort der Verbannung. Eine der höchsten Strafen bestand darin, des Landes verwiesen zu werden. Diese Tatsache hielt die Bewohner Kemets jedoch nicht davon ab, regen Handel mit anderen Ländern zu treiben und diplomatische Beziehungen aufrecht zu erhalten. Als Fremde in Kemet hatte Seths Mutter diesen Widerspruch aus Realitätssinn und sentimentalem Gefühl immer mit einer Mischung aus Belustigung und Skepsis betrachtet. Dass ihr Sohn sich diese allgemeine Haltung nicht zu eigen machen wollte, sondern die Dinge auf eigene Faust entdecken, mit eigenen Augen sehen und sich ein Urteil bilden wallte, erfüllte sie mit Stolz und zugleich wallte wieder Sorge in ihr auf. Er war viel zu jung, um allein soweit gen Norden zu reisen. Viel zu jung, um sich allein einer ihm gänzlich unbekannten Welt zu stellen. „Die Vorbereitungen werden einige Zeit in Anspruch nehmen, wenn wir nach Hatti reisen, werden länger als ein Jahr unterwegs sein“, erwiderte die Mutter schließlich ihrem Sohn, nachdem sie eine ganze Weile geschwiegen hatte. Seth sah sie überrascht an und fragte dann: „Du willst mitkommen?“ Es klang nicht, als wäre er von der Idee sonderlich begeistert. Seine Mutter nickte jedoch nur entschlossen und erwiderte: „Du bist für dien Alter zwar sehr selbstständig, aber du hast keine Ahnung davon, wie es in Hatti zugeht. Ich werde dich also nicht allein reisen lassen. Außerdem würde ich gern meine alte Heimat wiedersehen.“ Ungehalten runzelte Seth die Stirn, als er seine Pläne auf diese Weise durchkreuzt sah. „Ich bin erwachsen und kann auf mich selbst aufpassen!“, widersprach er schließlich energisch und erhielt darauf nur die ruhige Antwort: „Das mag sein, aber du wirst diese weite Reise trotzdem nicht allein antreten, es ist zu gefährlich.“ „Ich bin nicht allein, Merenseth ist bei mir und wir haben schon ganz andere Sachen erlebt, ohne dass uns etwas passiert ist. Was soll uns in Hatti den schon für Gefahr drohen?“, argumentierte Seth, entschlossen seinen Willen durchzusetzen. „Was für Sachen?“, wollte seine Mutter daraufhin wissen, sodass Seth über sich selbst und seine Unvorsichtigkeit verärgert das Gesicht verzog. Es war unklug gewesen, frühere Abenteuer mit Merenseth ins Spiel zu bringen. Eltern, insbesondere Mütter, mussten nicht alles wissen, das führte meist nur zu unnötigen Scherereien. Also versuchte Seth eilig abzuwiegeln, indem er nur abwehrend antwortete: „Nichts.“ Seine Mutter schien ihm diese Antwort allerdings nicht abzunehmen, so skeptisch wie sie ihn ansah. Sie bestand jedoch nicht weiter darauf zu erfahren, was Seth alles erlebt hatte, sondern erklärte lediglich mit ruhiger Entschiedenheit, auf das ursprüngliche Thema zurückkommend: „Ich denke, wenn du diese Reise unbedingt allein unternehmen willst, wirst du waren müssen bis tu ein paar Jahre älter bist.“ Damit schien für Seths Mutter das Thema abgeschlossen. Seth jedoch reckte trotzig das Kinn, sah seiner Mutter fest in die Augen und erwiderte ihr in dem gleichen ruhig entschlossenen Tonfall wie sie zuvor: „Ich werde diese Reise nicht verschieben und ich werde sie allein unternehmen!“ Wann hatte ihr Sohn eigentlich so einen Dickschädel entwickelt, fragte sich Seths Mutter resigniert, äußerte jedoch nur, mit noch immer unheimlicher Ruhe: „Du solltest dir wirklich gut überlegen, ob du das tatsächlich tun willst.“ Eine unausgesprochene Drohung schien in den Worten mit zu schwingen, bei der Seth nicht zu sagen vermochte, worauf seine Mutter anspielte. Aber er hatte nicht vor sich einschüchtern zu lassen. Also straffte er entschlossen die mageren Schultern, richtete sich zu voller Größe auf und erklärte mit ruhiger Entschiedenheit: „Das habe ich.“ Für einen Moment standen sich Mutter und Sohn in einem schweigenden Machtkampf gegenüber. Die spannungsgeladene Stille zwischen den beiden fest entschlossenen Sturköpfen ließ Merenseth unruhig hin und hertrippeln und mit den Flügeln schlagen, als wollte sie die Beiden auf diese Weise dazu bringen sich wieder zu versöhnen. Letztendlich jedoch drehte sich Seth nur ohne ein Wort zu sagen um und verließ das Haus. Seine Mutter blieb schweigend zurück und biss sich in einer Mischung aus Sorge und Enttäuschung auf die Unterlippe. Mit angespannten Schultern und ärgerlichem Gesichtsausdruck war Seth zu der Stelle gelaufen, von der aus er stets mit seinem Benu eine Reise antrat. Herrisch befahl er Merenseth sich flugbereit zu machen und wartete ungeduldig den kurzen Augenblick, bis sie soweit war. Gerade als er sich auf Merenseths Rücken schwingen wollte, ließ diese ein fragendes Tschilpen hören und neigte gleichzeitig den Kopf in die Richtung, in der sich die Hütte befand. Wortlos die Frage stellend, ob Seth sich nicht doch noch mit seiner Mutter versöhnen wollte, bevor sie davonflogen. Doch Seth erwiderte nur ungehalten: „Nein, ich werde nicht zurückgehen. Ich bin alt genug meine eigenen Entscheidungen zu treffen! Ich muss nicht ständig von ihr überwacht werden!“ Stumm sah Merenseth ihren Besitzer für einen Moment aus klugen, braunen Augen an, wandte dann den Kopf ab und wartete geduldig bis Seth sicher auf ihrem Rücken saß, bevor sie sich sanft in die Luft erhob. Sie flogen zunächst Richtung Pharaonenstadt, um dort eine erste Rast einzulegen und sich in den Straßen und auf dem Markt umzusehen. Da Seth in seinem Ärger vergessen hatte etwas zu essen mitzunehmen und da er weder Geld bei sich hatte noch die wenigen wertvollen Besitztümer, die er bei sich hatte, eintauschen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich eine Arbeit zu suchen und auf diese Weise für den benötigen Proviant für seine Weiterreise zu sorgen. An den ständen des Marktes fragte er jedoch vergeblich, ob es für ihn Arbeit gäbe, auch in den herrschaftlichen Häusern, an deren Türen er klopfte, gab es keine Arbeit für ihn. Erschöpft und hungrig suchte Seth schließlich zusammen mit seinem Benu in einer engen Seitengasse Schutz vor der brennenden Mittagssonne. Dort wurde er Zeuge eines heftigen Streits zwischen zwei Männern. „Was hast du dir dabei gedacht, mir so einen Unsinn aufzuschreiben, du Betrüger! Wolltest du, dass ich mich lächerlich mache?“, keifte einer der Männer, der mit dem Rücken zu Seth stand und einen sonnenverbrannten Stiernacken besaß, mit sich überschlagender Stimme sein hageres, leicht gebeugt stehendes Gegenüber an und fuchtelte dabei wild mit einer Papyrusrolle vor dessen Nase herum. „Ich habe dir vertraut, als du sagtest du würdest mir diesen Brief an den Priester schreiben. Und was tust du? Schmierst einen Witz über Priester mit Eselsohren zusammen und verlangst auch noch Geld dafür!“ Vor Wut war der Kopf des Schreihalses inzwischen rot angelaufen, gleichzeitig zerdrückte der Mann die Schriftrolle zwischen seinen zur Faust geballten Fingern und bedrohte zugleich mit dieser Faust zornig den unzuverlässigen Schreiber vor ihm. Der wusste sich vor kriecherischer Unterwürfigkeit kaum noch auf den Beinen zu halten, stammelte eine Entschuldigung nach der anderen und erklärte er wäre an dem Tag, als er den Brief für den Mann geschrieben hatte, sehr krank und von bösen Dämonen besessen gewesen. Doch der um seinen Brief und sein Geld geprellte Mann ließ sich davon nicht besänftigen. „Hör auf dummes Zeug zu reden! Du wirst mir auf der Stelle mein Geld zurückgeben und mich dann zum Tempel begleiten, um dem Priester die Sache zu erklären. Glaub bloß nicht, dass ich mir das einfach gefallen lasse!“ Der windige Schreiber wand sich sichtlich, um noch irgendwie aus dieser Situation herauszukommen, ohne die Forderungen des anderen Mannes einlösen zu müssen. Da er mit seinen Versuchen seinen Ankläger zu besänftigen nicht weiter kam, änderte er sein Taktik und ging zum Angriff über, indem er erklärte, der Mann mit dem Stiernacken habe sich das alles nur ausgedacht, um einen hart arbeitenden Schreiber um sein ehrlich verdientes Geld zu betrügen. Sprachlos vor Ungläubigkeit über diese Unterstellung starrte der Mann, noch immer das völlig zerknüllte Schreiben in seine Faust haltend, den Schreiber an und wusste nicht, wie er diese dreiste Lüge entkräften sollte. Das wiederum machte dem Schreiber Mut und er forderte mit neugewonnenem Selbstvertrauen und weit weniger gebeugter Haltung, der Mann solle erst einmal beweisen, dass er tatsächlich von ihm betrogen worden sei und er nicht stattdessen plane ihn zu betrügen. Das war der Moment, in dem sich Seth höflich mit der Bemerkung in den Streit einmischte, dass er den Brief, den der Mann bei sich hatte, vorlesen könnte, damit auf diese Weise herauskam, wer von den beiden Parteien Recht habe. Ungläubig sahen die beiden Männer den scheinbar aus dem Nichts aufgetauchten Jungen an. „Mach, dass du fort kommst und versuch nicht dich aufzuspielen und dich in Dinge einzumischen von denen du nichts verstehst!“, erwiderte der stiernackige Mann schließlich abweisend und wandte sich wieder seinem offiziellen Gegner zu. Doch der Schreiber schien über den Vorschlag anders zu denken und widersprach seinem Ankläger mit einem schmierig hässlichen Grinsen auf den Lippen. Offenbar sicher, dass der fremde Junge sich gleich schrecklich blamieren würde und er so auf dessen Kosten doch wenigstens noch etwas zu lachen hätte. „Ich bin einverstanden, wenn er es tatsächlich versuchen will. Es soll alles getan werden, was beweist, dass ich Recht habe“, krähte der hagere Schreiber also vor freudiger Erwartung. Verärgert sah der andere Mann zu seinem Gegner. Nach dessen Worten konnte er sich diesem völlig abwegigen Vorschlag nicht mehr entziehen, wollte er nicht weiter unter Verdacht stehen. Also gab er dem Jungen widerwillig das Papyrus und erkundigte sich murrend: „Kannst du denn überhaupt lesen?“ „Das wirst du gleich sehen“, antwortete Seth ungerührt und fügte hinzu: „Ist dir der Inhalt des Schreibens bekannt?“ Der Gefragte nickte, „der Amunpriester hat es mir empört vorgelesen, als ich nicht glauben wollte, dass da tatsächlich etwas anderes stand, als die Bitte meinen Sohn in ihre Schule aufzunehmen.“ Seth hatte diese Antwort schweigend zur Kenntnis genommen, das Papyrus aufgerollt und las nun beinahe fließend die enthaltene schlechte Anekdote über den Priester und die ihm angehängten Eselsohren vor. Als er zu Ende gelesen hatte, rollte er das Schreiben wieder zusammen, reichte es dessen Besitzer und erklärte mit leiser Herablassung in der Stimme: „Du hattest Recht, er hat eine sehr schlechte Handschrift – und keine Ahnung davon, wie man selbst die einfachsten Worte richtig schreibt.“ Erneut sprachlos hatten die beiden Männer auf den Jungen herabgesehen. Dann grinste der Mann mit dem Stiernacken zufrieden, weil er soeben eine unabhängige Bestätigung seiner Sicht der Dinge erhalten hatte. Dem Schreiber hingegen war das Lachen vergangen, stattdessen war er wieder mutlos in sich zusammengesunken. „Was ist nun, wirst du mir mein Geld zurückgeben und mich zum Tempel begleiten?“, verlangte der andere Mann zu wissen und erhielt darauf nur einen panisch prüfenden Blick des entlarvten Schreibers. Dann jedoch schien diesem eine Idee zu kommen, denn er erklärte plötzlich überzeugt: „Das beweist gar nichts. Bestimmt hast du den Jungen bestochen, um mich ins Unrecht zu setzen. Nicht ein Gran Gold bekommst du von mir!“ Damit wandte sich der Schreiber hastig ab und wollte sich hinter seine Haustür in Sicherheit bringen. Er kam jedoch nicht mehr dazu. „Meren“, war alles was Seth sagen musste und schon hatte sich der Benu von seiner Schulter erhoben, sich vergrößert, war über dem durchtriebenen Schreiber und hob ihn an den Schultern gepackt in die Luft. „Gehen wir zum Tempel, damit die Priester entscheiden, was mit ihm geschehen soll“, schlug Seth ruhig vor, worauf der stiernackige Mann nur nicken konnte, ihm war angesichts des eben Erlebten schon wieder die Sprache abhanden gekommen. Der Amunpriester staunte nicht schlecht, nachdem er nichts ahnend auf ein Klopfen hin die Tür des zum Tempel gehörigen Verwaltungshauses geöffnet hatte und gleich darauf ein äußerst seltsames Bild zu sehen bekam. Vor der geöffneten Tür standen ein etwa zwölfjähriger Junge mit braunen Haaren und blauen Augen, der Mann, der am Vormittag mit diesem beleidigenden Brief bei ihm gewesen war und hinter diesen beiden schwebte mühelos ein glutfarbener Vogel in der Luft, der einen hageren, merkwürdig krank aussehenden Mann mit seinen Krallen an den Schultern gepackt hielt und ihn so am Weglaufen hinderte. Da sich bereits eine beachtliche Menschenmenge um dieses sonderbare Grüppchen versammelt hatte, die Straße versperrte und dabei war für einigen Aufruhr zu sorgen, bat der Priester die kleine Gruppe vor ihm herein. Sicher, dass es sich bei dem Anliegen dieser vier Personen nicht um eine schnell zu erledigende Kleinigkeit handeln würde. Der stiernackige Mann und der braunhaarige Junge nahmen das Angebot dankend an. Der glutfarbene Vogel hingegen erhob sich mit seiner augenscheinlichen Beute höher in die Luft, was den Mann verängstigt aufschreien und hektisch herumzappeln ließ, überflog die Mauer des Hauses und landete anschließend in dem dahinter befindlichen Garten, der Haus und Tempel mit einander verband. Kurz darauf kamen auch der Priester und seine beiden Begleiter in den Garten, offenbar von dem Jungen darüber informiert, wohin der Vogel geflogen war. Während sich der Mann mit dem Stiernacken, Seth und der Priester sich dem Benu und seiner Beute näherten, erhielt der Priester eine Zusammenfassung der Geschehnisse und Taten des unzuverlässigen Schreibers, damit er anschließend ein Urteil über diesen verhängen konnte. Kapitel 9: Zukunftspläne und Rettungsabsichten ----------------------------------------------- Der Priester hatte sich sowohl die Sicht des stiernackigen Mannes als auch des Schreibers angehört und wusste inzwischen auch, was es mit der Anwesenheit Seths auf sich hatte. Er sorgte dafür dass der Schreiber seine gerechte Strafe erhielt und der stiernackige Mann beruhigt nach Hause gehen konnte, in dem Wissen, dass seine Bitte bezüglich seines Sohnes erfüllt werden würde. Sobald die anderen beiden Männer verschwunden waren, wandte sich der Priester, der sich Seth als Sechemib vorgestellt hatte, an den Jungen und erkundigte sich freundlich wie Seth an so etwas Seltenes wie einen Benu gelangt sei und ihn gezähmt habe. Doch Seth gab nur eine sehr ausweichende Antwort, besorgt der Priester könnte ihm Merenseth wegnehmen wollen. Sechemib war ein kluger Mann, der die Vorbehalte des Jungen erahnte und daraufhin das Thema wechselte. „Es ist äußerst ungewöhnlich, dass ein Junge in deinem Alter bereits so bewandert in der Schrift ist. Für gewöhnlich fangen die meisten in dieser Zeit erst an, sich mit ihr überhaupt vertraut zu machen. - Hast du schon darüber nachgedacht, was für eine Ausbildung du machen möchtest oder wirst du das Handwerk deines Vaters übernehmen?“ Seth schüttelte den Kopf, „darüber habe ich noch nicht nachgedacht, ich bin noch dabei mich umzusehen“, erwiderte er ruhig und entlockte dem Priester damit ein Lächeln. „Falls du dich entscheiden solltest, ein Priester zu werden, komm zu mir. Ich werde dir helfen dein Ziel zu erreichen.“ „Warum solltet du so etwas tun wollen?“, erkundigte sich Seth mit neugieriger Skepsis und erhielt die Antwort: „Du scheinst außergewöhnlich klug zu sein und hast in deiner Begleitung einen Benu, das Ba des Osiris, den Gefährten des Re und Boten der Götter. Es wäre sicher nicht klug von mir einem Jungen, der auf diese Weise von den Göttern auserwählt wurde, meine Hilfe zu verweigern. Amun muss Großes mit dir vorhaben.“ Seths Augen hatten sich bei diesem unerwarteten Lobpreis seiner Person leicht verengt, während er den Priester misstrauisch betrachtete. Er kam jedoch nicht dahinter, warum dieser ihm dermaßen schmeichelte und erwiderte deshalb lediglich zurückhaltend: „Ich werde es mir merken.“ Dann erhob er sich und erklärte, dass er seine Reise fortsetzen wolle. Sechemib nickte daraufhin verstehend, erhob sich ebenfalls und fragte: „Brauchst du noch irgendetwas bevor du aufbrichst?“ Seth hatte bereits angesetzt diese Frage zu verneinen, als er sich anders besann und erwiderte, dass er noch Proviant benötigte und auch bereit sei dafür zu arbeiten. Doch der Priester wehrte ab, das sei nicht nötig, Seth solle sich nur einen Augenblick gedulden, er würde ihm alles Nötige besorgen. Der Junge nickte dankend und setzte sich wieder, während der Priester zurück in das Werwaltungsgebäude ging. Kaum war er verschwunden und Seth sicher mit seinem Benu allein zu sein, wandte er sich an den Vogel und wollte wissen: „Was hältst du von seinem Angebot, Meren?“ Sobald sich der Vogel in seine menschliche Gestalt verwandelt hatte, erwiderte das Mädchen ruhig: „Er weiß mehr, als er zugibt. Aber wenn du sein Angebot annehmen willst, solltest du es tun. Ich glaube nicht, dass er dir schaden will.“ „Aber sicher weißt du es nicht“, stellte Seth fest und Merenseth schüttelte den Kopf. „Hm“, brummte Seth daraufhin und schwieg einen winzigen Augenblick, bevor er sich erkundigte: „Was, glaubst du, verbirgt er vor uns?“ Wieder schüttelte das Vogelmädchen den Kopf und erwiderte: „Ich weiß es wirklich nicht. Aber es lässt sich herausfinden, wenn du willst.“ Seth jedoch winkte ab, so wichtig war ihm die Sache nicht, zumal er nicht glaubte, den Priester je wiederzusehen. Als sie Schritte hörten, die ankündigten dass Sechemib anscheinend zurückkehrte, verwandelte sich Merenseth wieder in ihre Vogelgestalt, damit der Priester nichts erfuhr, was er nicht zu wissen brauchte. Nachdem Sechemib den Jungen großzügig mit Proviant und Wasser versorgt hatte, verabschiedete sich Seth von ihm und flog auf seinem Benu davon. Nachdenklich sah der Priester den Beiden nach. Es gab unter den Hohepriestern des Amun einen Mann, der nicht nur der Bruder des Herrn der zwei Länder und dessen engster Berater war, sondern der ebenfalls Tjt war, das Oberhaupt der Priesterschaft. Dieser Mann hatte sich durch die Erhebung Amuns zum Staatsgott wachsenden Einfluss verschafft, war ein strenger Mann und ein mit allen Wassern gewaschener Politiker. Es gab Gerüchte, die besagten dass der Tjt Frau und Kind für seine Karriere verlassen hatte, allein in die Pharaonenstadt zu seinem Bruder geeilt war, als dieser von Feinden umzingelt schien und sich ganz dem Dienst an seinem Bruder verschrieben hatte. Sechemib hatte durch Zufall herausgefunden, dass zumindest ein Teil dieser Gerüchte der Wahrheit entsprechen musste. Er war vor einiger Zeit Zeuge geworden, wie der Tjt durch einen Boten das Bild eines schmalen, braunhaarigen Jungen mit wachen, blauen Augen erhalten hatte, das er mit unverkennbarem Stolz im Blick immer wieder betrachtet hatte. Erst als Sechemib sich mit höflicher Neugier erkundigte, wer der Junge auf dem Bild sei, hatte der Tjt unwillig aufgesehen und das Bild von einem Diener in seine Räume bringen lassen, während er auf die Frage lediglich kurz angebunden „niemand“ erwidert hatte. Dieses Bild nun hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Jungen, der heute mit seinem Benu bei Sechemib gewesen war. Vielleicht hätte er klug daran getan, den Jungen aufzuhalten und ihn unter irgendeinem Vorwand dem Tjt vorzustellen. Aber ein Instinkt hatte ihm geraten, sich noch zurückzuhalten, zu warten bis sich eine bessere Gelegenheit bot, auch wenn Sechemib nicht wusste, wann sich diese Gelegenheit bieten und wie sie aussehen würde. Er vertraute jedoch auf sein angeborenes Glück, wie der Tjt auf seinen Verstand und Seth auf seinen Benu. Mit einem Lächeln und auf dem Rücken verschränkten Händen, wandte sich der Priester ab und verließ den Garten. Seine Zeit würde kommen, bis dahin hieß es warten, sich vorbereiten und mit dem zufrieden sein, was er hatte. Seth ahnte nichts von den Gedankengängen des Priesters, während er auf dem Rücken seines Benus weiter Richtung Hatti flog. Auf ihrem Weg legten sie keine weiteren, nennenswerten Pausen ein, Seth aß und schlief auf dem Vogelrücken, während Merenseth mit stetem Flügelschlag beständig die Entfernung zwischen ihnen und ihrem Ziel verkürzte. Als sie schließlich die Hauptstadt Hattis erreichten, ging gerade die Sonne über der Stadt auf. Von dem langen, kräftezehrenden Flug ermüdet, landete Merenseth kurzerhand in dem ersten Baum bestandenen Garten, der ihr ins Auge fiel. Kaum war Seth von ihrem Rücken geklettert, schrumpfte der Vogel auf seine normale Größe zusammen und rollte sich unter dem nächsten Baum zum Schlafen zusammen, den Kopf unter einem Flügel verbergend und keinen Gedanken an mögliche Gefahren oder die Schönheit der Umgebung verschwendend. Seth hingegen war hellwach und ausgeruht und machte sich neugierig daran herauszufinden, wo genau sie gelandet waren, indem er begann durch den Garten zu streifen. Nach dessen Größe und Schönheit zu schließen, musste er jemandem gehören, der sehr wohlhabend war, denn soviel Üppigkeit, Farbenpracht und Weite gab es in Kemet wohl nur in den Gärten des königlichen Palastes. Auf seinem Streifzug durch dieses Wunderwerk eines Gartens, gelangte Seth schließlich zu einem Pavillon in dem neben Tisch und Sitzgelegenheiten auch ein großer Käfig stand. In diesem hockte auf einer Stange ein unglücklich wirkender, fröhlich bunter Vogel, der heiser krächzte als Seth sich dem Käfig neugierig näherte und den Jungen aus trüben, schwarzen Augen betrachtete. Eine Weile sah Seth sich den unbekannten Vogel in seinem Gefängnis nur still an, dann trat er plötzlich entschlossen an die Käfigtür heran und öffnete die einfache Verriegelung. Anschließend hielt er dem Vogel auffordernd seinen Arm hin, so wie er sonst bei Merenseth zu tun pflegte, und wartete geduldig darauf, dass der schillernd bunte Vogel es dem Benu gleichtat und sich auf seinen Arm setzen würde. Als der Vogel jedoch keinerlei Anstalten machte sich auf Seths Arm zu setzen, schob der Junge entschlossen seine Finger unter die Zehen des Vogels, bis diese sich im Reflex darum schlossen und hob das Tier anschließend aus seinem Gefängnis heraus. Den Vogel an den Füßen festhaltend, während der auf den Fingern seines Retters hockte, lief Seth durch den Garten auf der Suche nach einer passenden Stelle, von der aus er den Vogel in die Freiheit entlassen konnte. Doch auch als er eine Stelle gefunden hatte, von der er glaubte, dass sie geeignet sei, weil das Blau und die Weite des Himmels einfach jeden Vogel zum Fliegen verlocken mussten, blieb das Tier mit dumpfer Ruhe auf seiner Hand sitzen und rührte sich nicht. Selbst als Seth auffordernd mit der Hand, auf der der Vogel saß, in die Höhe ruckte, machte dieser keine Anstalten davon zu fliegen. Stattdessen sah er Seth lediglich leicht verwundert an, als hätte er keine Ahnung was dieser von ihm wollte. Ungehalten runzelte Seth die Stirn und erklärte dem Vogel: „Fliegen sollst du! Dafür bist du schließlich gemacht. Schau mich nicht so an, sondern versuch es gefälligst, sonst bring ich dich zurück in deinen Käfig!“ Doch bei dem Vogel auf seiner Hand handelte es sich nun einmal nicht um seinen klugen Benu, sondern um ein in Gefangenschaft aufgewachsenes Tier, dass nichts anderes als die kleine Welt seines Käfigs, umgeben von Gitterstäben kannte. Frustriert wollte Seth schließlich aufgeben und den Vogel zurück in seinen Käfig bringen, als dieser versuchsweise mit den Flügeln schlug. Mit neuerwachter Hoffnung blieb Seth stehen und wartete darauf, ob das Tier vielleicht doch noch losfliegen würde. Aber weitgefehlt, offenbar hatte es nur einmal kurz seine Flügel auslüften wollen, denn nun saß er wieder still auf der Hand und starrte stumpf ins Leere. Plötzlich waren entfernt aufgeregte Frauenstimmen zu vernehmen, denen sich bald zwei tiefere Männerstimmen zugesellten, während sich im Garten begann nervöse Unruhe zu verbreiten. Offenbar hatte jemand entdeckt, dass der Vogel nicht mehr da war, wo er hin gehörte und man hatte eine gründliche Suche sowohl nach dem Tier als auch nach dessen Dieb angesetzt. Seth fluchte leise, das hatte ihm noch gefehlt, was sollte er jetzt nur tun? Den Vogel einfach zurückbringen ging nicht, wie hätte er seine Anwesenheit in dem von einer hohen Mauer umgebenen Garten erklären sollen, wie eine vernünftige Begründung dafür angeben sollen, warum er den Vogel aus seinem Käfig genommen hatte? Für einen Moment ratlos, was er tun sollte, sah Seth sich nach einem Baum um, auf dessen Zweig er den Vogel absetzen und sich anschließend aus dem Staub machen konnte. Doch schon im nächsten Moment kam ihm das vollkommen falsch vor, obwohl die Idee mit einem Baum gar nicht so schlecht war. Nach kurzem suchen, fand er was er brauchte: einen Baum, der auch mit nur einer Hand für ihn zu erklettern war. Eilig machte Seth sich an den Aufstieg, durch den noch immer auf seiner Hand sitzenden Vogel etwas ungeschickter als im Normalfall. Als er schließlich im Wipfel des Baumes angekommen war, streckte er erneut den Arm aus, auf dem der Vogel saß, um ihn so aufzufordern endlich loszufliegen. Dieser sah sich zunächst einmal in aller Gemütsruhe die Aussicht an, ohne einen Sinn dafür zu haben, dass im Garten selbst die Häscher nach ihnen auf der Suche waren. Seth würde nie erfahren, warum der Vogel sich plötzlich eines Besseren besonnen und die Flügel ausgebreitet hatte, im nächsten Moment mit elegantem Schwung in den Himmel hinauf und davon geflogen war. Es war auch nicht wichtig. Wichtig war einzig, dass er sich getraut hatte zu fliegen und weder er noch Seth von den ausgesandten Häschern erwischt wurden. Dass hieß, noch war Seth den im Garten befindlichen Fängern nicht in die Hände geraten und er sollte zusehen, dass das so blieb. Auf dem Rückweg zu Merenseth, wollte er nicht mehr unbekannte Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, als unbedingt nötig. Es war schwierig, den Häschern immer wieder rechtzeitig auszuweichen, bevor sie ihn bemerken konnten, denn es schienen immer mehr zu werden, die den Garten absuchten. Nachdem Seth unzählige Haken geschlagen, mehrmals im letzten Moment hinter Büschen oder auf Bäumen verschwunden war, sich einige Male verirrt hatte und nur durch unglaubliches Glück den Händen seiner Fänger entgangen war, gelangte er schließlich zu dem Baum, von dem er glaubte, Merenseth unter diesem zurückgelassen zu haben. Nur, da war keine Merenseth. Auch nicht die kleinste, orangefarbene Feder verriet, ob er tatsächlich den richtigen Baum gefunden oder ob er sich nur neuerlich verirrt hatte. Seth hätte in diesem Moment gern vor Frustration gegen einen Baumstamm getreten, aber dazu blieb ihm keine Zeit, denn hinter ihm ertönte plötzlich eine dröhnende Stimme, die erklärte: „Hab ich dich endlich, du Dieb! Was fällt dir ein, in den Garten der Tawananna einzudringen? Darauf steht der Tod, weißt du das nicht?“ Seths Gedanken in diesem Moment ließen sich wohl am ehesten so zusammenfassen: Verdammte Eselskacke! Er hielt sich jedoch nicht lange mit solchen Überlegungen auf, sondern beeilte sich seinem Verfolger irgendwie zu entkommen und floh flink wie der Hase vor dem Fuchs in die grünen Schatten des Gartens, während er hoffte doch noch Merenseth zu finden. Seine Hoffnung erwies sich jedoch als vergeblich, stattdessen wurde er immer mehr von der großen Zahl der Häscher umringt und in die Enge getrieben. Auf seiner wilden Flucht gelangte er schließlich an die hohe Mauer des Gartens und war davon überzeugt, dass es nun mit ihm vorbei wäre. Vor ihm die Mauer, hinter ihm die Häscher, die ihn aufs Schafott bringen wollten und kein Benu weit und breit, der ihn unbeschadet aus dem Garten hinaustragen würde. Plötzlich traf ihn etwas Kleines, Hartes am Kopf, während gleichzeitig ein flüsternde Jungenstimme erklang, die sagte: „Hey du, hör auf dir die Beine in den Bauch zu stehen und beeil dich, sonst kriegen sie dich doch noch.“ Verärgert sah Seth die Mauer hinauf, in die Richtung aus der die Stimme kam. Wofür hielt sich der Eigentümer der Stimme eigentlich? Glaubte er tatsächlich, Seth wollte gefangen und getötet werden? Aber ohne Benu war es ihm nun einmal unmöglich zu fliegen und keiner der Bäume stand nah genug an der Mauer, als dass er über einen von ihnen den Garten hätte verlassen können. Das schien auch der Unbekannte zu wissen, denn genau in diesem Moment entrollte sich von der Mauerkrone herab eine einfache Strickleiter und die Stimme erklärte wieder: „Beeil dich und kletter rauf, sie sind gleich hier.“ Auch Seth konnte sie bereits hören und so ergriff er schleunigst die angebotene Leiter und kletterte geschickt wie ein Affe die Mauer hinauf, auf diese Weise knapp den Händen seiner Häscher entgehend. Auf der Mauerkrone angekommen, entdeckte er einen kleinen, mageren Jungen von sechs oder sieben Jahren mit zerzausten blauschwarzen Haaren, in verschlissener, schmutziger Tunika, der mit geübten Griffen die Leiter einzog, sie auf der anderen Seite wieder herunterließ und sich eilig an den Abstieg machte, Seth auffordernd ihm zu folgen. Bevor dieser genau das tat, warf er noch einen letzten, suchenden Blick über den Garten, ohne jedoch seinen Benu entdecken zu können. Mit dem festen Entschluss zurückzukommen und Merenseth wiederzufinden, sobald er selbst nicht mehr verfolgt wurde, stieg auch Seth schließlich die Leiter herab und rannte so schnell ihn seine Beine trugen dem sich bereits entfernenden Jungen hinterher in das Gewirr der Gassen von Hattuscha. Marginalie am Schluß Tawananna = hethititsche Großkönigin Kapitel 10: Mukisanu -------------------- Seth und sein unbekannter Retter waren eine ganze Weile durch die Straßen Hattuschas gehetzt immer auf der Flucht vor den Häschern der Tawananna, hatten sie sich an Menschen und Marktständen vorbei geschlängelt, sich zwischen Mauern hindurchgezwängt, waren über Zäune gesprungen, über Dächer geklettert und letztendlich in einer zeltartigen Behausung am anderen Ende Stadt angekommen, die sich auf dem Dach eines leerstehenden, bereits langsam verfallenden Hauses befand. „Mach’s dir bequem, hier sind wir sicher. Die Anderen kommen bestimmt auch bald“, lauteten die Worte des dunkelhaarigen Jungen, während er sich auf eine der aus alten Säcken und Lumpen improvisierten Schlaf- und Sitzgelegenheiten fallen ließ und sich anschließend mit einem fröhlichen Funkeln in den Augen genüsslich streckte. „Das hat Spaß gemacht. – War gar nicht so übel, wie du dich gegen die Wächter gehalten hast. Mich hätten sie auch mal beinahe erwischt, aber da war die Mauer noch nicht so hoch.“ Ein unverkennbar stolzes Grinsen war auf dem Gesicht des Jungen zu sehen, als er daran dachte, dass die Mauer um den Garten der Tawananna aufgrund seiner häufigen Besuche dort ihre jetzige Höhe erhalten hatte. Auch Seth hatte inzwischen auf einem der herumliegenden Säcke Platz genommen und fragte nun, ohne auf die Worte des Jungen einzugehen: „Wer bist du? Und warum hast du mir geholfen?“ Noch immer grinste der Junge, während er sich mit einem Finger kurz unter der Nase entlang rieb, blinzelte und erwiderte: „Ich bin Mukisanu. Eigentlich wollte ich aus dem Garten der Tawananna Obst holen, wir hatten diese Woche nicht viel Glück beim Essen. Aber nach dem Aufruhr den du verursacht hast, werden sie eine Weile ziemlich wachsam sein…“ Was wohl praktisch bedeutete, dass Seth diesem Jungen und seinen unbekannten Kumpanen gerade eine Nahrungsquelle abgedreht hatte. Da Seth sich nicht entschuldigen wollte und nicht wusste, wie er sich bei dem Jüngeren bedanken sollte, sah er sich in der luftigen, kärglich eingerichteten Behausung um und erkundigte sich: „Lebst du hier?“ Die Antwort bestand lediglich in einem stolzen Nicken Mukisanus, hatte er sich dieses Heim doch zusammen mit seinen Freunden ganz allein aufgebaut. „Wo sind denn deine Eltern?“, wollte Seth neugierig geworden als nächstes wissen. Mukisanu zuckte in gespieltem Gleichmut die Schultern und erwiderte scheinbar gelassen „Tot, denke ich. Jedenfalls sind sie mir schon seit einer ganzen Weile nicht mehr begegnet.“ Sowohl um von dem Thema Eltern abzulenken, als auch weil er es wirklich wissen wollte, erkundigte sich Mukisanu anschließend nach Seths Namen und woher er käme. Als Mukisanu hörte, dass Seth aus Kemet stammte, wunderte er sich nicht darüber, warum dieser allein in Hattuscha unterwegs zu sein schien, sondern stellte lediglich etwas gönnerhaft fest: „Dafür das du nicht von hier bist, kannst du richtig gut Nesisch.“ Auf diese Bemerkung hin starrte Seth Mukisanu wütenden an, was diesen jedoch nicht weiter zu beeindrucken schien, denn er sah den älteren Jungen lediglich mit geduldiger Neugier an, darauf wartend eine Erklärung für Seths Sprachgewandtheit zu bekommen. Angesichts des Gesichtsausdrucks Mukisanus schwand Seths Unmut dahin und er ließ sich mit einem Schulterzucken zu der Erklärung herab: „Meine Mutter stammt von hier. Als ich jünger war, hat sie ein ganze Weile nur Nesisch mit mir gesprochen.“ Was Seth nicht erzählte, wohl weil er es nicht wusste oder nicht erzählen wollte, war die Tatsache, dass seine Mutter dies aus purem Trotz gegenüber Seths Vater getan hatte, nachdem dieser Frau und Kind sich selbst überlassen hatte. Denn Akunadin hatte seiner Frau zuvor stets verboten in ihrer Muttersprache mit ihrem Sohn zu reden. Etwas wie Neid und Sehnsucht war kurz in den Augen Mukisanus aufgeflackert, als Seth von seiner Mutter sprach, verschwand aber sofort wieder, als mit einigem Getöse vier weitere Jungen, in etwa dem gleichen Alter wie Mukisanu, in das Versteck stürmten und auf diese Weise das Gespräch der anderen beiden Jungen unterbrachen. Abrupt hatten die vier Neuankömmlinge beim Anblick des fremden Jungen in ihrem Versteck innegehalten und starrten diesen nun an, während sie gleichzeitig zu wissen verlangten, wer der Junge denn war. „Das ist Seth. Er ist unser Gast, solange er möchte“, erklärte Mukisanu den anderen Vier bestimmt und sorgte auf diese Weise augenblicks für verblüffte Stille. Dann jedoch meldete sich murrend der schlaksigste der vier Jungen zu Wort: „Warum sollen wir ihn mit durchfüttern? Wir kennen ihn überhaupt nicht und viel Platz ist hier sowieso nicht.“ Gleichzeitig hatte der kräftigste der Jungen halb flüsternd an den Jungen neben sich gewandt festgestellt: „Ich hab gehört, dass sie in der Stadt nach einem Jungen mit braunen Haaren und fremdländischer Kleidung suchen, er soll den Lieblingsvogel der Tawananna gestohlen haben. – Die Beschreibung würde doch auf ihn passen.“ Bei seinen letzten Worten hatte der Junge mit dem Kinn auf Seth gewiesen, der nun prüfend von den vier unbekannten Jungen betrachtete wurde. „Wer weiß, ob das stimmt“, warf nun wieder der schlaksige Junge ein, der zuerst das Wort ergriffen hatte, „vielleicht ist er auch nur ein Spitzel, der uns an die Stadtwache verpfeifen soll.“ Zornig runzelte Mukisanu daraufhin die Stirn und befahl energisch: „Sei still, Urija, und red keinen Unsinn! Er ist garantiert kein Spitzel, sondern wird tatsächlich von den Leuten der Tawananna gesucht. Ich hab ihn eingeladen, sich bei uns zu verstecken, bis sie auf hören nach ihm zu suchen, also wird er bis dahin unser Gast sein!“ „Und was ist, wenn sie ihn erwischen und er uns an die Stadtwache verrät, um seine eigene Haut zu retten?“, verlangte Urija widerspenstig zu wissen, während er mürrisch die Arme vor der Brust verschränkte. Dieses Mal war es Seth, der verhinderte, dass Mukisanu seinem Kontrahenten eine Antwort geben konnte, indem er sich plötzlich erhob, mit eisiger Miene auf die Gruppe Jungen vor sich herabsah und kühl erklärte: „Ich habe es nicht nötig andere zu verraten. – Ebenso wenig wie ich eure Hilfe oder Gastfreundschaft brauche.“ Nachdem er dies gesagt hatte, wandte Seth sich entschlossen ab und verließ ohne ein weiteres Wort das Versteck der fünf Jungen, sich schnell über die Dächer der Unterstadt entfernend. Wütend starrte Mukisanu seine Freunde an, bevor er ebenfalls ohne ein Wort zu verlieren das Versteck verließ und eilig Seth folgte. Die zurückbleibenden Jungen murrten verärgert über diese unvernünftige Loyalität ihres Anführers gegenüber einem vollkommen Fremden und die Tatsache, dass er sich gegen sie und ihre Meinung gestellt hatte. Nachdem Seth das Versteck der Jungen verlassen hatte und eine Weile durch die Gassen Hattuschas geirrt war, verbarg er sich schließlich im Schatten eines Hauses zwischen Kübeln und Pflanzen, um nicht von den noch immer durch die Stadt streifenden Palastbediensteten erwischt zu werden, ohne so recht zu wissen, was er im Augenblick tun sollte. Sich jetzt in der Stadt zu zeigen oder zu versuchen den Weg zurück zu dem Garten zu finden, um nach Merenseth zu suchen, war vorerst noch zu gefährlich. Da wo er jetzt hockte, konnte er auch nicht bleiben, es wäre nur eine Frage der Zeit bis sie ihn an dieser Stelle entdecken würden. Er brauchte also zunächst einmal ein Versteck, wo er in Ruhe seine nächsten Schritte planen und abwarten konnte, bis die Suche nach ihm eingestellt wurde. Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, wartete Seth, bis er glaubte sich unbesorgt aus seinem derzeitigen Versteck hervorwagen und sich ein besseres suchen zu können. Er hatte sich gerade aus der Hocke erhoben, als er plötzlich am Arm gepackt wurde und eine ihm bereits bekannte Stimme befahl: „Komm mit!“ Ihn gleichzeitig kurzerhand eilig mit sich ziehend. Wieder ging es auf komplizierten Schleichpfaden quer durch die Stadt, bis die beiden Jungen ein hinter Büschen verstecktes Loch in der Stadtmauer erreichten, Mukisanu Seth hindurch schob und ihm gleich darauf folgte, um anschließend wieder die Führung zu übernehmen bis sie an einen geschützten Lagerplatz gelangten. „Setz dich“, forderte Mukisanu seinen Gast auf und fügte hinzu: „Hier wird uns niemand finden, bisher ist mir hier noch nie jemand begegnet und die Anderen wissen nichts von diesem Ort.“ „Warum hilfst du mir?“, wollte Seth irritiert wissen, ohne darauf einzugehen, dass der andere Junge ihn offenbar an seinen ureigensten Rückzugsort geführt hatte. „Nur so“, erklärte Mukisanu mit einem Grinsen und hinter dem Kopf verschränkten Händen, während er gleichzeitig mit den Schultern zuckte. Nur so? Diesem schlagkräftigen Argument hatte Seth nichts entgegen zu setzen und im Grunde hatte er auch absolut nichts gegen die Gesellschaft Mukisanus oder dessen Hilfe einzuwenden. Im Gegenteil, irgendwie begann er diesen Jungen bereits zu mögen, als würden sie sich bereits seit ewigen Zeiten kennen und nicht erst seit ein paar Stunden. „Was hast du jetzt eigentlich vor?“, erkundigte sich Mukisanu unterdessen neugierig und erhielt die Antwort: „Ich muss Merenseth wiederfinden.“ „Merenseth? Wer ist denn das?“ „Mein Benu“, erklärte Seth und erhielt darauf einen fragenden Blick aus großen verständnislosen Augen, offenbar hatte Mukisanu keine Ahnung, was der andere Junge meinte. Also versuchte Seth es anders: „Wie nennt ihr Vögel, die nicht geboren werden, sondern verbrennen und aus ihrer eigenen Asche wiedererstehen?“ Wenn möglich wurde der Gesichtsausdruck Mukisanus noch verständisloser, „wir nennen sie gar nichts, so was gibt es nämlich nicht.“ „Bei uns in Kemet gibt es sie“, erwiderte Seth bestimmt, erhielt aber nur einen skeptisch zweifelnden Blick darauf und fügte deshalb herablassend hinzu: „Du musst mir nicht glauben, sag mir nur wie ich am schnellsten wieder in den Garten der Tawananna komme.“ Jetzt wurden die Augen des Jüngern wieder groß vor Überraschung, „du willst tatsächlich dahin zurück, wo sie nur darauf warten, dich zu fangen?!“ „Ich habe keine andere Wahl“, erklärte Seth bestimmt und schwieg anschließend. Mukisanu blieb ebenfalls eine Weile still und schien nachzudenken, dann erklärte er schließlich: „Heute ist es zu gefährlich noch mal zu versuchen in den Garten zu gelangen, aber ich bring dich morgen zum Garten und helf dir bei der Suche. Du musst mir nur sagen, wie dein Vogel aussieht.“ Jetzt war es an Seth den anderen Jungen überrascht anzusehen, dann nickte er lediglich knapp und äußerte erstmals: „Danke.“ Mukisanu grinste wieder und winkte nur ab: „Schon gut. Dein Vogel muss wirklich was Besonderes sein, wenn du dir soviel Mühe machst, ihn zurückzubekommen.“ Seth nickte zustimmend und lächelte ebenfalls: „Sie ist etwas besonderes, du wirst sehen.“ Der plötzlich sehr vernehmlich knurrende Magen Mukisanus sorgte im nächsten Moment für einen drastischen Gesprächswechsel und dafür das der Junge peinlich berührt errötete, aus unerfindlichen Gründen machte er sich Sorgen, dass eine solche Schwäche auf seine neue Bekanntschaft einen schlechten Eindruck machen würde. Statt Mukisanus Befürchtungen zu bestätigen, grinste Seth jedoch nur und holte den restlichen Proviant hervor, den ihm der Amunpriester mitgegeben hatte, um ihn mit Mukisanu zu teilen. Erleichtert ließ der sich nicht lange bitten und langte eifrig zu, bekam er doch nicht häufig so eine üppige Auswahl an Essen geboten. Nachdem sie beide satt waren, legten sich die Jungen jeweils auf den Rücken, starrten in den Himmel und schwiegen zunächst eine Weile, träge vom Essen und ein wenig schläfrig. Irgendwann jedoch war Mukisanus Neugier stärker als seine Müdigkeit und er begann Seth über dessen Leben auszufragen und aus seinem eigenen zu erzählen, das bisher offenbar kein sonderliches Zuckerlecken gewesen war. Seine Eltern hatte er nie kennengelernt, sondern war eine zeitlang bei Pflegeeltern aufgewachsen, bis diese an bei einer Epidemie verstorben waren. Seitdem lebte Mukisanu auf der Straße und hatte sich mit der Zeit eine kleine Bande von Straßenjungen aufgebaut, deren Anführer er war. Normalerweise hielten die fünf zusammen wie Pech und Schwefel, war doch jeder auf die Fähigkeiten des Anderen angewiesen. Dass Mukisanu sich gegen seine Freunde gestellt hatte, als er Seth verteidigte, war ebenso selten wie Regen in Kemet. Aber der dunkelhaarige Junge machte sich erstaunlich wenig Sorgen über mögliche Folgen des Streits, er wirkte, als wäre er vollkommen davon überzeugt, dass schon alles wieder in Ordnung kommen würde. Auf diese Weise verging den beiden Jungen die Zeit wie im Flug, ohne dass sie einen weiteren Gedanken an die Häscher in der Stadt verschwendet hätten, die sich auf der Suche nach ihnen die Füße wund liefen. Am nächsten Morgen, kurz vor der Dämmerung, zu einer Zeit in der es auch dem ausgeruhtesten Wachmann schwer fiel munter zu bleiben, wie Mukisanu aus Erfahrung wusste, machten sich die beiden Jungen auf den Weg in die Stadt und zum Garten der Tawananna. Dort angekommen, mussten sie feststellen, dass die Strickleiter mit der Seth tags zuvor aus dem Garten entkommen war, nicht mehr da war. Die Bediensteten hatten dafür gesorgt, dass sie verschwand und niemand mehr so leicht in den Garten einsteigen konnte. Da die Jungen mit etwas derartigem jedoch gerechnet hatten, hatten sie auf ihrem Weg zu dem Garten in der Werkstatt eines Seilermeisters Halt gemacht und sich eines der dort vorhandenen Seile mitgenommen. Mit einigem Geschick gelang es Mukisanu das mit einem Stein beschwerte Ende des Seils so zu werfen, dass es sich um eine der aus der Mauerkrone ragenden Eisenspitzen legte und anschließend beide Seilenden auf der äußeren Mauerseite herabhingen, sodass die Jungen an ihnen hinauf klettern konnten. Vorsichtig späten sie über die Mauerkrone in den Garten, der ruhig und verlassen dalag und ließen sich anschließend mit Hilfe des Seils in den Garten hinab. Sobald sie am Boden angekonmmen waren, machten sie sich daran systematisch den Garten nach dem Benu abzusuchen, bemüht dabei nicht möglichen Wachtposten in die Arme zu laufen. Und im Stillen hoffend, dass der Benu tatsächlich noch im Garten war und nicht entweder fortgeflogen oder auf Befehl der Tawananna weggeschafft worden war. Seth hatte wie versprochen am vergangenen Abend Mukisanu eine genaue Beschreibung Merenseths gegeben, sodass die Beiden nun angestrengt nach jedem noch so winzigen Schimmer glutfarbener Federn Ausschau hielten, ohne zunächst irgendetwas zu entdecken. Mit der Vermutung, dass der Benu möglicherweise als Ersatz für den Vogel, den er freigelassen hatte, in dessen Käfig gesperrt worden war, lief Seth schließlich zu dem Pavillon, den er am Vortag entdeckt hatte und musste verblüfft feststellen, dass nun der Pavillon selbst als riesige Voliere diente. Mukisanu war eher an die erstaunliche Geschwindigkeit der Handwerker gewöhnt, wenn es um einen Auftrag der Großkönigin ging und erkundigte sich deshalb lediglich, während er neben Seth stehend in die riesige Voliere starrte: „Ist das da Merenseth?“ Seth folgte mit den Augen dem ausgestreckten Zeigefinger des anderen Jungen und tatsächlich, da lag auf dem Boden des Käfigs, so zusammengerollt, wie er sie unter dem Baum zurückgelassen hatte, Merenseth und schien seelenruhig zu schlafen. Als Seth halblaut ihren Namen rief um sie zu wecken, nachdem er dicht an das Gitter des ehemaligen Pavillons herangetreten war, rührte sich der Benu zunächst nicht. Erst nachdem Seth bereits ungeduldig wurde, hob Merenseth langsam den Kopf unter dem Flügel hervor, wobei ihr Hals merkwürdig hin und her schwankte, als wäre er eine Schlange mit eigenem Willen. Es gelang dem Benu auch nicht lang, seinen Kopf erhoben zu halten, stattdessen senkte sie den Kopf bald wieder schützend unter den Flügel und schien gleich darauf erneut eingeschlafen zu sein. Verwundert hatte Seth diese seltsamen Vorgänge verfolgt und zischte dann verärgert: „Merenseth, was soll das, hör auf dich so komisch zu benehmen, jetzt ist wirklich nicht die Zeit dafür!“ Doch der Vogel rührte sich nicht, dafür meldete sich jedoch Mukisanu zu Wort, der neben Seth an das Volierengitter getreten und in das allmählich von der aufgehenden Sonne erhellte Innere gesehen hatte: „Ich glaub sie ist betrunken.“ „Was?!“, ungläubig starte Seth den Jungen neben sich an, der auf eine Schale mit Früchten in der Voliere wies und erklärte: „Sie benimmt sich wie die Männer, die immer nach einem Saufgelage an den Hauswänden lehnen. Und ich hab mal gehört, dass manche Früchte im Magen von Tieren anfangen zu gären und die davon betrunken werden. Kann doch sein, dass das solche Früchte sind. Dein Vogel benimmt sich jedenfalls eindeutig wie ein Betrunkener.“ Da konnte Seth nur zustimmen, gleichzeitig runzelte er verärgert die Stirn, da hatte er sich nun Sorgen um seinen Vogel gemacht und sich ganze Horrorszenarien vorgestellt und unterdessen hatten der sich einfach nur betrunken gefressen. Das war doch einfach nur eine unverschämte Unverfrorenheit! „Ich glaub, wir sollten sehen, dass wir deinen Vogel da heraus holen, ich bin sicher, wir werden nicht mehr lange allein sein“, murmelte Mukisanu unbehaglich, während er in die Richtung blickte, in der der Palast lag. Seth nickte zustimmend, allerdings war da dass Problem, dass das Türschloss der Voliere bei weitem nicht so einfach zu öffnen war, wie das des Vogelkäfigs. Einen Schlüssel konnten sie nirgends finden und das Metallgitter aufzubiegen, um den Vogel anschließend herauszuholen, war praktisch unmöglich. Kritisch hatte Seth sich das Schloss genauer angesehen und sich anschließend suchend die Äste der umstehenden Bäume angesehen. Es dauerte eine Weile, bis er gefunden hatte, was er suchte. Aber schließlich entdeckte er einen Zweig, der ihm passend erschien, brach ihn ab und kehrte zu dem ehemaligen Pavillon zurück. Da er zum ersten Mal auf diese Weise versuchte eine verschlossene Tür zu öffnen, dauerte es geraume Zeit, mehrere Versuche und eine Anzahl von Zweigen bis Seth schließlich erfolgreich die Tür öffnen konnte. Einmal brach ihm der zu Hilfe genommene Zweig so unglücklich entzwei, dass ein Teil in dem Schloss stecken blieb und Seth zunächst mit viel Mühe und leisem Fluchen das steckengebliebene Holz aus dem Schloss entfernen musste. Erst danach konnte er mit einem neuen Zweig, den ihm in der Zwischenzeit bereits Mukisanu besorgt hatte, versuchen die Tür zu öffnen. Sobald ihm sein Vorhaben schließlich geglückt war, betrat er die Voliere, lief zu seinem Benu und beugte sich gerade zu Merenseth herab, um sie hochzuheben und aus dem Garten zu tragen, als er Mukisanu plötzlich aufgeregt flüstern hörte: „Beeil dich, ich glaub, da kommt jemand.“ Das hatte ihnen gerade noch gefehlt! Hastig und reichlich unsanft, ohne darauf zu achten, dass er die lange Schwanzschleppe Merenseths verknickte, stopfte Seth sich den Vogel in das Oberteil seines Gewandes, um später beide Hände zum Klettern frei zu haben. Dann beeilte er sich zu Mukisanu zurückzukehren, der nervös von einem Beine auf das andere trat und sich umgehend in Richtung Gartenmauer in Bewegung setzte, kaum das Seth aus der Tür der Voliere getreten war. Im Laufen stützte Seth mit einer Hand den Körper seines Benu so ab, dass der ihn nicht allzu sehr beim Rennen behinderte. Ihren Kopf hatte Merenseth der Bequemlichkeit halber längst auf der Schulter des Jungen abgelegt, dicht an dessen Hals geschmiegt und hin und wieder einen leisen Klagelaut ausstoßend, wenn ihre Kopfschmerzen durch die Bewegungen Seths noch verstärkt wurden. Doch darauf konnte und wollte der Junge im Moment keine Rücksicht nehmen, ihre Flucht war wichtiger. Wieder jagten die beiden Jungen, sobald sie den Garten erfolgreich verlassen hatten, in größter Hast durch die Stadt. Dieses Mal jedoch mit einem anderen Ziel im Sinn und ihren Häschern um Längen voraus. So gelangten sie bald ohne größere Umwege wieder zu dem Ort, den sie am Morgen verlassen hatten und ließen sich, kaum angekommen, nach Luft schnappend einfach dort fallen wo sie gerade standen. Sobald sich ihre Atmung wieder beruhigt hatte und sie sicher waren, dass ihnen tatsächlich niemand gefolgt war, drehte sich Mukisanu grinsend auf den Bauch und forderte Seth auf, ihm den Vogel zu zeigen, damit er sich ihn genau ansehen konnte. Es war etwas mühsam Merenseth wieder aus dem Oberteil zu befreien, aber schließlich war es doch geschafft. Nur machte der Vogel noch immer keine sonderlich gute Figur, sondern lang mit zerknicktem Gefieder und schwerem Kopf zwischen den beiden Jungen auf dem Boden, bemüht mit einem Flügel die Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen. Nichts desto trotz streichelte Mukisanu begeistert über das Federkleid des Benus und erklärte beschwichtigend: „Das wird schon wieder, sie muss nur ihren Rausch ausschlafen und vermutlich Wasser trinken.“ Seth runzelte dennoch ungehalten die Stirn, während er erwiderte: „Ich verstehe das nicht, so etwas hat sie bisher noch nie gemacht.“ „Vielleicht kannte sie nur die Früchte nicht oder wusste nicht, was sie für eine Wirkung auf sie haben“, verteidigte Mukisanu Merenseth augenblicklich. Seth hielt das angesichts der Tatsache, dass Benu so alt wie die Erde selbst waren, eher für unwahrscheinlich. Er erwiderte jedoch nichts auf Mukisanus Vermutung, einfach weil er keine Lust hatte, dem Jüngeren die gute Laune und die Freude an dem Vogel zu verderben. Für eine Weile herrschte zwischen den Jungen wieder einträchtige Stille, bis Mukisanu sich schließlich etwas aufrichtete und erklärte: „Ich werd’ mal sehen, ob ich uns was zu essen besorgen kann.“ „Eigentlich müssten in dem Leinensack noch ein paar Reste sein“, erwiderte Seth träge, ohne seine Position zu verändern, während er sich im Stillen wunderte, dass das Zusammensein mit Mukisanu so selbstverständlich und einfach war, als hätten sie bereits ihr ganzes Leben zusammen verbracht. Der Jüngere hatte sich unterdessen im Schneidersitz hingesetzt den Leinensack zu sich herangezogen und erklärte gerade, es gäbe zur Auswahl Hirsefladen oder Hirsefladen. Seth grinste, während er auf Mukisanus Flachserei einging und sich für den Hirsefladen entschied. „Eine hervorragende Wahl, mein Herr. Darf ich zur Unterstützung des feinen Geschmacks noch einen Apfel und etwas Wasser empfehlen?“, blödelte Mukisanu daraufhin fröhlich weiter, während er zwei Äpfel aus den Falten seiner Tunika hervorholte, die er aus dem Garten hatte mitgehen lassen und anschließend aus einer nahen Quelle Wasser holte. Während sie anschließend aßen, wurde auch Merenseth allmählich munter. Die Jungen fütterten sie abwechselnd mit kleinen Brocken Fladenbrot und Mukisanu ließ es sich nicht nehmen, dafür zu sorgen, dass Merenseth ausreichend Wasser zu trinken bekam. Schließlich ging es dem Benu wieder so gut, dass er seine Flügel streckte, um die Federn auszuschütteln und sich anschließend gründlich daran machte, sein zerzaustes Gefieder in Ordnung zu bringen. Als Merenseth schließlich mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen zufrieden war, schlug sie noch einmal kurz mit den Flügeln, machte es sich dann auf dem Boden bequem und erwiderte gelassen den neugierigen Blick Mukisanus, nachdem sie sich zunächst mit prüfendem Blick und fragendem Tschilpen versichert hatte, dass Seth offenbar unversehrt und nur leicht verstimmt über ihr Verschwinden und ihre vorübergehende Unpässlichkeit war. „Sie ist hübsch“, stellte Mukisanu schließlich fest und erkundigte sich gleich darauf: „Hast du ihr irgendwelche Kunststücke beigebracht?“ Die Schopffedern des Benu hoben sich bei dieser Frage in einer Mischung aus Irritation und leichter Verärgerung, während Seth angesichts der Reaktion Merenseths belustigt grinste, den Kopf schüttelte und seinerseits die Frage stellte: „Hast du dir schon einmal vorgestellt, du könntest fliegen wie die Vögel?“ „Klar“, erwiderte Mukisanu entschieden und bekräftigte seine Antwort mit einem Nicken, „wünscht sich doch jeder irgendwann, oder?“ „Möglich“, war alles was Seth darauf erwiderte, bevor er sich erhob und an Merenseth gewandt befahl: „Mach es wie bei mir.“ Auf diesen seltsamen Satz hin erhielt er von Mukisanu einen verblüfften Blick, während Merenseth nur bestätigend tschilpte und sich in die Luft schwang, während Seth ein Stück zur Seite trat, um bei der folgenden Aktion nicht im Weg zu sein. Einen Moment später wurde Mukisanu auch schon durch die Luft geschleudert, zappelte hilflos, schrie kurz auf und landete schließlich sicher auf dem Rücken von Merenseth, die noch eine kleine Runde über dem Versteck drehte, bevor sie noch einmal landete, Seth hinter Mukisanu aufsteigen ließ und sich anschließend wieder vom Boden abstieß. Mit zusammengekniffenen Augen und in den Rückenfedern verkrallten Händen saß der kleinere der beiden Jungen auf dem Benu und wagte erst die Augen zu öffnen, als er hinter sich die vertrauenerweckende Wärme Seths wahrnahm und spürte, wie dessen Arme sich rechts und links von ihm ebenfalls am Gefieder des Feuervogels festhielten, während er sich gleichzeitig bei Mukisanu erkundigte: „Wenn du die Wahl hättest, wohin würdest du fliegen?“ Für einen Moment verblüfft, wandte der Jüngere den Kopf nach hinten, starrte seinen Begleiter kurz an und erklärte dann ohne weiter nachzudenken: „Nach Yazilikaya.“ Seth fragte nicht, was das für ein Ort war oder warum Mukisanu gerade dorthin wollte, stattdessen flogen sie gleich darauf zu dem von Mukisanu gewünschten Ziel, sich in nordöstlicher Richtung von Hattuscha entfernend. Kapitel 11: Hoffnung und Verzweiflung ------------------------------------- Mehr als einen Monat verbrachte Seth zusammen mit seinem Benu in Hatti, bevor er sich entschied, dass es allmählich Zeit wurde zurückzukehren. Auch wenn dieser Gedanke Mukisanu, der ihnen in der ganzen Zeit Gesellschaft geleistet hatte, nicht gefiel und er immer wieder versuchte Seth zu überreden, seinen Besuch doch noch auszudehnen und etwas länger zu bleiben, schließlich hätten sie ja noch nicht einmal die Hälfte des Landes erkundet. Vielleicht um Mukisanu auf andere Gedanken zu bringen und ihn von seiner Abreise abzulenken, vielleicht um ihn zu beeindrucken, in jedem Fall aber, weil er dieses Geheimnis mit ihm teilen wollte, sagte Seth eines Nachmittags schließlich,nach einem weiteren ausgiebigen Versuch Mukisanus ihn zum Bleiben zu bewegen, zu seinem Vogel: „Zeig es ihm.“ Die beiden Jungen hatten gerade ein ausgedehntes Bad in einem kleinen Teich genommen und langen nun auf großen, von der Sonne erwärmten Steinen und ließen sich vom warmen, träge wehenden Wind trocknen. Erstaunt hatten sowohl Merenseth als auch Mukisanu Seth angesehen, aber der Vogel schien schnell zu begreifen, was Seth meinte, flatterte mit wenigen Flügelschlägen vor den Stein, auf dem Mukisanu saß und stand von einem Moment zum anderen nicht mehr als Vogel da, sondern als Mensch. Vollkommen verblüfft starrte Mukisanu auf das braunhaarige Mädchen vor sich, das einige Jahre älter als Seth zu sein schien und mit einem freundlichen Lächeln seinen Blick abwartend erwiderte. Dank der Übung, die Merenseth inzwischen wieder darin besaß, sich in einen Menschen zu verwandeln, gelang es ihr auch wieder mühelos nicht mehr alle ihre Federn zu verlieren, sondern einen Teil von ihnen zu einem einfachen Leinenkleid umzubilden, sodass es Seth erspart blieb, stets ein Gewand seiner Mutter dabei zu haben. Unterdessen starrte Mukisanu noch immer sprachlos auf das Mädchen vor sich, während Seth mit einem zufriedenen Grinsen das Geschehen vor ihm beobachtete und gespannt auf Mukisanus weitere Reaktion wartete. Der dunkelhaarige, kleine Junge fand schließlich seine Sprache wieder und äußerte ungläubig das Erste, was ihm in den Sinn kam: „Du bist ein Mädchen.“ Merenseths Lächeln verstärkte sich, während sie gelassen erwiderte: „Genau das hat Seth auch als erstes gesagt.“ „Du kannst reden“, stellte Mukisanu als nächstes noch immer recht fassungslos fest, ohne einen Blick von Merenseth zu wenden. Die blinzelte nur kurz belustigt und wartete neugierig auf die nächsten Worte des kleinen Jungen, sie musste nicht lange warten: „Das ist toll!“ Mukisanus Augen glänzten begeistert, „kannst du auch andere Sachen zaubern?“ Merenseth besah sich den Jungen vor sich mit schräg geneigtem Kopf, diese Frage nach der Zauberei schien für Menschen von großer Wichtigkeit zu sein. „Nicht so, wie du es dir vielleicht vorstellst“, antwortete sie dann freundlich und erhielt darauf einen verwundert neugierigen Blick. Bevor Mukisanu jedoch noch mehr Fragen an das Vogelmädchen richten konnte, schaltete sich Seth ruhig in das Gespräch ein: „Dass Merenseth Menschengestalt annehmen kann, weiß außer uns Dreien keiner.“ Er fügte nicht hinzu, dass er wollte, dass das auch so blieb, denn er vertraute auf den Scharfsinn Mukisanus – und wurde nicht enttäuscht: „Ich werde es niemandem verraten, das schwöre ich“, erklärte Mukisanu mit feierlichem Ernst, sich der Ehre und des Vertrauens, die ihm gerade zuteil geworden waren sehr wohl bewusst, wie das stolze Grinsen bewies, das sich anschließend in sein Gesicht stahl. Seth nickte nur zur Kenntnis nehmend. Neugierig wandte sich Mukisanu schließlich wieder an das Vogelmädchen: „Wie ist das, ein Vogel zu sein?“ Merenseth lächelte bei dieser Frage, „so wie es für dich ist, Mensch zu sein.“ „Würdest du manchmal gern Mensch sein?“ Das Vogelmädchen schüttelte bei der Frage Mukisanus den Kopf, „nein, ich bin gern was ich bin.“ „Ich wär schon manchmal gern ein Vogel, oder ein Hund, oder eine Gazelle…“, erwiderte Mukisanu versonnen, während er die Arme hinter dem Kopf verschränkte, sich auf dem Stein ausstreckte und verträumt in den Himmel sah. „Aber nie für ein ganzes Leben, sondern immer nur für eine begrenzte Zeit, oder?“, fragte Merenseth ruhig nach. „Hm“, brummte Mukisanu träge, während er den Kopf wandte und fragend Seth ansah, „was ist mit dir, willst du manchmal etwas anderes sein?“ „Nein“, erwiderte Seth mit bestimmter Überzeugung, „wenn ich etwas sein will, dann werde ich es auch“, dass sich das nicht auf irgendwelche Tiere bezog, sondern darauf was ein Mensch im Leben erreichen konnte, war seinen Zuhörern klar, ohne dass er es aussprechen musste. Für einen kurzen Moment herrschte daraufhin Schweigen, bevor Mukisanu ernst geworden leise feststellte: „Du wirst nicht hierbleiben, egal wie sehr ich dich bitte, oder?“ Seth nickte entschieden, bevor er erwiderte: „Aber das heißt nicht, dass ich nicht wiederkomme“, ein kleines Lächeln erhellte daraufhin Mukisanus Gesicht, während er ergänzte: „Oder dass ich dich nicht eines Tages besuchen komme.“ Auch Seth lächelte bei dieser Antwort, mochte die Wahrscheinlichkeit auch noch so gering sein, die Vorstellung, Mukisanu würde eines Tages einfach bei ihm in Kemet auftauchen, gefiel ihm. „Warum kommst du nicht einfach mit uns?“, schlug nun Merenseth vor, die sich noch immer in Menschengestalt auf den Stein gesetzt hatte, auf dem auch Seth saß. „Das geht nicht“, erwiderte Mukisanu bestimmt, „ich kann meine Freunde hier nicht einfach im Stich lassen, sie sind doch so was wie meine Familie.“ Dagegen ließ sich nichts mehr sagen und so herrschte wieder für einen Moment Stille, bevor Mukisanu erneut das Thema wechselte und begann Merenseth über ihr Benudasein auszufragen. Geduldig beantwortete das Vogelmädchen alle Fragen des Jungen und auch Seth steuerte ab und zu einen Satz zur Unterhaltung bei oder erzählte von den Dingen, die er bereits mit Merenseth erlebt hatte. Schließlich war der Tag der Abreise endgültig gekommen und Mukisanu lief traurig, mit hängendem Kopf Seth hinterher, der mit seinem Benu auf der Schulter zielstrebig die Straßen Hattuschas hinter sich ließ, um außerhalb der Stadt unbehelligt auf Merenseth davonfliegen zu können. Als sie schließlich an einem Platz ankamen, den Seth für geeignet hielt, flog der Benu von der Schulter des Jungen, vergrößerte sich und wartete geduldig darauf, dass Seth aufsteigen würde. Dieser hatte sich unterdessen Mukisanu zugewandt, um sich zu verabschieden, betrachtete stattdessen jedoch den kleineren Jungen einen Moment in nachdenklichem Schweigen. Dann kam er plötzlich entschlossen auf Mukisanu zu, ging vor diesem in die Hocke, damit sie auf gleicher Augenhöhe waren, und nahm das Amulett ab, das Meni ihm einst geschenkt und das Seth seitdem stets getragen hatte, und legte es gleich darauf Mukisanu um. Überrascht löste dieser seinen Blick vom Boden und sah stattdessen Seth an, der ruhig erklärte: „Es ist ein Schutz gegen das Böse, verlier ihn nicht.“ Mukisanu konnte nur hastig Nicken und ein zustimmendes Geräusch von sich geben, zu mehr war er in dem Moment einfach nicht fähig, vor lauter Erstaunen und einem plötzlichen dicken Kloß in seiner Kehle. Aber das war noch längst nicht alles, nachdem Seth Mukisanu sein Amulett überlassen hatte, zog er nun auch den Umhang, der ihm in den vergangenen Jahren bei der Erkundung Kemets treue Dienste geleistet hatte, von seinen Schultern und legte auch diesen dem Jüngeren um. „Der Umhang ist aus Kranichfedern gemacht, er schützt dich gegen Kälte, Nässe und Hitze. Pass gut darauf auf, er ist sehr selten.“ Aber dieses Mal schüttelte Mukisanu energisch den Kopf, während er bereits Anstalten machte, den Umhang wieder zurückzugeben. „Das kann ich nicht annehmen, das ist zuviel. Außerdem brauchst du ihn doch bestimmt selbst.“ „Ich würde ihn dir nicht geben, wenn ich ihn bräuchte“, erwiderte Seth sehr bestimmt, „ich habe Merenseth, um mich gegen das Wetter zu schützen. Und er wird mir allmählich sowieso zu klein.“ „Du brauchst ihn also wirklich nicht?“, hakte Mukisanu noch einmal skeptisch mit gerunzelter Stirn nach und erhielt darauf ein kategorisch bestätigendes „Nein“ als Antwort. „Also gut, dann werde ich ihn behalten“, gab Mukisanu sich geschlagen, wickelte sich wieder in den Umhang und grinste als er noch hinzufügte: „Aber nur als Leihgabe. Wenn wir uns wiedersehen, bekommst du ihn wieder.“ Seth nickte zustimmend, während ein kleines Lächeln um seine Lippen spielte, „einverstanden.“ Dann erhob er sich wieder aus der Hocke, ging zu seinem Benu und stieg auf dessen Rücken. Noch einmal sah Seth schweigend zu Mukisanu herab und dieser zu ihm hinauf, dann wandte Seth sich hab und blickte nach vorn, während er Merenseth befahl loszufliegen. Diese gehorchte jedoch nicht sofort, sondern verabschiedete sich zunächst auf ihre Art von Mukisanu, indem sie kurz ihren Kopf auf die Schulter des Jungen legte, aufmunternd an einer Haarsträhne zupfte und sich schließlich mit einem Tschilpen und kräftigem Flügelschlag in die Luft schwang. Mukisanu hatte kurz sein Gesicht an das weiche Gefieder des Benu gedrückt und gelächelt, als dieser ihn an den Haaren zupfte. Als Merenseth losgeflogen war, sah er den beiden rasch kleiner werdenden Gestalten noch lange nach, wandte sich schließlich ab und kehrte entschlossen in sein eigenes Leben zurück. Ohne Zwischenfälle, mit einigen kleinen Pausen flogen Seth und sein Vogel über Land, Meer und Wüste zurück nach Kemet und in das Dorf, in dem sie lebten. Dort wartete nicht nur Meni auf die Rückkehr seines Helfers, sondern auch die Dorfbewohner sahen hin und wieder erwartungsvoll in Richtung des Hauses, in dem Seth lebte, war es ihnen doch zur Gewohnheit geworden, den Benu des Jungen als ihren Glücksbringer zu betrachten, als Zeichen dafür, dass die Götter es gut mit ihnen meinten. Und noch jemand wartete, sorgenvoll und geduldig Ausschau haltend nach dem Jungen und seinem gefiederten Gefährten. Still stand sie in der Tür des kleinen Hauses, als Seth am Abend etwa drei Monate nachdem er einfach verschwunden war, wieder nach Hause zurückkehrte. Es war ein seltsames Gefühl seine Mutter nach dieser Zeit wieder zu sehen und zu wissen, dass da immer noch diese Auseinandersetzung zwischen ihnen stand. Prüfend betrachtete der Junge seine Mutter, während er auf sie zukam, sie wirkte verhärmter als vor seinem Aufbruch, schien dünner und müder geworden zu sein und kein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, während sie ihrem Sohn reglos entgegensah. „Du bist zurück“, stellte sie schließlich ruhig fest, als Seth bei ihr angekommen und stehen geblieben war, er nickte nur als Antwort und sah ihr in die Augen, deren blau sie ihm vererbt hatte. Keiner von beiden sagte ein Wort. Es gab keine Begrüßung, keine Frage wie es dem Anderen ergangen war oder was er erlebt haben mochte. Nur schweigendes Gegenüberstehen, das immer lastender wurde, je länger es dauerte. Schließlich wandte sich Seths Mutter ab, ihren Sohn auffordernd: „Komm rein.“ Wortlos folgte Seth dieser Aufforderung, während er mit sich selbst im Widerstreit lag, ob er sich bei seiner Mutter dafür entschuldigen sollte, dass er seinen Willen durchgesetzt hatte oder ob er besser schwieg und die Sache auf sich beruhen ließ. Denn wenn er sich entschuldigte, räumte er damit ein, einen Fehler begangen zu haben und er war nicht der Ansicht, dass sein Ausflug nach Hatti, seine Begegnungen mit Sechemib und Mukisanu ein Fehler gewesen waren. Aber die schweigende Distanz seiner Mutter machte ihm zu schaffen, er hatte vor seinem Aufbruch nach Hatti keine Ahnung gehabt, wie sie ihn für seine Eigenmächtigkeit bestrafen mochte, aber wie es schien, hatte er sie unterschätzt und sie einen äußerst wirkungsvollen Weg gefunden ihre Missbilligung, Enttäuschung und Traurigkeit zum Ausdruck zu bringen. Der Abend wurde lang, still und drückend und auch am nächsten Tag lief es zwischen Mutter und Sohn nicht besser, sodass Seth nur allzu bald aus dem Haus und der Nähe seiner Mutter floh und zu Meni auf den Markt ging. Auf die Frage, wo er sich denn so lang herumgetrieben habe, gab er nur eine ausweichende Antwort, denn wer würde ihm schon glauben, dass er tatsächlich in dieser kurzen Zeit nach Hatti gelangt, einige Wochen dort verbracht hatte und bereits wieder zurückgekehrt war. Als Meni jedoch anfing, davon zu reden, wie schlecht es Seths Mutter in dessen Abwesenheit gegangen war, bemühte sich der Junge hastig Meni von diesem Thema abzubringen. Er wollte nicht über seine Mutter reden, stattdessen fragte er Meni lieber, was dieser von der Idee hielt, ihn als Lehrling anzunehmen. Verwundert betrachtete Meni den Junge vor sich einen Moment und fragte dann skeptisch: „Bist du sicher, dass es das ist, was du willst?“ „Warum nicht, Schmuckhändler ist ein ehrenhafter Beruf, es ist nichts Falsches daran, wenn ich einer werden will“, erwiderte Seth mit gereizter Angriffslust und wurde angesichts der Heftigkeit, mit der er seine Erklärung hervorbrachte, erneut erstaunt von Meni betrachtet, bevor dieser erwiderte: „Versteh mich nicht falsch, ich würde mich freuen, dich in die Lehre zu nehmen. Aber ich hatte bisher den Eindruck, dass du höher hinaus willst, als nur ein einfacher Schmuckhändler in einem Wüstendorf zu werden.“ Seth schwieg daraufhin verärgert. Meni hatte nur allzu Recht mit seiner Erklärung, aber realistisch betrachtet hatte Seth nicht viele Alternativen zu der des Schmuckhändlers. Normalerweise lernten die Jungen den Beruf ihres Vaters oder eines anderen männlichen Familienmitglieds, aber was machte man, wenn es nichts dergleichen gab? Seth hätte gern eine der Tempelschulen besucht, aber dazu hätte er zum einen das Dorf verlassen müssen und zum anderen fehlte ihm das Geld für eine solche Ausbildung. Dass neben einer gesunden Portion Realismus auch ein gewisses Unbehangen über die schweigende Missbilligung seiner Mutter bei diesen Überlegungen eine Rolle spielte, die er auf diese Weise hoffte wieder milde zu stimmen, gestand Seth sich nicht ein. Da sich auch nach einer Woche nichts daran geändert hatte, dass sich Mutter und Sohn verbissen anschwiegen, und es inzwischen schon zu einer Prinzipfrage geworden war, nicht als erster nachzugeben und das erlösende Wort zu sprechen, verbrachte Seth so viel Zeit wie möglich außerhalb der Hütte. Es kam ihm daher sehr gelegen, dass einer ihrer Nachbarn in den Besitz eines wilden Pferdes gelangt war und nun verzweifelt jemanden suchte, der es für ihn zuritt und an Zügel gewöhnte. Nachdem Seth erfolgreich mit dem Mann verhandelt hatte und sich nun um das Pferd kümmern durfte, begann er täglich mit ihm auszureiten, sobald er es daran gewöhnt hatte, dass es nun einen Menschen auf seinem Rücken zu tragen und diesem zu gehorchen hatte. Je mehr sich Pferd und Reiter an einander gewöhnten, umso länger wurden auch die Strecken, die sie täglich ritten. Merenseth flog meist neben Pferd und Reiter her, nicht selten von Seth zu einem Wettkampf herausgefordert, wer von ihnen schneller wäre – Pferd oder Vogel. Aber egal wie schnell das Pferd auch galoppierte, der Benu blieb stets mühelos an dessen Seite, um dann kurz vor dem Ziel noch einmal etwas an Tempo zuzulegen und Seth mit einem fröhlich frechen Tschilpen am Ziel willkommen zu heißen, nachdem sie als Erste angekommen war. Bei diesem Tschilpen musste Seth jedes Mal grinsen, ob er wollte oder nicht, und forderte anschließend Merenseth zu einer neuen Runde heraus, wenn das Pferd noch ausgeruht genug dafür war. An diesem Tag waren sie auf ihrem ausgedehnten Ritt bis zu einer winzigen Oase gelangt, die nur den wenigsten Wüstenführern bekannt war. Seth hatte vor an diesem Ort zu rasten, bevor er sich auf den Rückweg zu seinem Dorf machte. Er musste jedoch feststellen, dass er nicht der Einzige war, der die Idee hatte sich in der Oase auszuruhen. An der Wasserstelle campierte bereits eine Gruppe von Männern, die von reisenden Händlern bis zu schlecht bezahlten Meuchelmördern vermutlich alles sein konnten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass an jeder der seltenen Wasserstellen in der Wüste Neutralitätsabkommen herrschten, sodass jeder Mensch in Ruhe das lebenspendende Nass genießen konnte. Aufgrund dessen war Seth trotz der Tatsache, dass ihm diese Männer nicht geheuer waren, von seinem Pferd gestiegen, hatte es am Zügel genommen und war mit ihm zur Tränke gelaufen, damit sie sich beide erfrischen konnten. Merenseth hatte sich unterdessen in einem der wenigen Bäume niedergelassen und sah dem Geschehen gelassen von oben zu. Während Seth darauf wartete, dass sich das Pferd satt trank und erholte, sah er sich unauffällig in dem Lager der Männer um, die ihn seinerseits zunächst prüfend gemustert hatten und ihn anschließend vollkommen ignorierten. Trotz des scheinbaren Desinteresses der Karawane, herrschte eine angespannte Stille über der Oase, als hielte die Natur den Atem an, während sie auf den ersten Donnerschlag eines reinigenden Gewitters wartete. Die Männer wirkten gereizt, als würden sie ungeduldig auf etwas warten, während sie doch so taten, als wären sie harmlose Reisende, die neue Kraft sammelten. Seth hatte bei seiner unauffälligen Musterung nichts entdecken können, was auf den tatsächlichen Beruf der Männer hinwies. Waren hatten sie keine dabei, aber das konnte genauso gut heißen, dass sie Händler auf der Heimreise waren. Sie waren erstaunlich gut bewaffnet und mit Pferden ausgestattet, was darauf hinweisen mochte, dass sie Söldner im Dienste eines wohlhabenden Herren waren. Allerdings sprach ihre doch recht abgetragen wirkende Kleidung gegen diese Vermutung, zumal sie auch keine Erkennungszeichen trugen, die sie als zu einem Adelshaus gehörig auswiesen. Gerade als Seth seine Aufmerksamkeit wieder dem Pferd zuwenden wollte, das offenbar genug getrunken und deshalb den Kopf gehoben hatte, bemerkte er am Rande seines Blickfeldes etwas Weißes. Irritiert von dieser in der Wüste doch eher seltenen Farbe, sah er noch einmal genauer hin und erkannte verblüfft, dass es sich bei dem Weiß um die Haare eines Mädchens handelte, das nur wenige Jahre jünger als er zu sein schien und etwas abseits von den Männern mit unnatürlicher Haltung im kargen Schatten eines Dornenbuschs saß. Seth war zu weit von ihr entfernt, um zu erkennen was für eine Augenfarbe sie haben mochte, aber dass sie ihr Gesicht flehend und hoffnungsvoll ihm zugewandt hatte, konnte er ohne Probleme feststellen. Er ließ sich jedoch nicht anmerken, dass er das Mädchen und ihre stumme Bitte um Hilfe bemerkt hatte, sondern verließ lediglich vollkommen gleichmütig wieder die Oase, das Pferd am Zügel hinter sich her führend. Sobald er weit genug von der Oase entfernt war, um von den dort campierenden Männern nicht mehr gesehen zu werden und nachdem Merenseth zu ihm aufgeschlossen hatte, erklärte er an seinen Vogel gewandt: „Wir warten bis es dunkel ist, dann kehren wir zu der Oase zurück.“ Merenseth tschilpte lediglich zum Zeichen, dass sie verstanden hatte und einverstanden sei, danach zogen sie sich an einen geschützten Ort zurück, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. An diesem Ort vergrößerte sich Merenseth und ließ sich bequem im Sand nieder, während Seth sich an den Schatten spendenden Körper seines Benu lehnte und das Pferd leise schnaubend mit dem Schweif lästige Fliegen verjagte. So warteten sie bis zum Einbruch der Dunkelheit und kehrten schließlich auf Umwegen vorsichtig zu dem Lager der Männer zurück, bemüht nicht vorzeitig entdeckt zu werden. Merenseth war ihrem Besitzer vorausgeflogen, um zu prüfen ob die Männer sich noch nach wie vor in der Oase befanden, dass sie nicht zurückkam, war das Zeichen, dass dem so war. Im Lager war es ruhig geworden, die Männer hatten einige Feuer angezündet, um die mit der Nacht hereinbrechende Kälte der Wüste zu vertreiben und im Dunkeln besser sehen zu können. Die Spannung vom Nachmittag war einem resignierten Dulden gewichen, ein Teil der Männer hatte sich sogar niedergelegt, um zu schlafen. Als Seth wieder in die Nähe des Lagers gelangt war, ließ er das Pferd etwas entfernt an einem toten Gestrüpp festgebunden zurück und schlich sich leise näher heran, sowohl darauf bedacht nicht von den Männern bemerkt zu werden, als auch darauf das weißhaarige Mädchen zu finden. Als Merenseth die Ankunft des Jungen bemerkte, kam sie zu ihm und flog vor ihm her, ihn auf diese Weise zu dem Mädchen führend. Dieses saß noch immer in der unnatürlichen Haltung vom Nachmittag da, allerdings hatte sich nun eine Wache zu dem Mädchen gesellt, sodass es schwierig werden würde, es einfach wegzulotsen. Aber nicht nur die Wache war ein Problem, von der Stelle, an der Seth sich in diesem Moment verbarg, konnte er sehen, was ihm am Nachmittag entgangen war: Das Mädchen war nicht nur an Händen und Füßen gefesselt sondern regelrecht verschnürt worden, was die Erklärung für ihre seltsame Haltung war. Bevor Seth jedoch daran denken konnte, die Fesseln des Mädchens zu lösen, musste er zunächst einmal den Wachmann irgendwie ablenken und lang genug beschäftigen, damit ihnen die Flucht gelingen konnte. In diesem Moment raschelte es unweit des Mädchens und seines Wächters im kniehohen Gras und gleich darauf spazierte völlig gelassen ein glutfarbner Benu knapp außerhalb der Reichweite des Wächters vor dessen Nase herum, ohne ihn zu beachten. Nicht weniger verblüfft als der Wächter und das Mädchen hatte Seth seinen Benu betrachtet, rief sich jedoch schleunigst zur Vernunft, als er bemerkte, wie der Wächter mit einer unverkennbaren Mischung aus Besitzgier und unverhohlenem Interesse dem ungerührt in der Gegend herumwandernden Benu zusah und ihm schließlich vorsichtig folgte, sowohl um diesen nicht zu verscheuchen, als auch um seine Kameraden nicht auf den Wundervogel aufmerksam zu machen. Kaum war er von Merenseth gelockt, die sich stets knapp außerhalb der Reichweite des Mannes hielt, im Dunkel der nächtlichen Wüste verschwunden, schlich sich Seth an das Mädchen heran und begann dessen Fesseln zu lösen, während er ihr warnend zuflüsterte sie solle still sein, er wolle ihr helfen. Es war etwas mühsam die dicken Stricke zu lösen, dazu kam, dass Seth nicht wusste wie lang Merenseth die Wache würde ablenken können. Schließlich jedoch hatte er es geschafft und forderte das Mädchen auf, ihm zu folgen, es dabei stützend am Arm packend, um ihr aufzuhelfen. Aber wie sich herausstellte, waren die Beine des Mädchens durch Fesseln und unbequeme Haltung eingeschlafen und blutleer, sodass es ihr nicht gelang sich auf den Beinen zu halten oder gar zu laufen. Seth fluchte leise, bei diesem neuen, unerwarteten Problem. Aus der Ferne hörte er den warnenden Ruf Merenseths, ob dieser ihm oder dem Wächter galt, konnte Seth nicht sagen, nahm es jedoch als Mahnung sich zu beeilen. Also befahl er dem Mädchen hastig einen Arm um seine Schultern zu legen, während er seinen um ihre Taille schlang und sie auf diese Weise halb stützend, halb tragend ins Dunkel und so schnell wie möglich weg von der Oase schleppte. Je weiter sie liefen, umso besser gelang es dem Mädchen auch wieder ihre Beine zu gebrauchen und so kamen sie schließlich atemlos aber ungehindert an der Stelle an, bei der Seth das Pferd zurückgelassen hatte. Für einen Moment rangen beide nach Luft, dann verlangte Seth zu wissen: „Kannst du reiten?“ „Nicht sehr gut“, gestand das Mädchen in einer Mischung aus Furcht und Bedauern und erhielt darauf nur die entschiedene Antwort: „Dann wirst du es jetzt üben“, damit half ihr Seth auf den Rücken des Pferdes, band es los, schwang sich ebenfalls auf dessen Rücken und jagte es dann im Galopp durch die dunkle Ebene. Im Normalfall hätte er nicht im Traum daran gedacht, so etwas zu tun, viel zu leicht konnte es passieren, dass das Pferd fehltrat, stürzte und den Reiter unter sich begrub. Aber das war kein Normalfall und so trieb Seth das Tier rücksichtslos zu halsbrecherischer Geschwindigkeit an. Sie hatten bereits den Ort passiert, an dem Seth mit Pferd und Vogel am Nachmittag auf den Einbrauch der Nacht gewartet hatte, als Merenseth mit kräftigem Flügelschlag zu ihnen aufschloss und Seth das Pferd langsamer werden ließ, um es nicht zu Schanden zu reiten. Als es schließlich im Schritt ging und das Mädchen sich nicht mehr verzweifelt an der Mähne des Pferdes festklammerte, um nicht herunterzufallen, verlangte Seth zu wissen, woher das Mädchen war. Als es diese Frage beantwortet hatte, wurde es von Seth gefragt: „Was wollten sie von dir? Solltest du als Sklavin verkauft werden?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und erklärte in traurig ängstlichem Tonfall: „Ich weiß nicht, ob sie mich verkaufen wollten. Aber gefangen genommen haben sie mich, weil ich anders bin.“ „Anders?“, hakte Seth neugierig nach und erhielt die ausweichende Antwort: „Mein Aussehen… Sie glauben, ich beherberge einen Dämon, den sie sich zu nutze machen können.“ Jetzt war Seth ganz Ohr, „und, beherbergst du einen Dämon?“ Hastig schüttelte das Mädchen vehement verneinend den Kopf. Zu hastig, wie Seth fand. Aber wenn sie meinte ihn in dieser Hinsicht belügen zu müssen, um sich sicher zu fühlen, sollte sie nur machen. Dass sie den Dämon in ihrer Seele nicht beherrschen konnte, war offensichtlich, sonst wäre sie wohl nicht in diese Misere geraten. Aus der Ferne erklang dumpf Hufgetrappel, das schnell näher kam, sodass auch bald verärgerte Rufe zu hören waren. Die Männer hatten sie doch gefunden, Seth und seine Begleiter hatten sich zu früh in Sicherheit gewiegt. Schnell schätzte der Junge die Möglichkeiten ab, die ihnen jetzt noch blieben und hielt plötzlich abrupt das Pferd an. Während er abstieg befahl er dem Mädchen so schnell es konnte davon zu reiten, er würde inzwischen versuchen die Männer aufzuhalten. „Aber was ist, wenn sie dich fangen?“, fragte das Mädchen verängstigt nach und erhielt darauf lediglich die entschiedene Antwort: „Das werden sie nicht.“ Dann wandte Seth sich ab und lief zu seinem Benu, der sich etwas hatte zurückfallen lassen und sich bereits vergrößerte. Gerade als Seth sich auf den Rücken seines Vogels schwingen wollte, hörte er noch einmal die Stimme des Mädchens hinter sich, die ihm nachrief: „Vielen Dank, für deine Hilfe!“ Seth nickte lediglich zur Kenntnis nehmen und befahl dem Mädchen dann sehr energisch, sie solle endlich losreiten. Aber dieses schien noch etwas auf dem Herzen zu haben, denn es hörte nicht auf diesen Befehl sondern bat stattdessen: „Pass auf dich auf, Seth.“ Der Junge hörte es nicht oder hatte es nicht hören wollen, denn ohne darauf zu reagieren, flog er auf dem Rücken seines Benu ihren Verfolgern entgegen. Für einen Moment sah das Mädchen den beiden Gestalten nach, er hatte sie nun schon das zweite Mal gerettet und wusste noch immer nicht einmal ihren Namen, vermutlich erinnerte er sich nicht einmal an ihre erste Begegnung in der Wüste, vor knapp sechs Jahren. Das Schnauben des Pferdes brachte das Mädchen wieder in die Wirklichkeit zurück, sie hatte keine Zeit hier herum zu sitzen und traurigen Gedanken nachzuhängen. Es wäre ein schlechter Dank an ihren Retter, wenn sie sich trotz der Mühen, die er auf sich genommen hatte, doch wieder fangen ließe. Und so wandte sie ihren Blick nach vorn und trieb das Pferd an, um sich weiter von der Oase und ihrer Gefangenschaft zu entfernen. Seth hatte unterdessen die heranjagende Gruppe Häscher erreicht und war mit Merenseth direkt in sie hineingeflogen, als wäre er der personifizierte Zorn des Herrn der Wüste. Er hatte sie zu Tode erschrocken, auseinandergetrieben und in die Wüste versprengt, bis nicht einer von ihnen übrig geblieben war. Als er schließlich sicher war, dass keiner der Männer mehr versuchen würde, dem Mädchen zu folgen, war er mit Merenseth umgekehrt, um nach Hause zu fliegen. Das Pferd würde er am nächsten Tag zurückholen und dem Nachbarn bringen, auch wenn das wohl das letzte Mal sein würde, dass er es würde reiten können, denn wer vertraute schon jemandem sein Tier zur Pflege an, der es in der Wüste verlor? Ein merkwürdig heller Schein, der aus Richtung des Dorfes zu kommen schien, riß Seth bald darauf aus seinen Gedanken und ließ ihn unruhig werden. Da stimmte etwas nicht, es war mitten in der Nacht und dennoch war der Himmel beinahe taghell erleuchtet, in einem warmen organgefarbenen Schein, der absolut nichts Tröstliches an sich hatte. Je näher sie dem Dorf kamen, umso milder, heißer wurde die kalte Nachtluft, umso häufiger kamen ihnen Funken, vom ewig wehenden Wind getragen, entgegen gestoben, umso durchdringender wurde der Geruch nach verkohltem Holz, verbranntem Fleisch, Fett und Haaren. Der Gestank wurde Übelkeit erregend, die Hitze bald unerträglich und die bange Ahnung zur schrecklichen Gewissheit: Das Dorf brannte. Lichterloh stand es in Flammen als scharfer Kontrast zum dunklen Nachthimmel. Die qualvollen Schreie Sterbender waren zu hören, die nach der tiefen Stille der Wüste nur umso gellender in den Ohren klangen. Je näher Seth seinem Dorf kam, umso deutlicher wurde das Ausmaß der Zerstörung, umso unausweichlicher die Erkenntnis, dass er zu spät kam, um noch irgendjemanden oder etwas zu retten. Erneut war Isfet in sein Leben eingebrochen, diesmal nicht am Rande Kemets, sondern mitten in Seths Leben. Die Hände des Jungen krampften sich in die Federn Merenseths, während er sich vorbeugte, um den Flugwinden so wenig Widerstand wie möglich zu bieten, Merenseth sich in scharfem Sturzflug dem Dorf näherte und Seth Isfet entschlossen den Kampf erklärte. Kapitel 12: Erwachen -------------------- Seth merkte schnell, dass es so leicht wie gedacht nicht war, Isfet zu bekämpfen. Zunächst machte ihm und Merenseth das Feuer zu schaffen, das es durch seine Hitze schier unmöglich machte, wirklich nah an das Dorf heranzukommen. Also drehten die Beiden nach kurzer Zeit erst einmal wieder ab, nahmen ein gründliches Bad im Nil und versuchten erneut ins Dorf zu gelangen, um zu sehen ob sie noch irgendjemanden retten konnten. Als sie dieses Mal auf das Dorf zuflogen, sahen sie etwas, das ihnen bei ihrem ersten Versuch völlig entgangen war: Eine kleine Gruppe von fünf, sechs Männern ritt in gebührendem Abstand um das Dorf herum und ermordete johlend alles und jeden, der versuchte den Flammen zu entkommen. Zorn kochte in Seth hoch und er befahl Merenseth die Richtung zu ändern, statt in das Dorf, direkt auf diese hinterhältigen Meuchelmörder zu zufliegen, um sie ebenso zu verjagen, wie sie es mit den Männern in der Wüste getan hatten. Anders als jene rannten diese jedoch nicht fort, sondern warteten mit einem irren Flackern in den Augen das Herannahen des Vogels ab, die wenigen Menschen, die noch versuchten zu flüchten mit einem Mal völlig ignorierend. Kaum war der Benu nah genug an sie heran gekommen, zielten sie mit Speeren und Pfeilen auf ihn und versuchten auf diese Weise Vogel und Reiter vom Himmel zu holen, sich dabei gegenseitig anstachelnd. Den ersten Geschoßen wich Merenseth mühelos aus, sich anschließend den Männern erneut nähernd, um sie zu vertreiben. Doch wieder versuchten die Unbekannten sie mit ihren Waffen zu treffen. Bei einem unbeteiligten Beobachter hätte das nun einsetzende, erfolglose Hin und Her des Angreifens und Zurückweichens auf beiden Seiten vermutlich den Eindruck eines grotesken Tanzes hinterlassen, ermöglichte es aber immerhin einer Handvoll von Dorfbewohnern der Flammenhölle zu entkommen, ohne anschließend von den unbekannten Männern abgeschlachtet zu werden, sodass sich die wenigen überlebenden Dörfler mit nicht mehr als dem, was sie am Leibe trugen und in den Händen halten, konnten in Sicherheit brachten. Wie es genau geschehen war, konnte Seth im Nachhinein nicht sagen, selbst Sekunden später, wäre es ihm unmöglich gewesen eine Erklärung dafür zu finden. Vermutlich lag es daran, dass Merenseth begann zu ermüden, während zwischen den marodierenden Fremden überraschend ein weiterer Mann auftauchte, der bis vor kurzem nicht zu sehen gewesen war. Dieser Mann besaß eine eisige Ruhe, taxierte kurz den Vogel, ließ sich dann einen Speer geben und befahl den anderen Männern, erneut anzugreifen. Wieder wich Merenseth den heran fliegenden Pfeilen und Waffen aus, noch immer bemüht die Männer in die FLucht zu jagen, während der neuhinzugekommene Fremde unbeachtet seine Position änderte, um besser angreifen zu können, schließlich seinen Speer mit erstaunlicher Kraft in Richtung des Vogels schleuderte und dieser gleich darauf Merenseth schrill aufschreien und in der Luft taumeln ließ, als der Speer sie unterhalb ihres Flügels in die Seite traf. Nur mit Mühe gelang es dem Benu an Höhe zu gewinnen, um anschließend außer Schussweite davon fliegen zu können. Doch soweit kam es gar nicht mehr. Vollkommen unerwartet war plötzlich am feuerhellen Nachthimmel ein weiteres, riesiges Wesen erschienen. Ein Wesen von durchscheinendem Weiß, das entfernt an eine Echse mit Flügeln erinnerte. Ein Wesen, das so noch niemand gesehen hatte, für das es in der Welt Kemets keinen Namen gab. Dieses riesige Ungeheuer brüllte wütend auf, bevor es sich in unverhülltem Zorn auf die Mörder und Brandstifter stürzte und diese allein durch seinen Atem tötete. Doch nicht nur die fremden Männer starben. Merenseth hatte bei dem unerwartet aufgetauchten Wesen für einen Wimpernschlag in ihrem Bemühen Höhe zu gewinnen innegehalten, verunsichert, ob sie Freund oder Feind vor sich hatte. Dieses winzige Zögern war ihr zum Verhängnis geworden, denn der Mann, der sie bereits mit seinem Speer getroffen hatte, hatte erneut auf sie angelegt. Dieses Mal mit Pfeil und Bogen, nachdem er sich auf ein herrenloses Pferd geschwungen, auf diesem hinter dem Vogel her galoppiert war und sich erneut in eine bessere Zielposition gebracht hatte. Der abgeschossene Pfeil traf Merenseth in der gleichen Sekunde, als sich das geflügelte, weiße Wesen auf die unbekannten Mörder stürzte. Dieses Mal schrie Merenseth nicht auf, es gelang ihr lediglich noch in einem merkwürdig verdrehten Manöver, das ihr wohl in jedem anderen Fall das Rückgrat gebrochen hätte, Seth von ihrem Rücken zu katapultieren, bevor sie in Flammen aufging und ihr Asche vom Wind in die brennenden Ruinen des Dorfes geweht wurde. Seth spürte, wie die Flammen sich gierig nach ihm auszustrecken schienen, um ihn zu verschlingen und war sicher, dass er nun ebenfalls sterben würde, als er sich unerwartet an den Schultern gepackt fühlte und zwei durchsichtigweiße Klauen erkannte, die ihn festhielten und sicher von dem Inferno fort trugen. Als der Junge den Kopf nach hinten neigte, um nach oben sehen zu können, fand er seinen Verdacht bestätigt: Er war von dem unbekannten Ungeheuer gerettet worden. Im nächsten Moment senkte er den Kopf wieder nach vorn, um zu sehen, wohin das Wesen ihn trug. Mit immer größer werdendem Erstaunen erkannte er, dass es sich bei der Person, zu der er gerade getragen wurde, um das weißhaarige Mädchen handelte, das er gerettet hatte. Als er schließlich nicht sonderlich sanft neben diesem abgesetzt wurde, stellte er fest, dass sich das Mädchen in einer Art Trance zu befinden schien. Von ihren Augen war nur noch das Weiße zu sehen, während sie stocksteif und reglos mit geöffnetem Mund auf das Inferno unter sich zu starren schien und offenbar nichts mehr von dem Geschehen um sich her wahrnahm. Der Zorn des geflügelten Wesens schien unterdessen noch immer nicht verraucht zu sein, denn es begann nun auch die flüchtenden Dorfbewohner anzugreifen. Bei diesem Anblick rappelte Seth sich hastig auf. Er war sich nicht sicher, ob Mädchen und Ungeheuer tatsächlich in einer Beziehung zu einander standen, aber er musste zumindest versuchen zu verhindern, dass auch die letzten Dorfbewohner getötet wurden und so rüttelte er das Mädchen grob an den Schultern, um sie aus ihrem tranceartigen Zustand zu wecken und wieder zu Bewusstsein zu bringen. Es kam Seth so vor, als würde es Stunden dauern, tatsächlich vergingen nur wenige Augenblicke, bis das Mädchen aus seinem Traumzustand erwachte, sich das geflügelte Ungeheuer im gleichen Moment in einen feinen Nebel auflöste und durch den Mund des Mädchens wieder in ihrem Inneren verschwand. Aus fassungslos geweiteten, blauen Augen starrte das Mädchen auf den Jungen vor sich, während sie verwirrt murmelte: „Was ist passiert?“ Seth beschränkte sich bei seiner Aufzählung auf die Fakten: „Mein Dorf wurde niedergebrannt, Merenseth ist erschossen worden und du hast deinen Dämon erweckt.“ Voller Entsetzen starrte das weißhaarige Mädchen ihn an, während es verängstigt flüsterte: „Ist jemand getötet worden?“ Angesichts dieser Frage huschte ein freudlos grimmiges Lächeln über Seths Züge. Was glaubte das Mädchen, was diesen Gestank verursachte und was das für reglose Körper überall am Boden waren? Er erwiderte jedoch letztendlich nur: „Geh jetzt besser. Wer weiß, ob die Männer aus der Oase nicht immer noch hinter dir her sind. Es wäre klüger, wenn du schleunigst nach Hause zurückkehrst.“ „Kann ich nicht irgendwie helfen?“, die Frage wurde in beinahe schon flehendem Tonfall gestellt. ‚Helfen’, dachte Seth mit bitterer Verachtung, es gab nichts mehr, wo noch Hilfe möglich gewesen wäre. „Nein“, erwiderte er also auf die Frage des Mädchens und fügte befehlend hinzu: „Geh jetzt!“ Mit einem traurigen Nicken fügte sich das Mädchen und ging langsam, als wäre jeder Schritt eine kaum zu erfüllende Mühsal, zu dem nicht weit entfernt stehenden Pferd. Seth sah ihr dabei zu, wie sie sich auf dessen Rücken hievte und anschließend davon ritt, während er in Gedanken mit sich selbst haderte. Er hatte versagt. Er hatte Isfet bekämpfen wollen und war mühelos besiegt worden. Nicht nur das, er hatte Merenseth verloren und hatte selbst gerettet werden müssen, wo er hatte retten wollen. Er war vollkommen und unwiderruflich gescheitert. Alle seine heroisch gefassten Vorsätze, all seine Pläne und Träume hatten sich in diesen wenigen Momenten als Luftschlösser erwiesen, die sich bei dem geringsten Kontakt mit der Wirklichkeit in Nichts aufgelöst hatten; waren zusammen mit dem Dorf und dessen Bewohnern in Flammen aufgegangen. Den Preis für diese Erkenntnis hatten die Menschen, mit denen er aufgewachsen war, blutig mit ihrem Leben bezahlen müssen. In plötzlichem Entsetzen, wandte sich Seth abrupt um und starrte hinunter auf das Dorf. Mit voller Wucht hatte ihn in diesem Moment die Erkenntnis getroffen, die er bisher erfolgreich verdrängt hatte: Seine Mutter, Meni und dessen Frau, was mochte aus ihnen geworden sein? Waren sie in den Flammen umgekommen oder gehörten sie zu den Wenigen, denen es gelungen war den Flammen und den fremden Mördern zu entkommen? Seth betete mit aller Inbrunst zu der er fähig war, dass letzteres der Fall war. ‚Bitte, lasst sie leben. Bitte macht, dass sie am Leben sind.’ Wie ein Mantra begannen diese Gedanken in seinem Kopf zu kreisen, während eine namenlose Angst ihm die Eingeweide zusammenzog. Seth wusste nicht, wie lang er auf der Anhöhe gestanden und auf die brennenden Überreste seines alten Lebens gestarrt hatte, bevor er in der Lage war sich zu bewegen und auf die Suche nach seiner Mutter und Meni zu machen. Die Flammen waren allmählich heruntergebrannt, während langsam die Sonne aufging und es versprach ein herrlicher Tag zu werden, als Seth die Reste des Dorfes umrundete, die immer noch eine Hitze abstrahlten, die das Atmen schwer machte und sich über alles die lastende Stille und der Geruch des Todes senkte. Bei dem kleinen Grüppchen Überlebender angekommen, sah Seth in rußgeschwärzte, verschwitzte Gesichter die durch Schock und Trauer gealtert und leblos wirkten. Hörte er immer wieder die fassungslos geflüsterten, mit hilflosem Weinen gemischten Worte: „Warum? Warum haben sie uns angegriffen? Wieso hat uns niemand geholfen?“ Sorgfältig und gründlich prüfte Seth jedes Gesicht der Überlebenden, ob sich unter Ruß und erlebtem Grauen das vertraute Gesicht Menis oder seiner Mutter verbarg. Aber er wurde jedes Mal aufs Neue enttäuscht und auch die Frage, ob jemand die Beiden gesehen hatte, wurde stets mit einem apathisch verneinenden Kopfschütteln beantwortet. Als schließlich unumstößlich feststand, dass weder seine Mutter, noch Meni und dessen Frau dem Feuer entkommen waren, fühlte Seth nichts. Was immer er erwartet hatte: Trauer, Entsetzen, Einsamkeit, Fassungslosigkeit - er fühlte es nicht. Er fühlte gar nichts. Da war nur Leere in ihm. Sprachlose, gefühllose Leere, die das Denken lähmte und nur noch eines zuließ: Laufen. Und so lief Seth. Er wusste nicht wohin er lief, es interessierte ihn auch nicht. Er wusste nicht, wie lang er lief und es war ihm egal. Nur laufen, solang ihn seine Beine trugen. Irgendwann brach er vor Entkräftung zusammen, besinnungslos im heißen Wüstensand liegend, während die Sonne erbarmungslos auf ihn herab brannte. Es verging eine geraume Zeit, in der sich nichts um den leblos daliegenden Jungen regte, als die vor Hitze flimmernde Luft und die durch den Wind langsam wandernden Sandkörner. Dann jedoch fielen mit einem Mal die Schatten zweier Personen auf den Jungen im Sand, die ihn einen Moment betrachteten, bevor die kleinere und zierlichere der beiden Personen sich zu Seth hinabbeugte und diesen ansprach. „Wach auf, Sohn Kemets! Deine Zeit ist noch nicht gekommen“, erklang die angenehme Stimme einer Frau, die tief bis in Seths Bewusstlosigkeit vordrang und ihn mühsam blinzeln ließ, während er an seinen Lippen plötzlich ein kühles Tongefäß spürte, aus dem ihm Wasser gereicht wurde. Sobald er getrunken und sich ein wenig erholt hatte, öffnete er die Augen und richtete sich langsam auf, um zu sehen wer ihn gefunden und angesprochen hatte. Was er sah, waren ein Mann und eine Frau ägyptischer Abstammung in kostbaren Gewändern. Er wusste wer sie waren, er hatte keine Ahnung woher oder warum, aber er wusste, dass er Seth und Nephtys vor sich hatte, den Herrn der Wüste und seine Schwestergemahlin. Für einen langen Augenblick starrte er diese Erscheinungen sprachlos an, bis es auf einmal verzweifelt aus ihm herausbrach: „Warum? Warum habt ihr das zugelassen? Warum mussten sie alle sterben?“ Seine Stimme war dabei immer schriller und lauter geworden, ohne dass sie bei den beiden Göttern sichtbaren Eindruck hinterließ. „Es ist seltsam, da pochen die Menschen immer auf ihre Unabhängigkeit und Freiheit, aber wenn dann etwas Schreckliches geschieht, sind wir daran schuld. Wir sorgen dafür, dass sie über alle nötigen Voraussetzungen verfügen, um ihre Leben zu leben und alles was wir dafür erhalten sind Schuldzuweisungen und die gierige Bitte nach mehr“, stellte schließlich der Gott Seth scheinbar an seine Gemahlin gewandt, gleichmütig fest. Nephtys sah ihn darauf nur kurz verärgert an, bevor sie sich wieder an den inzwischen knieenden Jungen wandte und ihm ruhig erklärte: „Isfet wird stärker, du hast es selbst gesehen. Es wird nicht mehr lange dauern und Kemet wird im Chaos versinken, wenn nicht jemand etwas dagegen unternimmt.“ „Was ist mit Akunemkanon? Er ist der Erbe des Horus, der Beschützer der beiden Länder, warum tut er nichts gegen Isfet?“, verlangte Seth in verzweifeltem Zorn zu wissen seine Hände zu Fäusten ballend, und erhielt vom Herrn der Wüste die gelassene Antwort: „Akunemkanon ist schwach. Er glaubt zu vielen und misstraut zu wenigen, wenn die Kinder Kemets sich auf ihn verlassen, werden sie untergehen.“ „Aber irgendjemand muss doch etwas tun können“, Seths Stimme klang so flehend, wie sein Blick auf die beiden Götter gerichtet war. „Es gibt sie“, bestätigte Nephtys ruhig und fügte hinzu: „Aber noch sind sie nicht stark genug, noch wird es ihnen nicht gelingen Isfet aufzuhalten und Kemet zu bewahren.“ „Vielleicht wird es ihnen auch später nicht gelingen“, fügte der Herr der Wüste ungerührt hinzu, „dann wird Kemet untergehen. Im Gegensatz zu meinen Geschwistern, halte ich das nicht unbedingt für die schlechteste Alternative.“ Erneut verärgert sah Nephtys zu ihrem Brudergemahl auf: „Du hältst es auch nicht für eine schlechte Idee Chaos zu stiften.“ „Meine Liebe, weißt du nicht, dass nur das Chaos Raum für neue Möglichkeiten bietet?“, erwiderte der Herr der Wüste darauf mit boshafter Freundlichkeit, bevor er sich wieder an Seth wandte und dem fassungslosen Jungen vollkommen schonungslos befahl: „Hör auf dich selbst zu bemitleiden! Du hast beschlossen mir ähnlich zu werden; und bei dem ersten kleinen Hindernis, das sich dir in den Weg stellt gibst du klein bei und ziehst den Schwanz ein. Glaubst du, dass ich so jemandem meinen Namen leihe?“ Seth konnte nur den Kopf schütteln. „Dann sind wir uns einig. Wenn du für den Tod deiner Familie Gerechtigkeit oder Rache willst, dann hör auf dich in deinem Schmerz und deiner Trauer zu verkriechen, steh auf und fang an dir die Macht zu verschaffen, die du brauchst, um zu ändern, was dir nicht gefällt.“ Seth lächelte bitter, ein Gott hatte gut reden, er war allmächtig, stand weit über menschlichen Schwächen und selbst der Tod war für ihn nicht endgültig. Aber was sollte aus den Seelen seiner Mutter und Menis werden? Ihre Körper waren verbrannt, sie hatten keine Möglichkeit in das nächste Leben einzugehen. Plötzlich spürte Seth die sanfte Berührung einer Hand auf seiner Schulter und als er aufsah, blickte er direkt in die freundlichen, wissenden Augen Nephtys. „Mach dir keine Sorgen um deine Familie, Sohn Kemets, sie stehen unter meinem Schutz.“ Seth wusste, dass er diesen Worten vertrauen konnte und hatte mit einem Mal alle Mühe nicht in Tränen auszubrechen. Aber er musste nur an die wahrscheinliche Reaktion des Herrn der Wüste denken, der mit Sicherheit nicht erbaut davon sein würde, wenn der Träger seines Namens anfing vor ihm wie ein Baby zu weinen, und es gelang ihm die Tränen zu unterdrücken. Allerdings verhinderte das nicht, dass der Gott leicht ungeduldig erklärte: „Nachdem ihr dieses Detail zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst habt, sollte der Junge sich allmählich auf den Weg machen. Es wird eine ganze Zeit in Anspruch nehmen, bis er die Pharaonenstadt erreicht hat und mit Sechemib sprechen kann.“ Mit großen Augen starrte Seth zu dem Gott auf und schien Dank der Ereignisse der vergangenen Stunden seine rasche Auffassungsgabe verloren zu haben, denn er fragte verwirrt nach: „Sechemib?“ Der Herr der Wüste seufzte ungehalten und ungeduldig, bevor er dennoch erklärte: „Sechemib, der Amunpriester, der dir Hilfe angeboten hat, falls du eines Tages eine Priesterausbildung anstreben solltest. Geh zu ihm, lass dir helfen und halte dabei Augen und Ohren offen.“ Wieder starrte Seth wortlos zu dem Gott auf, nickte jedoch schließlich lediglich zustimmend und senkte ergeben den Kopf. In diesem Moment schien dem Herrn der Wüste noch eine Anweisung eingefallen zu sein, denn er erhob noch einmal die Stimme und befahl dieses Mal wieder mit gleichmütiger Gelassenheit: „Vergiss nicht deinen Benu aus den Trümmern des Dorfes zu holen, bevor du aufbrichst.“ „Aber es wird noch einige Tage dauern, bis das Feuer vollkommen erloschen ist und der Boden weit genug abgekühlt, dass du das Dorf überhaupt betreten kannst“, fügte Nephtys vorsorglich mahnend hinzu, wofür der Herr der Wüste nur ein herablassendes Lächeln übrig hatte, während er erklärte: „Meine Liebe, du vergisst, wer ich bin“, bei dieser Bemerkung vollführte der Herr der Stürme eine knappe, elegante Handbewegung und der Himmel begann sich zu verfinstern, während von fern Sturm und Unwetter begannen heranzutoben. „Ich finde, wir können ihm zumindest in dieser Hinsicht etwas behilflich sein, angesichts der Aufgabe, die er zu erfüllen hat“, fügte der Gott anschließend mit zwangloser Lässigkeit hinzu, als er den skeptischen Blick seiner Schwestergemahlin sah. Da diese von seinem Argument nicht wirklich überzeugt schien, wandte sich der Herr des Chaos erneut an Seth, Nephtys ignorierend: „Ich fand es übrigens eine amüsante Idee, der Tochter Maats den Namen ‚von Seth geliebt’ zu geben“, der Gott grinste vergnügt, „ich habe Maat lange nicht mehr so empört gesehen, wie in dem Moment, als sie davon erfahren hat. - Sie hat regelrecht Farbe bekommen.“ Dass er das offenbar als Einziger unterhaltsam fand, schien den Gott nicht weiter zu stören, während Seth sich mit dem Gedanken abzufinden versuchte, dass er anscheinend Maat mit seiner Namenswahl tödlich beleidigt hatte, während er offenbar gleichzeitig dafür auserwählt worden war Maat vor Isfet zu verteidigen. Ihm gefiel die Vorstellung, dass die Götter ihn einfach zu benutzen gedachten ebenso wenig, wie die Vorstellung die Göttin erzürnt zu haben, die die Toten beurteilte und darüber entschied, ob sie ins Jenseits eingehen durften. Aber weder an der einen noch an der anderen Tatsache ließ sich etwas ändern und so war es wohl sinnvoller sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Die beiden Gottheiten unterdessen schienen alles gesagt zu haben, was ihrer Meinung nach zu sagen war, sodass sie den Jungen wieder sich selbst überlassen und in die Sphären zurückkehren wollten, aus denen sie gekommen waren. Sie wurden jedoch von der hastig hervorgebrachten Bemerkung Seths aufgehalten: „Wartet, bitte, nur noch einen Augenblick.“ „Was willst du denn noch? – Etwa einen Schutz gegen das Unwetter? Du wirst ohne auskommen müssen, den Umhang aus Kranichfedern hast du schließlich leichtfertig verschenkt“, äußerte der Herr der Stürme mit gleichmütiger Endgültigkeit in der Stimme. Worauf Seth jedoch nur den Kopf schüttelte und erwiderte: „Nein, nichts dergleichen“, und sich anschließend an Nephtys wandte: „Ich möchte dich um etwas bitten.“ Sobald die Göttin ihn freundlich aufgefordert hatte zu sprechen, erklärte Seth etwas zögernd, mit einem vorsichtigen Seitenblick auf den Herrn der Wüste: „Könntest du meiner Mutter etwas ausrichten?“ Ein aufmunterndes Nicken ließ ihn hastig fortfahren: „Sag ihr, dass es mir leid tut und dass sie sich keine Sorgen um mich machen soll, ich komme schon zurecht.“ Nachdem er diesen Satz eilig hervorgesprudelt hatte, sackten seine Schultern erleichtert herab, keiner der beiden Götter schien sein Anliegen lächerlich oder unangebracht zu finden. Der Herr der Wüste schwieg mit unbewegtem Gesicht, während Nephtys mit einem freundlichen Lächeln erneut nickte und versicherte, sie würde die Nachricht überbringen. „Danke“, war alles was Seth noch leise hervorbringen konnte, bevor die beiden Götter auch schon verschwunden waren und er allein in der endlosen, von einem heftigen Unwetter verdüsterten Wüste kniete, noch einen Moment über diese bizarre Begegnung nachdenkend. Schließlich jedoch erhob er sich und kehrte langsam zum Dorf zurück, um dort nach Merenseth zu suchen. Kapitel 13: Verlassen und Wiederkehren -------------------------------------- Das Unwetter des Gottes Seth dauerte einen Tag und eine Nacht, in denen der Regen auch die kleinsten Flammen löschte und den Boden weit genug abkühlte, dass man im Dorf herumlaufen konnte, ohne sich die Füße zu verbrennen. Aber der Regen spülte auch Asche, Reste von Menschen, Kleidern und anderen Dingen in den Nil und die Trinkwasserbrunnen des Dorfes, sodass es zusätzlich zu der verbrannten Erde, die einige Zeit keine Frucht mehr tragen würde, auch kein für Menschen genießbares Wasser gab und den wenigen Überlebenden nichts anderes übrig blieb, als sich mit dem Wenigen, was sie hatten retten können, auf den Weg zu machen und einen neuen Platz zum Leben zu finden. Seth war der letzte, der bei den Ruinen des Dorfes ausharrte. Auf der Suche nach seinem Benu schob er Trümmer zur Seite, stieß auf verbrannte Leichen und musste sich dabei mehr als einmal übergeben, während er zugleich das Gefühl hatte, den stechend penetranten Geruch nach verkohltem Fleisch und Fett nie wieder loszuwerden. Schließlich hörte er zwischen den Trümmern ein leises Piepsen, dem er folgte bis er das kleine, graufarbene Flaumknäuel fand, das dieses Geräusch verursacht hatte. Völlig vom Regen durchweicht und mit einem schlammigen Gemisch aus Asche und Dreck verschmiert, hockte das Vogeljunge in den Ruinen und piepste immer wieder in der Hoffnung, dass es jemand fand, der sich um es kümmern würde. Kaum hatte Seth das Küken entdeckte, rannte er eilig zu ihm, in seiner Hast immer wieder auf dem glitschigen Boden ausrutschend oder über kleinere Trümmerteile stolpernd. Leicht schlitternd kam er schließlich bei dem Vogeljungen an und kniete sich vor ihm hin, mit einem Mal eine irrwitzige Freude darüber verspürend, dass er Merenseth wiedergefunden hatte. Sie war das Einzige, was von seinem alten Leben übrig geblieben war. Die Einzige, die sich zusammen mit ihm an diejenigen, die gestorben waren, erinnern konnte. Solang er Merenseth an seiner Seite hatte, war er nicht vollkommen verlassen, hatte er jemanden auf den er vertrauen konnte, jemanden mit dem er reden konnte und der ihn verstand. Vorsichtig hob er das Küken vom schlammigen Untergrund hoch und prüfte sorgsam, ob es irgendwelche Verletzungen aufwies. Aber abgesehen davon, dass es vor Kälte zitterte und immer wieder kläglich piepste, weil es offenbar Hunger hatte, schien es ihm gut zu gehen. Während er den Vogel in seiner Hand schützend an seinen Körper hielt, suchte er noch einmal mit prüfendem Blick den Boden ab. Merenseth trug nicht mehr den Ring, den er ihr geschenkt hatte, und irgendwie erschien es ihm von größter Wichtigkeit, dass sie ihn wieder trug, sobald sie dafür groß genug war. Es war wie eine Versicherung, dass sich trotz der schrecklichen Ereignisse nichts zwischen ihnen Beiden geändert hatte. Mit der freien Hand tastete Seth über den aufgeweichten Boden, wenn er bei einer winzigen Erhebung vermutete, dass es sich um den Ring handelte und tatsächlich fand er ihn nach einiger Suche nicht weit von der Stelle, an der er auch Merenseth gefunden hatte, halb verborgen im Schlamm stecken. Er hob ihn auf, wischte ihn an seiner Tunika halbwegs sauber und steckte ihn dann in den kleinen Beutel an seinem Gürtel, bevor er sich endgültig daran macht, zusammen mit seinem Benu, das Dorf zu verlassen. Anders als die vergangenen Jahre, wenn er auf dem Rücken Merenseths das Land überquert hatte, war er nicht innerhalb weniger Stunden oder Tage an dem Ort, an den er wollte, sondern musste sich dieses Mal ganz auf seine eignen Kräfte, seine Geschicklichkeit und Findigkeit verlassen. Denn es galt nicht nur eine Möglichkeit zu finden sicher und möglichst schnell zu Sechemib zu gelangen, sondern er musste auch dafür sorgen, dass er und Merenseth Essen und einen Platz zum Schlafen hatten. Allerdings reduzierte sich Seths Bedürfnis danach zu schlafen sehr schnell auf sehr wenige Stunden. Denn jedes Mal, wenn er sich schlafen legte und die Augen schloss, sah er wieder das brennende Dorf vor sich, roch er wieder den widerlichen Gestank, hörte er wieder die Schreie der Sterbenden. Und dieses Mal war es Merenseth nicht möglich ihn zum Turm der Zeit zu bringen, um seine Seele heilen zu lassen. Nachdem er sich eine ganze Weile zu Fuß durchgeschlagen hatte, niedere Gelegenheitsarbeiten erledigte, wenn sich die Möglichkeit bot, um im Austausch dafür Essen und Obdach zu erhalten oder auch Essen stahl und heimlich in Ställen unterkroch, um sich einige Stunden auszuruhen, gelang es ihm eine Anstellung auf einem Boot zu finden, das Fluss abwärts Richtung Pharaonenstadt fuhr. Auf dem Boot war er Junge für alles, wurde herumkommandiert und hatte zu arbeiten bis er todmüde umfiel und keinen Muskel mehr rühren konnte. Aber das war ihm nur Recht, so blieben ihm wenigstens die Alpträume erspart. Die Arbeit selbst war hart, es kam anfangs nicht selten vor, dass die Haut seiner Hände aufgeplatzt und blutig gerieben war von den groben Hanfseilen mit denen die Segel gehandhabt wurden und das Boot ans Ufer gezogen und vertäut wurde. An manchen Tagen tat Seth sein Rücken von den Kisten, die es zu schleppen galt, so weh, dass er sich sicher war, nie wieder aufrecht und gerade gehen zu können, sondern den Rest seines Lebens wie ein gebeugter, alter Mann laufen zu müssen. Jedes Mal, wenn er kurz davor war entmutigt aufzugeben oder sich verzweifelt in einer Ecke zu verkriechen, um den Rest der Welt einfach nur zu ignorieren, hörte er ein Piepsen hinter sich, das Aufmerksamkeit verlangte. Wenn er diese dann seinem Benu gewährte - so manches Mal nur widerwillig -, dann stellte das kleine, aschefarbene Flaumknäuel, irgendeinen merkwürdigen Unsinn an, plusterte sich gespielt wichtig auf oder kletterte einfach nur auf Seths Schulter und schmiegte sich gegen dessen Gesicht, um ihn aufzuheitern, zu trösten und ihn daran zu erinnern, dass er nicht so vollkommen allein war, wie er vielleicht glaubte. Eine neue, irritierende Vorliebe des Benu war es geworden, sich nicht mehr nur auf Seths Schulter zu setzen und durch die Gegend tragen zu lassen, sondern sich stattdessen an dessen Haaren zu seinem Scheitel hinauf zu arbeiten und es sich anschließend auf seinem Kopf bequem zu machen. Offenbar empfand sie die braunen, wild wuchernden Haare Seths als äußerst behaglich. Da Seth seinem Vogel auch mit den ausgeklügeltsten Versuchen diese Eigenheit nicht abgewöhnen konnte und sich der Vogel glücklicherweise zu benehmen wusste, akzeptierte der Junge schließlich mit einem resignierten Seufzen diese seltsame Angewohnheit. Als Merenseth später schließlich ihre glutfarbene Gestalt angenommen hatte, machte sich Seth allerdings doch die Mühe sie jedes Mal von seinem Kopf zu nehmen, wenn sie unter Leute gingen, denn er verspürte keinerlei Lust sich lächerlich zu machen, nur weil er mit einem orangefarbenen Vogel mit langer Schwanzschleppe auf dem Kopf herumlief. Einige Wochen nach Seths dreizehntem Geburtstag erreichten sie schließlich die Pharaonenstadt und die Verpflichtung des Jungen auf dem Schiff endete. Nachdem Seth Boot und Hafen verlassen hatte, machte er sich auf den Weg zu dem Verwaltungsgebäude, in dem er Sechemib begegnet war und von diesem das Versprechen erhalten hatte, Hilfe bei seiner Ausbildung zu bekommen, sollte er Priester werden wollen. Obwohl dieses Ereignis erst wenige Monate zurücklag, kam es Seth doch vor, als wäre es bereits Jahre her oder in einem anderen Leben geschehen, das mit seinem jetzigen Ich nicht mehr gemein hatte, als die Erinnerung. Es wurde bereits dunkel, als Seth schließlich bei dem Verwaltungsgebäude ankam, er hatte sich ein wenig in der Stadt verlaufen und sich erst durchfragen müssen, bis er an seinem Ziel ankam. Nachdem er geklopft und gewartet hatte, öffnete ihm ein unbekannter Priester, der sich höflich erkundigte, was der Junge um diese Zeit noch wollte. „Ist Sechemib zu sprechen?“, fragte Seth lediglich, ohne eine Erklärung abzugeben, warum er den Mann sprechen wollte. Der Pförtner nickte nur, wollte noch Seths Namen wissen und erklärte anschließend, er würde Sechemib ausrichten das Seth ihn sprechen wolle; solange sollte dieser vor der Tür warten. Eine geraume Weile stand der Junge geduldig vor der wieder geschlossenen Tür, während es immer dunkler und kühler wurde. Dann öffnete sich der Eingang wieder und Sechemib begrüßte seinen Gast freundlich lächelnd mit den Worten: „Du hast dich also entschieden“, und mit einer einladenden Geste fügte der Priester hinzu: „Komm rein, dann bekommst du etwas zu essen und ich zeige dir, wo du heute Nacht schlafen kannst.“ Gehorsam folgte Seth dem Amunpriester in das Innere des Hauses und in einen Raum, der offenbar ausschließlich für die Zubereitung von Speisen gedacht war. Verblüfft und neugierig sah Seth sich um, so etwas hatte er noch nie gesehen, auch während er aß und nebenbei immer wieder Merenseth etwas in den Schnabel schob, beobachtete er aufmerksam das Geschehen um ihn herum. Nach den Mengen, die hier vorbereitet wurden, zu urteilen, musste es sich um eine ziemlich große Hausgemeinschaft handeln. – Hatte der eine Mann damals nicht erwähnt, dass er seinen Sohn in die Priesterschule geben wollte? Offenbar befand sich die Schule ebenfalls in diesem Gebäude und Sechemib war vermutlich einer der Lehrer. Als Seth satt war, wurde er von Sechemib zu seinem Schlafplatz geführt, wobei ihm dieser erklärte, dass Seth am folgenden Tag dem Priester vorgestellt werden würde, der die Schule leitete, damit dieser entschied, ob Seth eine Ausbildung erhalten sollte oder nicht. Der Junge nickte zunächst nur zur Kenntnis nehmend, erklärte dann jedoch vorsichtshalber: „Ich kann für die Ausbildung aber nicht bezahlen.“ „Mach dir darüber keine Gedanken, es gibt Möglichkeiten besonders talentierte Schüler, denen die finanziellen Mittel fehlen, dennoch eine Ausbildung zukommen zu lassen. Du wirst Morgen wahrscheinlich einige Prüfungen bestehen müssen, damit Uba-oner beurteilen kann, wie weit und fähig du bist, also ruh dich jetzt gut aus, damit du dich morgen nicht blamierst.“ Damit verabschiedete sich Sechemib von seinem Gast und ließ ihn allein. Seth lang noch eine lange Zeit wach, starrte die Zimmerdecke über sich an und hing seinen Erinnerungen und Gedanken nach, bevor er letztendlich doch müde in einen bleiernen Schlaf fiel, aus dem er früh am nächsten Morgen von Sechemib wieder geweckt wurde. Nachdem er saubere Kleider erhalten, sich gewaschen und gefrühstückt hatte, ging es in Begleitung von Sechemib zu einem kleinen Raum, der mit einem Schreibpult, zwei Sitzgelegenheiten und jeder Menger Papyri hoffnungslos überfüllt und vollgestopft wirkte. Völlig ungerührt davon saß hinter dem Pult, in der Nähe des einzigen Fensters, ein älterer, kahlköpfiger Mann und schien vollkommen in das Studium einer Schriftrolle vertieft zu sein, bei dem er sich auch nicht durch die Anwesenheit Sechemibs, Seths und dessen Benu stören ließ. Schließlich legte der ältliche Priester, den Sechemib mit Uba-oner angesprochen hatte, die Schriftrolle beiseite und betrachtete sich gleichmütig und gründlich den dreizehnjährigen Jungen vor sich. „Du willst also Priester werden“, eröffnete er letztendlich ruhig das Gespräch und auf Seths bestätigende Antwort hin hakte er nach: „Warum willst du unbedingt Priester werden?“ Da Seth schlecht sagen konnte, dass er sich die Möglichkeiten verschaffen wollte, herauszufinden wer sein Dorf ausgelöscht hatte, warum dieser Jemand das getan hatte und dass er gedachte sich an diesem Jemand zu rächen, erwiderte er den nächstbesten Gemeinplatz der ihm einfiel und der in keinem Fall seine positive Wirkung verfehlen dürfte: „Ich möchte den Göttern Kemets dienen, ihnen zum Ruhm und Kemet zum Wohl.“ Die ganze Reaktion Uba-oners darauf war ein erneuter prüfender Blick, bevor er lediglich erwiderte: „Dann lass uns prüfen, ob du für diese Aufgabe geeignet bist. – Worum geht es im Papyrus Itji-taui?“ „Um die göttliche Abkunft der fünften Dynastie und Wundergeschichten, welche die Söhne Chufus ihrem Vater erzählen.“ „Hm. Wie lang ist eine Elle?“ „Sieben Handbreit zu je 4 Fingerbreit. - Hundert Ellen ergeben ein Klafter.“ Wieder brummte Uba-oner nur undeutbar vor sich hin, um anschließend mit seiner Befragung ohne scheinbares System fortzufahren. Die Fragen kamen aus allen Bereichen, die sich denken ließen und unterschieden sich in ihrem Schwerregrad erheblich, einiges hatte Seth noch nie gehört, andere Dinge konnte er ohne nachzudenken beantworten. Bei den religiösen Fragen nach Göttern, ihren Festen und Kultorten, musste er sich ein, zweimal zurückhalten um nicht zu verraten, dass er das Innere des Tempels von Ombos kannte und auch bereits einigen Göttern begegnet war. Er vermutete, nicht ganz zu unrecht, dass die beiden anwesenden Priester diese Erwähnung nicht gern gehört, sondern als Gotteslästerung und Frevel empfunden hätten. Nachdem dieses Frage-Antwortspiel gut eine Stunde gedauert haben mochte, erklärte Uba-oner plötzlich übergangslos: „Gut, ich habe genug gehört, du darfst dich zurückziehen. Ich werde über deine Bitte, dich bei uns auszubilden nachdenken. Bis du meine Antwort erhältst, sei unser Gast und sieh dich ruhig um.“ Genau das tat Seth wenig später auch und wurde während seiner einsamen Wanderung durch die Gänge des verwinkelten und weitläufigen Gebäudes immer wieder neugierig von den Priesterschülern gemustert, die zum Unterricht gingen oder gerade von diesem kamen. Seth ignorierte sie einfach und zog sich schließlich mit Merenseth in den Garten des Hauses zurück, der ihm noch von seinem letzten Besuch in angenehmer Erinnerung geblieben war. Mit angezogenen Beinen saß er wenig später unter einem Baum, während der Benu mit seinem noch fleckigen Gefieder auf seinen Knien balancierte und ihn mit ruhiger Aufmerksamkeit betrachtete. Merenseth war noch nicht in der Lage, sich in einen Menschen zu verwandeln, um mit Seth zu sprechen, dafür musste sie ausgewachsen sein. Aber Seth kannte seinen Vogel nun schon lange genug, dass er auch so wusste, dass sie ihm in diesem Moment sicher gesagt hätte, er solle sich keine Sorgen machen, Uba-oner würde ihm sicherlich gestatten die Ausbildung zu absolvieren. – Wie Mukisanu war sie ein unverbesserlicher Optimist. Der Gedanke ließ Seth lächeln, während er über das Gefieder seines Benu strich und darauf wartete zu erfahren, wie über ihn entschieden worden war. Schließlich waren leise Schritte zu hören und als Seth aufsah, um herauszufinden wer ihn in seiner Einsamkeit stören kam, sah er Sechemib, der ihn offenbar gesucht hatte, ihn nun entdeckte und zielstrebig auf ihn zukam. „Du bist aufgenommen und darfst auch hier wohnen. Oder hast du bereits eine Unterkunft wo du bleiben kannst?“ Seth schüttelte auf diese Frage nur den Kopf und verkniff sich die Bemerkung, dass er sicherlich nicht in der vergangenen Nacht an die Tür des Verwaltungsgebäudes geklopft hätte, wenn dem so wäre. Stattdessen erhob er sich nur, um Sechemib auf dessen Aufforderung hin erneut zu folgen, damit dieser ihn in seine Klasse bringen konnte. Als sie den Raum betraten, konnte Seth feststellen, dass er offenbar für gut genug befunden worden war, um mit Schülern, die zwei, drei Jahre älter waren als er, zusammen zu lernen. Auch diese Schüler musterten ihn wieder mit Neugier und Erstaunen und sich gegenseitig auf den merkwürdigen Vogel aufs Seths Schulter aufmerksam machend. Wieder ignorierte Seth alle diese Reaktionen und ließ sich stattdessen nur gleichmütig auf einen freien Platz sinken, nachdem er von seinem Lehrmeister die für den Unterricht notwenigen Utensilien erhalten hatte. In der folgenden Zeit gewöhnte sich Seth schnell an das Leben in der Priesterschule und dessen tägliche Routine. Er blieb die meiste Zeit für sich, zum einen weil die anderen Schüler zunächst der Ansicht waren, es könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, dass Seth in eine der fortgeschrittensten Klassen eingeteilt worden war, sie es ihm anschließend übelnahmen, dass er tatsächlich so begabt schien, wie die Einstufung glauben machen wollte und sie ihn letztendlich vollkommen links liegen ließen, weil er keinerlei Interesse an den Dingen zeigte, die sie interessierten, sondern die meiste Zeit schwieg und mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt schien, an denen er niemanden teilhaben lassen wollte. Anfangs war es hin und wieder vorgekommen, dass einer der anderen Jungen versucht hatte neugierig mehr über Seth herauszufinden. Wenn er dann zum Beispiel auf die Frage, woher er die Blasen und Schwielen an seinen Händen hatte, antwortete „von Bootstauen“, wurde er mit verständnislos großen Augen angesehen, bevor derjenige, der ihn angesprochen hatte, krampfhaft versuchte das Thema zu wechseln oder unverhohlen die Flucht ergriff, weil er gerade herausgefunden hatte, dass er offenbar mit einem armen Arbeiterkind gesprochen hatte. Seth störte es nicht, er hatte dafür nicht mehr als ein müdes Achselzucken übrig, bevor er sich abwandte und sich mit Merenseth in den Garten zurückzog, wo ihn selten jemand störte. Dem Jungen war dieses Außenseiterdasein durchaus nicht unrecht, gab es ihm doch ein gewisses Maß an Freiheit, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Dazu kam, dass er sich den anderen Jungen seiner Klasse gegenüber merkwürdig fremd fühlte. Keiner von ihnen schien eine Ahnung davon zu haben, wie vergänglich das Leben sein konnte. Keiner von ihnen eine Vorstellung vom Leben selbst zu haben. Sie kamen ihm vor wie fröhlich durch den Tag taumelnde, träumende Schmetterlinge, die nicht ahnten, dass es Stürme gab, die ihnen die Flügel brechen konnten. Sie schienen alle bisher ein sehr behütetes Dasein geführt zu haben, das sie wohl auch gedachten fortzusetzen. Es gab Zeiten, da wünschte Seth ihnen von Herzen, dass sich ihre Vorstellung bewahrheiten würde und es gab Zeiten, in denen es ihn wütend machte, sie so glücklich und sorglos zu sehen, in denen er es ihnen übelnahm, dass sie so ein Leben führen konnten. Der Junge, der einst geschworen hatte Kemet beschützen zu wollen, komme was da wolle, hatte sich zusammen mit seinem alten Leben in Rauch aufgelöst. Jetzt interessierte es ihn nicht mehr, ob er dafür Sorge tragen konnte, dass diese blökenden, kleinen Schafe glücklich leben konnten. Das, was er von nun an sein Denken und Handeln beherrschte, war der Gedanke daran herauszufinden warum sein Dorf zerstört worden war, den Verantwortlichen für den Tod seiner Familie zu finden und ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Vielleicht war die Überzeugung, dass die Männer, die durch den Atem des Dämons getötet worden waren, in fremden Auftrag gehandelt hatten ein Hirngespinst, um es Seth irgendwie zu ermöglichen sein Überleben zu rechtfertigen. Vorerst jedoch würde er sich an diesen Glauben klammern, denn er war davon überzeugt, dass der Gott Seth ihm sicher nicht aus Spaß gesagt hatte, er solle Augen und Ohren offen halten, wenn er Rache für sein Dorf wollte. Klarstellung Das Papyrus von Itji-taui existiert nicht unter diesem Namen, da das sogenannte Papyrus Westcar seinen Namen erst rund 2000 Jahre später erhielt, deshalb habe ich es dreist nach einer der wechselnden Pharaonenstädte benannt. Kapitel 14: Ankunft im Palast ----------------------------- Als Seth bereits solange in der Priesterschule lebte, dass sich das Gefieder Merenseths gänzlich gefärbt, sie das Aussehen eines ausgewachsenen Vogels angenommen hatte und Seth jeden Tag damit rechnete, dass sie ihre ersten Flugversuche unternehmen und bald darauf auch wieder menschliche Gestalt würde annehmen können, kam eines Tages der Tjt Amuns in die Schule. Offiziell um den Wissensstand der Schüler zu prüfen und sich zu überzeugen, dass die Schule in gutem Zustand wäre. Aber irgendjemand hatte das Gerücht verbreitet, der Tjt wäre eigentlich auf der Suche nach einem bestimmten Jungen. Warum er diesen Jungen suchte, wusste niemand zu sagen, aber es kursierten die wildesten Spekulationen darüber und der ein oder andere hoffte, er wäre derjenige, den der Tjt suchte und malte sich bereits eine großartige Karriere am Hof des Herrn der zwei Länder aus. Es war durchaus nicht so, dass Seth diesen Gerüchten gegenüber vollkommen gleichgültig blieb. Bestand doch immerhin die Möglichkeit, dass sie einen gewissen Wahrheitsgehalt besaßen und von welchem Ort aus konnte man besser Nachforschungen anstellen, als dem, an welchem sämtliche Informationen aus den Gaubezirken zusammenliefen, gesammelt und archiviert wurden? Wenn es eine Untersuchung zu dem Brand in seinem Dorf gegeben hatte, dann wäre es am einfachsten, wenn er einen guten Grund hatte im Palast ein und aus zu gehen. Und so gehörte auch Seth zu jenen, die darauf hofften die positive Aufmerksamkeit des Tjt auf sich zu ziehen, wenn bei ihm auch nicht ein annehmliches, luxuriöses Leben im Palast der Grund war. Als der Tjt schließlich in der Schule erschien und mit der überlegen gelassenen Selbstsicherheit von Menschen, die sich ihrer Talente und ihres Wertes sehr genau bewusst sind, Schule und Schüler prüfend betrachtete, beobachtete, gelegentlich eine Frage stellte und mit seiner Ehrfurcht gebietenden Art bewundernden Eindruck bei den Schülern hinterließ, schienen sich die wilden Gerüchte, die zuvor als Grund für sein Kommen kursiert hatten, allesamt in Luft aufzulösen und als falsch zu bestätigen. Der oberste Priester des Amun erweckte nicht einen Moment lang den Eindruck, er wäre wegen etwas anderem als einer routinemäßigen Schulprüfung gekommen, sodass sich nach und nach unter den Schülern allgemein leise Ernüchterung und Enttäuschung breit machte. Seth hatte sich nach seinem Unterricht wie üblich, wenn nichts anderes zu tun war, in den Garten zurückgezogen, wo er entweder Schriftrollen studierte, Berechnungen anstellte oder seinen Gedanken und Überlegungen nachhing. An diesem Tag war er nicht der Einzige, der in dem Garten Ruhe und Erholung suchte, denn auch der oberste Priester saß im Schatten eines Baumes auf einer Bank und schien damit beschäftigt, geschäftliche Unterlagen über die Ein- und Ausgaben der Schule zu prüfen. Seth musste nur an das winzige, vollgestopfte Büro Uba-oners denken, um zu wissen, warum der Tjt diese Angelegenheit nicht dort erledigte. Als der oberste Priester hörte, dass sich ihm jemand näherte, hob er den Kopf, um zu sehen, um wen es sich handelte. Sobald Seth bemerkte, dass er entdeckt worden war, grüßte er höflich und wollte sich bereits an seinen üblichen Platz unter einem Baum zurückziehen, als der Tjt ihn unerwartet ansprach. „Bist du der Junge, der auf Sechemibs Empfehlung hier eine Ausbildung erhält?“ Seth war bei dieser ruhig gestellten Frage stehen geblieben, hatte sich dem Sprecher wieder ganz zugewandt und nickte schweigend. „Und du bist völlig allein aus deinem Heimatdorf hierher gereist, um Priester zu werden?“ Wieder nickte Seth nur stumm, sich allmählich fragend worauf der Priester hinaus wollte. „Haben deine Eltern sich gegen dein Vorhaben ausgesprochen, dass du ohne ihre Begleitung hierher gekommen bist?“ Kurz runzelte Seth die Stirn, was ging es diesen Mann an, ob seine Eltern mit seiner Absicht einverstanden waren oder nicht? Dennoch antwortete er kurz und beherrscht: „Sie leben nicht mehr.“ Für einen Moment sah der Amunpriester ihn schweigend mit forschendem Blick an, ging dann jedoch nicht auf Seths Bemerkung ein, sondern fragte stattdessen: „Und nachdem du nun diese Ausbildung begonnen hast, bist noch immer zufrieden mit deiner Entscheidung?“ Jetzt war es Seth der sein Gegenüber unverhohlen musterte, bevor er ruhig erwiderte: „Es wäre äußerst dumm von mir diese Frage anders als mit ‚ja’ zu beantworten, selbst wenn es eine Lüge wäre, solange ich auf die Großzügigkeit des Tempels angewiesen bin.“ Der Tjt lächelte bei dieser Antwort anerkennend, bevor er eine weitere Frage stellte: „Würde es dir gefallen im Palast zu arbeiten?“ „Es gibt wohl niemanden, der so ein Angebot ausschlagen würde, wenn er es erhielte“, antwortete Seth ernst, ohne sich anmerken zu lassen, dass sich sein Herzschlag bei der Aussicht möglicherweise doch schon bald in den Palast zu gelangen, verdoppelt hatte. Der Tjt hatte zustimmend den Kopf geneigt, bevor er erneut abrupt das Thema wechselte und Seth eingehender darüber befragte, was er bisher gelernt hatte, was er zu einzelnen Themen für eine Meinung vertrat und ob er das, was er sich bisher angeeignet hatte, als ausreichend empfand oder nicht. Seth beantwortete seine Fragen, wenn auch nicht immer direkt, so doch aufrichtig und seinen Überzeugungen gemäß, ohne je seine Vorsicht gegenüber diesem Mann abzulegen, der ihn einer ausführlichen Prüfung unterzog. Schließlich schien die Neugier des Priesters befriedigt zu sein, denn nachdem er auf Seths letzte Antwort ein abschließendes Nicken hatte folgen lassen, das wohl nur ihm verständlich war, wandte er sich ohne weitere Umstände wieder seinen Papyri zu, den Jungen von einem Moment auf den anderen nicht mehr beachtend. Dieser blieb noch für einen kurzen Moment unschlüssig stehen, wandte sich dann ebenfalls ab und ließ sich nachdenklich an seinem gewohnten Platz nieder. Die Unterhaltung mit dem Amunpriester war lang und seltsam anstrengend gewesen, ohne das Seth wusste, ob er die unausgesprochene Prüfung bestanden hatte und wenn er das hatte, was es für ihn bedeuten mochte. Da grübeln ihm jedoch nicht weiterhelfen würde, beschloss er vorerst, sich von diesem Gespräch nichts weiter zu erhoffen, sondern sich darauf zu konzentrieren aus eigener Kraft Zugang zum Palast zu erhalten. Was Seth allerdings merkwürdig gefunden hatte, war die völlige Gleichgültigkeit des Tjt für die Frage, woher Seth stammte, wer seine Eltern waren und weshalb diese nicht mehr lebten. Gut, die ersten beiden Fragen, hätten ihm sicher auch Sechemib oder Uba-oner beantworten können. Aber warum hätte er ihnen eine solche Frage stellen sollen? Vielleicht war es einfach nur die Eigenart eines bedeutenden Mannes, zwischen wichtigen und unwichtigen Fragen zu sondieren; und für den Tjt war es sicherlich von keinerlei Wichtigkeit, wessen Kind Seth war und woher er stammte. Es schien zunächst, als hätte der Besuch des Tjt in der Priesterschule keine weiteren Nachwirkungen. Als hätte es den Besuch und die Wellen, die er verursacht hatte, nie gegeben, setzten sich der Unterricht und das Leben der Lehrer und Schüler unverändert fort. Merenseth begann mit ihren ersten kurzen Flügen durch den Garten, während Seth mit seinen Aufgaben beschäftigt war, bald würde sie das Fliegen wieder vollständig beherrschen und dann dauerte es auch nicht mehr lange, bis sie Seth wieder auf ihrem Rücken durch die Luft tragen konnte. Eines Nachmittags, eine Woche nachdem Seth dem Tjt im Garten begegnet war, kam Sechemib zu dem Jungen und forderte ihn auf, ihm zu folgen, ohne näher darauf einzugehen, wohin sie gehen würden. Schweigend folgte Seth dem Priester durch die Gassen der Pharaonenstadt in Richtung des Palastes. An ihrem Ziel angekommen, ging es weiter durch ein Gewirr verwinkelter Gänge, vorbei an geschäftig wirkenden Dienern, müßig gehenden Adligen und wichtig scheinenden Hofbeamten, bis sie schließlich vor einer schlichten Holztür stehen blieben. Nachdem Sechemib geklopft hatte, wurden sie hereingerufen und betraten gleich darauf das hinter der Tür befindliche Zimmer. Bei dem Raum handelte es sich um ein hervorragend ausgestattetes Arbeitszimmer, in dem sich neben einem Diener, der anscheinend gerade einige Papyri gebracht hatte, nun ein Tablett mit Kanne und Becher aufnahm und anschließend den Raum verließ, auch der Tjt persönlich befand, der an seinem Schreibpult saß und ihnen aufmerksam entgegensah. Kaum dass der Diener den Raum verlassen hatte, wies Akunadin mit einer Handbewegung schweigend auf eine schmale Polsterbank, auf der sich sowohl Sechemib als auch Seth niederließen. Merenseth hatte es sich unterdessen auf dem Fenstersims bequem gemacht, von wo aus sie Zimmer und Anwesende gut im Blick hatte. Der Tjt wandte sich zunächst an Sechemib, Seth vollkommen ignorierend, und teilte diesem ruhig mit, dass er aufgrund seiner hervorragenden Arbeit und der erwiesenen Treue zu Amun befördert worden war und nun direkt zum Hofstab des Tit gehören würde. Sechemib bedankte sich mit dem gebotenen Eifer und ergebener Höflichkeit, bevor er durch eine kurze Bemerkung und eine knappe, abwehrende Handbewegung seines Vorgesetzten zum Schweigen gebracht wurde. Anschließend richtete Akunadin seine volle Aufmerksamkeit auf Seth, sah diesen für einen Moment in durchdringendem Schweigen an und verkündete dann ruhig: „Ich habe beschlossen, dich in meine Dienste zu nehmen und dafür zu sorgen, dass deine Ausbildung vervollkommnet wird. Du wirst weiter die Priesterschule bis zu deinem Abschluss besuchen, jedoch ab sofort hier im Palast wohnen und mir außerhalb des Unterrichts jederzeit zur Verfügung stehen. – Täusch dich nicht und denke, dass das irgendein Privileg für dich bedeutet, ich erwarte sehr viel von dir. Dein Lernpensum wird sich nicht nur verdoppeln, sondern verdrei- und –vierfachen, du wirst nebenher für mich arbeiten und ich erwarte, dass diese Aufgaben stets zu meiner vollen Zufriedenheit erfüllt werden. Solltest du meine Ansprüchen nicht genügen, wirst du nicht nur aus meinen Diensten entlassen, sondern verlierst ebenfalls das Recht deine Ausbildung an der Priesterschule zu beenden. Hast du mich verstanden?“ Seth nickte nur schweigend, äußerlich vollkommen beherrscht wirkend, während ihm in Wahrheit das Herz bis zum Halse schlug. Aber um nichts auf der Welt hätte er sich jetzt eine Blöße geben und seine Unsicherheit offensichtlich werden lassen wollen. Er war sich sicher, dass eine derartige Schwäche seinerseits, bereits den Unwillen des Tjt erregen würde und das wiederum würde ihn um diese einmalige Chance bringen Zugang zum Inneren des Palastes zu erhalten. „Wie lautet also deine Antwort?“, verlangte der oberste Priester unterdessen mit herrischer Ruhe zu wissen und wurde nun selbst von dem Jungen vor sich gemustert, bevor dieser scheinbar gelassen erwiderte: „Ich werde nicht versagen.“ Der Tjt nickte, als hätte er diese Antwort erwartet, zog anschließend an einer Schnur, die an der Wand herabhing und anscheinend auf geheimnisvolle Weise einen Diener herbeirief, denn nur kurze Zeit später wurde lautlos die Tür geöffnet und der Mann, der bereits zu Beginn des Treffens im Raum gewesen war, betrat unterwürfig erneut das Zimmer, fragend womit er dienen könne. Akunadin wies den Diener an Seth zu zeigen, wo dieser von nun an wohnen würde und dafür zu sorgen, dass er mit allem Notwendigen versorgt würde. Daraufhin betrachtete der Tjt die Unterredung als beendet und entließ nicht nur den Diener, sondern verabschiedete ebenfalls Seth und Sechemib. Die Kammer, in die Seth von dem Diener nach der Audienz geführt wurde, war weder sonderlich groß noch besonders luxuriös ausgestattet. Neben einem schmalen Fenster, durch das Merenseth gerade so würde hinaus und herein fliegen können, Tisch, Stuhl und Schrank verfügte die Kammer nur noch über ein Ruhelager, das für Seth in sofern einen Luxus darstellte, dass er es bisher gewohnt war auf einer Schilfmatte am Boden zu schlafen, die am Morgen zusammen gerollt und zur Seite gestellt wurde, um den Tag über nicht im Weg zu sein. Im Schrank fand der Junge überraschenderweise ihm passende Kleidung vor, die er von nun an zu tragen hatte, wie ihm der Dienstbote mitteilte, damit jeder wusste, dass Seth in den Diensten des Tjt stand. Offenbar hatte dieser keinen Moment an der Entscheidung Seths gezweifelt, dass er bereits hatte alles so weit vorbereiten lassen. Seth blieb jedoch keine Zeit sich länger mit diesem Gedanken auseinanderzusetzen oder sich genauer in seinem Zimmer umzusehen – auch wenn es da eigentlich nicht viel zu sehen gab -, denn kaum dass der Diener ihm die Sache mit er Kleidung erklärt hatte, wurde an die Tür geklopft und diese gleich darauf geöffnet, ohne dass der Klopfende auf eine Antwort aus dem Zimmer gewartet hätte. Herein trat ein hagerer, etwa dreißigjähriger Mann mit einem verbitterten Zug um die Lippen und strengem Gesicht, der sich kurz angebunden, ohne dem Diener irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, erkundigte: „Du bist Seth?“ Auf das Nicken des Jungen erklärte der Fremde brüsk: „Ich bin Kakau. Du wirst die nächste Zeit mit mir zusammenarbeiten und ich werde dich in alles einweisen. Beeil dich und zieh dich um, wir haben viel zu tun.“ Der Diener hatte sich während dieser kurzen Ansprache unauffällig und höflich zurückgezogen, da seine Aufgabe für den Moment erfüllt war. Seth hatte schweigend seinem neuen Mentor gelauscht, wartete einen Moment, ob dieser das Zimmer verlassen würde, damit er selbst sich in Ruhe umziehen konnte und als das nicht der Fall war, sich ruhig dem noch offenstehend Schrank zugewandt, eines der kurzen Obergewänder herausgenommen und es schnell anstelle seines alten Hemdes übergestreift. Anschließend verließen die Beiden ebenfalls die Kammer und betraten kurze Zeit später eine Zimmerflucht unweit des Arbeitszimmers des Tjt, in der offenbar alle Informationen, die für den obersten Priester in irgendeiner Form von Wichtigkeit waren, zusammenliefen, festgehalten, sortiert, aufbewahrt und bei Bedarf wieder hervorgeholt wurden. Es schien als gäbe es keinen einzigen Vorgang in Kemet, von dem der Tjt nicht Kenntnis erhielt. So wie es aussah, war Seth genau da gelandet, wo er hin gewollt hatte: An die Quelle für sämtliche Informationen. Noch jedoch wurde er als zu neu und unerfahren betrachtet, als dass man ihm irgendwelche bedeutenden Arbeiten aufgetragen hätte, stattdessen war er den Rest des Tages damit beschäftigt Papyri zu archivieren, Botengänge zu erledigen, rote und schwarze Farbe für die Tusche der Schreiber zu reiben sowie die Binsenstifte anzuspitzen und zu zerfasern – kurz: Er war wieder einmal Junge für alles und Handlanger für jeden. Merenseth unterdessen hatte ihren Besitzer nicht zu dessen neuer Arbeit begleitet, sie war der Ansicht, dass sie ihm dort bestenfalls im Weg wäre und vermutlich auch nicht gern von den Assistenten des Tjt in deren Arbeitsräumen gelitten würde; also hatte sie sich stattdessen durch das Fenster von Seths Kammer nach draußen begeben und war eine Weile durch die Gegend geflogen, sowohl aus purer Freude am Fliegen als auch um wieder Übung darin zu erhalten und lange Strecken fliegen zu können. Nachdem sie einige Zeit geflogen war, kehrte sie schließlich wieder zum Palast zurück, ließ sich in einem der dichtbelaubten Bäume der Gärten nieder und beobachtete eine Gruppe von Pfauen, die hochmütig auf dem Boden herumstolzierten und sich ganz offensichtlich für die Herrscher über dieses kleine, üppig grüne Paradies hielten. Wenn es ihr in ihrer Vogelgestalt möglich gewesen wäre, hätte Merenseth über das Gebaren dieser Vögel gelächelt, die sich für Könige hielten und in Wahrheit doch nur Gefangene waren. Die zu den eitelsten Geschöpfen zählten, die die Götter erschaffen hatten – und zu den dümmsten, was ihnen immerhin das Wissen ersparte, dass sie in Kemet als Delikatesse angesehen wurden. Dank dieser merkwürdigen Kombination aus Eitelkeit und Dummheit zählten sie wohl auch zu den glücklichsten Geschöpfen, deren Dasein durch keine Wolke getrübt wurde, sofern nicht ein Wesen auftauchte, das schöner war als sie – aber welches Tier war schon schöner als ein Pfau… Als ein Diener, der für die Pflege der Tiere verantwortlich war, ihnen Wasser und Futter brachte, flog Merenseth zu den Pfauen hinab, um ihren eigenen Hunger zu stillen, sobald der Diener wieder verschwunden war. Anders als ihre buntschillernden Artgenossen mied Merenseth jedoch jegliche tierische Kost, sondern tat sich lediglich an Körnern und Wasser gütlich, ohne sich dabei von den empörten Schreien der Pfauen stören zu lassen. Allerdings rief das aufgereckte Krächzen der Vögel den Diener zurück, der besorgt nachsehen kam, was bei den Tieren passiert sein mochte, dass sie so verstört waren. Als der Mann den glutfarbenen, perlhuhngroßen Vogel erblickte, starrte er für einen Moment verblüfft und regungslos, bevor er hastig versuchte das Tier zu fangen und es zu seinem Herrn zu bringen. Doch Merenseth wich ihm geschickt aus, flog vom Boden auf und verschwand schließlich aus der Sichtweite des Dieners, während sie zu Seths Kammer zurückkehrte, wo dieser, nachdem er seine Arbeit für den Tag in der Kanzlei des Tjt beendet hatte, über Schreibaufgaben und Papyri saß und lernte, bis er schließlich völlig erledigt auf sein Bett fiel und umgehend einschlief. Früh am nächsten Morgen hieß es für den Jungen dann wieder aufstehen, kleinere Arbeiten in der Kanzlei verrichten, zum Unterricht in die Priesterschule gehen, anschließend wieder Arbeit in der Kanzlei sowie Bewältigung zusätzlicher Aufgaben und Unterrichts durch Kakau, die dieser im Auftrag von Akunadin zusammengestellt hatte. Seth war so vollkommen damit ausgelastet seinen Aufgaben und Pflichten nachzukommen, dass er beinahe überrascht gewesen wäre, als schon wieder die Nacht hereinbrach und es Zeit war ins Bett zu gehen, wenn er dafür nicht viel zu müde gewesen wäre. Nicht einmal eine winzige Andeutung von Träumen schlich sich in seinen bleiernen Schlaf und versuchte ihn zu wecken. Der erste dieser Tage war nur das Vorbild für alle folgenden, die sich lediglich durch unterschiedliche Aufgabenstellungen unterschieden und darin, wie zufrieden Kakau mit den Leistungen seines Lehrlings war, was meist zwischen gar nicht und mit Müh und Not akzeptabel schwankte. Kakau war ein unerbittlicher, strenger Lehrer, der keine Nachsicht bei Fehlern oder Unachtsamkeit kannte, eben ein echter Leuteschinder. Wenn Seth genug Zeit blieb sich eigene Gedanken zu machen, ohne dabei von irgendwelchem Lehrstoff gestört zu werden, vermutete er gelegentlich, dass das vielleicht am Namen seines Lehrers lag, der immer wieder Anlass zu Witzeleien unter dessen Kollegen in der Kanzlei gab. Merenseth trieb sich unterdessen die meiste Zeit einsam in der Gegend herum oder flog in den Garten, um ein wenig die Pfauen zu ärgern und mit dem Diener Fangen zu spielen. Da ihre Magie noch nicht völlig ausgereift war, war es ihr nach wie vor noch unmöglich sich in einen Menschen zu verwandeln oder sich zu vergrößern und Seth durch einen Ausflug auf ihrem Rücken etwas Abwechslung zu verschaffen, obwohl der Junge dafür wohl auch nur schwerlich Zeit gefunden hätte. Das Einzige, was sie in dieser Zeit für ihn tun konnte, war ihm Gesellschaft zu leisten und sich ansonsten so unauffällig wie möglich zu benehmen. Dieses Bemühen wurde allerdings unvorhergesehen, wenige Wochen nachdem Seth in die Dienste des Tjt getreten war, empfindlich gestört. Kapitel 15: Licht und Schatten ------------------------------ Es war Nachmittag und da Seth um diese Zeit wie stets in der Kanzlei zu arbeiten hatte, war Merenseth wieder einmal in den Garten zu den Pfauen geflogen, um sie ein wenig in ihrem stolzen Herumspaziere aufzustören. Sie rechnete jedoch nicht damit, dass sich der Pfauenpfleger zusammen mit einem Gehilfen hinter einer Hecke verborgen hatte und bereits geduldig auf sie wartete. Da Merenseth nicht jeden Tag vorbei kam und wenn, dann meist zu verschiedenen Zeiten, mussten die beiden Männer bereits mit beträchtlicher Geduld eine geraume Weile in ihrem Versteck verbracht haben, als der glutfarbene Vogel schließlich nicht weit entfernt von dem Grüppchen Pfauen landete und diese erst einmal mit ruhiger Neugier betrachtete. Beim Anblick dieses frechen Benu, der sie immer wieder aufs Neue ärgerte und sie inzwischen schon allein mit seiner Anwesenheit reizte, zischten und schrien die Pfauen aggressiv, schlugen mit den Flügeln und hatten sich anscheinend ebenso wie ihr Pfleger eine Strategie zurecht gelegt, allerdings nicht um den Benu zu fangen, sondern um ihn ein für alle Mal aus ihrem Revier zu vertreiben. Dass sie mit ihrem aufgeregten Gebaren den lauernden Dienern einen Strich durch die Rechnung machten, ahnten diese Vögel nicht und hätten sie es gewusst, wäre es ihnen gleichgültig gewesen. Da ihre Drohgebärden bei Merenseth keinerlei Wirkung hinterließen, sondern diese ihre unwilligen Gastgeber nur völlig gelassen ansah, während sie es sich auf dem Boden bequem machte, flogen die Pfauen wie auf ein verabredetes Zeichen plötzlich auf und im nächsten Moment entschlossen und mit zum Zuhacken erhobenen Schnäbeln auf den Benu zu. Doch der Angriff verlief ins Leere, denn kurz bevor die Pfauen Merenseth erreicht hatten, war diese mit elegantem Schwung ebenfalls aufgeflogen, schwebte einen Moment über den Pfauen in der Luft, dabei auf sie herabsehend und deren wütend enttäuschtem Geschrei lauschend, um sich schließlich provokant knapp außer Reichweite dieser doch eher trägen Vögel auf dem Ast eines Baumes niederzulassen und völlig unbeeindruckt zu wirken. Das war die Chance, auf die der versteckt lauernde Diener und sein Gehilfe gewartet hatten. Der glutfarbene Vogel saß mit dem Rücken zu ihnen, nur wenige Armlängen entfernt und schien vollkommen auf die Pfauen vor sich fixiert. So eilig und lautlos wie möglich sprangen die beiden Jäger auf, näherten sich dem Vogel und warfen ihm im nächsten Moment ein feinmaschiges Netz über, dessen Enden sie anschließend fest mit den Händen packten und festhielten. Merenseth hatte bei diesem unerwarteten Angriff aus dem Hinterhalt versucht erschrocken aufzufliegen, doch das Netz verhinderte, dass sie ihre Flügel ausbreiten konnte und so versuchte sich der Benu hüpfend irgendwie in Sicherheit zu bringen, doch auch dieser Versuch schlug fehl. Nicht nur das, während Merenseth sich noch bemühte aus der Falle, in die sie geraten war, zu entkommen, zog sich das Netz immer enger um sie, nahm ihr immer mehr Bewegungsfreiheit und schließlich spürte sie, wie sich eine Hand um ihren Hals legte und ihr im nächsten Moment geschickt mit einer Schnur der Schnabel zugebunden wurde, damit sie ihre Fänger nicht beißen konnte. Anschließend wurde sie unter den zu der Hand gehörigen Arm geklemmt, während die Hand ihren Kopf so festhielt, dass sie ihn nicht mehr bewegen konnte. Gleich darauf trug der Pfleger, der auf den Baum geklettert war, um die Beute von diesem herunterzuholen, den Benu in Richtung Palast, sobald er wieder auf festem Boden stand und sich versichert hatte, dass der Vogel in seiner Gewalt keinen nennenswerten Schaden davongetragen hatte. Das heisere, schadenfrohe Hohngekreisch der Pfauen, die sich an der misslichen Lage Merenseth weideten, begleitete die Gefangene und ihre beiden Jäger bis sie schließlich das Innere des Palastes betraten und sich zum Audienzzimmer des Herrn der beiden Länder begaben. Dort angekommen baten die Diener ergebenst um die Erlaubnis vor den Erben des Horus treten und ihm ein Geschenk darbieten zu dürfen. Sie wurden nicht sofort vorgelassen, sondern man befahl ihnen zu warten, bis der Herr der zwei Länder Zeit für sie hätte, was erstaunlich schnell der Fall war. Vermutlich hatte jemand gegenüber dem Bewahrer Kemets erwähnt, dass die beiden Bittsteller ein sehr interessantes Präsent bei sich hatten. Sobald sich die beiden Diener mit devoter Unterwürfigkeit dem offiziell mächtigsten Mann Kemets genähert, sich ihm zu Füßen geworfen und ihn angemessen begrüßt hatten, erklärte der ältere der beiden Männer auf die nicht unfreundlich gestellte Frage Akunemkanons, was sie ihm denn zu schenken gedachten: „Wir haben diesen seltenen Vogel in den Gärten Deiner Majestät gefangen, wenn Du uns die Gnade erweisen willst diesen unbedeutenden Beweis unserer Treue und Ergebenheit für Deine Majestät anzunehmen.“ „Steh auf und zeige mir den Vogel genauer“, forderte der Erbe des Horus daraufhin mit freundlicher Aufmerksamkeit und der Diener beeilte sich diesem Wunsch nachzukommen. Der Pfauenpfleger hatte sich gerade erhoben, um sich zusammen mit dem Vogel dem Herrscher zu nähern, als Seth, von Kakau geschickt, um einige dringende Papyri von Akunadin gegenzeichnen zu lassen, leise den Audienzsaal betrat und erstaunt erstarrte, als er sah, dass sich sein Benu gefangen in den Händen ihm unbekannter Männer befand. Stumm sah er zu, wie sich der Diener langsam auf den Thron zu bewegte, während Merenseth in eine Art Starre verfallen zu sein schien, damit das eng um sie geschlungene Netz ihr nicht Haut und Federn zerschnitt. Äußerst ungehalten darüber, dass der Benu sich wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte, die seinen Plänen absolut nicht zuträglich waren, erwog Seth den Vogel einfach seinem Schicksal zu überlassen, wie immer das auch aussehen mochte. Zumal Seth als diener gegenüber dem Willen des Herrn der zwei Länder ohnehin vollkommen machtlos und unbedeutend war. Entschied der Herrscher den Vogel zu behalten und als Prestigeobjekt zur Schau zu stellen, gab es nichts was der Junge dagegen tun konnte. Unterdessen war der Pfauenpfleger nah genug an den König herangetreten, dass dieser sich den Vogel genau ansehen konnte. Gründlich besah sich Akunemkanon das Tier, strich prüfend über die glutfarbenen Federn des stocksteif verharrenden Benus und wandte sich schließlich lächelnd an seinen Bruder, der sich während der Audienzen stets an seiner Seite befand und als Ratgeber fungierte. „Was denkst du, Akunadin, ist das einer der sagenumwobenen Feuervögel aus unserer Kindheit?“ „Du weißt, dass ich nie an derlei Geschichten geglaubt habe“, erwiderte der Angesprochene seinem Herrn und Bruder und fügte hinzu: „Aber wenn du es herausfinden willst, gibt es eine einfach Möglichkeit: töte ihn. Verbrennt er und ersteht wieder auf, bin ich bereit an die Existenz von Benu zu glauben und du wärst tatsächlich im Besitz einer unschätzbaren Kostbarkeit. Erweist er sich jedoch als gewöhnliches Tier mit seltenem Gefieder, kannst du ihn immer noch ausstopfen lassen und dich an seinem Aussehen erfreuen.“ Die Unterhaltung zwischen den beiden Brüdern war nur sehr leise erfolgt, für kaum jemanden außer ihnen zu verstehen, abgesehen von dem Diener, der das Tier hielt, dem Benu selbst und Seth, der in schweigender Zurückhaltung darauf wartete von Akunadin bemerkt zu werden. Als der Junge die Worte des Tjt hörte, fiel sein Zorn auf Merenseth von einem Moment zum anderen in sich zusammen und er empfand Scham darüber, dass er tatsächlich versucht gewesen war, sie im Stich zu lassen. Dass er beinahe für seine Rache das einzige Wesen verraten hätte, das stets bedingungslos zu ihm gehalten hatte. „Ihr werdet sie nicht anrühren!“, obwohl er diese Worte nur leise geäußert hatte, war ihnen die fordernde Entschlossenheit nur allzu gut anzuhören, die ihm die sofortige Aufmerksamkeit der beiden mächtigsten Männer Kemets einbrachten. Der Ältere musterte ihn mit verwunderter Neugier, der Jüngere mit eisiger Gleichmütigkeit, die Seth umgehend zu Bewusstsein brachte, was er da gerade alles aufs Spiel gesetzt hatte. Aber weder konnte, noch wollte er seine Worte zurücknehmen oder sein Verhalten rückgängig machen. Er hatte sich entschieden und diese Entscheidung würde er nicht noch einmal ändern. Also erwiderte er mit stolzer Haltung unverwandt den Blick des Tjt, der sich mit beängstigender Ruhe erkundigte: „Was hast du gesagt?“ „Ihr werdet sie nicht anrühren!“, wiederholte Seth stur und entschlossen seine Worte, „ihr habt kein Recht über das Ba des Osiris zu Gericht zu sitzen, es wäre ein Frevel, den die Götter sicher nicht vergessen werden.“ Noch immer wirkte Akunadin vollkommen beherrscht, während er eine weitere Frage stellte: „Du bist dir über die Folgen deiner Frechheit im Klaren?“ Seth richtete sich noch ein wenig stolzer auf, schob trotzig das Kinn vor und wich dem stechend auf ihn gerichteten Blick seines Gegenüber keine Sekunde aus: „Das bin ich, aber ich werde dennoch nicht zulassen, dass ihr euch an ihr vergreift.“ In diesem Moment griff Akunemkanon in die Auseinandersetzung der Beiden ein, nachdem er seinen Bruder und dessen Untergebenen eine zeitlang prüfend und aufmerksam betrachtet hatte: „Du scheinst bereits sicher zu sein, dass es sich um einen Benu handelt, was würdest du also mit ihm tun?“ „Lasst ihn frei.“ „Mehr hast du nicht vorzuschlagen? Mir scheint, der Vorschlag des Tjt hatte weit mehr Hand und Fuß“, stellte Akunemkanon gelassen fest, sodass Seth die Zähne zusammenbiss und die Hände zu Fäusten ballte, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Er hatte das Gefühl gerade einer äußerst unangenehmen Prüfung unterzogen zu werden. So wenig er die Art der Prüfung mochte, war er dennoch nicht gewillt einfach klein beizugeben und seinen Gegnern ohne weiteres den Sieg zu überlassen. „Wenn ihr einem Gefährten des Re willentlich Leid zufügt, werdet ihr mit Sicherheit den Zorn der Götter wecken und Kemet in Gefahr bringen.“ „Hältst du uns tatsächlich für so dumm, dass wir nicht einschätzen können, ob wir Kemet gefährden oder nicht?“, Akunemkanon klang dieses Mal ein wenig unwillig, während sich Akunadin keine Reaktion anmerken ließ, sah man davon ab, dass er hoch aufgerichtet auf seinen Untergebenen herabsah und kurz eine Hand zur Faust ballte, bevor er sie wieder entspannt an seiner Seite herabhängen ließ und auf Seths Antwort wartete. Dieser hatte aus den Augenwinkeln die Reaktion seines Herrn wahrgenommen, ließ sich jedoch trotzdem nicht von dem einmal eingeschlagenen Weg abbringen und antwortete dem Herrn der beiden Länder: „Bisher nicht“, sich mit dieser Antwort noch weiter über die bereits überschrittene Grenze hinauswagend, in dem Glauben, dass er ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte. „Mir scheint, du hast Höflichkeit und Etikette bisher bei seiner Erziehung sehr vernachlässigt“, erklärte Akunemkanon daraufhin ungerührt an seinen Bruder gewandt, Seth von einem Moment auf den anderen plötzlich vollkommen ignorierend. „Das scheint mir auch so“, erwiderte Akunadin unbewegt, „aber sei versichert, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird.“ Akunemkanon lächelte freundlich, „Davon bin ich überzeugt. – Nun, was sollen wir also mit diesem angeblichen Benu tun?“ „Die Entscheidung liegt ganz bei dir.“ „Gut, dann entscheide ich, dass sich der Junge um den Vogel kümmern soll. Ist dir das Recht?“, gab Akunemkanon seine Entscheidung bekannt und wandte sich zugleich fragend an seinen Bruder. Dieser verbeugte sich nur mit ergebener Höflichkeit und entgegnete: „Ich werde veranlassen, dass eine Vogelstange in sein Zimmer gebracht wird.“ Akunemkanon nickte zufrieden, gab dann dem Pfauenpfleger mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle sich entfernen und wandte sich anschließend an Seth, der wie vom Donner gerührt dastand und nicht glauben konnte, was er gerade gehört hatte. „Steh nicht herum wie ein Standbild, sondern beweise uns, dass du nicht nur gut mit Worten umzugehen verstehst. Du bist ab sofort für das Tier persönlich verantwortlich, wenn ihm etwas geschieht, hast du die Konsequenzen zu tragen.“ Seth nickte nur hölzern auf die Worte des Herrn der beiden Länder, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, zögerte noch einen Moment und lief dann kurzerhand zu Merenseth, sie aus ihrer Verschnürung befreiend. Doch auch als der Benu nicht mehr in dem Netz gefangen war und Seth dessen Schnabel von der Schnur befreit hatte, verhielt der Vogel sich unnatürlich ruhig, als würde er sich tot stellen, um so seine Peiniger täuschen zu können. Der Junge wusste nicht recht, was er nun tun sollte und so sah er zu den beiden Brüdern vor ihm auf, in der Hoffnung von ihnen einen Rat zu erhalten. Während der Tjt noch immer den Eindruck eisiger Herablassung erweckte und Seth so wortlos zu verstehen gab, dass die Sache für ihn noch lange nicht ausgestanden war, wirkte der Herr der beiden Länder doch um einiges aufgeschlossener und befahl dem Jungen die Papyri und Schreibpalette im Audienzzimmer zu lassen und mit dem Benu zurück in den Garten zu gehen, bis dieser sich wieder beruhigt hatte. Dankbar verneigte sich Seth tief, tat wie ihm geheißen und verließ gleich darauf den Saal mit dem Gedanken, dass der Gott Seth mit der Behauptung Akunemkanon sei ein schwacher Herrscher vielleicht Recht haben mochte, als Mensch jedoch schien er durchaus nicht so unfähig zu sein. Während Seth den Saal verließ, winkte Akunemkanon auch alle anderen Anwesenden im Saal hinaus, um mit seinem Bruder allein reden zu können. „Dein Sohn scheint ebenso klug zu sein wie du – und ebenso stur. Wirst du ihm sagen, wer du bist?“ Akunadin verneigte sich ein wenig, auf diese Weise für das Kompliment seines Bruders dankend und anschließend erwidernd: „Es ist nicht nötig, dass er erfährt wer ich bin, also wird er es nicht erfahren.“ „Hältst du das für klug? Er ist dein Sohn. Glaubst du nicht, dass er verstehen wird, warum du ihn und seine Mutter damals verlassen hast?“ „Wenn es dein Wunsch ist, werde ich es ihm sagen, aber ich bitte dich, mir den Zeitpunkt zu überlassen, an dem ich es ihm mitteile“, lenkte Akunadin ein, offenbar bemüht eine längere, fruchtlose Diskussion zu vermeiden. Akunemkanon nickte einverstanden, „gut, so sei es. – Hast du vor ihn für sein Verhalten zu bestrafen?“ „Strafe erhält, wer Strafe verdient, anders lässt sich ein Staat nicht am Leben erhalten“, erwiderte Akunadin ruhig, worauf sein Bruder leicht den Kopf schüttelte: „Du bist zu streng, mein Bruder. Aber die Entscheidung liegt bei dir, er ist dein Sohn und dein Untergebener. Nur sorge dafür, dass er sich anschließend noch zufriedenstellend um meinen Benu kümmern kann“, die letzten Worte hatte Akunemkanon mit einem kleinen Lächeln geäußert, seinen Bruder auf diese Weise gemahnend, es nicht zu übertreiben. „Ich werde darauf achten“, antwortete Akunadin erneut mit einer leichten Verneigung und bekam nach einem weiteren Lächeln seines Bruders die Frage zu hören: „Wirst du ihn in deinen Diensten behalten?“ „Er ist anstellig, wenn er lernt sich zu benehmen, könnte er dereinst mein Nachfolger sein und deinen Sohn beraten. Dafür braucht er nicht nur eine gute, sondern die beste Ausbildung.“ „Und du bist derjenige, der ihm diese Ausbildung zukommen lassen wird“, die Lippen Akunmekanons zierte nun ein breites Grinsen, während er feststellte: „Wenn dein Sohn meinen Sohn nur halb so gut berät, wie du mich, dann geht Kemet einem goldenen Zeitalter entgegen.“ Bei diesen Worten verzogen sich auch Akunadins Lippen zu einem vieldeutigen Lächeln, während seine Augen vollkommen ungerührt blieben und er erklärte: „So wird es sein.“ Unterdessen war Seth im Garten angekommen und ließ sich am Rand eines Wasserbeckens nieder, den Benu wie gewohnt auf seinen Knien platzierend und ihm beruhigend über das Gefieder streichend. Es dauerte nicht lang und Merenseth erwachte aus ihrer Starre, reckte sich, schlug mit den Flügeln, um die Federn wieder in Ordnung zu bringen, strich mit ihrem Kopf über Seths Wange, als wollte sie sich auf diese Weise bei ihm für seine Hilfe bedanken und ließ schließlich ein Tschilpen hören, das sowohl verlegen als auch Vergebung heischend klang. Offenbar war es Merenseth nicht nur peinlich in diese Misere geraten zu sein, sondern hatte sie auch sehr wohl mitbekommen in welche Schwierigkeiten sie Seth damit gebracht hatte. So ungehalten der Junge anfangs über das Missgeschick des Benu gewesen war, so wenig konnte er jetzt bei dessen völlig zerknirschtem Anblick wütend auf ihn sein und so versuchte er nun, statt Merenseth eine Strafpredigt zu halten, tatsächlich sie zu trösten. Sie und sich selbst davon zu überzeugen, dass die ganze Sache noch glimpflich ausgehen und sie nicht bald wieder vor dem völligen Nichts stehen würden. Immerhin hatte ihm der Erbe des Horus eine Verantwortung übertragen, die der Tjt nicht einfach übergehen konnte, wenn er sich nicht dessen Unmut einhandeln wollte. Während Seth ein doch sehr einseitiges Gespräch mit seinem Benu führte, erklangen plötzlich die Stimmen zweier Jungen und eines Mädchens, die sich anscheinend unterhielten und dabei dem Wasserbecken, Seth und seinem gefiederten Gefährten immer näher kamen. Seth hatte sich gerade von dem Rand des Bassins erhoben, um sich unbemerkt aus dem Staub zu machen, als auch schon ein edel gekleideter Junge mit äußerst ungewöhnlichen, dreifarbigen Haaren, der im gleichen Alter wie Seth sein mochte, den Platz mit dem Wasserbecken betrat und überrascht inne hielt, als er den Jungen mit dem glutfarbenen Vogel entdeckte. Hinter dem Unbekannten konnte Seth noch einen weiteren Jungen und ein Mädchen erkennen, die sich im Aussehen ähnelten und beinahe ebenso kostbar gekleidet waren, wie der Junge mit der merkwürdigen Haarpracht. Dieser augenscheinliche Anführer der kleinen Gruppe musterte den Jungen vor sich mit neugieriger Ruhe und fragte dann, wer Seth sei und was er hier im Garten täte. Für einen kurzen Moment schwieg der Angesprochene, als würde er darüber nachdenken, ob er dem Fremden tatsächlich antworten sollte, letztendlich jedoch nannte er gleichmütig seinen Namen und erklärte, dass er in Diensten des Tjt stehe. „Das sehen wir“, erwiderte der zweite Junge mit leichter Herablassung in der Stimme, „aber wie es aussieht achtet Akunadin nicht mehr so streng darauf, wen er in seine Dienste nimmt. Für gewöhnlich wissen seine Untergebenen, was sich gegenüber dem Sohn des Herrn der beiden Länder gehört.“ „Mahaado“, mahnte der erste Junge mit ruhiger Stimme, ohne unfreundlich zu klingen oder den Blick von Seth abzuwenden. Dennoch bat der mit Mahaado angesprochene Junge umgehend um Vergebung, allerdings ohne dabei allzu devot zu klingen. Es schien, als wären die beiden Jungen in erster Linie Freunde und erst in zweiter Herrschersohn und getreuer Vasall. Seth war bei den Worten des Unbekannten erstaunlich ruhig geblieben und betrachtete lediglich erneut mit prüfendem Blick den am kostbarsten gekleideten Jungen vor sich. Das war also Atemu, der künftige Gebieter über das Schicksal Kemets. Er machte einen erstaunlich unschuldigen Eindruck, als hätte er bisher stets behütet im Palast gelebt und keine Ahnung davon wie die Welt außerhalb dieser Mauern war, aber dieser Eindruck mochte täuschen. Unterdessen stellte der künftige Herrscher Kemets mit neugieriger Freundlichkeit fest: „Du hast da einen ungewöhnlichen Begleiter.“ Da Seth auf diese Feststellung keine passende Erwiderung einfiel, die dem Sohn des Herrschers gegenüber nicht als ungebührlich empfunden worden wäre, schwieg er und wartete lediglich ab, was als nächstes geschehen würde. „Ich glaube, das ist der Benu, von dem ich euch eben erzählt habe“, äußerte sich erstmals das Mädchen mit einer angenehm klingenden Stimme. Seth konnte sich nicht erinnern, sie im Audienzsaal gesehen zu haben, aber Klatsch verbreitete sich im Palast erstaunlich schnell. Wenn man wollte, dass etwas umgehend im Schloss bekannt wurde, brauchte man es nur einem der müßig herumstehenden Hofschranzen zu flüstern und man konnte sicher sein, dass innerhalb eines Tages der gesamte Hof bescheid wusste. „Dann bist du der Junge, der sich gegen Akunadin und meinen Vater gestellt hat?!“, Atemu wirkte ein wenig überrascht, als wäre ihm etwas Derartiges bisher nie in den Sinn gekommen. Seth neigt lediglich zustimmend den Kopf und schwieg weiterhin. „Dann bist du entweder dumm, mutig oder beides“, stellte Mahaado unterdessen fest und fügte boshaft hinzu: „Obwohl es vermutlich ersteres ist, so verschwiegen wie du dich plötzlich gibst.“ „Im Gegensatz zu Anderen, rede ich, wenn ich etwas zu sagen habe und nicht weil ich mich vor jemandem aufspielen will.“ Bevor Atemu dieses Mal seinen Freund zurechtweisen konnte, hatte Seth bereits mit nicht weniger Herablassung als zuvor Mahaado in der Stimme dessen Worte gekontert. Für einen kurzen Moment verengten sich die Augen des anderen Jungen verärgert, bevor er erwiderte: „Im Gegensatz zu dir, kenne ich meinen Platz sehr genau und du solltest nie vergessen, dass du nie mehr als der Schatten eines mächtigen Mannes sein wirst.“ Seth lächelte daraufhin nur kühl, während er erklärte: „Der Schatten von jemandem zu sein, ist eine große Verantwortung und ein Vertrauensbeweis. – Nichts kommt einem Menschen näher als sein eigener Schatten.“ Mahaado schwieg darauf verbissen, während Atemu und das Mädchen verwundert zwischen den beiden Jungen hin und her sahen, die so unerklärlich Feindschaft geschlossen zu haben schienen. Sowohl um die angespannte Stille zu durchbrechen, als auch weil er an dem Vogel interessiert war, äußerte Atemu schließlich an Seth gewandt: „Isis hat erzählt, dass Vater dir die Verantwortung für den Benu übertragen hat“, Seth nickte bestätigend und Atemu fuhr fort: „Hast du ihm schon einen Namen gegeben?“ „Merenseth.“ Ein Lächeln glitt bei dieser Antwort über das Gesicht des Prinzen, bevor er erklärte: „Ich würde ihn gern einmal anfassen.“ Kurz sah Seth seinen Benu an, der diesen Blick ruhig erwiderte, trat dann einen Schritt auf den Prinzen zu und streckte ruhig den Arm aus, auf dessen Hand der Benu die ganze Zeit über gesessen hatte. Im ersten Moment zögerte Atemu ein wenig den Vogel zu berühren, fasste dann jedoch Mut und strich über das glutfarbene, weiche Gefieder des Benu, der das geduldig über sich ergehen ließ. Wieder lächelte Atemu, trat schließlich einen Schritt zurück und sagte: „Ich denke, wir werden uns in Zukunft sicher öfter sehen.“, bevor er sich abwandte und gefolgt von Isis und Mahaado gelassen davon schritt. Seth sah den Dreien einen kurzen Moment nachdenklich hinterher, bevor er sich wieder auf für ihn wichtigere Dinge konzentrierte und zurück in den Palast ging, um nicht nur seine Aufgaben weiter zu erledigen, sofern er sich noch immer in den Diensten Akunadins befand, sondern auch um zu erfahren, was ihm wohl als Strafe für sein Verhalten im Thronsaal zugedacht worden war. Kapitel 16: Ägyptisches Gambit ------------------------------ Wie es schien, beabsichtigte Akunadin Seth zunächst im Ungewissen zu lassen, sodass dieser sich gründlich Gedanken und Sorgen darüber machen konnte, wie seine Strafe wohl aussehen würde. Konnte doch die durch Unsicherheit und Angst genährte Vorstellungskraft eines Menschen oft eine weit schrecklichere Strafe darstellen, als die letztendlich erteilte Strafe selbst. Seth war in dieser Zeit tatsächlich unruhiger als gewöhnlich, allerdings verhinderte die ihm eigene Sturheit, dass er sich anmerken ließ, wie sehr diese ungeklärte Situation an seinen Nerven zerrte. Vielmehr konzentrierte er sich noch mehr als zuvor auf seine Studien und auch die Arbeit in der Kanzlei lenkte ihn von seinen Sorgen ab. Während er auf diese Weise allmählich zu einem geschätzten Mitarbeiter in der Kanzlei wurde und sich nach und nach das benötigte Vertrauen erarbeitete, um ungehinderten Zugang zu den für ihn interessanten Akten zu erhalten. Schließlich war es so weit, zwei Wochen nach dem Vorfall im Thronsaal, erhielt Seth die Anweisung Akunadin zu begleiten und ihm zu Diensten zu sein. Ihr Weg führte sie zu einer Hinrichtungsstätte, etwas außerhalb der Stadt, wo an diesem Tag drei der Grabschändung überführte Männer gepfählt werden sollten. Die Verurteilten wirkten verschmutzt, abgezehrt und verzweifelt, einer von ihnen murmelte unablässig unverständliche Worte vor sich hin, die nach einem Gebet klangen, die anderen beiden starrten in dumpfer Hoffnungslosigkeit vor sich hin, während ein kleiner Trupp Sklaven mit geübten Bewegungen die Löcher für die Pfähle aushob und die Pfähle selbst vorbereitete. Als Akunadin und Seth die Hinrichtungsstätte erreicht hatten und von ihren Pferden stiegen, hielten die Sklaven kurz in ihrem Tun inne, um den Tjt angemessen zu begrüßen, während sich die bei den Gefangenen stehenden Wachmänner höflich verneigten und der Aufseher der Sklaven auf den Tjt zugeeilt kam, um ihn zu begrüßen, ihm zu versichern, dass es eine Ehre für ihn wäre so hohen Besuch begrüßen zu dürfen und die Hinrichtung problemlos von statten gehen würde. Seth hatte dem Mann aufmerksam zugehört, den Blick auf die Verurteilten und die Pfähle so lang wie möglich meidend, während der Tjt vollkommen unberührt von dem bevorstehenden Tod dreier Menschen zu sein schien. Als der oberste Priester in Begleitung Seths von dem Aufseher zu einem vorbereiteten Platz unter einem Schatten spendenden Sonnensegel geführt wurde, dabei zielstrebig an den Gefangenen vorbeigehend, ohne diese zu beachten, warf sich der Mann, der zuvor unablässig vor sich hin gemurmelt hatte, dem Tjt zu Füßen und bat mit flehender Stimme: „Gnade, Herr, ich tat es nur, um meine Familie zu ernähren. Gnade, ich werde es auch nicht wieder tun.“ Die Wachmänner waren sofort bei dem Mann und sorgten auf schmerzhafte Art dafür, dass der oberste Priester nicht länger von dem Verurteilten belästigt wurde, sondern ebenso wie die Anderen zu einem der drei am Boden liegenden, angespitzten Holzpfähle geführt wurde. Seth schluckte nervös, als er zusehen musste, wie die Männer an Händen und Füßen gebunden sich in den Sand legen mussten und so an den angespitzten Holzpfählen befestigt wurden, dass sie langsam und qualvoll von dem angespitzten Ende durchbohrt werden würden, sobald die Sklaven die Pfähle aufgerichtet hatten. Der Junge wusste, dass es eines der schlimmsten Vergehen war, die Wohnstatt eines Menschen, der in das nächste Leben eingegangen war, zu plündern und zu schänden, darauf stand der Tod durch den Pfahl, aber es erschien ihm dennoch unnötig hart und grausam, es musste eine andere Möglichkeit, einen Ausweg für diese Männer geben… „Bitte, lass sie begnadigen“, ohne nachzudenken hatte Seth diese Worte ausgesprochen, während er plötzlich das Gefühl hatte, sich selbst und den Tjt aus einiger Entfernung unbeteiligt zu beobachten und nicht in der Lage zu sein, in die Situation einzugreifen. „Sie bereuen, was sie getan haben, lass sie ihre Strafe im Steinbruch abarbeiten, das wird genügen.“ Kühl und ablehnend sah Akunadin den Jungen an, „wagst du es schon wieder die bestehende Ordnung Kemets in Frage zu stellen? Es ist allgemein bekannt, welche Strafe auf Grabschändung steht, wenn wir nicht das Gesetz befolgen, wird es niemand tun und Isfet wird an Macht gewinnen.“ „Wenn du ihre Familien gegen dich und den König aufbringst, wird Isfet sehr viel mehr Macht gewinnen, als wenn du drei Menschen eine mildere Strafe auferlegst und sie sich fortan an Recht und Gesetz halten“, erwiderte Seth überzeugt, während sich ein mulmiges Gefühl in seinem Bauch ausbreitete. „Es gibt keine Garantie dafür, dass sie nicht erneut ein Verbrechen begehen, deshalb ist es besser schlechtes Korn gleich auszulesen, bevor es noch einen größeren Teil der Ernte in Mitleidenschaft zieht“, erklärte Akunadin unerbittlich, gab dem Aufseher das Zeichen mit dem Aufrichten der Pfähle zu beginnen und setzte anschließend seine Unterhaltung mit Seth fort. „Du schweigst? Du scheinst von deiner eigenen Ansicht nicht sonderlich überzeugt zu sein, wenn du so leicht verstummst.“ „Es macht für dich keinen Unterschied, was ich sage und es wird sie nicht retten, welchen Sinn hätte es noch Worte zu verschwenden?“, Seths Stimme klang bitter, in dem Wissen ein weiteres Mal versagt zu haben, während Akunadin unempfindlich gegen die Enttäuschung des Jungen erwiderte: „Es mangelt dir an Überzeugung, jemand der von seinem eignen Tun nicht überzeugt ist, kann nicht erwarten, dass es andere sind. Du hast diese Diskussion nicht begonnen, weil du der Meinung bist, dass es falsch ist, was hier geschieht, sondern weil du Mitleid mit drei einzelnen Menschen hattest. Die Mehrzahl derer, die auf diese Weise sterben, sind dir gleichgültig, weil sie für dich weder Namen noch Gesicht oder Persönlichkeit besitzen. Diese drei jedoch“, mit einer Bewegung seines Kopfes wies Akunadin auf die sich langsam in die Höhe richtenden Holzpfähle, an deren oberen Ende, an groteske Imitationen von Vögeln erinnernd, nun die drei Männer hockten, deren Darm und Blase sich in Erwartung dessen, was nun beginnen, würde reflexartig entleerten und so einen üblen Geruch nach Urin und Kot verursachten, während ihre Gesichter bereits von Schmerz verzerrt waren, „wolltest du nur retten, weil du ihre Angst spürst, ihre Hilflosigkeit und deshalb nicht mehr in der Lage bist klar zu denken. Mitleid hilft niemandem, es verursacht ausschließlich Schwäche. Wenn du lernst mir deine Überzeugungen frei von Gefühlen, mit unwiderlegbaren Argumenten nahezubringen, werde ich deine Meinung berügsichtigen. - Du wirst diesen Drei beim Sterben zusehen, bis du verstanden hast, was ich dir gesagt habe.“ Standhaft weigerte sich Seth zu den drei Gepfählten zu sehen, es genügte ihre Schreie zu hören, den Geruch nach Kot und Urin wahrnehmen zu müssen und die plötzlich lastende Hitze der Sonne zu ertragen. Er musste nicht auch noch sehen, wie diese Drei langsam, Richtung Boden rutschend von den Pfählen aufgespießt wurden, während sich Holz und Sand von ihrem Blut verfärbten. Stattdessen erwiderte er mit geballten Fäusten und einer Stimme die abgesehen von einem leichten Zittern keinerlei Gefühl verriet: „Du willst sagen, dass nur der über Macht und Einfluss verfügen kann, der lernt unerbittlich und hart gegen Andere zu sein.“ Ein schmales Lächeln glitt bei dieser Antwort über das Gesicht Akunadins, bevor er seinen Untergebenen, ohne auf dessen Worte einzugehen, aufforderte: „Sag mir, welche Strafe steht auf die Beleidigung der Götter?“ Wachsam starrte Seth auf den Mann vor sich, noch immer bemüht die Sterbenden auf ihren Pfählen möglichst auszublenden, während er vorsichtig erwiderte: „Das kommt auf die Schwere und Häufigkeit der Beleidigung an. Bei leichten Vergehen, genügt ein Bußopfer, bei schweren Vergehen wird dem Beleidiger die Zunge herausgeschnitten.“ „Der Hüter der beiden Länder gilt als Mensch gewordener Gott, sage mir also, welche Strafe gebührt dem, der den Erben des Horus der Dummheit und Unwissenheit beschuldigt?“ Der Junge schluckte bei dieser Frage, die der Tjt so gelassen stellte, als ginge es lediglich um einen theoretischen Disput und nicht in Wahrheit darum, dass Seth seine eigene Strafe festlegte. Es kostete ihn einige Mühe, halbwegs beherrscht und ruhig zu antworten, ohne sich seinen inneren Gefühlsaufruhr anmerken zu lassen, während er erwiderte: „20 Peitschenhiebe oder 10 Schläge mit dem Stock.“ Gleichmütig wandte der Tjt den Blick von den sterbenden Sträflingen ab und dem Jungen neben sich zu, taxierte ihn für einen Moment schweigend und erkundigte sich dann kühl: „Welche Strafe würdest du vorziehen?“ Seth benötigte nicht lang, um darauf eine Antwort zu finden. Die Vorstellung rücklings auf dem Boden zu liegen, während seine Fußsohlen wund geprügelt wurden, erschien ihm weit entwürdigender als aufrecht mit bloßem Oberkörper ausgepeitscht zu werden. Solang es ihm bei letzterem gelang aufrecht stehen zu bleiben, wäre es weit weniger erniedrigend, auch wenn es länger dauern würde. „So sei es“, erklärte der Tjt ruhig, nachdem sich Seth für die Peitsche entschieden hatte, erhob sich von seinem Stuhl und wandte sich zum Gehen, während er nach einer kurzen Pause an seinen jungen Unregebenen gewandt äußerte: „Hart gegen Andere zu sein, genügt bei weitem nicht, um sich Macht zu sichern.“ „Man muss es auch gegen sich selbst sein, das ist es, was du mir damit sagen wolltest, nicht wahr?“, wieder hatte sich ein bitterer Ton in Seths Stimme geschlichen, während er seinem Dienstherrn, wenige Schritte hinter diesem gehend, zu den Pferden folgte. Der Tjt gab darauf keine Antwort, winkte lediglich noch einmal den Aufseher heran und erklärte diesem, dass die Leichen der Grabräuber für einige Tage an den Pfählen hängen bleiben sollten, als stumme Mahnung für Jeden, der in Versuchung war, es ihnen gleich zu tun. Zurück im Palast schwand auch der letzte, winzige Funken Hoffnung Seths, dass der Tjt ihn nur einer weiteren merkwürdigen Prüfung unterzogen hatte und auf die tatsächliche Strafe verzichten würde, schnell dahin, als er direkt in einen kleinen Seitenhof geführt wurde, der offensichtlich stets für die Bestrafung von Verurteilten benutzt wurde. Während Seth von dem Mann, der die Strafe vollstrecken würde, an einen freistehenden, kurzen Holzpfosten gebunden wurde, damit er sich nicht gegen die Peitsche wehren konnte, hatte Akunadin Sechemib rufen lassen und ihm leise einen Auftrag erteilt, worauf sich der Priester knapp verneigte und mit beinahe ungebührlicher Hast davon eilte. Mit starrem Blick betrachtete Seth die nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernte Maserung des Pfostens, bemüht in diesem Moment das Wissen des alten Arztes zu beherzigen, der ihm eine zeitlang versucht hatte medizinisches Wissen beizubringen. Zu großer Druck auf die Zähne, ließ diese brechen, deshalb wurde Patienten mit starken Schmerzen ein Stück Holz in den Mund geschoben, um zu verhindern, dass sie sich selbst die Zähne ausbissen. Da Seth nichts dergleichen zur Verfügung stand, versuchte er ohne Hilfsmittel dafür zu sorgen seine Kiefer nicht zu sehr zu verkrampfen, was sich als gute Ablenkung vor dem zu erwartenden Schmerz erwies. Allerdings stellte der Junge schnell fest, dass es nicht genügte nicht die Zähne zu fest zusammen zu beißen. Der Schmerz, als die Peitsche auf seine abwehrend versteiften Rückenmuskeln traf, raubte ihm den Atem und hätte ihn beinahe aufschreien lassen. Stattdessen jedoch presste er im nächsten Augenblick trotzig die Lippen zusammen, nun doch den Kiefer anspannend. Der Tjt mochte in diesem Moment am längeren Hebel sitzen, aber Seth hatte nicht die Absicht vor ihm zu winseln oder um Gnade zu flehen. Das Einzige was Seth in diesem Moment tun konnte, war den Kopf gegen den Holzpfosten zu lehnen, die Hände zu Fäusten zu ballen und zu versuchen, sich irgendwie zu entspannen, um die nächsten Schläge wenigstens ein wenig erträglicher zu machen. Es half nicht viel, war aber alles, was ihm zu tun übrig blieb, während er verbissen die Schläge zählte, um einen Anhaltspunkt zu haben, wie lang die Bestrafung noch dauern würde. Er war gerade beim vierzehnten Schlag angelangt, während sich sein Rücken bereits wund und aufgescheuert anfühlte, als er plötzlich die energische Stimme des Prinzen hörte, der dem Mann mit der Peitsche energisch befahl die Bestrafung sofort einzustellen. Anschließend wies Atemu den ihn begleitenden Diener an, Seth loszubinden, ihn in seine Kammer zu bringen und Shimon, den königlichen Heiler, zu holen, damit dieser sich um die Wunden Seths kümmerte. Erst danach wandte sich der Prinz schließlich an Akunadin, ein deutliches Zeichen dafür, was der künftige Erbe des Horus von dieser Aktion hielt. „Ich bezweifle, dass mein Vater erfreut darüber sein wird, wie du mit dem Pfleger seines Benu umgehst, Akunadin“, der junge Prinz klang erstaunlich ruhig und erwachsen, „aber ich weiß, dass du ein Mann bist, der sehr viel von Gerechtigkeit hält, deshalb nehme ich an, dass du deine Gründe dafür hattest, Seth zu bestrafen.“ Ohne die indirekte Aufforderung zu beachten, eine Erklärung für das Geschehen zu geben,erkundigte sich der oberste Priester gleichmütig: „Du kennst den Jungen bereits, mein Prinz?“, nichts in der Stimme des Tjt wies daraufhin, ob ihn diese Tatsache erstaunte. Stattdessen klang der oberste Priester genauso gleichmütig, als hätte er sich eben nach der Meinung des Prinzen über das herrschende Wetter erkundigt. „Ich bin ihm bereits begegnet“, bestätigte der Prinz die Frage des Tjt und fuhr anschließend fort: „Ich hoffe, ich muss so etwas nicht noch einmal erleben, Akunadin.“ „Das hoffe ich auch, Hoheit“, lautete die Erwiderung des Tjt, die offen ließ, ob er sich auf die Bestrafung selbst oder das Erscheinen des Prinzen bezog. Atemu schien jedoch der Überzeugung zu sein, dass Akunadin die Bestrafung meinte und erklärte mit einem bekräftigenden Nicken: „Dann sorge dafür, dass es nicht wieder geschieht“, bevor er sich abwandte und im Inneren des Palastes verschwand. Mit einem versonnen kleinen Lächeln sah Akunadin dem Prinzen nach. Das hatte besser funktioniert als erwartet. Wenn alles so verlief, wie von ihm geplant, würde Seth es nicht sonderlich gut aufnehmen, von dem Prinzen bemitleidet zu werden, sondern in verletztem Stolz auf Distanz gehen. Das wiederum sollte ihn später wesentlich empfänglicher für seine, Akunadins, Sicht der Dinge machen, sodass es möglich werden sollte, den Jungen so an sich zu binden, dass er dereinst einen würdiger Erbe seiner Pläne sein würde. Der Tjt wollte gerade ebenfalls den Strafhof verlassen, als sich Sechemib aus dem Schatten der Palastmauer löste. Akunadin nickte ihm knapp zu, Erlaubnis für Sechemib näher zu treten. Sobald der Priester nah genug war, dass eine leise geführte Unterhaltung möglich war, verlangte der Tjt zu wissen: Hat er etwas bemerkt?“, sich bewusst vage ausdrückend, um mögliche Lauscher im Ungewissen zu lassen. Sechemib verbeugte sich dienstbeflissen, während er ebenso leise dem obersten Priester auf dessen Frage antwortete: „Ich denke nicht, Herr. Meine Nervosität und Besorgnis um meinen Schüler, haben ihn wohl überzeugt. Zumal er ohnehin nicht sehr misstrauisch ist.“ Akunadin nickte zustimmend, Atemu kam in vielerlei Hinsicht sehr nach seinem Vater, was es für ihn doch wesentlich vereinfachte, seine Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das Thema wechselnd ordnete der Tjt im nächsten Moment an: „Sobald es dem Jungen besser geht, wirst du mit ihm aufs Land reisen. Zeig ihm die Folgen des Krieges und was die Diener Amuns geleistet haben, um sie zu lindern. Er soll begreifen, dass das Militär nicht an Einfluss gewinnen darf und wie wichtig es ist, dass die Priester Amuns ihre Macht verstärken und erhalten.“ „Ja, Herr“, erwiderte Sechemib ergeben, verbeugte sich erneut und zog sich gleich darauf zurück, da der Tjt offenbar keine weiteren Anweisungen mehr für ihn hatte. Unterdessen war Atemu in das Zimmer Seths gelangt, wo dieser gerade auf dem Bauch liegend von Shimon behandelt wurde, während der Benu, der bei diesem ‚Ausflug’ nicht dabei gewesen war, dicht neben dem Kopf des Jungen saß, als würde er auf diese Weise den Schmerz der Wunden lindern können. Als Atemu die kleine Kammer betrat, verneigte sich der Heiler höflich, bevor er sich wieder seinem Patienten zuwandte und diesen sanft aber energisch auf dessen Bett zurückdrückte, um ihn weiter behandeln zu können. „Es ist besser, wenn du liegen bleibst, sonst fängt dein Rücken nur wieder an zu bluten“, erklärte der alte Hofarzt dabei so entschieden, dass Seth sich mit einiger Erleichterung wieder auf das Bett zurücksinken ließ. Selbst dieser halbherzige Versuch aufzustehen, hatte ein höllisches Brennen in seinem Rücken zur Folge gehabt. „Ist es sehr schlimm?“, erkundigte sich Atemu unterdessen besorgt, während er auf dem einzigen Stuhl im Raum Platz nahm. Seth verzog das Gesicht bei dieser Frage, biss sich jedoch auf die Lippe, um dem Prinzen keine unfreundliche Antwort zu geben, während Shimon diplomatisch erklärte: „Es wird zwar eine Weile dauern, bis alles vollständig verheilt ist, aber der Junge hatte eindeutig Glück, es hätte ihn wesentlich schlimmer treffen können.“ „Danke, Shimon“, erwiderte der künftige König mit einem freundlichen Lächeln, worauf der alte Arzt nur abwehrend etwas brummte, bevor er seine Behandlung beendete und anschließend erklärte, dass er mit dem Tjt sprechen würde, um dafür zu sorgen, dass Seth in den nächsten Tagen nicht würde seinen Pflichten nachgehen müssen, sondern seinem Rücken etwas Erholung gönnen konnte. Mit dem an Seth gerichteten Befehl, dieser solle sich so wenig wie möglich bewegen, verließ der alte Arzt schließlich den Raum, nachdem er sich erneut höflich vor dem Prinzen verneigt hatte. Sobald der kräftige, kleine Mann das Zimmer verlassen hatte, machte sich eine drückende Stille zwischen den beiden Jungen breit, die Seth schließlich unwillig mit der Bemerkung beendete: „Ich danke dir für deine Hilfe, Hoheit.“ „Schon gut“, winkte der künftige Erbe des Horus leicht verlegen ab, „ich habe schließlich nicht viel getan. – Aber warum bist du eigentlich geschlagen worden?“ „Ich habe deinem Vater und dem Tjt widersprochen“, erwiderte Seth steif, aber wahrheitsgemäß und erhielt daraufhin einen erstaunten Blick Atemus. „Aber warum sollte das ein Grund sein dich zu schlagen?!“ Seth lächelte freudlos, während er erklärte: „Respektlosigkeit und Beleidigung.“ Nun runzelte Atemu irritiert die Stirn, „Ich kann nicht glauben, dass Vater davon gewusst und es zu gelassen hat. Aber ich werde mit ihm reden, damit so etwas nicht noch einmal geschieht.“ „Das ist sehr freundlich von dir, Hoheit, aber vollkommen unnötig.“ „Hör auf Hoheit zu sagen, Atemu reicht. – Und ich finde nicht, dass es unnötig ist, es sollte doch wohl jedem gestattet sein, frei seine Meinung zu äußern.“ „Nicht, wenn dadurch die wichtigste Grundlage für die Sicherheit Kemets in Frage gestellt wird, Hoheit“, erwiderte Seth kühl und sachlich, den Blick Atemus mit seitwärts gewandtem Kopf undurchdringlich erwidernd. „Atemu“, berichtigte der andere Junge geduldig, bevor er wieder auf das eigentliche Thema zurückkam und erklärte: „Selbst wenn es eine Grundlage ist, muss sie stabil genug sein, Kritik auszuhalten, sonst taugt sie nicht mehr als Fundament.“ „Auch die stabilste Grundlage wird porös, wenn man nur lang genug Löcher in sie bohrt, Hoheit.“ Verärgert runzelte Atemu die Stirn, „ich habe dir mehr als einmal gesagt, wie ich heiße, warum weigerst du dich, mich auf diese Weise anzusprechen?!“ „Es mag für dich nicht von Bedeutung sein, Hoheit, aber alle anderen Menschen Kemets haben eine bestimmte Ordnung zu befolgen, wollen sie überleben. Rede ich dich bei deinem Vornamen an, wird diese Ordnung in Frage gestellt; die Konsequenz dessen, wurde mir gerade in den Rücken geprägt“, die Stimme Seths klang hart und unnachgiebig. Er nahm es dem Prinzen übel, dass dieser glaubte, ihm in einer solchen Situation eine derart nach Mitleid und Barmherzigkeit schmeckende Vertraulichkeit anzubieten. Hätten sie einander als ausgebildeter Priester und Erbprinz gegenüber gestanden, wäre das Ungleichgewicht weniger spürbar und das Angebot ein ehrenvoller Gunstbeweis gewesen, so war es das übertriebene, Hohn triefende Almosen, des Glücklichen an einen Geschundenen und damit inakzeptabel. Verletzt und verärgert, angesichts der abweisenden Ruppigkeit des anderen Jungen, sah Atemu sein Gegenüber an, nicht ahnend, was er mit seinem gut gemeinten Angebot tatsächlich bewirkte. „Es tut mir leid, was dir passiert ist, aber gib nicht mir die Schuld dafür“, erklärte er etwas lauter als nötig gewesen wäre, bevor er sich abrupt von dem Stuhl erhob, auf Seth herabstarrte und erklärte: „Ich hatte einfach angenommen, wir könnten Freunde werden“, anschließend wandte er sich ab, um das Zimmer zu verlassen, wurde jedoch von den ausdruckslos vorgebrachten Worten Seths aufgehalten, der sagte: „Der Gedanke würde dich ehren, wenn du nicht der Sohn des Herrn der beiden Länder wärst und ich nicht ein Bediensteter. So ist es nur naiv. Eine Freundschaft beruht auf Gleichberechtigung, nicht auf Abhängigkeit und Schuld.“ Der Prinz presste nur die Lippen zusammen und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer, Seth allein mit seinem Benu zurücklassend. Wieder herrschte Stille in dem kleinen Raum, während der Junge seinen Kopf Merenseth zuwandte und deren gelassenen Blick erwiderte, der zu besagen schien, dass der Vogel Seth für ziemlich dämlich hielt. Der Junge zog eine ärgerliche Grimasse, während er den Benu anknurrte: „Sieh mich nicht so an, ich weiß, dass ich Recht habe!“, bevor er schließlich mit einem erledigten Seufzen den Kopf zwischen seinen Armen vergrub und eine geraume Weile so verharrte, während er sich bemühte sowohl die Ereignisse des Tages zu verarbeiten als auch sich einzureden, dass er sich dem Prinzen gegenüber tatsächlich im Recht befand. Eine kleine Bewegung seines Benu ließ ihn schließlich wieder den Kopf heben und zu Merenseth schauen, die ihn kurz neugierig betrachtete, schließlich den Kopf herabbeugte und Seth kurz und fest in die Nase zwickte, sodass dem Jungen unwillkürlich die Tränen in die Augen schossen. Anschließend rieb sie ihren Kopf an seiner Wange und überwand gleich darauf die kurze Entfernung bis zum Fenster und verharrte dort auf dem schmalen Sims, zu Seth zurücksehend, ob dieser ihr folgen würde. Für einen Moment zögerte der Junge, bevor er sich doch mühsam erhob und zum Fenster schleppte, in der Annahme Merenseth wolle ihm etwas Wichtiges zeigen. Sobald er sich erschöpft und mit schmerzendem Rücken an die Wand neben dem Fenster lehnte, schlüpfte der Vogel hinaus und schwebte im nächsten Augenblick ruhig in der Luft, während er gleichzeitig wieder die notwendige Größe angenommen hatte, um Seth auf seinem Rücken tragen zu können. Für einen Moment starrte Seth nur erstaunt und mit wachsender Freude, bevor er dem Vogel hastig befahl wieder herein zu kommen, damit keiner der Palastbewohner etwas von der Fähigkeit des Vogels bemerkte oder womöglich eine unbegründete Panik ausbrach. Sobald Merenseth der Aufforderung des Jungen gefolgt war, kehrte Seth wieder zu seinem Bett zurück, sich erleichtert darauf zurücksinken lassend. Heute war er eindeutig nicht mehr in der Lage noch einen der lang vermissten Flüge auf dem Rücken seines Benu zu unternehmen, aber vielleicht morgen, wenn es ihm besser ging und er mit etwas Glück dennoch von seinen üblichen Pflichten befreit war. Eines allerdings verwirrte ihn: Warum war Merenseth wieder in der Lage sich zu vergrößern, aber offenbar noch nicht, sich wieder in einen Menschen zu verwandeln? Hatte die Begegnung mit dem weißen, echsenartigen Ungeheuer vielleicht unerwartete Spätfolgen oder war es einfach nur so, dass sich diese Fähigkeiten bei Benu unterschiedlich schnell entwickelten und es keine absolut festgelegte Reihenfolge gab, in der sie lernten ihre Fähigkeiten anzuwenden? Die letzte Möglichkeit die Seth einfiel, nämlich dass sich Merenseth möglicherweise einfach nicht in ihre menschliche Gestalt verwandeln wollte, gefiel ihm am wenigsten. Er hätte inzwischen wirklich jemanden gebraucht mit dem er über die letzten Ereignisse reden konnte, der ihm zuhörte, gelegentlich einen Rat gab und ihm ansonsten das Gefühl vermittelte nicht völlig auf sich allein gestellt zu sein, sondern einen Freund an seiner Seite zu haben, auf den er sich hundertprozentig verlassen konnte. Seth wollte auch kein vernünftiger Grund dafür einfallen, warum sich Merenseth weigern sollte, sich zu verwandeln, und so hoffte er, dass sich die Fähigkeiten von Feuervögeln einfach unterschiedlich schnell entwickelten und Merenseth bald in der Lage sein würde ihm dies zu bestätigen. Für den Moment jedoch musste es reichen die Wärme des Vogels und das sanfte Kitzeln einzelner Federn an seiner Wange zu spüren, während das Tier sorgsam Wache neben dem Kopf des Jungen hielt. P.S. Tut mir leid, dass ihr dieses Mal so lange warten musstet und dass ich noch nicht einmal versprechen kann, dass sich das in nächster Zeit ändern wird (ich fürchte, dass eher das Gegenteil der Fall sein wird). Ich hoffe allerdings, dass es in ein, zwei Monaten wieder häufigere Uploads geben wird und ihr mir bis dahin nicht völlig untreu werdet. Trotz der Überschrift war weder das Schachspiel selbst noch irgendeine Form von Vorläufer Teil der altägyptischen Kultur, nur als Anmerkung um mögliche Verwirrung zu vermeiden. Auf Grabschändung stand tatsächlich die Todesstrafe durch beschriebene Pfählung (Papyrus Mayer A 13, B1), was die anderweitig erwähnten Strafen anbetrifft, sind sie ohne Recherche meinem Hirn entsprungen. Kapitel 17: Recht und Ordnung ----------------------------- Bevor Seth am nächsten Morgen aufstehen konnte, um die ihm auferlegten Pflichten zu erledigen, kam erneut Shimon zu ihm, versorgte noch einmal den geschundenen Rücken des Jungen und brachte zugleich die gute Nachricht mit, dass der Tjt gnädig den Rat Shimons akzeptiert und Seth für drei Tage sowohl von seinen schulischen als auch sonstigen Pflichten befreit hatte. Ein wenig verwundert nahm Seth diese Information zur Kenntnis nach dem gestrigen Tag hätte er eher erwartet mit keinerlei Nachsicht rechnen zu können, sondern im Gegenteil wie üblich seine Pflichten versehen zu müssen. Er hütete sich allerdings irgendeine Bemerkung in dieser Hinsicht zu machen, schließlich wollte er nicht riskieren doch noch arbeiten zu müssen. Den ersten der drei freien Tage verbrachte Seth noch zum Großteil bäuchlings auf seinem Bett liegend und sich so wenig wie möglich bewegend, damit sein Rücken sich nicht allzu schmerzhaft bemerkbar machte. Am Tag darauf war er trotz Schmerzen fest entschlossen endlich wieder einmal Flugwind um die Nase zu spüren und so schlich er sich nach dem morgendlichen Besuch von Schimon, der anerkennend feststellte, wie gut die Verletzungen auf dem Rücken bereits heilten, aus dem Palast und der Stadt hinaus, zu einer halbwegs vor Blicken geschützten Stelle, an der er bereits von Merenseth erwartet wurde. Es war für Seth etwas mühsam auf den Rücken des Vogels zu klettern, aber schließlich saß er doch glücklich zwischen dessen Flügeln und ließ sich von den sanften Flügelschlägen Merenseths davontragen. Spürte endlich wieder dieses Gefühl von Freiheit, losgelöst sein und Unbeschwertheit, von dem er erst merkte wie sehr er es tatsächlich vermisst hatte, als er auf dem Rücken seines Vogels dahinflog unter sich die unglaublich winzig wirkende Landschaft Kemets. Ob nun beabsichtigt oder zufällig gelangten sie schließlich an den Ort, wo bis vor kurzem noch das Dorf gestanden hatte, in dem Seth aufgewachsen war. Doch statt der verlassen daliegenden, verkohlten Ruinen und Trümmer, die sie zu sehen erwartet hatten, erblickten sie eine Schar emsig arbeitender Handwerker, die am einen Ende des ehemaligen Dorfes die letzten Reste desselben abrissen und am anderen bereits begonnen hatten die Grundsteine für ein neues Gebäude zu legen, dessen Größe dem Anschein nach zuurteilen jedes Haus des zerstörten Dorfes bei weitem überragen würde. Neugierig geworden ließ Seth den Benu ein Stück entfernt landen, befahl dem Vogel an Ort und Stelle auf ihn zu warten und lief anschließend zu den Arbeitern hinüber, um sich zu erkundigen an was sie da bauten und für wen. Wie sich herausstellte, war der Auftraggeber der Arbeiten niemand geringerer als der Gaufürst selbst, der an Stelle des alten Dorfes nun eine Art Zweitwohnsitz errichten ließ. Einige der Arbeiter grinsten anzüglich grinsten während sie erklärten, der Fürst brauche dieses Anwesen in erster Linie um entweder seine Geliebte vor seiner Frau zu verstecken oder die beiden Frauen von einander zu trennen, damit sie ihm nicht unnötig das Leben schwer machten. Erstaunt hatte Seth sich die Aussagen der Männer angehört und schließlich irritiert gefragt: „Warum hat er eine Geliebte, wenn er doch verheiratet ist?“ Die Männer lachten, „weil er es kann, natürlich“, erwiderte einer der Handwerker gönnerhaft, worauf Seth die Stirn runzelnd sehr bestimmt äußerte: „Aber Vielweiberei ist verboten“, es sei denn man war als Landesherr aus politischen Gründen dazu verpflichtet mehrere Ehen einzugehen, um die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Das Lachen der Arbeiter wurde daraufhin nur noch lauter, während dieses Mal ein Anderer aus der langsam größer werdenen Menge antwortete: „Aber doch nicht, wenn man über dem Gesetz steht.“ „Der Fürst steht nicht über dem Gesetz“, widersprach Seth energisch und erhielt dieses Mal nur ein abfälliges Schnauben des Mannes der ihm als erstes geantwortet hatte, während der zweite erwiderte, „nach Ansicht des Fürsten, schon.“ „Da kann man nur hoffen, dass Maat sein Herz richtig wiegt und Ammit ihn frisst“, murrte ein weiterer Mann, während die Stimme abrupt umschlug und sich die Mienen der Arbeiter nach und nach in heimlichem Groll verfinsterten. Seth stimmte den Worten des letzten Mannes im Stillen zu, hielt sich jedoch nicht weiter mit dieser Diskussion auf, sondern erkundigte sich stattdessen das Thema wechselnd neugierig: „Wisst ihr, ob was aus den überlebenden Bewohnern des alten Dorfes geworden ist?“ Fragend sahen sich die Handwerker einander an und schüttelten schließlich beinahe entschuldigend die Köpfe, während der erste der drei Redner an Seth gerichtet erklärte: „Gehört haben wir nichts. Aber es haben wohl auch nicht viele überlebt, sodass der Fürst vermutlich glaubt, dass die paar Bauern schon in irgendeinem anderen Dorf unterkommen werden, ohne dass er sich großartig darum kümmern muss.“ Seine Zuhörer nickten zustimmend, während Seth noch eine weitere Frage beantwortet haben wollte: „Habt ihr etwas darüber gehört warum das Dorf in Brand gesteckt wurde?“ Dieses Mal schauten die Arbeiter den wissbegierigen Jungen vor sich eindeutig erstaunt an, während einer von ihnen feststellte: „Brandstiftung? Das höre ich zum ersten Mal. Ich dachte, jemand hätte nicht richtig auf seine Feuerstelle aufgepasst, sodass das Feuer ausgebrochen ist.“ Er war offenbar nicht der Einzige, der diese Version der Ereignisse gehört hatte, denn ringsum erklang Zustimmung zu den Worten des Mannes. Seth hielt es nicht für sonderlich ergiebig, mit den Arbeitern eine Diskussion darüber anzufangen, ob es sich nun um Brandstiftung oder einen Unfall handelte, er hatte die Antwort auf seine Frage schließlich erhalten: Die Männer wussten nichts darüber, wer warum das Dorf angezündet hatte. Außerdem konnte er wohl davon ausgehen, dass irgendjemand offenbar versuchte die Wahrheit zu vertuschen und es deshalb auch keine Nachforschungen über den Brand im Dorf geben würde. Da alle seine Fragen für den Moment beantwortet waren und er keinen weiteren Grund hatte noch in der Nähe des ehemaligen Dorfes zu bleiben, verabschiedete Seth sich von den Männern, die wieder an ihre Arbeit gingen und kehrte zu Merenseth zurück, die ihm neugierig entgegen sah, anscheinend ebenso gespannt auf die Neuigkeiten, wie zuvor Seth. Nachdem der Junge seinem Benu alles berichtet hatte, was er gehört hatte, überlegte er laut, ob es eine Möglichkeit gäbe unbemerkt einen Blick in die Verwaltungsakten des Gaufürsten zu werfen, um herauszufinden, ob dieser tatsächlich versucht hatte den Brand zu vertuschen oder ob er einfach nur naiv und achtlos war, was die Belange derer anbetraf, für die er die Verantwortung trug. Entschlossen mehr über die ganze Angelegenheit in Erfahrung zu bringen, entschied Seth sich der Bezirksverwaltung einen Besuch abzustatten. In der Stadt angekommen, in der sie die Gauverwaltung befand, erkundigte er sich wo er das entsprechende Gebäude befand und erhielt Dank der Uniform, die ihn als in Diensten des Tjt Stehenden auswies, ohne Probleme Auskunft. Als Seth jedoch voller Selbstvertrauen das Gebäude betrat, in dem die Verwaltung untergebracht war, musste er feststellen, dass seine Uniform nicht überall für Entgegenkommen sorgte. Der diensttuende Schreiber schien sich im Gegenteil von der Uniform eher persönlich beleidigt zu fühlen, als geehrt. Allerdings kaschierte der Mann seine Haltung zunächst mit den Worten: „Ich will erst einmal einen Beweis sehen, dass du tatsächlich vom Tjt geschickt wurdest, eine Uniform tragen kann schließlich jeder, aber das heißt noch lange nicht, dass derjenige auch ist, was er zu sein vorgibt.“ Widerwillig musste Seth dem Schreiber Recht geben und da er nun einmal nicht im Auftrag des obersten Priesters unterwegs war und auch nichts vorweisen konnte, was ihn als Boten identifizierte, musste er einen anderen Weg finden, sich Klarheit über den Gaufürsten und dessen Absichten zu verschaffen. Doch weder bitten, noch schmeicheln, noch der Versuch den Schreiber zu bestechen verhalfen Seth zum gewünschten Erfolg, sodass er schließlich enttäuscht den Rückzug antrat und das Gebäude wieder verließ, nicht recht wissend, was er nun tun sollte. Er war erst wenige Straßen weit gegangen, als es Merenseth langweilig zu werden schien, auf seiner Schulter durch die Gegend getragen zu werden, sich stattdessen in die Luft erhob und davonflog, ohne auf den Ruf Seths zurückzukommen zu achten. Missmutig starrte Seth dem schnell kleiner werdenden orangefarbenen Punkt nach, wie sollte er jetzt bitte wieder zurück in die Pharaonenstadt gelangen, wenn ihn sein Freund einfach mitten in der Hauptstadt des südlichsten Gaus stehenließ? Warum tat Merenseth überhaupt plötzlich so etwas, bisher hatte sie sich doch stets treu an seiner Seite gehalten, wenn es irgendwie möglich war. Da bereits die ersten Leute begannen ihn neugierig anzusehen weil er mitten auf der Straße gedankenverloren in den Himmel starrte, wandte Seth sich mit einem Seufzen ab und lief weiter durch die Straßen der Stadt, ungeduldig die Rückkehr des Benu erwartend. Entgegen seinen Befürchtungen kehrte Merenseth schon bald wieder zurück, ließ sich jedoch nicht auf Seths Schulter nieder, sondern forderte ihn durch voran fliegen und abwarten auf ihr zu folgen. Sobald der Junge begriffen hatte, was der Vogel von ihm wollte, lotste Merenseth ihn zurück zum Verwaltungsgebäude und erneut in den Raum, in dem Seth vor nicht einmal einer Stunde mit dem Schreiber diskutiert hatte. Der saß nun tief über sein Schreibpult gebeugt und schien tief und fest zu schlafen. Erstaunt sah Seth zunächst den Schreiber und dann seinen Benu an, „hast du etwa dafür gesorgt, dass er schläft?“ Die Antwort war ein selbstzufriedenes, zustimmendes Tschilpen. Anschließend postierte Merenseth sich einem Wachposten gleich so, dass sie frühzeitig Alarm schlagen konnte, sollten unerwünschte Gäste auftauchen. Seth unterdessen machte sich daran nach Hinweisen für die Vorgänge in seinem Dorf zu suchen. Dank seiner Arbeit in der Kanzlei des Tjt und der penibel geführten Ordnung des hiesigen Schreibers, fand Seth schnell die ihn interessierenden Papyrirollen. Allerdings war deren Inhalt für ihn nicht sonderlich ergiebig, nichts als Listen über Abgaben und Zuwendungen, Geburten und Sterbefälle. Es schien während der gesamten Existenz des Dorfes nicht ein einziges bemerkenswertes Ereignis gegeben zu haben, den einzigen Hinweis auf eine Unregelmäßigkeit fand Seth in einer unscheinbaren Quittung, ausgestellt auf einen Mann namens Ninetjer über die zeitweilige Verpflichtung eines kleinen Trupps Leibwächter. Nun wären Leibwächter für einen Gaufürsten nicht unbedingt seltsam gewesen, dafür aber die Tatsache, dass die Rechnung bei den Unterlagen über Seths Dorf zu finden war und diese Quittung auf den Tag nach dem Brand datiert war. Ob die Summe für die kleine Zahl der Söldner angemessen war, konnte Seth erst sagen, wenn er sich ähnliche Dokumente im Palast angesehen hatte, sie er schien ihm allerdings unangemessen hoch. Es hatte nicht sonderlich viel Zeit in Anspruch genommen, die wenigen Dokumente durchzusehen und Merenseth hatte nicht ein einziges Mal einen warnenden Laut ausgestoßen, so räumte Seth gelassen alle Papyri wieder ebenso ordentlich weg, wie er sie vorgefunden hatte, abgesehen von der Quittung die er in dem kleinen Beutel an seinem Gürtel verschwinden ließ. Anschließend zu Merenseth zurückkehrend und sie auffordernd: „Lass uns gehen“, gleich darauf bemüht das Gebäude so gleichmütig wirkend zu verlassen, als wäre er die Unschuld in Person und hätte nicht gerade Unterlagen der Gauverwaltung gestohlen. Kurze Zeit später flog Seth erneut auf dem Rücken seines Benu über das Land, genoss die Sonne auf der Haut und den Wind in den Haaren, blinzelte gelegentlich, wenn sich ein winziges Insekt in seine Augen verirrte und vergaß für kurze Zeit seinen schmerzenden Rücken und das alltägliche Einerlei des Palastlebens. Gerade als der Junge und sein Vogel Djerti, die Stadt der Falken, hinter sich gelassen hatten, erklang hinter ihnen plötzlich ein mächtiges Brüllen. Hastig hatte Seth den Kopf gewandt, um zu sehen, wer für diesen durchdringenden Lärm verantwortlich war, und entdeckte zu seiner Überraschung das durchscheinende, echsenartige Wesen aus der Nacht des Brandes. Ohne groß zu überlegen, ließ Seth seinen Vogel wenden, kehrte in die Nähe der Stadt zurück und lief schließlich hastig durch die Straßen von Djerti auf der Suche nach dem weißhaarigen Mädchen, sich an dem noch immer drohend über der Stadt schwebenden Wesen orientierend. Als er das Mädchen schließlich fand, lag es bewusstlos im Staub, während sich um es eine Traube von Menschen gebildet hatte, die entweder mit fassungslosem, entsetztem oder neugierigem Blick auf das echsenartige Wesen in der Luft oder das Mädchen am Boden starrten und sich unter einander flüsternd unterhielten, was geschehen war, was man von der ganzen Sache zu halten hatte und wie es weitergehen solle. Mit Hilfe seiner Ellebogen arbeitete sich Seth durch die Menschenmenge zu dem Mädchen vor, und kniete schließlich neben ihr nieder, um sie an der Schulter zu rütteln und so aus ihrer Bewusstlosigkeit zu holen. Seltsamerweise fühlte er sich für sie verantwortlich, obwohl er sie doch eigentlich gar nicht kannte. Es dauerte einen Moment, bis die Bewusstlose wieder zu sich kam und verwundert zu dem Jungen aufsah, der sie noch immer an der Schulter berührte, „was ist denn passiert?“, erkundigte sie sich mühsam, als müsste sie sich erst wieder in der Gegenwart zurechtfinden. „Ich weiß es nicht. Aber wir sollten besser gehen, bevor du noch anfängst hier alles zu zerstören“, erklärte Seth ruhig, erhob sich und hielt dem Mädchen die Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Während das Mädchen die Hilfe annahm, hakte es irritiert nach: „Ich soll die Stadt zerstören? Aber warum denn und wie?“ „Schon gut, darüber können wir später reden, jetzt komm erst mal weg von hier.“ Es war nie gut zuviel Aufmerksamkeit zu erregen, schon gar nicht, wenn Menschen dabei in Panik geraten konnten, denn dann wurden sie unberechenbar und so zog Seth das weißhaarige Mädchen eilig hinter sich her, vorbei an den noch immer gaffenden Menschen und hinein in eine schmale Seitengasse. Von dort aus liefen sie eine Weile ziellos durch die Stadt, bis Seth schließlich in der Nähe eines kleinen Tempels, der den falkengestaltigen Göttern Kemets geweiht war, Halt machte. Nachdem er sich in einer entlegenen, schattigen Ecke auf einer niedrigen Mauer niedergelassen hatte, wollte er als erstes von dem Mädchen wissen, was es in dieser Stadt tat und warum es nicht in seinem Heimatdorf war. „Unser Dorf ist auch angegriffen worden…“, erklärte das Mädchen leise und immer wieder stockend, während es mit gesenktem Kopf neben Seth saß und auf den Boden starrte. „Meine Mutter und ihr Bruder sind tot. Einige Bekannte haben mich mit hierher genommen, als sie fortgegangen sind, sie haben hier Verwandte“, für einen Moment schwieg das Mädchen, bevor er es sich in einer Mischung aus Unsicherheit und Neugier erkundigte: Und du, lebst du hier, seit… Du weißt schon?“ „Nein, ich bin nur zufällig hier“, erwiderte Seth knapp, bevor er wissen wollte: „Weißt du wer die Männer waren, die euer Dorf angegriffen haben?“, und sich im Stillen fragte, ob er bei den Unterlagen zu diesem Dorf ebenfalls eine Quittung wie bei seinem finden würde. Das Mädchen schüttelte unterdessen zunächst verneinend den Kopf als Antwort auf die laut gestellte Frage Seths. Gleichzeitig angestrengt überlegend, ob ihr nicht doch noch etwas einfallen mochte, das Seth vielleicht weiterhalf; hätte sie ihm doch gern bewiesen, dass sie mehr konnte, als sich retten zu lassen. Tatsächlich kam ihr nach einem Moment eine Erinnerung in den Sinn, der sie selbst nicht viel Bedeutung bei gemessen hatte, aber vielleicht konnte ihr Begleiter ja mehr damit anfangen. „Als wir angegriffen wurden“, erklärte das Mädchen zögernd und beim Sprechen immer wieder Pausen einlegend, als fiele es ihr schwer über diese Ereignisse zu sprechen oder als wolle sie sich so genau wie möglich erinnern, um sie wahrheitsgemäß wieder zu geben, „hat mich meine Mutter in einem kleinen Verschlag versteckt, damit mich die Männer nicht finden. Ich hab mich nicht getraut herauszukommen, aber ein Dörfler ist direkt vor dem Verschlag getötet worden und bevor er erschlagen wurde, hat er den Mann gefragt, warum sie das tun. Der Mann hat gesagt: ‚Bedank dich bei unserem König, er hat uns die Lebensgrundlage genommen, jetzt nehmen wir ihm die Grundlage seiner Macht.’“ „Du kannst mir also nicht, sagen wie die Männer ausgesehen haben“, stellte Seth ruhig fest und erhielt als Erwiderung die kleinlaute Antwort: „Nein, tut mir leid.“ „Hm“, brummte der Junge darauf lediglich, bevor er einen Moment schwieg und anschließend ruhig fragte: „Haben sie euer Dorf auch abgebrannt?“ Das Mädchen schüttelte erneut den Kopf und erklärte anschließend, dass dennoch viele der Überlebenden in größere Städte gezogen waren, weil sie glaubten, auf diese Weise sicherer zu sein. Wieder brummte Seth nur zur Kenntnis nehmend, bevor er sich das Thema wechselnd erkundigte: „Warum warst du eigentlich ohnmächtig?“ Das Mädchen errötete verlegen, während sie den Kopf abwandte und leise gestand: „Ich hab seit einer Weile nichts mehr gegessen… Und dann war da der Stand mit Gerstenbrot. Es hat so gut gerochen. Aber ich hatte kein Geld und da dachte ich, wenn ich eines nehme, wird das sicher nicht auffallen. Ist es aber doch… Sie haben geschrien, dass sie mich bestrafen lassen würden, damit ich so was nicht noch einmal mache. Ich hab mich losgerissen und bin weggelaufen. Dann hat mich plötzlich etwas Hartes am Hinterkopf getroffen und als ich wieder aufgewacht bin, warst du da.“ Für einen Moment hatte Seth das Mädchen neben sich schweigend angesehen, bevor er sich lediglich erkundigte: „Hast du hier Menschen, bei denen du lebst oder bist du allein?“ Der Gesichtsausdruck des Mädchens wurde noch unglücklicher als er ohnehin schon war, während es erklärte, dass es niemanden hätte. Seth runzelte bei dieser Antwort nachdenklich und ein wenig missmutig die Stirn, erklärte jedoch schließlich: „Also schön, du kannst mit mir kommen. Aber erwarte nicht, dass ich mich ständig um dich kümmern werde.“ Verblüfft starrte das weißhaarige Mädchen den Jungen neben sich an, bevor es sich versichernd erkundigte: „Du willst wirklich, dass ich mit dir komme?“, und als Seth auf diese Frage bestätigend nickte, verlangte es noch immer verwundert und nun auch neugierig zu wissen: „Wohin?“ „In die Hauptstadt, ich denke im Palast wird sich schon ein Platz finden lassen, an dem du nicht weiter auffällst und trotzdem leben kannst“, erwiderte Seth überzeugt, während er sich erhob, um endlich die Stadt zu verlassen und in den Palast zurückzukehren. Als das Mädchen ihn noch immer verwundert anstarrte, ohne darauf zu reagieren, dass er beabsichtigte zu gehen, forderte er es etwas ungeduldig auf, ihm zu folgen und erkundigte sich beiläufig, während das Mädchen dieser Aufforderung eilig Folge leistete: „Wie heißt du eigentlich?“ „Kisara. Ich heiße Kisara“, erwiderte das Mädchen hastig, während es mit wachsender Freude und einem allmählich breiter werdenden Lächeln auf den Lippen neben Seth herlief, nach und nach begreifend, dass sie tatsächlich den Jungen neben sich in die Pharaonenstadt begleiten würde und nun nicht mehr allein sein würde. Seth hatte wieder einmal seine schützende Hand über sie gehalten. Glücklich zurück im Palast angekommen, liefen die beiden Jugendlichen überraschend Sechemib in die Arme, der sich verwundert erkundigte, wo Seth gewesen sei und warum er nicht in seinem Zimmer wäre, um sich von seiner Verletzung zu erholen, die der Heiler doch als recht ernst beschrieben hatte. Kisara sah bei diesen Worten besorgt zu ihrem Begleiter, der sie jedoch nicht weiter beachtete, sondern stattdessen seinem Lehrer erklärte, dass er sich etwas hatte bewegen wollen, um zu sehen, wie weit ihn sein wunder Rücken noch beeinträchtigte. Sechemib nickte darauf nur bedächtig, als würde er Seths Bemühen so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kommen, anerkennen und für gut befinden. Bevor er allerdings dazu kam noch irgendetwas zu sagen, erklärte Seth auch schon auf das Mädchen neben sich weisend: „Gibt es eine Möglichkeit, dass Kisara hier im Palast bleiben kann? Sie hat sonst Niemanden zu dem sie gehen könnte.“ Der Priester brummte ein wenig nachdenklich, während er prüfend das weißhaarige, dünne Mädchen vor sich betrachtete und schließlich erklärte, dass sie möglicherweise als Dienerin im Harem Arbeit finden könnte. Allerdings müsste er dafür zunächst mit der Nebet per sprechen, ob diese ein weiteres Dienstmädchen überhaupt brauchen könne. Wie sich zeigte war die Nebet per - eine resolute Frau in etwa dem gleichen Alter wie Akunemkanon, die auf den Namen Hapi hörte - keineswegs abgeneigt das Mädchen mit der ungewöhnlichen Haar- und Augenfarbe in ihre Dienste zu nehmen, solang es sich als anstellig und freundlich erwies. Da nicht nur Kisara versicherte, sie würde tun was immer man ihr auftrug, sondern sich auch Sechemib und Seth für sie einsetzten, war Hapi schnell einverstanden es mit ihr zu versuchen und forderte Kisara auf, ihr zu folgen. Mit freudigem Eifer gehorchte ihr das Mädchen, sobald es sich bei seinen Begleitern bedankt und Seth versichert hatte, dass er nicht bereuen würde, sie mitgenommen zu haben. Kaum waren die beiden Frauen in den Räumlichkeiten des Harems verschwunden, wandte sich Seth ab, um in sein Zimmer zurückzukehren, während sich Sechemib unauffällig zu seinem Vorgesetzten begab, um ihm zu berichten, dass ein Mädchen mit ungewöhnlichem Aussehen in den Palast gebracht worden war. „Gibt es noch weitere Hinweise?“, verlangte der Tjt ruhig zu wissen, nachdem er dem Bericht gelauscht hatte und erhielt von Sechemib die Antwort: „Bis jetzt hat noch keiner von beiden etwas entsprechendes erwähnt oder ist irgend etwas auffälliges gesehen worden, aber wenn sie tatsächlich zu jenen gehört, die einen Dämon in ihrem Inneren beherbergen, wird sie das nicht allzu lang vor uns verbergen können, wenn sie hier lebt.“ Akunadin nickte zustimmend und entließ anschließend Sechemib mit dem Befehl weiterhin ein Auge auf das Mädchen zu haben, vielleicht ließ es sich noch zu ihren Gunsten einsetzen. Unterdessen hatte Seth, in seinem Zimmer angekommen, die mitgebrachte Quittung gut zwischen zwei Holzleisten am Boden seines Schrankes verborgen, bevor er sich schließlich mit einem Seufzer der Erleichterung wieder bäuchlings auf sein Bett sinken ließ, um ein wenig auszuruhen und über das nachzudenken, was er an diesem Tag erlebt hatte. Der für sein Dorf verantwortliche Fürst fand es anscheinend wichtiger sich eine neue Residenz zu errichten, als denen zu helfen, die zu Schaden gekommen waren. War doch nirgends in den Verwaltungsakten etwas darüber zu finden gewesen, dass den Überlebenden seines Dorfes Hilfe zuteil geworden war, stattdessen beabsichtigte der Fürst sich mit seiner Geliebten zu verlustieren. Es war das Recht der Reichen, mehr als eine Frau zu haben, während es allgemein im Reich als verwerflich galt das Ideal einer vollkommenen Familie auf diese Art zu unterwandern. Menschen brachten einander um, weil sie glaubten, auf diese Weise den König schwächen zu können. Der König galt als Garant für den Bestand des Reiches und die Sicherheit der Menschen, war er nicht mehr in der Lage diese zu gewährleisten, würde es im schlimmsten Fall zu Unruhen, Aufständen und Streitigkeiten um den Thron kommen, in denen die Bewohner Kemets die eigentlichen Leidtragenden sein würden. Eine Zahl von toten Söldnern, die vermutlich mehr als nur ein Dorf niedergebrannt und anscheinend immer wieder ungestraft davon gekommen waren, hatten einem Mann namens Ninetjer anscheinend viel Geld eingebracht, während Kisara bei dem Versuch nur einen einzigen Fladen Brot zu stehlen, um etwas zu essen zu haben, bereits mit Steinen beworfen worden war und vor Gericht gezerrt werden sollte. Irgendwie ergab sich bei diesen Überlegungen ein seltsames Ungleichgewicht, als würde Maat, die das Reich aufrecht erhielt, nach und nach außer Kraft gesetzt und durcheinander gebracht werden. Was wiederum bedeutete, dass Isfet an Macht gewann und irgendwann so stark wäre, dass Kemet untergehen würde. Seth war sich nicht sicher, ob er versuchen sollte, dagegen etwas zu unternehmen oder ob er den Dingen einfach ihren Lauf lassen sollte. Denn hatte der Gott Seth nicht gesagt, dass nur im Chaos neue Möglichkeiten verborgen lagen? Vielleicht war es notwendig, dass Kemet unterging, bevor es in neuem Glanz auferstehen konnte, so wie ein Benu. Kapitel 18: Einsichten ---------------------- Seth kehrte gerade aus den Baderäumen zurück, als ihn Sechemib ansprach, der ihm entgegen gekommen war, offenbar auf der suche nach ihm, denn er erklärte: „Ah, da bist du ja. Ich habe gehört, dass du noch immer von deinen Aufgaben befreit bist. Aber da du dich Gestern schon in der Stadt herumgetrieben hast, scheint es dir hier langweilig zu werden. Also dachte ich, du hast vielleicht Lust mich zu begleiten und ein wenig zu sehen, wie es im Land zugeht.“ Seth wirkte bei diesem Angebot ein wenig überrascht, nickte anschließend jedoch nur wortlos und begleitete den Priester gleich darauf. Auf dem Weg zu den Stallungen erkundigte Sechemib sich, ob Seth reiten könne und befahl kurze Zeit später, als sie bei ihrem ersten Ziel angekommen waren, einem der dort befindlichen Diener ein weiteres Pferd für den Jungen zu satteln. Während Seth noch auf sein Reittier wartete, schwang sich Sechemib bereits etwas linkisch auf das für ihn bestimmte Pferd, das nicht nur einen ungelenken Reiter zu tragen haben würde, sondern zusätzlich mit einigen geheimnisvollen Säcken beladen war. Sobald auch Seth auf dem Rücken eines Pferdes saß, verließen sie das Palastgelände und wenig später auch die Stadt. Kurze Zeit darauf erreichten sie eines der Handwerkerdörfer, die stets in der Nähe der königlichen Begräbnisstätten entstanden, dauerte es doch viele Jahre diese Wohnstätten der Ewigkeit für die Herrscher zu errichten. Ohne Seth zu erklären, was sie in diesem Dorf wollten, ritt Sechemib durch die Stadt, sich nur hin und wieder bei einem Passanten nach dem Weg erkundigend. Schließlich hielten sie vor einem kleinen, etwas heruntergekommen wirkenden Lehmhaus und Sechemib stieg mühsam von seinem Pferd, um im nächsten Moment einen der Säcke von dessen Rücken zu zerren. Im nächsten Augenblick klopfte er an die Tür der Hütte, der hochschwangeren Frau, die wenig später öffnete, den Sack mit den salbungsvollen Worten überreichend: „Der oberste Priester des Amun hat von deiner schwierigen Situation erfahren und möchte dir deshalb dies hier schenken. Auch wenn er weiß, dass dein Mann dadurch nicht wieder lebendig wird und es den Schmerz nicht lindern kann.“ Die Frau starrte den Priester verwundert an, bevor sie sich sichtlich einen Ruck gab, sich höflich bedankte und den Priester bat, ihr den Sack ins Haus zu tragen. Als der Priester die Bitte der Frau erfüllt hatte und das Haus wieder verließ, um erneut sein Pferd zu besteigen, hielt ihn die Frau mit der Frage zurück: „Kannst du mir sagen, wie lang er noch so zur Schau gestellt wird und wann ich ihn bestatten darf?“ Mit mitfühlendem Gesichtsausdruck und höflicher Zurückhaltung verneinte Sechemib diese Frage, erklärte jedoch, dass er alles in seiner Macht stehende tun würde, um der Frau diese Sorge so bald wie möglich zu nehmen. Noch einmal bedankte sich die Schwangere daraufhin bei dem Priester, bevor Sechemib und Seth ihren Weg fortsetzten und die Frau wieder in ihrem Haus verschwand. Dieses Schauspiel wiederholte sich noch zwei Mal in ähnlicher Weise, bevor sie das Handwerkerdorf wieder verließen, ohne jedoch in die Stadt zurückzukehren. Seths Rücken hatte während des Reitens wieder begonnen zu schmerzen, war die Fortbewegung auf einem Pferderücken doch nicht halb so bequem wie auf dem Rücken seines Benu. Dieser flog von Zeit zu Zeit neben ihm her flog, wenn er nicht hinter Seth auf dem Hinterteil des Pferdes saß und sich ebenfalls durch die Gegend tragen ließ. Doch nicht der Versuch sich von den Schmerzen in seinem Rücken abzulenken veranlasste Seth sich bei seinem Begleiter zu erkundigen, was es mit den eben erlebten Vorgängen in dem Handwerkerdorf auf sich hatte, sondern ehrliche Neugier und Verwunderung darüber, dass ein Mann wie der Tjt tatsächlich so etwas wie Güte zu besitzen schien. Die erklärenden Worten Sechemibs waren allerdings nicht dazu angetan Seths Verwunderung zu mindern. „Die Gesetze eines Landes zu beachten ist notwendig, um die Ordnung und das Wohlergehen aller zu erhalten Aber das heißt nicht, dass da wo es möglich ist nicht auch Gnade geübt wird. Der Tjt mag grausam erscheinen, aber er denkt stets zuerst an das Volk Kemets und deshalb ist er auch für den Erben des Horus ein unersetzbarer Vertrauter und Berater.“ Nachdem der Priester seine Erklärung beendet hatte, ritten er und sein Schüler eine zeitlang schweigend über die Ebene, bis sie schließlich zu den Ruinen eines ehemaligen Dorfes gelangten, bei denen der Priester sein Pferd erneut zum Stehen brachte. Nachdem Seth es dem Priester gleich getan hatte, folgte er der Aufforderung Sechemibs und betrachtete die Ruinen mit scheinbar stoischer Ruhe, nur die sich fester um die Zügel ballenden Fäuste verrieten, dass ihn der Anblick der zerstörten Häuser nicht so kalt ließ, wie er vorgab. Nachdem sie eine Weile schweigend auf die Reste des Dorfes gestarrt hatten, ergriff Sechemib erneut das Wort und äußerte ruhig: „Du fragst dich sicher, warum ich dich hierher gebracht habe… Die Wahrheit ist, dass Akunadin nicht der Einzige Berater des Königs ist. Auch der oberste Befehlshaber der Armee, Karim, steht in hohem Ansehen bei seiner Majestät. Aber Karim hält nicht viel von Akunadin, sondern beschuldigt ihn falsches Spiel zu treiben und den König zu hintergehen. – Natürlich nicht öffentlich, denn er hat keine Beweise dafür und Akunemkanon wäre sicher nicht erfreut, wenn ihm solche Reden über seinen Bruder zu Ohren kämen. – Der Grund für Karims Missgunst ist Akunadins Bestreben die Armee zu verkleinern. Der Tjt glaubt, dass sich Konflikte nicht durch Kriege lösen lassen, sondern besser durch Verhandlungen beendet werden. Und eine Armee zu unterhalten, die nicht gebraucht wird, kostet Unsummen. So hat Akunadin den König und die meisten anderen Berater nach und nach davon überzeugt, dass ein Großteil der Armee aufgelöst wird. Aber nicht alle Soldaten sind mit dieser Lösung einverstanden, obwohl sie nicht mit leeren Händen entlassen wurden. Diese kleine Zahl Gemeiner hat sich zusammengerottet und sich entschlossen gegen den Herrn der beiden Länder und Kemet selbst vor zu gehen. Dass Dorf, das du hier siehst war eines ihrer ersten Opfer. Bisher sind wir dieser Gruppe jedoch nicht habhaft geworden, wir kamen bisher immer zu spät. Es gibt einige Hinweise darauf, dass Karim möglicherweise in diese Sache verstrickt ist, vielleicht auch seine Verlobte und deren Bruder, aber bisher gibt es Nichts, was es uns ermöglichen würde, ihnen das Handwerk zu legen. - Verstehst du nun, warum es der Tjt für so notwendig hält, dass du nicht nur blind Entscheidungen fällst, sondern zuerst darüber nachdenkst und anschließend so handelst, dass niemand deine Beweggründe in Frage stellen kann?“ Seth nickte auf diese Frage etwas zögernd. Das, was ihm Sechemib gerade erzählt hatte, war eine ganze Menge Stoff zum Nachdenken – und es passte erstaunlich gut zu dem Wenigen, was er bisher herausgefunden hatte. „Wisst ihr, wer zu diesen Rebellen gehört oder wo sie eines ihrer Verstecke haben?“, erkundigte sich der Junge schließlich, die Bemerkung, dass auch sein Dorf vermutlich von diesen Abtrünnigen zerstört worden war, ungesagt lassend, da er annahm, dass Sechemib bereits darüber Bescheid wüsste, wenn er doch augenscheinlich in die Ermittlungen um diese Gruppe einbezogen war. Der Priester schüttelte jedoch nur verneinend den Kopf auf die Frage des Jungen, während sich in seinem Gesicht Bedauern darüber spiegelte, dass es ihnen bisher nicht gelungen war diese Personen ausfindig und dingfest zu machen. Da es bei dem Dorf für die Beiden nichts weiter zu tun oder zu sehen gab, kehrten sie bald darauf in gemächlichem Tempo zum Palast zurück, während Seth seinem Lehrer die Frage stellte, ob es tatsächlich so klug sei, die Armee zu reduzieren und sich damit feindlich gesonnen Ländern gegenüber angreifbar zu machen. Sechemib nickte anerkennend, dass sein Begleiter über das Gesagte nachdachte und erklärte anschließend: „In der Tat birgt die Verminderung der Armee ein gewisses Risiko und genau dieses Argument ist auch Karims stärkste Waffe gegen die Absicht Akunadins. Aber bedenke, dass eine kleine Armee nach außen auch friedfertig wirkt und den Eindruck vermittelt, dass wir eine bewaffnete Verteidigung nicht nötig haben, weil uns die Götter wohl gesonnen sind. Die Menschen in Kemet können sicher sein, dass ihre Familien, ihr Hab und Gut nicht in einem weiteren Krieg zerstört werden und das Vermögen, das wir sparen, wenn wir die Armee reduzieren, können wir für andere, bessere Dinge verwenden.“ „Aber was ist, wenn es dennoch zu einem Angriff kommt?“, beharrte Seth auf dem entscheidenden Punkt in der Sache und erhielt die gelassene Antwort: „Dann werden wir Söldner anwerben, es gibt immer Menschen, die dumm genug sind im Kampf sterben zu wollen und dann ist es besser es sind Ausländer, die sterben, als Bewohner Kemets.“ Darauf wusste Seth nichts mehr zu erwidern und so legten die beiden Reiter die restliche Strecke schweigend zurück. Als sie schließlich wieder vor den Ställen des Palastes angekommen und von ihren Pferden gestiegen waren, entließ Sechemib Seth aus seiner Begleitpflicht, um sich anschließend auf direktem Weg zum Tjt zu begeben, diesem Bericht zu erstatten und auf weitere Instruktionen zu warten. Unterdessen folgte Seth der pantomimischen Aufforderung seines Benu und betrat die Gärten des Palastes. Offenbar war Merenseth in alberner Spiellaune, denn immer wieder flog sie ein Stück voraus, kehrte zu Seth zurück, schwebte einen Moment wartend vor ihm in der Luft und flog dann erneut dem Jungen voraus, als wollte sie diesen dazu auffordern mit ihr fangen zu spielen. Ohne darauf einzugehen, folgte der Junge dennoch gemächlich den Wegen durch die Gärten, die der Vogel einschlug, während er in Gedanken wieder einmal die neugewonnen Informationen durchdachte, sortierte und in seinem Gedächtnis speicherte. Erst der überraschte Ausruf eines anderen Gartenbesuchers schreckte Seth aus seiner Grübelei auf und ließ ihn in die Richtung blicken, aus der der Laut erklungen war. Zu seiner Überraschung und einem gewissen Unbehagen entdeckte er den künftigen Erben des Horus vor sich, der ihn allerdings nicht weiter beachtete, sondern misstrauisch nach oben schielte, in dem argwöhnischen Versuch den Vogel, der sich auf seinem Kopf niedergelassen hatte, im Auge zu behalten. Sobald Seth erkannt hatte, dass es sich bei dem Vogel auf dem königlichen Haupt um Merenseth handelte, die offenbar zur Abwechslung den Schopf eines Prinzen als Sitzplatz ausprobieren wollte, beeilte sich der Junge so schnell wie möglich zu dem seltsamen Paar zu gelangen, um den Benu aus den Haaren Atemus zu pflücken und diesen auf diese Weise von seinem unerwarteten Kopfputz zu befreien. Das war allerdings schwieriger als gedacht, denn sobald Seth seine Hände nach dem Vogel ausstreckte, wehrte sich dieser hoch aufgerichtet, mit ausgebreiteten Flügeln gegen diese Versuche und pickte mit dem Schnabel nach den nach ihm greifenden Händen. Vielleicht hätte Seth über das gebotene Schauspiel eines hilflos wie erstarrt dastehenden Jungen mit einem verrückt gewordenen Huhn auf dem Kopf lachen können, wenn es sich bei dem Jungen nicht um den Erbprinzen Kemets gehandelt hätte. Außerdem fand Seth es alles andere als unterhaltsam von Merenseth auf diese Weise verraten zu werden und trieb einem die Kombination aus glutrotem Federkleid und purpurfarbener Haarpracht Tränen in die Augen. Besorgt angesichts der fruchtlosen Versuche seines Gegenübers ihn von dem eigensinnigen Benu zu befreien, erkundigte Atemu sich schließlich, was es mit diesem seltsamen Benehmen auf sich hatte und erhielt darauf die verärgerte Antwort: „Ich weiß es nicht, normalerweise kann sie sich benehmen.“ Dass sich die Verärgerung dabei weniger auf die Frage des Prinzen sondern vielmehr gegen den Vogel richtete, war problemlos an dem wütenden Blick Seths zu erkennen, den dieser dem Benu zuwarf und dazu angetan war, jeden zur Salzsäule erstarren zu lassen. Alle, bis auf ein widerspenstiges Federvieh, das es doch tatsächlich schaffte zu wirken, als würde es seinem Eigentümer jeden Moment frech die Zunge herausstrecken wollen. „Falls sie nicht beschließt, sich auf mir zu erleichtern, habe ich nichts dagegen, wenn sie noch eine Weile bleibt wo sie ist“, erklärte Atemu schließlich vorsichtig, bemüht sowohl den Vogel auch den Jungen zu beruhigen, nachdem er sich anscheinend halbwegs mit der Situation abgefunden hatte, und fügte mit einem Lächeln hinzu: „Immerhin dürfte es ein glückliches Omen sein, dass sich ein Benu auf meinem Kopf niederlässt.“ „Darauf würde ich nicht wetten“, brummte Seth missmutig, bevor er sich mit einem resignierten Seufzen und knapper Höflichkeit für die Umstände und das Benehmen des Vogels bei dem Prinzen entschuldigte. Der wischte die Entschuldigung mit einer abwehrenden Handbewegung und einem „schon gut“ beiseite und erkundigte sich anschließend wie es Seths Rücken ginge. Etwas irritiert von so viel Großzügigkeit, antwortete Seth dennoch, dass es ihm bereits besser gehen würde, bevor er sich, auf die Freundlichkeit des Prinzen bauend, erkundigte, was dieser über das Verkleinern der Armee und die Angriffe auf einzelne Dörfer durch Banditen wisse. Atemu wirkte angesichts dieser Frage überrascht und statt eine Antwort zu geben stellte er die betroffene Frage: „Es werden Dörfer überfallen? Das wusste ich nicht, wer würde denn so etwas tun?“ „Es besteht wohl die Vermutung, dass es entlassene Soldaten sind, die auf diese Weise ihre Unzufriedenheit zeigen wollen“, erwiderte Seth lediglich, ohne auf die blamable Unwissenheit des Thronfolgers einzugehen, der in diesem Moment die Stirn runzelte und erklärte: „Wenn dem so ist, sollten wir Karim fragen, er ist nach meinem Vater der oberste Befehlshaber und wird sicher wissen, ob seinen Leuten so etwas zu zutrauen ist.“ Seth lächelte bei diesen Worten ein wenig amüsiert, natürlich würde Karim es nicht für möglich halten, selbst wenn er nicht in diese Intrige verwickelt war. Schließlich würde das Fehlverhalten seiner Soldaten, auch wenn sie nicht mehr in seinen Diensten standen, letzten Endes auf ihn zurückfallen und Akunadin nur weiter Argumente dafür liefern, dass es besser war kein stehendes Heer zu unterhalten, wenn die Soldaten derart undiszipliniert waren. Dennoch erhob er keinen Widerspruch, als Atemu sich herumdrehte und ihn aufforderte ihm zu folgen. Nur Merenseth schien entweder vom Ziel des Ausflugs nichts zu halten oder keine Lust mehr zu haben auf dem königlichen Haupt zu verweilen, denn kaum dass sich der Prinz von Seth abgewandt hatte, flog sie auf und ließ sich wieder auf der Schulter Seths nieder, anschließend mit dem Schnabel kurz über dessen Nase streifend und leise gurrend, als wolle sie sich für ihr vorheriges Verhalten entschuldigen. Seth murmelte jedoch nur energisch: „Glaub bloß nicht, dass ich mich von dir einwickeln lasse“, und schickte noch einen grimmigen Blick hinterher, der zumindest dafür sorgte, dass Merenseth vollkommen ruhig auf seiner Schulter hockte, ohne sich zu bewegen. Trotz seiner Verärgerung unternahm Seth keinen Versuch den Vogel von seiner Schulter zu vertreiben, um ihn auf diese Weise zu bestrafen. Nachdem die beiden Jungen auf ihrem Weg zu Karim die Gärten verlassen hatten, sie schließlich bei den Übungsplätzen der Soldaten an, wo sich in diesem Moment nur zwei Männer, oder besser ein Mann und ein Junge im Alter von Atemu und Seth, gegenüber standen und der eine den anderen offenbar im Schwertkampf unterwies. Als Lehrer und Schüler, bei dem es sich um Mahaado handelte, bemerkten, dass sich ihnen der Thronfolger in Begleitung eines weiteren Jungen näherte, unterbrachen der sie ihren Unterricht und verneigten sich grüßend gegenüber dem Erbprinzen. Dieser kam ohne weitere Umstände auf den Grund seines Kommens zu sprechen, nachdem er den Mann, den er als Karim vorstellte, und Seth miteinander bekannt gemacht hatte. Es sollte sich zeigen, dass es in diesem Fall Seth war, der sich geirrt hatte oder doch zumindest nicht vollkommen richtig lag. Denn nachdem Atemu das Wenige berichtet hatte, was er zuvor von Seth erfahren und sich mit seiner Frage an Karim gewandt hatte, erklärte dieser bedächtig, als würde er seine Worte sorgfältig prüfen, bevor er sie äußerte: „Es ist durchaus möglich, dass sie einige der Ehemaligen zu so etwas Verwerflichem bereit erklären würden, wenn man ihnen dafür einen genügend großen Anreiz bietet. Allein aus Rachsucht heraus würde mir auf Anhieb niemand einfallen.“ „Hast du auch einen Verdacht, wer ihnen warum diesen Anreiz bieten könnte?“, erkundigte sich Seth gespannt auf die Antwort wartend. Der Befehlshaber schien den lauernden Unterton in den Worten des Jungen bemerkt zu haben, denn er sah ihnen einen langen Moment ernst an und erwiderte dann ruhig: „Ich habe eine Vermutung, aber da ich sie nicht beweisen kann und niemanden zu unrecht beschuldigen will, werde ich sie für mich behalten und sie erst meinem Herrn und König zu Gehör bringen, wenn ich unumstößliche Gewissheit darüber habe, dass ich im Recht bin.“ Widerwillig war Seth beeindruckt von diesem Mann und seiner offenkundigen Ehrbarkeit, während er auch schon im gleichen Moment von Mahaado angefahren wurde: „Du bist natürlich schon längst der Überzeugung, dass nur Karim hinter all dem stecken kann. Es weiß schließlich jeder, dass sich die Anhänger Amuns eifrig darum Bemühen jeden anderen Einfluss als ihren auf den König zu unterbinden.“ „Mahaado“, dieses Mal kam die Mahnung gleich von zwei Seiten, während Karim jedoch anschließend verstummte, fügte Atemu leicht ungehalten hinzu: „Mein Vater steht unter niemandes Einfluss. Er trifft seine Entscheidung völlig frei und lässt sich lediglich von anderen beraten, um nichts zu übersehen.“ „Verzeih, Hoheit, ich wollte weder deinen Vater noch dich beleidigen. Es gab nur schon zu viele Anfeindungen gegen Karim, sodass Isis schon ganz außer sich vor Sorge ist.“ „Lass Isis meine Sorge sein, sie macht sich ohnehin um Vieles zu viele Sorgen“, erklärte Karim ruhig und Seth nahm an, dass Isis die Verlobte war, von der Sechemib gesprochen hatte. Allerdings konnte Seth sich weder bei ihr noch bei Karim vorstellen, dass sie tatsächlich eine Verschwörung planen sollten. Jedoch er hatte gelernt dass der äußere Schein nur zu leicht trügen konnte und so würde er dennoch auf der Hut bleiben. Die anderen Drei mit der an Karim gerichteten Frage auf das ursprüngliche Thema zurückführend, erkundigte sich Seth: „Aber du hast dem König dennoch davon berichtet, dass es diese Überfälle gibt und du einen Verdacht hast, den du erst noch überprüfen willst?“ Karim ließ sich weder von dem lauernden Unterton noch von deren Dreistigkeit beeindrucken, sondern verneinte völlig gelassen die Frage, Seth dabei direkt in die Augen sehend. Der Junge beabsichtigte jedoch keineswegs daraufhin klein bei zu geben, sondern hakte seinerseits hartnäckig nach: „Warum nicht?“ Doch diesmal war es Mahaado, der in seiner üblichen ungeduldig aufbrausenden Art auf diese Unverfrorenheit antwortete, während Karim stoisch schweigend weiter aufmerksam Seth betrachtete. „Warum Karim etwas tut oder lässt, geht dich nichts an. Du kannst sicher sein, dass er seine Gründe dafür haben wird. Außerdem sollte der Tjt ebenfalls über die Vorfälle Bescheid wissen, warum fragst du nicht ihn, ob er sich bereits an den König gewandt hat?“ Seth sah keinen Grund die anderen Drei darüber aufzuklären, dass der Tjt tatsächlich über die Vorfälle Bescheid wusste und gerade Karim in Verdacht hatte für diese verantwortlich zu sein. Wenn Sechemib mit seinen Bemerkungen Recht hatte, wäre es unklug einen Verräter vorzuwarnen, dass er bereits unter Verdacht stand und ihm so die Möglichkeit zu geben sich in Sicherheit zu bringen, bevor man ihn bestrafen konnte. Die rhetorische Frage, warum er Akunadin nicht fragte, ob er mit dem König über die Vorfälle gesprochen habe, überging Seth schlicht. Er nahm an, dass Mahaado doch zumindest so viel Verstand besaß, zu wissen, wie unmöglich es für einen Untergebenen war seinem Herrn eine solche Frage zu stellen. Unterdessen hatte Atemu erneut in dem Bemühen eine Eskalation zwischen den beiden anderen Jungen zu verhindern, erklärt, dass er mit seinem Vater sprechen würde und, falls das noch nicht geschehen sein sollte, ihn über die Vorfälle informieren würde. Mit diesem Schiedsspruch schienen vorerst alle zufrieden zu sein, auch wenn Mahadoo Seth noch immer ziemlich finster anstarrte. Ohne diesen Blick weiter zu beachten, trennte sich Seth bald darauf von dem Prinzen, Karim und Mahaado, um nach Kisara zu sehen und zu erfahren, wie es ihr seit ihrer Ankunft im Harem ergangen war. Während der Junge die zielstrebig in en Palast zurückkehrte, befahl er dem noch immer auf seiner Schulter sitzenden Benu ruhig: „Behalte Karim für mich im Auge und falls er etwas mit Mutters Tod und dem Brand zu tun hat, lass es mich wissen.“ Mit einem zustimmenden Tschilpen hüpfte Merenseth gleich darauf auch schon von der Schulter des Jungen, breitete die Flügel aus und war im nächsten Augenblick davongeflogen, um möglichst unauffällig den Oberbefehlsaber der ägyptischen Armee zu beobachten. Seth unterdessen setzte seinen Weg zum Harem fort, ohne dem Vogel auch nur einen Wimpernschlag lag nachzusehen. Als er wenig später in den Frauengemächern angekommen war und sich gerade erkundigt hatte, wo er Kisara finden konnte, kam ihm das Mädchen auch schon mit einem erfreuten Lächeln und seinem Namen auf den Lippen entgegen gelaufen. Sobald Kisara bei ihrem Besuch angekommen war, ergriff sie dessen Hand und begann voller Begeisterung hervorzusprudeln was ihr in der kurzen Zeit, die sie sich nicht gesehen hatten, alles an Gutem, Neuem und Interessanten widerfahren war, sodass Seth von dieser ungewohnten Zutraulichkeit überrumpelt schweigend lauschte, während er sich doch von der anhänglichen Dankbarkeit und Bewunderung des Mädchens geschmeichelt fühlte. Während Kisara Seth in allen Einzelheiten darüber Bericht erstattete, was sie an diesem Tag bisher getan hatte, näherte sich den Beiden eine verführerische, junge Frau, die sich zu Seths Erstaunen in Begleitung Akunadins befand. Als das Paar an den beiden Jugendlichen vorbei ging, lächelte die Frau Kisara verschwörerisch zu und äußerte neckend: „Sieh an, du hast also schon einen Freund gefunden und noch dazu einen so gut aussehenden.“ Bei diesen Worten errötete nicht nur Kisara verlegen, die hastig versuchte das Missverständnis aufzuklären, sondern auch Seths Wangen färbten sich für einen Moment deutlich dunkler, während er die Frau wie gebannt anstarrte. Allerdings blieb ihm nicht viel Zeit sie zu bewundern, denn schon im nächsten Augenblick befahl der Tjt ihm ihn zu begleiten, sich anschließend bei der jungen Frau für seine Verhältnisse erstaunlich freundlich verabschiedend. Seth gehorchte dem Befehl des obersten Priesters ohne Hast, nachdem er Kisara zum Abschied lediglich zugenickt hatte, und verließ gleich darauf zusammen mit Akunadin den Harem. „Da es dir offensichtlich besser geht als mich Shimon glauben ließ, kannst du auch wieder anfangen zu arbeiten. Ich bin sicher Kakau wird dafür sorgen können, dass dir nicht langweilig wird“, bemerkte der oberste Priester kühl, während sie Richtung Kanzlei gingen. Seth gab darauf nur eine kurze, zustimmende Antwort, bevor sie einander wieder anschwiegen. Erst als sie in dem Gang angekommen waren, in dem die Arbeitsräume des Tjt lagen, brach dieser noch einmal das Schweigen und stellte gelassen fest: „Sie hat dir gefallen.“ „Wer?“, erkundigte sich Seth sowohl verunsichert als auch erstaunt. „Meresankh“, lautete die Erwiderung Akunadins, der seinen Untergebenen aufmerksam musterte. Als Seth fragte: „Die Frau, die dich begleitete?“, erhielt er als Antwort lediglich ein Nicken. Verlegen wich der Junge zum ersten Mal dem durchdringenden Blick Akunadins aus, währen er betont gleichmütig mit den Schultern zuckte und erklärte: „Kann schon sein. So genau habe ich sie mir nicht angesehen.“ Akunadins Lippen kräuselten sich bei dieser Antwort zu einem spöttisch herablassenden Lächeln, bevor er lediglich erwiderte: „Dann solltest du in Zukunft aufmerksamer sein. Frauen sind oft der Hals, der den Kopf dahin dreht, wohin er blicken soll. Ihre Macht zu unterschätzen ist alles andere als klug.“ Nach diesen Worten wandte sich der Tjt ab und schritt würdevoll davon, einen Jungen zurücklassend, der ihm noch eine geraume Weile vollkommen verblüfft und ratlos hinterher sah. Kapitel 19: Politik und Liebe ----------------------------- Akunemkanon hatte seinen Bruder zu sich befohlen. Dieser war Aufforderung umgehend gefolgt, betrat nun die privaten Gemächer des Herrn der zwei Länder und fand zu seinem Erstaunen nicht nur den Herrscher vor, sondern auch den Oberbefehlshaber der ägyptischen Streitkräfte. Ohne sich etwas von seiner Verwunderung anmerken zu lassen, grüßte Akunadin ehrerbietig seinen Bruder und nickte Karim lediglich mit knapper Höflichkeit zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Akunemkanon zuwandte. Dieser erklärte daraufhin: „Mein Sohn hat mir berichtet, dass Banditen Dörfer brandschatzen und die Menschen ermorden. Warum habe ich bisher nichts davon erfahren?“ In der Frage schwang ungewohnte Verärgerung mit und war zugleich eine unmissverständliche Forderung an den Tjt seine bisherige Verschwiegenheit zu begründen. „Ich wollte dich nicht unnötig beunruhigen. Und bisher ist es mir nicht gelungen genügend Informationen über diese Leute zusammen zu tragen, als dass ich dir hätte etwas Zufriedenstellendes berichten können.“ Diese Worte schienen Akunemkanon soweit zu beschwichtigen, dass er nun wieder ruhiger seinem Bruder erwidern konnte: „Ich weiß deine Fürsorge durchaus zu schätzen, aber ich bin der Herr dieses Landes, wenn ich nicht weiß, was in ihm vorgeht, wie soll ich es dann richtig regieren?! Du wirst mir in Zukunft stets über solche Vorfälle Bericht erstatten, egal ob du etwas Neues herausgefunden hast oder nicht.“ „Wie du befiehlst“, lautete die von einer angedeuteten Verbeugung begleitete Antwort des Tjt, worauf der Erbe des Horus befriedigt nickte und sich anschließend an Karim wandte: „Ich habe gehört, du würdest es für möglich halten, dass einige deiner ehemaligen Soldaten zu diesen Verbrechern gehören?“ „Das ist durchaus möglich, Majestät. Nicht jeder von ihnen würde gegenüber seinen Landsleuten Nachsicht wallten lassen, wenn er genügend Geld geboten bekäme.“ „Was ist mit dem Ausgleich, den jeder von ihnen erhalten hat, als er die Armee verließ?“ „Mit Verlaub, Majestät, Menschen die es als ihre Aufgabe betrachten ihr Land im Kampf zu verteidigen, sind mit einem Stück Land, dass sie beackern sollen, nicht zufrieden zu stellen.“ „Hm“, brummte Akunemkanon daraufhin nur und versank für einen Moment in nachdenklichem Schweigen, während seine beiden Berater geduldig vor ihm standen und darauf warteten, dass er zu einer Entscheidung kam. Schließlich war es soweit und Akunemkanon erklärte: „Gut, ihr werdet ab sofort zusammen herauszufinden versuchen, wer hinter diesen Anschlägen steckt und sie aufhalten. Die Reduzierung der Armee wird vorerst eingestellt und du wirst mir regelmäßig eine Liste der verdienstvollsten Offiziere anfertigen, die aus der Armee in den Beamtendienst wechseln wollen, - sie sollen entsprechend ausgezeichnet werden.“ Die letzte Anweisung hatte er direkt an Karim gewandt geäußert, sodass ihm der kurze Moment unverhohlener Verärgerung, in Akunadins Gesicht entging, während er die überraschte und zugleich dankbare Erwiderung Karims entgegen nahm. Anschließend schien der Herrscher der Ansicht zu sein, dass alles geklärt wäre und wollte seine beiden Berater bereits entlassen, als Akunadin den Einwand vorbrachte: „Majestät, wenn wir diesen Gesetzlosen entgegen kommen, noch bevor wir überhaupt wissen, was sie wollten, bestärken wir sie nur in ihrem Tun. Sie werden weiter Anschläge verüben, in der Überzeugung so stets ihre Forderungen durchsetzen zu können. Es wäre also äußerst unklug, die begonnen Veränderungen einfach auf halbem Weg abzubrechen, um einige rebellierende Söldner zu hofieren.“ Ruhig hatte der König den Worten seines Bruders gelauscht, erklärte dann jedoch entschieden: „Die Reformen können fortgesetzt werden, sobald diese Meuchelmörder und Banditen gefasst sind. Je schneller euch das gelingt, umso eher brauchen wir uns keine Sorgen mehr um weitere Vernichtungen von Dörfern machen. Bis dahin soll es für die Soldaten jedoch keinen Grund für Unzufriedenheit geben. Auf diese Weise verhindern wir nicht nur, dass sich noch weitere Männer diesen Rebellen anschließen, sondern sorgen gleichzeitig dafür, dass sie dem Königshaus treu bleiben.“ Dass Akunemkanon nicht gewillt war weiteren Widerspruch zu dulden, bewies die angefügte Bemerkung, dass er sicher sei, Akunadin und Karim würden sich aufrichtig darum bemühen, gemeinsam zum Wohle Kemets beizutragen. Da diese Worte in einem entlassenden Tonfall geäußert worden waren, verbeugten sich die beiden Konkurrenten um die Gunst des Herrn der beiden Länder darauf lediglich tief und ehrerbietig, bevor sie die Gemächer des Königs schließlich verließen und in unangenehmem Schweigen nebeneinander die Gänge entlang schritten. Keiner von ihnen war sonderlich erpicht darauf mit seinem Rivalen zusammen zu arbeiten. Aber wollten sie den Erben des Horus nicht verärgern, blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als zu tun was ihnen befohlen worden war. Sobald Akunadin sich mit Karim auf ein erstes Vorgehen geeinigt und den Oberbefehlshaber glücklich losgeworden worden war, ließ er Sechemib zu sich rufen und erklärte diesem knapp, was der Priester wissen musste, um anschließend befehlend hinzuzufügen: „Ich will, dass du dich mit Ninetjer triffst und ihm erklärst, dass er sich in nächster Zeit zurückhalten soll. Wenn seine Leute unruhig werden, soll er einige Karawanen oder eines der unbedeutenden Wüstendörfer angreifen, möglichst in Gegenden, die dem wachsenden Einfluss der Armee ablehnend gegenüberstehen. – Und er soll dafür sorgen, dass es Hinweise auf Karim gibt. Ich lasse nicht zu, dass dieser Emporkömmling meinen Plänen in den Weg kommt.“ Die letzten Worte hatte Akunadin ungewohnt heftig und mit grimmigem Gesicht geäußert, sodass Sechemib noch beflissener als sonst erklärte: „Ich werde mich sofort auf den Weg machen und Ninetjer entsprechend informieren.“ „Nein, jetzt noch nicht. Warte bis es Nacht wird und pass auf dass dir niemand folgt. Es kann gut sein, dass Karim etwas Derartiges vermutet und uns überwachen lässt.“ „Meinst du, er ist dazu tatsächlich in der Lage?“, Sechemib bemühte sich jegliche Skepsis, die Zweifel an der Urteilsfähigkeit seines Vorgesetzten andeuten konnte, bei dieser Frage aus seiner Stimme herauszuhalten. „Er versteht mit Leuten umzugehen. Er braucht keine Soldaten die für ihn spionieren, dass übernehmen Andere freiwillig für ihn“, wischte der Tjt den Einwand mit kühler Herablassung zur Seite, bevor er für einen Moment schwieg und schließlich erklärte: „Lass den Jungen zu mir schicken“ , auf diese Weise seinem Untergebenen zu verstehen gebend, dass er sich zurückziehen solle. Mit einer Verbeugung und einer gemurmelten Zustimmung gehorchte Sechemib und war im nächsten Moment aus dem Zimmer des Tjt verschwunden. Dieser wandte sich mit auf dem Rücken verschränkten Händen einem der Fenster zu und blickte gedankenverloren nach draußen, während er auf Seth wartete, sich überlegend wie er nun am besten weiter vorgehen sollte, um doch noch an sein Ziel zu gelangen. Seth hatte die Nachricht, dass der Tjt ihn sprechen wolle, mit einer gewissen Besorgnis entgegen genommen. Am Tag zuvor hatte ihn Kakau dabei ertappt, wie er ohne entsprechende Anweisung in den Besoldungs- und Einstellungslisten des Militärs stöberte, die als Abschriften im Archiv des Tjt vorhanden waren. Kakau war von der Eigenmächtigkeit und Unzuverlässigkeit seines Schülers alles andere als erfreut gewesen und hatte eine wütende Strafpredigt zum Besten gegeben, die unter anderem die Drohung enthielt den obersten Priester von der ungebührlichen Neugier und der Faulheit Seths, seine eigentlichen Aufgaben zu erledigen, zu unterrichten. Eine Drohung, auf die Seth nach der letzten Erfahrung mit den strengen Ansichten Akunadins, gern verzichtet hätte. Doch trotz der wenig erfreulichen Aussicht innerhalb kürzester Zeit ein weiteres Mal den Zorn seines Vorgesetzten zu spüren zu bekommen, war Seth nicht völlig unzufrieden mit der Situation, hatte er bei seiner eigenmächtigen Durchsicht der militärischen Dokumente doch immerhin herausgefunden, dass die an den unbekannten Ninetjer gezahlte Summe ein Vielfaches über dem lag, was Soldaten sich in der Armee des Königs erhoffen konnten. Dazu kam die interessante Tatsache, dass in keiner der Listen, in denen die Namen der Soldaten aufgeführt waren, auch nur ein einziger Mann genannt wurde, der ausschließlich Ninetjer hieß. Es gab eine handvoll Männer die diesen Namen in Verbindung mit anderen trugen, zwei von ihnen mit dem Kürzel für ‚Tod’ versehen. Einer war als Invalide aus der Armee ausgeschieden und bekleidete nun einen Posten als Schreiber in einer der nördlichen Provinzen, während die restlichen vier als reguläre Soldaten geführt wurden. Seth ging davon aus, dass er die offiziell noch in der Armee Dienenden außen vor lassen konnte, da es auf Dauer zu sehr aufgefallen wäre, wenn einer von ihnen häufiger einfach aus der Armee verschwand, auch wenn er die Erlaubnis des Kommandanten hatte. Allerdings wäre es wohl besser, auch dieser Männer einer kurzen Überprüfung zu unterziehen, nur wusste Seth noch nicht, wie er dies anstellen sollte. Den Krüppel zu überprüfen dürfte nicht schwierig werden, wenn er tatsächlich einer war, das würde Merenseth für ihn an einem Tag herausfinden können. Blieben die beiden Toten, wenn sie auf dem Schlachtfeld gefallen waren, gab es keine Möglichkeit zu prüfen, ob sie tatsächlich tot waren oder ob ihr Tod nur vorgetäuscht worden war, um ihnen größere Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Andererseits konnte es auch sein, dass sie wirklich tot waren und keiner der aufgeführten Soldaten etwas mit dem Namen auf der Quittung zu tun hatte. Was wiederum bedeuten könnte, dass dieser Mann nichts mit der Armee und Karim zu tun hatte. Oder es sich um einen Söldner handelte, den Karim außerhalb des königlichen Heeres kennen gelernt hatte, die dritte Möglichkeit wäre, dass auf der Quittung einfach ein falscher Name angegeben worden war. Alles in allem viel Raum für Spekulation, aber wenig bewiesene Tatsachen. Vorerst gab es keinen Hinweis darauf, dass tatsächlich die Soldaten Kemets oder Karim selbst die Finger im Spiel hatten, aber noch blieb abzuwarten, was Merenseth herausfinden würde. Als Seth schließlich das Zimmer Akunadins betrat, stand dieser mit dem Jungen zugewandtem Rücken am Fenster und sah nachdenklich auf die sich davor erstreckende Stadt hinab. Ohne sich zu Seth umzudrehen, forderte der Tjt den Jungen lediglich auf sich neben ihn zu stellen. Nachdem Seth der Aufforderung gefolgt war und eine Weile Schweigen geherrscht hatte, äußerte der oberste Priester mit nachdenklichem Ernst: „Wenn du aus dem Fenster siehst, was siehst du dann?“ Ein wenig erstaunt sah Seth zunächst zu dem Mann neben sich auf und dann wieder hinaus auf die belebten Straßen der Hauptstadt, in der die Luft vor Hitze leicht flimmerte und angefüllt war mit dem alltäglichen Lärm und den verschiedensten Gerüchen, sah hinaus auf die Häuser, deren sonnengebleichten Wände sich warm und lebendig anfühlten, wenn man sie berührte. „Menschen, Tiere, Häuser, Verkaufsstände… Aber darum geht es wohl nicht“, erklärte er schließlich etwas zögernd, nicht wissend, was der Tjt von ihm hören wollte. Statt einer direkten Erwiderung, zitierte Akunadin, noch immer aus dem Fenster sehend, ruhig und ein wenig melancholisch: „’Man wird Waffen aus Metall herstellen und Brot mit Blut fordern. Über eine Krankheit lacht man und den Tod beweint man nicht. Jeder sitzt da und schaut weg, während einer den anderen umbringt. Ich zeige dir den Sohn als Gegner, den Bruder als Feind und einen Menschen der seinen Vater tötet.’ Das ist es, was ich sehe, wenn ich mir die Zeit nehme hinaus zu sehen. Die Menschen werden immer unzufriedener und missgünstiger. Es gefällt mir nicht zu sehen, wie Kemet langsam untergeht.“ Schweigend hatte Seth den Worten gelauscht. Er kannte die Erzählung, aus der der Tjt zitiert hatte, und überlegte einen Moment, wie er am besten auf dessen Worte antworten sollte. Schließlich entschied er sich einfach aus der gleichen Erzählung zu zitieren: „’Aber dem gequälten Land wird ein Retter erstehen. Die Gerechtigkeit wird an ihren Platz zurückkehren, das Unrecht ist hinausgeworfen. Freuen wird sich, wer es sieht, wer im Dienste des Königs sein wird!’“ Ein leichtes Lächeln war bei dieser Antwort im Gesicht des obersten Priesters erschienen, dass noch immer zu sehen war, als er sich seinem Untergebenen zuwandte und anerkennend feststellte: „Du hast die Weissagungen Nefertis gut gelernt.“ „Wir mussten sie häufiger als Übung abschreiben“, wehrte Seth ein wenig verlegen mit einem Schulterzucken ab. Worauf Akunadin nur verstehend nickte und sich wieder dem Fenster zuwandte, während er scheinbar beiläufig fragte: „Wärst du denn bereit im Dienst des Königs dabei zu helfen, dass Nefertis Worte Wirklichkeit werden? Dazu beizutragen, dass die Gerechtigkeit wieder an ihren Platz zurückkehrt und Kemet in neuem Glanz erstrahlt?“ Wieder sah Seth nachdenklich zu seinem Mentor auf. Er hatte ihn anfangs für einen Mann gehalten, der weder Erbarmen noch Gnade kannte. Aber das, was er in den Tagen seiner Genesung herausgefunden hatte, ebenso wie das Verhalten des Tjt in diesem Augenblick, ließen ihn mehr und mehr zu der Einsicht gelangen, dass er sich geirrt hatte. Der oberste Priester war ohne Zweifel ein strenger Mann von unnachgiebiger Natur. Aber er wollte nur das Beste für Kemet und seine Bewohner, auch wenn das bedeutete, dass er manchmal unangenehme Entscheidungen zu treffen und eine Verantwortung zu tragen hatte, die ihn anderen verhasst machen würde. Seth hingegen war immer noch nicht davon überzeugt, dass Kemet überhaupt gerettet werden sollte. Wenn die Menschen nicht zu schätzen wussten, was sie besaßen, dann verdienten sie es vielleicht einfach nicht besser, als alles zu verlieren. Aber wenn ein Mann wie Akunadin, der ein angenehmes Leben im Palast hätte führen können, ohne sich mit Gedanken um die Bevölkerung Kemets zu belasten, bereit war, sich vollkommen in den Dienst für sein Land zu stellen, indem er unermüdlich arbeitete und Wohltaten erwies, ohne Dank dafür zu erwarten oder irgendein Aufhebens davon zu machen, war es vielleicht doch eine lohnenswerte Sache, sich für das Wohl und Bestehen Kemets einzusetzen. „Ich werde helfen, so gut ich kann“, erklärte Seth also, nachdem er sich die ganze Sache hatte durch den Kopf gehen lassen und war wieder einmal vom Verhalten des Tjt überrascht, als statt einer wortreichen Antwort lediglich eine schwere Hand auf seine Schulter gelegt wurde: wortlose Anerkennung seiner Entscheidung und vielleicht so etwas wie ein Zeichen der Dankbarkeit. Kurz schielte der Junge aus dem Augenwinkel auf diese Hand auf seiner Schulter und im nächsten Moment möglichst unauffällig zum Gesicht Akunadins hinauf, mit einem Mal von einer merkwürdigen Scheu ergriffen, dass ihn dieser Mann so vertraulich behandelte, und zugleich stolz auf diese Form der Auszeichnung. Es war Akunadin, der diesen kurzen Moment von Vertrautheit beendete, indem er seine Hand zurückzog, die Hände wieder auf dem Rücken verschränkte und einen Augenblick schweigend aus dem Fenster schaute. Dann wandte er sich entschlossen seinem Schreibpult zu, ließ sich an diesem nieder und äußerte zugleich sachlich: „Ich habe beschlossen, dass du ab sofort im Umgang mit Waffen unterrichtet wirst. Der oberste Befehlshaber, Karim, hat freundlicherweise eingewilligt, dir alles Notwendige beizubringen. Ich erwarte, dass du dich dieser Ehre würdig erweist.“ Seth runzelte bei diesen Worten verwundert die Stirn, während er erwiderte: „Ich verstehe nicht. Warum muss ich mit Waffen umgehen können, wenn ich Priester werde?“ Statt seinen Untergebenen dafür zu rügen, dass er ihn unterbrochen hatte und seine Entscheidungen infrage stellte, erklärte der Tjt noch immer mit ruhiger Sachlichkeit: „Es ist dir vielleicht bekannt, dass es in letzter Zeit immer wieder zu Übergriffen auf Dörfer gekommen ist. Ich kann nicht ausschließen, dass solche Situationen auch in der Hauptstadt vorkommen werden oder die Menschen, die für mich arbeiten, angegriffen werden, während sie in meinem Auftrag unterwegs sind. Deshalb ist es besser, wenn du lernst dich zu verteidigen.“ Seth hatte nachdenklich zugehört. Das, was Akunadin sagte, klang logisch, aber Seth konnte sich nicht helfen, irgendetwas störte ihn an diesen Worten, berührte ihn unangenehm und ließ ihn ein wenig erschauern. Dennoch war seine einzige Reaktion auf die Erklärung des Tjt ein zustimmendes Nicken und die kurze Bestätigung, dass er verstanden hätte. Worauf Akunadin seiner Bemerkung über den Waffenunterricht hinzufügte, als hätte die kurze Unterhaltung dazwischen nie stattgefunden: „Du erhältst des Weiteren eine gesonderte Unterweisung in Magie. In letzter Zeit wird die Zahl der in Menschen wohnenden Dämonen immer größer, sodass wir mehr Priester benötigen, die in der Lage sind diese Dämonen zu kontrollieren.“ So fasziniert Seth im Alter von Sieben Jahren von der Idee gewesen war einen Dämon beherrschen zu können, schoss ihm in diesem Moment doch ausschließlich der entgeisterte Gedanke durch den Kopf: ‚Nicht noch mehr Arbeit.’ Bevor er sich erkundigte, warum es notwendig sei, die in Menschen wohnenden Dämonen zu beherrschen. Akunadin schien Seths Gedankengang an dessen Gesicht abgelesen zu haben, denn mit einem winzigen, amüsierten Lächeln erklärte er zunächst: „Die Arbeit in der Kanzlei wird dir bis auf Weiteres erlassen“, bevor auf die Frage des Jungen einging und erwiderte: „Dämonen sind Wesen, die in erster Linie auf die Gefühle derer reagieren, die sie als ihre Wohnstatt erwählt haben. Stell dir vor, was geschehen würde, wenn mehrere Menschen mit mächtigen Dämonen zugleich wütend werden oder den Wunsch verspüren Kemet zu vernichten. Wir hätten ihnen nichts entgegen zu setzen. Also ist es besser, wir sorgen dafür, dass es gar nicht erst soweit kommt. Für die Menschen macht es im alltäglichen Leben ohnehin keinen Unterschied, ob sie mit einem Dämon in der Seele leben oder nicht. Am ehesten dürften sie es noch als Erleichterung empfinden, diese Wesen los zu werden, da sie von Anderen nicht mehr gemieden würden.“ Seth kam wieder die Erinnerung an den Brand seines Dorfes und das echsenartige Wesen in den Sinn, das offenbar in Kisaras Seele wohnte. Das Wesen hatte ihm damals ohne Zweifel das Leben gerettet und ebenso war deutlich geworden, wie gefährlich es zugleich für Menschen sein konnten, die nicht das Wohlwollen des Mädchens besaßen. Und Kisara selbst schien immer wieder unter Feindseligkeiten aufgrund ihres anders Seins gelitten zu haben. Es würde als nur von Nutzen sein, wenn er lernte, wie man diese Wesen kontrollierte. Bei der Erkenntnis, dass er, entgegen Kakaus Drohung, ohne Strafe für seine Schnüffelei davonkommen und stattdessen lernen würde, wie man Dämonen bändigte, hätte er am liebsten breit gegrinst. Stattdessen bedankte er sich lediglich höflich für die Freundlichkeit Akunadins, ohne sich etwas von seinen Gefühlen anmerken zu lassen und verließ gleich darauf das Zimmer des Tjt, mit dessen Befehl Kakau zum ihm zu schicken und sich anschließend bei Karim zu melden. Erst als Seth bereits auf dem Weg zur Kanzlei war, wo er Kakau finden würde, ging ihm auf, dass er nun über eine hervorragende Möglichkeit verfügte, sich selbst in der Nähe Karims aufzuhalten und diesen zu beobachten, während Merenseth auf diese Weise problemlos in der Lage sein würde, für ihn die Ninetjers zu überprüfen. Der zum Spion gewordene Benu verbrachte unterdessen so unauffällig wie es angesichts seines Gefieders möglich war, seit zweieinhalb Tagen den Großteil seiner Zeit in der Nähe Karims, ohne dass er bisher irgendetwas Auffälliges hätte herausfinden können. Es war inzwischen Abend geworden und der Wind hatte aufgefrischt, wehte die Schwüle des Tages fort und führte das Versprechen von Regen mit sich. Merenseth saß auf einem leicht im Wind schwankenden Ast und beobachtete ein wenig argwöhnisch den Himmel, statt das Zimmer, das Karim zugewiesen war und dem er sich in diesem Moment zusammen mit seiner Verlobten befand. Merenseth hoffte inständig, dass der Herr der Stürme es ihr ersparen würde tatsächlich im Regen sitzen zu müssen, während sie diesen Menschen dabei zusah wie sie sich begatteten. In der Zeit, die sie nun schon lebte, hatte sie das seltsame Gebaren der Menschen in dieser Hinsicht anfangs noch recht unterhaltsam gefunden. Aber es verlor doch sehr schnell an Reiz, wenn man ungefragt in unendlicher Wiederholung über die Jahrhunderte hinweg immer wieder die gleichen verzerrten Gesichtszüge und in einander verschlungenen Leiber zu sehen bekam. Manchmal fragte sich Merenseth, was die Götter dazu getrieben haben mochte, Menschen gerade die Arterhaltung als erstrebenswerte Form des Zeitvertreibs mitzugeben. Ein wenig missmutig kauerte sich der Benu enger zusammen und plusterte sein Gefieder auf, um dem nun schon fast stürmischen Wind weniger Angriffsfläche zu bieten und sich gleichzeitig zu wärmen. Im Moment wäre sie wirklich lieber im Zimmer Seths gewesen und hätte dem Jungen dabei zugesehen, wie er über irgendwelchen Pergamentrollen brütete, Texte auswendig lernte oder ihm beim lauten Nachdenken zu gehört. Statt jedoch in den Genuss solcher Annehmlichkeiten zu kommen, bemerkte Merenseth unter sich plötzlich eine Bewegung. Mit einem kurzen Blick versicherte sie sich, dass Karim noch immer in seinem Bett in den Armen von Isis lag und irgendetwas ziemlich Menschliches tat, dass bei nicht allzu genauer Betrachtung an die Fütterung von Vogeljungen durch deren Eltern erinnerte. Beruhigt wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen unter sich zu und beobachtete mit gerecktem Hals neugierig, wie sich eine Gestalt in einfacher, unauffälliger Kleidung gegen den heftiger werdenden Wind stemmte. Es war der vergebliche Versuch dieser Person gewesen, die Enden ihres Umhangs den Fängen der wütenden Böen zu entreißen, der Merenseth erst hatte aufmerksam werden lassen. Die Gestalt gab ihre erfolglosen Bemühungen schließlich auf, lediglich so gut es ging mit einer Hand den Umhang vor der Brust zusammenhaltend, während sie sich im Schutz der Hausmauern vom Palast entfernte, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen. Es war nicht nur die Merkwürdigkeit, dass es bei diesem unwirtlichen Wetter tatsächlich ein Palastbewohner für nötig befand die schützenden Mauern zu verlassen, die Merenseth veranlasste dem Mann zu folgen, sondern die Tatsache, dass es sich bei dem Mann um Sechemib handelte. Dank des Sturms war es nicht gerade einfach, dem durch die Gassen hastenden Priester zu folgen. Auch wenn der Sturm den Vorteil hatte, dass Merenseth sich keine Sorgen darüber machen musste, bemerkt zu werden. So war der Vogel nur zu froh, als Sechemib schließlich am Ende der Stadt ein kleines, unscheinbares Haus betrat, das von außen unbewohnt erschien. Lautlos und nicht darauf achtend, dass sie vom Sturm zerzaust wurde, während nun auch die ersten schweren Tropfen fielen, ließ sich Merenseth auf dem Dach des Hauses an der Stelle nieder, wo sich der Abzug für die Feuerstelle befand. Vorsichtig lugte der Benu über den Rand, bemüht nicht entdeckt zu werden und zugleich doch selbst so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Als sie sah, mit wem Sechemib sich in diesem Raum befand, trippelte sie nervös ein wenig auf dem Dach hin und her, mit sich ringend ob sie bleiben und abwarten oder sofort zu Seth fliegen sollte. Es würde ihn sicher interessieren, dass sich Sechemib mit dem Mann traf, der in der Nacht des Brandes Merenseth erfolgreich mit Pfeil und Speer attackiert hatte. Es war erstaunlich, dass es ihm gelungen war, dem Zorn des weißen Dämons zu entkommen und umso wichtiger, dass Seth davon erfuhr. Der Vogel entschied sich, vorerst abzuwarten und weiter zu beobachten, was geschah, bevor er in den Palast zurückkehren und Bericht erstatten würde. Was gesprochen wurde, konnte Merenseth nicht verstehen, da die beiden Männer in dem Haus nur leise murmelten, während der Sturm sich offenbar entschlossen hatte genau in diesem Moment so laut wie nur möglich zu heulen und zu toben, sodass Merenseth Mühe hatte sich auf dem Dach zu halten, wenn sie von einer besonders heftigen Böe getroffen wurde. Der Herr der Stürme hatte schon immer einen etwas seltsamen Sinn für Humor besessen. Die Unterredung der beiden Männer dauerte nicht lang und war augenscheinlich auch nicht sonderlich herzlich, wenn man die kühle Miene Sechemibs einerseits und die missmutige seines Gesprächspartners andererseits betrachtete. Schließlich schien alles Notwendige gesagt worden zu sein und Sechemib verließ das kleine Hause, sich wieder gegen den Sturm stemmend und in kürzester Zeit vom Regen durchnässt, während er in den Palast zurückkehrte. Merenseth folgte ihm zunächst ein kleines Stück, um zu sehen, wohin er ging. Dann kehrte sie jedoch zu der Hütte zurück, um die Verfolgung des anderen Mannes aufzunehmen. Aber obwohl sie nur für kurze Zeit fort gewesen war und sie das Gelände um die Hütte weitläufig absuchte, konnte sie weder in noch außerhalb des kleinen Hauses irgendeine Spur des Mannes entdecken, sodass sie die Suche schließlich ergebnislos abbrach und in den Palast zurückkehrte. Müde, nass und durchgefroren schlüpfte der Benu durch das Fenster in Seths Zimmer, eine dunkle Spur von Tropfen auf dem Boden hinterlassend, als er zu seiner Stange flog und sich darauf niederließ. Seth hatte bei der Ankunft des Vogels von seiner Schreibarbeit aufgesehen und sich in vorwurfsvollem Tonfall erkundigt: „Wo warst du so lange?“ Merenseth hob, so gut das bei ihrem völlig durchnässten Gefieder eben ging, konsterniert die Schopffedern. Was war das denn für eine Frage, er hatte sie doch losgeschickt zum Spionieren. „Du bist ja völlig durchnässt“, stellte der Junge unterdessen besorgt fest und erhob sich um ein Trockentuch zu holen. Natürlich war sie durchnässt, dachte Merenseth brummig und sich selbst bemitleidend. Hatte er vielleicht erwartet, dass sie bei dieser vom Himmel fallenden Sintflut trockenen Gefieders nach Hause kam?! Sie war ein Benu, kein überarbeiteter Gott, der seine angestauten Aggressionen in einem gewaltigen Unwetter entlud, um sich besser zu fühlen und der davon noch nicht mal nass wurde. Missmutig schmollend hatte sich der Vogel noch immer leise vor sich hin tropfend auf der Stange herumgedreht, Seth nun den Rücken zukehrend, um diesem so zu verstehen zu geben, dass sie im Moment keine Lust hatte ihm zu zuhören. Allerdings verflog die schlechte Laune Merenseths schlagartig, als sie zunächst fürsorglich mit einem Tuch abgetrocknet wurde und anschließend, in eines der Oberteile Seths gewickelt, in dessen Schoss saß und aus seiner Hand Körner zu fressen bekam. Zufrieden dachte Merenseth, dass der Aufenthalt in dem Unwetter doch nicht ganz umsonst gewesen war. Satt und mit einem behaglichen Gurren schmiegte sie sich schließlich näher an den angenehme Wärme ausstrahlenden Körper des Jungen und genoss das Gefühl von Geborgenheit. Während sie allmählich eindämmerte, beschloss sie, dass sie Seth erst am nächsten Tag von ihren Entdeckungen berichten würde. In dieser Nacht würde ohnehin nichts mehr geschehen und sie fühlte sich gerade viel zu wohl, als dass sie dieses Behagen durch eine Menschwerdung hätte schmälern wollen. Noch immer ein wenig besorgt über das mitgenommene Aussehen des Benus, hatte Seth den Vogel aufmerksam beobachtet und war schließlich erleichtert zu der Erkenntnis gelangt, dass Merenseth zwar von der Auseinandersetzung mit dem Sturm etwas erledigt war, sonst aber kein Grund zur Besorgnis bestand. So entspannte sich Seth wieder, während er begann gleichmäßig und beruhigend über das noch immer feuchte Halsgefieder des Benu zu streichen, in Gedanken der Frage nachhängend, was Merenseth herausgefunden haben mochte, dass sie sich derart lang in einem so heftigen Sturm herumgetrieben hatte. Klugscheißerei zum guten Schluß Neferti war einer von mehreren bedeutenden Dichtern am Hof Sesostris I. (Reg.-zeit: 1956 - 1911/10 v. Chr.) und soll Dank seiner "Prophezeiung" als bedeutender Weiser verehrt. Kapitel 20: Alles für die Katz ------------------------------ Als Seth am nächsten Morgen erwachte, gähnend blinzelte und sich aufsetzte, entdeckte er am Fußende seines Bettes ein zwölfjähriges Mädchen mit braunen Haaren, das ihn aufmerksam beobachtete. Es war ein wenig seltsam nach so langer Zeit Merenseth nicht nur wieder in ihrer menschlichen Gestalt zu sehen, sondern festzustellen, dass sie nun von ihrem Aussehen jünger als Seth selbst wirkte. Trotz dieses inzwischen doch wieder gewöhnungsbedüftigen Anblicks, spürte der Junge wie sein Herz einen freudigen Sprung machte, während sich unverfroren ein Lächeln in sein Gesicht stahl, obwohl er bemüht war betont gleichmütig festzustellen: „Du kannst dich also wieder verwandeln.“ Merenseth nickte nur, bevor sie ihrerseits mit einem schelmischen Lächeln erwiderte: „Und du noch immer nicht die Sprache der Benu.“ Seths Miene nahm bei diesen Worten einen abweisenden Ausdruck an, „ich habe auch so genug zu tun. Erzähl mir lieber, was du herausgefunden hast.“ Für einen Moment schwieg das Vogelmädchen und sah den Jungen nur prüfend an, als versuche es herauszufinden, warum er so empfindlich auf ihre Worte reagierte, dann jedoch erklärte es nur: „Karim hat bisher nichts getan, was ihn verdächtig machen würde. Aber ich habe Sechemib zusammen mit dem Anführer der Männer, die dein Dorf angegriffen haben, gesehen.“ „Welchen der Männer?“, hakte Seth mit gerunzelter Stirn nach und stellte, nachdem Merenseth ihn genauer beschrieben hatte, verwundert fest: „Er ist damals nicht von dem Dämon getötet worden?!“ „Nein, er lebt“, bestätigte das Vogelmädchen ruhig und fügte erklärend hinzu: „Er muss ein sehr starkes Schutzamulett getragen haben, vielleicht ist er ein Magier. - Oder er beherrscht selbst einen Dämon.“ Die letzte Möglichkeit schien Merenseth zu beunruhigen, war doch das Wesen, das in Kisaras Seele lebte, bereits sehr stark, wenn der namenlose Anführer nun ebenfalls über ein solches Wesen verfügte, musste es noch um ein Wesentliches mächtiger sein, wenn es ihn vor dem Zorn des Echsendämons so vollkommen beschützt hatte. Seth hatte bei den Erklärungen seines Benu erneut die Stirn gerunzelt, entschied jedoch, sich mit diesem Problem erst zu befassen, wenn es notwendig würde. Mit etwas Glück war er dann bereits selbst in der Lage Dämonen zu beherrschen und der Anführer der Mörder würde seine verdiente Strafe erhalten. Mit dieser Überlegung schob Seth den Gedanken an einen möglichen Dämon des Unbekannten vorerst beiseite und fragte Merenseth, ob sie wusste, was die Männer besprochen hatten und ob sie herausgefunden hatte, wo sich der Mann und seine Gefolgsleute aufhielten. Bedauernd schüttelte das Vogelmädchen den Kopf, während sie beide Fragen verneinte und anschließend erklärend hinzufügte: „Ich habe die Gegend gründlich abgesucht, nachdem ich sicher war, dass Sechemib in den Palast zurückkehren würde, aber weder in der Hütte, noch irgendwo sonst war der Mann aufzutreiben.“ Missmutig verzog Seth das Gesicht, in nachdenklichem Schweigen zunächst auf die dünne Decke seines Bettes starrend und anschließend auf den Fußboden, als würden diese ihm verraten können, wie sie doch noch herausfinden konnten, was sie wissen wollten. „Hast du in der Hütte nachgesehen, ob es einen geheimen Gang gibt?“ Als Merenseth diese Frage wiederum verneinte, entschied der Junge bestimmt: „Versuch es herauszufinden. Findest du keinen Gang, hat er die Nacht in der Stadt verbracht und sich hier irgendwo versteckt. Wenn das der Fall ist, müssten wir früher oder später denjenigen finden, der ihn versteckt hat.“ Sobald Merenseth zustimmend genickt hatte, fuhr Seth fort: „Es gibt noch etwas, das du für mich überprüfen musst. Ich habe die Militärlisten durchgesehen, es gibt vier Männer mit dem Namen Ninetjer in der Armee, zwei weitere werden als tot aufgeführt und einer arbeitet als Schreiber in Per Bastet.“ Bei der Erwähnung der Stadt war Unbehagen Merenseths Miene zu erkennen. Die Beziehung zwischen Vögeln und Katzen war mit dem Wort Freundschaft alles andere als passend umschrieben. Dass Seth nun offensichtlich verlangte, der Benu solle sich in der Stadt Bastets nach dem Schreiber Ninetjer erkundigen, ließ Merenseth unruhig werden, auch wenn sie sich den Wünschen des Jungen nicht widersetzen würde. Unterdessen hatte Seth weitergesprochen und erklärte in diesem Moment: „Das einzige Problem ist, dass wir nicht feststellen können, ob die beiden Toten auch tatsächlich tot sind.“ „Es lässt sich feststellen, überlass das mir“, erwiderte Merenseth lediglich, diesem Teil ihres Auftrages mit wesentlich leichterem Herzen entgegensehend als der Katzenstadt. Dieses Mal war es an Seth zustimmend zu nicken, bevor das Vogelmädchen zu bedenken gab: „Aber was ist mit der Überwachung von Karim? wenn ich die Hütte und diese Männer überprüfen soll, bleibt keine Zeit für ihn übrig.“ „Dass werde ich übernehmen“, erklärte Seth gelassen. Und da Merenseth ihn vollkommen überrascht anstarrte, berichtete er anschließend, was der Tjt ihm tags zuvor mitgeteilt hatte, seinen Bericht mit den abschließenden Worten zusammenfassend: „Das bedeutet, während du dich um den Gang und die Ninetjers kümmerst, werde ich Karim im Auge behalten.“ „Aber du kannst ihn nur überwachen, während du Unterricht bei ihm erhältst, den Großteil der Zeit wird er völlig unbeobachtet sein.“ „Das lässt sich nicht ändern“, erwiderte Seth mit ruhiger Bestimmtheit, „wenn du mit den anderen Sachen fertig bist und es Grund gibt Karim noch immer zu verdächtigen, können wir die Überwachung wieder aufnehmen. Aber bisher hat es keinen Hinweis darauf gegeben, dass er überhaupt etwas mit der Sache zu tun hat, sieht man von den Worten Sechemibs ab. Womit er anscheinend nur von sich selbst ablenken wollte.“ Bei seinen letzten Worten schwang verhaltener Zorn in Seths Stimme mit, während er eine Hand unwillkürlich zur Faust ballte, als er an den verräterischen Amunpriester dachte. Er hätte Akunadin gern vor dem Mann gewarnt, aber noch hatte er keinerlei Beweise für das, was Merenseth berichtet hatte und der Tjt hatte nur zu deutlich gemacht, was er von unausgegorenen Betrachtungen hielt. So würde Seth vorerst nur abwarten können, was bei den Nachforschungen des Benu zu Tage trat, während er nicht nur Karim sondern auch Sechemib im Auge behalten und beiden mit Vorsicht begegnen würde. Es war bereits später Vormittag als Merenseth schließlich im Inneren der kleinen Hütte stand, von deren Dach aus sie in der Nacht zuvor die beiden Männer beobachtet hatte. Da ein möglicher Geheimgang nach menschlichem Können angelegt wäre und nicht nach den Fähigkeiten eines Benu, hatte Merenseth erneut ihre Gestalt gewechselt, in der Hoffnung den Gang so leichter finden zu können, sollte er denn tatsächlich existieren. Allerdings war Merenseth trotz ihres Alters bisher nie auf die Benutzung eines Geheimganges angewiesen gewesen und so wusste sie nicht recht, wonach sie Ausschau halten sollte, um gerade jetzt einen zu entdecken. Unschlüssig stand sie eine zeitlang in dem einzigen Raum der kleinen Hütte, und betrachtete gründlich die Wände, ob sich dort vielleicht ein Hinweis finden ließe. Aber diese waren ebenso kahl und ohne jede Besonderheit, wie Dach und Boden des Häuschens. Lediglich auf dem Fußboden der Hütte zeichneten sich im Staub und dem herein gewehten Sand Fußspuren ab, die wohl von verschiedenen, heimlichen Besuchern stammten. Neben diesen Fußspuren gab es noch eine weitere Spur, die aussah als wäre etwas über den Boden geschleift worden. Das Seltsame an dieser Spur waren ihre Kürze und ihr abruptes Ende, exakt an dem Platz, an dem sich für gewöhnlich die Feuerstelle eines Hauses befand. Neugierig war Merenseth nähergetreten, um sich die Stelle genauer anzusehen und die dort eingelassenen Steine mit den Händen abzutasten. Steine in einer Hütte, deren Boden ansonsten aus gestampftem Lehmboden bestand, waren an sich schon ungewöhnlich. Wenn es sich um ein so kleines und ärmliches Haus handelte würde man eher eine schlichte Vertiefung im Boden erwarten, um das Feuer einzudämmen. In diesem Fall handelte es sich jedoch um vier sehr genau behauene und eingepasste Steine, von denen der rechte, direkt vor Merenseth liegende, durch die Zeit offenbar gelockert worden war. Er fügte sich nicht mehr so genau an die Kanten seiner beiden Nachbarn, wie es die restlichen Steine taten. Kurzerhand stellte sich das Vogelmädchen auf den linken der beiden Steine und bemühte sich anschließend den leicht verschobenen Stein noch etwas weiter zur Seite zu schieben. Doch obwohl es ihr als Vogel mühelos gelang Menschen auf ihrem Rücken zu tragen, besaß sie in Menschenform doch nicht mehr Kraft, als es einem Menschen, in ihrem Fall einem 12 jährigen Mädchen, eben zukam. Und so ließ sich der Stein auch nicht das kleinste Bisschen bewegen, gleichgültig wie sehr Merenseth sich auch bemühte. Schließlich gab das Vogelmädchen enttäuscht auf. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen, um diesen Stein von seinem Platz zu bewegen. Grübelnd sah sie auf die Steine hinab, ohne diese tatsächlich zu sehen. - In den Steinbrüchen Kemets müsste sich doch Werkzeug finden lassen, um ihren Versuchen größeren Nachdruck zu verleihen. Mit diesem Gedanken wandte sich Merenseth ab und verließ die Hütte. Erst als sie bereits mit kräftigen Flügelschlägen Richtung Osten flog, kam ihr in den Sinn, dass sich auch auf der Baustelle für das Grab Akunemkanons entsprechendes Werkzeug finden ließe. Also änderte sie ihren Kurs und landete bald darauf unbemerkt am Rande der riesigen Baustelle. Es gelang ihr ohne nennenswerte Anstrengungen oder Probleme in den Besitz einer Holzstange zu gelangen, die für den Transport und die Einpassung von Steinen verwendet wurde. Erst als sie sich bereits wieder in der Luft befand, bemerkten einige Arbeiter den Diebstahl des Vogels und starrten ihm verblüfft nach, ohne sich zu rühren. Merenseth war bereits kaum noch zu erkennen, als die Arbeiter doch wieder aus ihrer Starre erwachten und dem Benu hinterriefen, er solle die Stange gefälligst wieder zurückgeben, sie würde noch gebraucht. Zurück in der Hütte, verwandelte Merenseth sich wieder in einen Menschen, zwängte anschließend das abgeflachte Ende der Stange mit einiger Mühe in den Spalt zwischen die beiden Steinplatten und schob mit Hilfe dieses Hebels die Platte so weit zur Seite bis unter diesem tatsächlich ein mannstiefes Loch sichtbar wurde. Zögernd sah Merenseth in die dunkle Tiefe hinab. Der Gedanke dort hinunter zu steigen, um herauszufinden, ob sich am anderen Ende vielleicht tatsächlich ihr Mörder befand, war ihr alles andere als angenehm. Dennoch ließ sie sich letztendlich vorsichtig in die Grube hinab, gab es doch keinen anderen Weg die Wahrheit zu finden. Die Wände des Ganges, an dessen Ende Merenseth nun stand, waren sorgfältig gemauert worden. Offenbar war dieser Gang bereits vor einer ganzen Weile und auf lange Sicht angelegt worden. Das Vogelmädchen beschäftigte sich jedoch nicht weiter mit der Frage nach dem Warum, sondern tastete sich vorsichtig in das vor ihre liegende Dunkel, stets mit einer Hand eine der Wände berührend, um sich zumindest auf diese Weise ein wenig zu orientieren. Sie war bereits eine ganze Weile durch die dunkle Kühle gelaufen, als die rauen, leicht rissigen Lehmziegel unter ihren Fingern unerwartet verschwanden und sie ins Leere griff. Um festzustellen ob sie einen Abzweig erreicht hatte oder der Gang an dieser Stelle eingebrochen war, verwandelte sich Merenseth wieder in ihre Vogelgestalt, hatte sie als Vogel doch bei weitem eine bessere Nachtsicht als in Menschengestalt. Wie sich zeigte, handelte es sich tatsächlich um einen Abzweig, der sich bald darauf erneut gabelte und sich nur allzu bald zu einem wahren Labyrinth aus Sackgassen und Irrwegen entwickelte. Es war mühsam die Gänge als Vogel hinter sich zu bringen, da diese zu schmal waren, als das Merenseth darin hätte fliegen können. Hätte sie jedoch versucht in Menschengestalt das Labyrinth zu durchqueren, hätte sie auf ihre Nachtsicht ebenso verzichten müssen, wie auf die Fähigkeit mit Hilfe der erdeigenen Magnetfelder zu wissen in welche Richtung sie gerade lief. So wechselte sie schließlich immer wieder zwischen beiden Formen hin und her, um auf diese Weise so schnell wie möglich vorwärts zu kommen. Als sie jedoch schließlich den Ausgang erreichte, den der Unbekannte am vergangenen Abend vermutlich genommen hatte, fand sie nichts anderes mehr vor als die Spuren eines Lagers. Alles Bemühen doch noch herauszufinden, wohin es den Mann verschlagen haben mochte, blieben erfolglos. Die Wüste schien ihn ebenso verschlungen zu haben, wie Fußspuren im Sand. So blieb Merenseth nichts anderes übrig, als sich schließlich vorerst mit diesem enttäuschenden Ergebnis abzufinden und sich an die Erledigung ihrer weiteren Aufgabe zu machen, nachdem sie den Stein wieder über den Eingang geschoben und die Holzstange zur Baustelle zurückgebracht hatte. Der Benu beschloss den unangenehmen Teil der zweiten Aufgabe zuerst zu erledigen, je schneller sie die Stadt der Katzen hinter sich wusste, umso besser. Allerdings fingen die Probleme schon an, bevor Merenseth überhaupt in der Stadt selbst ankam. Sie wusste nicht viel mehr über denjenigen, den sie finden sollte, als dessen Namen und Arbeit. Die Suche nach ihm würde der nach einem Kiesel in der Wüste gleich kommen. Während der Vogel noch über die beste Lösung für dieses Problem nachdachte, hatte er sich unweit von Per Bastet in einem der im Nildelta üppig wachsenden Bäume niedergelassen und ließ sich von einer sanften Brise das Gefieder streicheln. Diese kleine Ruhepause wurde abrupt beendet, als eine Katze versuchte den Benu zu fangen. Da der Vogel jedoch mit etwas in dieser Art gerechnet hatte, gelang es ihm gerade noch rechtzeitig aufzufliegen, anschließend mit einem verärgerten Trillern ihre Jägerin zurechtweisend sie gefälligst in Ruhe zu lassen. Die Katze ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken, putzte sich stattdessen das ein wenig in Unordnung geratene, sandfarbene Fell und erkundigte sich dann mit einem beiläufigen Mauzen: ‚Was willst du hier?’ ‚Etwas überprüfen’, lautete die knappe Antwort Merenseths, während sie bereits Anstalten machte davonzufliegen. ‚Vielleicht bin ich ja in der Lage dir zu helfen’, schnurrte die Katze darauf träge, während sie es sich auf dem Ast, offenbar in Erwartung eines längeren Gesprächs, bequem machte. Merenseth war von diesen Worten verblüfft genug, dass ihr die misstrauisch getschilpte Frage entfuhr: ‚Warum solltest du das tun?’ Katzen waren nicht gerade für ihre Selbstlosigkeit bekannt, erst recht nicht, wenn sie aus Per Bastet stammten. ‚Weil du mich dafür etwas von deinem Fleisch kosten lässt’, erwiderte die Katze mit einem genüsslichen Schnurren auf Merenseths Frage und erreichte damit, dass der Vogel vor Zorn erneut trillerte, bevor er mit wenigen Flügelschlägen an Höhe gewann und in Richtung Stadt davon flog. Mit halbgeschlossenen Augen sah die Katze dem Benu hinterher, ohne sich zu rühren. Erst als Merenseth bereits die schützenden Mauern der Stadt hinter sich gelassen hatte, erhob sich die Katze, streckte sich lang und gründlich und nahm anschließend gemächlich die Verfolgung des Vogels auf. Bastet hatte ihr zwar befohlen dem Benu bei dessen Aufgabe zu helfen, aber niemand hatte ihr verboten vorher ein wenig mit dem Vögelchen zu spielen. Unterdessen war Merenseth, noch immer über die Dreistigkeit der Katze ungehalten, in der zunehmenden Dunkelheit des Abends mehrere Kreise über der Stadt geflogen, sowohl um sich zu beruhigen, als auch um nach Schreiberwerkstätten Ausschau zu halten. Bei ihrer Suche hatte sie drei solcher Orte entdeckt, die zu verschiedenen Tempeln gehörten sowie zwei, die offenbar unabhängig bestanden. Es gelang Merenseth die drei kleinsten der fünf Schreibstuben noch am Abend mit negativem Ergebnis von ihrer Liste zu streichen. Die drei übrigen konnte der Vogel erst nach einer unruhigen Nacht, in der er ständig auf der Hut vor streunenden, hungrigen Katzen sein musste, überprüfen. Zum Leidwesen des Vogelmädchens fehlten an diesem Tag einige der Schreiber, die entweder krank waren oder außerhalb Aufträge zu erledigen hatten. Auf ihre Nachfragen erhielt Merenseth zwar letztendlich stets Antwort, musste sich im Gegenzug aber einige misstrauische Fragen und skeptische Blicke gefallen lassen, offenbar war jemand der sich für verkrüppelte Schreiber interessierte inzwischen ein äußerst verdächtiges Subjekt, erst Recht, wenn es um Schreiber mit militärischer Vergangenheit ging. Ein wenig verstimmt saß Merenseth schließlich wieder in Vogelgestalt auf einem der flachen Hausdächer gegenüber der letzten Schreibwerkstatt, die sie überprüft hatte. In dieser gab es zwar einen Schreiber dessen linke Hand verkrüppelt war, was ihr zunächst Hoffnung gemacht hatte, aber weder hieß der Mann in irgendeiner Form Ninetjer noch war er je beim Militär gewesen. Während der Vogel in Gedanken darüber brütete, wie der Schreiber Ninetjer doch noch aufzutreiben war, schlenderte langsam die sandfarbene Katze heran, die Merenseth vor der Stadt aufgelauert hatte und ihr anschließend unauffällig durch Per Bastet gefolgt war, den Vogel bei seinem Tun interessiert beobachtend und während der Nacht immer wieder aufschreckend, ohne sich dem Vogel weit genug zu nähern, dass dieser die Katze bemerken konnte. Nachdem es sich die Katze neben Merenseth bequem gemacht hatte, schnurrte sie in provokantem Tonfall: ‚Probleme?’, während sie scheinbar völlig desinteressiert das Treiben auf der Straße unter ihnen verfolgte. Verärgert über diesen penetranten Quälgeist tschilpte Merenseth auf und trippelte demonstrativ einige Schritte zur Seite, um den Abstand zwischen sich und der Katze zu vergrößern. Davon unbeeindruckt philosophierte diese mit einem leisen Mauzen plötzlich das Thema wechselnd: ‚Sieh sie dir an, diese Menschen. Nichts anderes im Kopf als Arbeit und Reichtum. Und dabei halten sie sich noch für die Herrn der Welt, weil sie Lehmklumpen aufeinander schichten können. Ameisen und Termiten errichten seit so viel längerer Zeit riesige Gebäude, hast du sie je Geschrei darum machen hören?’ ‚Ich habe auch noch nie eine Katze gehört, die sich darüber beschwert hat, von Menschen versorgt zu werden’, erwiderte der Benu kühl, bemüht die Katze los zu werden. Diese jedoch blieb von der offen zur Schau gestellten Abneigung völlig unberührt: ‚Ah, du meinst ich hätte kein Recht über sie zu urteilen, weil ich von ihnen lebe. Aber nur weil sie nützlich sind, muss ich ihnen noch lange keine Achtung entgegen bringen.’ ‚Stattdessen hältst du dich ihnen für überlegen, weil du im Stande bist dein eigenes Hinterteil zu lecken’, konterte Merenseth in ihrer Verärgerung gar nicht bemerkend, wie der Schwanz ihrer Gegnerin erheitert und zufrieden mit der Reaktion des Vogels durch die Luft tanzte. ‚Oh so besonders ist das gar nicht, du kannst es doch auch’, schnurrte die Katze sanft, legte dann eine kunstvolle Pause ein und ergänzte boshaft: ‚Oder könntest es, wenn du nicht so schrecklich entstellt wärst’, dabei demonstrativ auf den Schnabel des Benu sehend. Bevor Merenseth jedoch dazu kam ihrer Empörung Luft zu machen oder auf und davon zu fliegen, wechselte die Katze erneut abrupt das Thema und maunzte: ‚Wenn du dich so für Schreiber interessierst, könnte ich dir sagen, wo du noch einen findest.’ ‚Ich war bereits bei den anderen Möglichkeiten’, erwiderte Merenseth mit einem ablehnenden Tschilpen. ‚Aber nur im Stadtinneren’, konterte die Katze gelassen, erhob sich ein wenig widerwillig von ihrem angenehm warmen Platz und befahl: ‚Komm, ich zeige dir, wo du deinen verkrüppelten Schreiber findest.’ Misstrauisch blickte Merenseth zu der Katze hinüber, woher wusste die, wen sie suchte und warum wollte sie ihr auf einmal helfen? Die Katze blieb davon völlig unberührt, denn sie erklärte lediglich über die Schulter hinweg: ‚Wenn du glaubst ohne mich besser dran zu sein, vergeude nur weiter deine Zeit mit nutzlosen Versuchen.’ Im nächsten Moment war sie auch schon mit einem eleganten Sprung auf der Straße gelandet und spazierte mit hoch erhobenen Schwanz davon, ohne noch einen Blick zurück zu werfen. Unschlüssig sah Merenseth der davon schlendernden Katze hinterher, bevor sie doch entschied es auf den Versuch ankommen zu lassen und ihrer Feindin folgte. Im Hafen der Stadt angekommen, machte es sich die vierbeinige Führerin Merenseths erneut auf einem Dach bequem, von dem aus man einen guten Blick auf ein einfaches Haus hatte vor dem sich zwei Männer gegenüber saßen und in ein Sennetspiel vertieft waren, und erklärte dem sich gleich darauf neben ihr niederlassenden Benu: ‚Der Mann mit nur einem Bein ist der Schreiber. Der andere ist sein Bruder, er handelt mit Fischen.’ ‚Ist er wirklich Schreiber?’, Merenseths Tschilpen klang mehr als nur misstrauisch. Der Mann dort unten, machte zwar den Eindruck als wüsste er mit einer Streitaxt umzugehen, aber nicht wie er einen Schreibpinsel zu halten hätte. ‚Er kann schreiben. Aber eigentlich ist er weniger ein Schreiber, als vielmehr ein Zähler. Deshalb verdient er weniger als die Schreiber in der Stadt, es reicht wohl gerade so zum Leben.’ Das Mauzen der Katze klang gelangweilt, während sie mit einer gewissen Gier beobachtete, wie ein noch Katzenjunges sich an einem Fischkopf gütlich tat. ‚Weißt du wie der Schreiber heißt?’, wollte Merenseth unterdessen wissen, während sie interessiert die beiden Männer beobachtete, die schweigend auf das Spielbrett zwischen sich sahen und nur gelegentlich eine Bemerkung von sich gaben, wenn sie einen ihrer Spielsteine verschoben oder wenn die geworfenen Astragale eine besonders hohe Anzahl von Zügen gestatteten. ‚Die Menschen nennen ihn Ninetjerserech, wir nennen ihn Menechau’, erwiderte die Katze, bevor sie plötzlich aufsprang, ihre junge Rivalin vertrieb und mit dem Fischkopf im Maul zu Merenseth zurückkehrte, es sich wieder bequem machte und begann zufrieden auf ihrer Beute herumzukauen. Ohne auf das Geschehen einzugehen, erkundigte sich Merenseth lediglich: ‚Weißt du, ob er beim Militär war?’ ‚Ja’, maunzte die Katze als Antwort, nachdem sie ein Stück Fisch gierig heruntergeschlungen hatte, ‚sein Bein wurde im letzten Menschenkrieg von einem durchgehenden Pferd zertrümmert. Nachdem es ihm abgenommen wurde, ist er entlassen worden und hierher zu seinem Bruder gekommen.’ ‚Woher weißt du das alles, wenn du Menschen doch für so minderwertig hältst?’, wollte Merenseth neugierig wissen und erhielt als Antwort: ‚Im Gegensatz zu Menschen sind wird Katzen sehr gute Zuhörer.’ ‚Du hast ihn also belauscht’, stellte der Vogel sachlich fest, worauf die Katze nur wegwerfend erwiderte: ‚Als ob sich das lohnen würde…’ Da es nicht den Anschein hatte, als würde dieses Gespräch noch zu irgendetwas führen, kehrte Merenseth zu dem für sie wichtigeren Thema zurück: ‚Kannst du mir sagen, ob er immer wieder für längere Zeit die Stadt verlässt?’ Sie hielt es zwar für unwahrscheinlich, aber es konnte nicht schaden sicher zu gehen. ‚Wie sollte er das mit einem Bein wohl anstellen?’, lautete denn auch die wegwerfende Antwort der Katze, der sie die Worte hinzufügte: ‚Aber wenn er einfach verschwinden würde, gäbe es in dieser Stadt ein ziemliches Katzengeschrei.’ Damit konnten sie Merechau von der Liste der Verdächtigen wohl streichen, entschied Merenseth und spannte bereits die Flügel, um die Stadt der Katzen möglichst schnell hinter sich zu lassen, als sie plötzlich von dem Gewicht eines durchtrainierten Katzenkörpers auf das Dach nieder gedrückt wurde und an ihrem Ohr ein gefährlich leises Schnurren vernahm: ‚Nicht so hastig, Vögelchen, vergiss nicht, dass ich noch etwas von deinem Fleisch als Gegenleistung bekomme. – Bei Pfauen ist das Brustfleisch besonders zart, ich bin gespannt wie deines schmeckt. Obwohl da ja nicht viel zu holen ist, aber das macht eine Delikatesse wohl aus…’ Im ersten Moment war Merenseth zu überrascht gewesen, um reagieren zu können, dann jedoch wurde sie wütend, was bildete sich diese Katze eigentlich ein?! In Sekundenbruchteilen wuchs der Körper des Benu um mehr als das Doppelte, sodass das Bemühen der Katze den Vogel niederzuhalten nun nur noch lächerlich wirkte. Doch statt verängstigt zu sein, schien es lediglich als würde sich ein Grinsen im Gesicht der Katze breit machen, während sie erklärte: ‚Wie nett von dir, dafür zu sorgen, dass ich mehr zu beißen bekomme.’ Verärgert pickte Merenseth mit ihrem Schnabel nach dem Kopf der Katze, um diese endlich los zu werden und die Stadt verlassen zu können. Die Katze wich dem Schnabel jedoch mühelos aus, leckte plötzlich mit ihrer rauen Zunge über den Vogelkopf und schnurrte: ‚Wirklich schade, dass du nicht zum Essen bleiben kannst.’ ‚Du stinkst nach totem Fisch’, tschilpte Merenseth zornig, während sie sich wieder verkleinerte, nachdem die Katze unerwartet von ihr abgelassen hatte. Die Beschuldigte warf dem Vogel nur einen vielsagenden Blick zu und schnurrte belustigt: ‚Was du nicht sagst’, bevor sie sich wieder demonstrativ über die Reste des Fischkopfs hermachte. ‚Katzen!’, dachte Merenseth ungehalten, während sie ihr Gefieder in Ordnung brachte. Irgendwann würde sie wegen diesen Tieren noch einmal eine Schockmauser erleiden! Mit einem für einen Vogel äußerst menschlichen Seufzer, die Katze neben sich mit vollkommener Nichtachtung strafend, spannte Merenseth erneut ihre Flügel und verließ dieses Mal ungehindert Per Bastet in Richtung Chemenu. Der Mond war gerade am Horizont aufgegangen, als Merenseth das innerste Heiligtum des Tempels betrat, der dem Gott Thot geweiht war. Der Boden des Raumes bestand aus dem großflächigen Relief einer Monduhr, mit deren Hilfe Mondphasen, Monate und Jahreszeiten bestimmt wurden. Da die Decke des Raumes zum Großteil fortgelassen worden war, konnte das Licht des Mondes ungehindert in den Raum dringen und tauchte diesen mit Hilfe der aus Alabaster bestehenden Wände in ein mattes, unwirklich scheinendes Licht. Der Benu hatte kaum den Boden berührt und die Flügel zusammengefaltet, als auch schon einer der im Tempel lebenden Paviane langsam und schwerfällig den Raum betrat, sich mit ruhiger Gelassenheit im Zentrum des Raumes niederließ und den Vogel schweigend aus dunklen, unergründlichen Augen anstarrte. Ohne Furcht und ohne sich zu bewegen erwiderte Merenseth den starren Blick des Pavians. Alles andere ausblendend, sich nur auf diese zwei feucht schimmernden, dunklen Punkte in dem rötlichgrauen Gesicht konzentrierend, hatte sie nach kurzer Zeit das Gefühl als würde sie von der unergründlichen Tiefe der Affenaugen in einem heftiger werdenden Strudel aufgesaugt, mitgerissen werden. Ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, endete dieses Gefühl wieder, standen Zeit und Welt für einen Augenblick still, während der Herr der Zeit dem Benu einen Blick in die Vergangenheit gewährte. Auf die leblosen Körper zweier ägyptischer Soldaten, deren Ba aus den leicht geöffneten Mündern entwich. Auf der Stirn trug jeder der Männer eine Kartusche mit seinem Namen. So wie das Ba aus den toten Körpern wich, verblassten die Schriftzeichen auf den Stirnen der Männer und hinterließen nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass es sie je gegeben hatte. Es blieb Merenseth nur gerade so viel Zeit die Namen der beiden Toten zu entziffern, bevor die Vision endete und sie wieder in die wissenden Augen des alten Pavians sah, der sich nun wieder erhob und langsam den Raum verließ, ohne den zurückbleibenden Vogel noch eines Blickes zu würdigen. Der Benu blieb regungslos auf seinem Platz bis die Erfurcht gebietende Gestalt des Pavians vollkommen verschwunden war. Erst dann verließ auch der Vogel den Raum, dieses Mal das Zimmer eines jungen Priesterschülers im königlichen Palast als Ziel. Wieder erwachte Seth gähnend und blinzelnd, sich mühsam aufrichtend und im nächsten Moment missmutig das Gesicht verziehend. Er hatte am vergangenen Tag seine erste Unterweisung im Umgang mit dem Schwert erhalten und als Zugabe einen ausgewachsenen Muskelkater. Inzwischen war er mehr als nur davon überzeugt, dass es weit intelligenter war mit Worten zu kämpfen, statt mit überproportionierten Obstmessern. Nichts desto trotz würde er eher sterben, als dass er die überlegene Herablassung Mahaados auf sich sitzen lassen würde, mit der dieser sich tags zuvor gebrüstet hatte. Was um alles in der Welt hatte Karim gestochen ausgerechnet diesen Idioten zu Seths Trainingspartner zu bestimmen? Dank seines Muskelkaters und der Erinnerungen an seine erste Übungsstunde schlecht gelaunt, grummelte Seth vor sich hin, während er sich unwirsch die Haare aus dem Gesicht strich und gleichzeitig mit den Füßen nach seinen Schuhen tastete. Dass er diese nicht gleich fand, ließ ihn nur noch heftiger vor sich hin fluchen. Seine halblaute Tirade fand ihr plötzliches Ende als ein kurzes, verschlafenes Tschilpen zu hören war, dem es gelang äußerst vorwurfsvoll zu klingen. Merenseth war erst kurz vor Sonnenaufgang in das Zimmer Seths zurückgekehrt und zu ihrem Leidwesen Albträume von Benu fressenden Katzen durchleben müssen. So stand ihre Laune an Unerfreulichkeit der von Seth nur sehr wenig nach. Für einen Augenblcik musterten sich Junge und Vogel mit giftigen Blicken, als wollten sie im nächsten Moment auf einander losgehen. Das Seltsame war nur: Je länger sie einander abschätzend anstarrten, umso komischer kam ihnen die Situation vor und umso heftiger wurde der Drang zu lachen. Eine verwirrende Erfahrung, da Vögel im Allgemeinen nicht lachen können und Seth absolut keine logische Begründung für diesen plötzlichen Heiterkeitsdrang einfallen wollte. Als Merenseth jedoch vorgab plötzlich bewusstlos von der Stange zu fallen und Seth sie gerade noch so auffangen konnte, war es um die Beherrschung des Jungen endgültig geschehen. Er lachte los. Aber noch während er auf dem Boden sitzend glucksend das Gesicht im Gefieder des Benu barg, begannen ihm plötzlich Tränen über das Gesicht zu laufen. „Lass uns von hier verschwinden, Meren. Wir fliegen zu Mukisanu und machen unsere eigene Bande auf. Was meinst du?“, murmelte Seth heiser den Federn des Vogels zu, den er fest an sich gedrückt hielt. „Soll doch irgendjemand anders Kemet retten, Mutter wird davon auch nicht wieder lebendig.“ Schützend breiteten sich glutfarbene Flügel um die schmalen Schultern Seths, während Merenseth zugleich tröstend ihren Kopf auf die Schulter des Jungen legte, dicht an seinem Hals, und sich ein wenig enger an ihn schmiegte. Sie wünschte, das, was sie herausgefunden hatte, wäre dafür geeignet gewesen Seth Mut zu machen. So würde es ihn nur in der Überzeugung bestätigen, dass sämtliche Anstrengungen bisher umsonst gewesen waren und es sinnlos wäre sich noch weiter mit der Unmenge an Aufgaben herumzuschlagen, die ihn langsam und allmählich zermürbten. Doch das Einzige, was sie tun konnte, war den Moment, in dem sie ihm sagen würde, was sie herausgefunden hatte, hinauszuzögern und zu versuchen ihn zu trösten. Es dauerte eine Weile, bis Seth sich wieder beruhigte und sich verlegen über das Gesicht wischte, in dem vergeblichen Versuch die verräterischen Spuren für seine Schwäche zu beseitigen. Merenseth gab ein aufmunterndes Tschilpen von sich, bevor sie den Jungen energisch an einer Haarsträhne zupfte und ihn auffordernd betrachtete. „Schon gut, ich reiß mich ja schon zusammen“, nuschelte Seth noch immer verlegen, was ihm allerdings nur eine schmerzende Nase einbrachte, als Merenseth diese wieder einmal mit ihrem Schnabel traktierte offenbar mit der Reaktion Seths unzufrieden. „Lass das!“, befahl der Junge verärgert, während er sich die schmerzende Nase rieb und fügte ein wenig maulend hinzu: „Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass du dich als Vogel nicht vernünftig ausdrücken kannst.“ Wäre es Merenseth möglich gewesen, hätte sie in diesem Moment entnervt die Augen verdreht, so flog sie lediglich die kurze Strecke zum Bett des Jungen ließ sich darauf nieder und saß wenige Augenblicke später in Menschengestalt da. Mit einem Seufzen rappelte sich Seth vom Boden auf und nahm kurz darauf ebenfalls auf dem Bett Platz, während er fragte: „Also, was hast du herausgefunden?“ Nachdem er sich Merenseths Bericht angehört hatte, schwieg Seth einen Moment und stellte anschließend fest: „Wir sind also wieder genau da, wo wir angefangen haben.“ „Nicht ganz“, widersprach Merenseth, „wir wissen jetzt, dass der Anführer der Brandstifter überlebt hat, was eigentlich nur heißen kann, dass er entweder ein sehr mächtiger Magier ist oder im Besitz eines sehr starken Dämons. Außerdem wissen, wir, dass dieser Mann mit Sechemib bekannt ist.“ Seth hatte mit gerunzelter Stirn zugehört und erwiderte: „Aber wir haben trotzdem nichts in der Hand, das uns irgendwie weiterhilft. Wir können nur stillsitzen, abwarten, was als Nächstes passieren wird und hoffen, dass wir es rechtzeitig bemerken, damit es uns irgendwie weiterhilft.“ Merenseth fiel darauf keine passende Erwiderung ein und so herrschte einen Moment gedrücktes Schweigen zwischen den Beiden, bevor Seth entschlossen durchatmete, sich ein wenig aufrechter hinsetzte und bestimmt erklärte: „Wie auch immer. Wir müssen noch die vier aktiven Ninetjers überprüfen und Karim können wir auch noch nicht völlig von der Liste streichen. Wenn er so dumm wäre, dass wir ihm schon nach drei Tagen auf die Schliche kämen, hätte ihn der Tjt sicher schon überführt und festnehmen lassen.“ „Also soll ich ihn weiter beobachten?“, hakte Merenseth nach und erhielt darauf zur Antwort: „Ruh dich erstmal aus“, während sich der Seth bereits erhob, um sich den Pflichten eines weiteren Tages zu stellen. Kapitel 21: Treue und Intrige ----------------------------- Dieses Mal gibt es die Erklärungen ausnahmsweise vorweg, um möglichen Verständnislosigkeiten während des Lesens vorzubeugen. Eine Woche umfasste im alten Ägypten 10 Tage, Fliegen galten zu jeden Zeiten als Zeichen der Tapferkeit und wurden in Form von Orden an Soldaten verliehen bzw. dienten in Form von Kettengliedern als Amulette. Das Isisblutsymbol sah aus wie eine verknotete Schlinge und war im Ursprung vermutlich der Gürtelknoten von Göttergewändern, und wurde ähnlich dem Henkelkreuz (= Hieroglyphe für Leben) als Amulett getragen. Eine richtige Hochzeitszeremonie gab es zu jener Zeit auch nicht, wenn ein Paar zusammen zog galt es als verheiratet und die Sache war erledigt, ich nehme aber an, dass sie auch schon zu jener Zeit gern Feste gefeiert haben und da ein General nicht gerade unbedeutend war, werden sie dessen neue Häuslichkeit vermutlich gründlich begossen haben. Es zeigte sich, dass auch keiner der verbliebenen vier Söldner mit der Quittung oder Seths Dorf in Verbindung zu bringen war. Ebenso wenig ließ sich nachweisen, dass Karim in irgendeiner Weise an den Überfällen auf die Dörfer war und auch Sechemib gab keine weiteren Hinweise darauf in welcher Beziehung er zu dem Mörder aus der Brandnacht stand. Drei Jahre lang verliefen alle Bemühungen Seths und seines Benu irgendetwas Genaueres über den Angriff auf Seths Dorf herauszufinden buchstäblich im Sand. Unterdessen kam es immer wieder zu erneuten Übergriffen auf Dörfer und Karawanen, die keinerlei Muster erkennen ließen und es so unmöglich machten sie vorherzusagen und vielleicht zu verhindern. Zwar war die Zahl der Überfälle auf unerklärliche Weise geringer geworden, aber die Unfähigkeit des Königs die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten, sorgte dennoch für Unmut bei den Bewohnern Kemets. Sie fühlten sich ausgeliefert und im Stich gelassen, während zugleich immer wieder Gerüchte kursierten, die behaupteten Soldaten wären für diese Übergriffe verantwortlich, und der Herrscher unterdessen nichts Besseres zu tun hatte als die Armee zu hofieren. Allerdings gab es auch eine nicht geringe Zahl von Menschen, die das Vorgehen Akunemkanons gut hießen und immer wieder darauf hinwiesen, dass die Armee nicht für die Taten Entlassener verantwortlich zu machen sei. Viel schlimmer sei die immer wieder aufgedeckte Korruption von Beamten, die häufig genug in den Diensten Amuns standen, sodass Forderungen laut wurden auch die Priesterkaste müsse grundlegend reformiert werden. Diese Aufteilung in Fürsprecher und Gegner der Armee oder der Amunpriesterschaft setzte sich auch im Palast fort. Die einen standen auf Seiten des Tjt, die andern auf Seiten Karims und jeder verstand es jeweils hervorragend die Fehler und Vergehen der anderen Seite zu bemerken, aufzuzählen und für ihre Zwecke zu verwenden. Sowohl der Tjt als auch Karim bemühten sich unterdessen nach außen hin, wenn auch keine Freundschaft, so doch zumindest einmütigen Waffenstillstand zu demonstrieren. Bestrebt das Wohlwollen Akunemkanons nicht unbedacht aufs Spiel zu setzen. Eines Tages schien es jedoch, als würde sich das äußerst fragile Gleichgewicht zwischen den beiden engsten Beratern des Königs zu Ungunsten Karims verschieben und Akunadin aus dem stillen Machtkampf als Sieger hervorgehen. Es war früher Nachmittag, wenige Tage vor Seths Abschluss der Priesterausbildung. Auf dem Trainingsgelände der Soldaten übten sich einmal mehr Mahaado und Seth im Schwertkampf, unter den aufmerksamen Augen Karims und Merenseths. Seth war bei weitem nicht mehr so ungeschickt im Umgang mit dieser Waffe wie zu Beginn seiner Lehrzeit, es war ihm sogar gelungen Mahaado so etwas wie widerwilligen Respekt für seine Leistungen abzutrotzen. Übermächtiges Vergnügen bereitete ihm diese Art des Kampfes dennoch nicht. So war er auch nicht sonderlich ungehalten darüber, als Mahaado mitten in einem Scheinangriff plötzlich innehielt und besorgt in Richtung des Palastes sah, von wo in diesem Moment Isis herbeigelaufen kam. Die Besorgnis Mahaados war nur zu verständlich, wenn man berücksichtigte, dass Isis, die normalerweise stets ein sehr würdevolles und beherrschtes Auftreten an den Tag legte, in diesem Moment äußerst würdelos in größter Hast auf sie zu rannte, mit einem Gesichtsausdruck, den man nicht anders als panisch bezeichnen konnte. Sie war kaum neben Karim stehen geblieben, als sie auch schon nach Atem ringend hervorstieß: „Sie haben die Kette gefunden!“ „Welche Kette und wer hat sie gefunden?“, erkundigte sich Karim mild, seiner Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter legend, während gleichzeitig Mahaado und Seth unaufgefordert nähertraten, um ebenfalls zu erfahren, was geschehen war. „Sechemib und seine Leute. Sie haben in dem Dorf bei Gebtiu die Kette gefunden, die ich dir zur Hochzeit geschenkt habe.“ Auf diese Erklärung Isis’ herrschte für einen Moment betroffenes Schweigen. Unauffällig warf Seth seinem Benu einen kurzen Blick zu, während er sich fragte, ob er und Merenseth die Observierung Karims womöglich doch zu früh abgebrochen hatten. Es war Mahaado, der das Schweigen schließlich beendete, indem er sich bei seiner Schwester erkundigte: „Bist du sicher? Vielleicht hast du irgendetwas falsch verstanden.“ Isis schüttelte vehement den Kopf, während sie gleichzeitig erklärte: „Ich bin sicher. Sechemib erstattet gerade dem König Bericht.“ Noch bevor einer der drei Männer darauf reagieren konnte, näherten sich auch schon zwei Palastwachen und ein Diener der kleinen Gruppe. Höflich erklärte der Dienstbote dem General, dass der König ihn und seine Frau zu sprechen wünsche, während die beiden Wachen den Diener schweigend flankierten und ihnen die Situation alles andere als angenehm zu sein schien. Karim nickte auf die Worte des Dieners lediglich und forderte ihn anschließend auf voranzugehen, während er tröstend Isis Hand ergriff und das Paar gleich darauf dem Diener in den Palast folgte, von den erleichtert wirkenden Wachen eskortiert. Die unbeachtete Nachhut dieser kleinen Prozession bildeten in ungewohnter Eintracht Mahaado und Seth. Auch als sie schließlich als Letzte den Raum betraten, in dem sich bereits der König, Atemu, der Tjt und Sechemib befanden, achtete niemand auf sie. Während der Kronprinz seinen Freunden aufmunternd zulächelte, in dem Versuch ihnen Mut zu machen und ihnen so zu versichern, dass alles gut werden würde, trug Akunadin eine Miene kühler Ausdruckslosigkeit zur Schau, zeigte der Amunpriester sich von unterwürfiger Aufmerksamkeit und schien Akunemkanon über das, was er gehört hatte, aufrichtig bekümmert zu sein. Dennoch begann er mit ruhiger Beherrschung Fragen an Karim und Isis zu richten, sobald sich niemand mehr außer den acht genannten Personen im Raum befand. „Ihr wisst, dass vor drei Wochen wieder ein Dorf überfallen wurde?“ Sowohl Isis als auch Karim bestätigten die königliche Frage mit höflicher Zustimmung. „Und ihr wisst ebenfalls, dass der Priester Sechemib beauftragt wurde diese Sache zu überprüfen.“ Wieder bestätigten die Beiden die Feststellung des Königs, worauf für einen kurzen Moment lastende Stille eintrat, während der Herrscher nach einem unauffälligen Holzkästchen griff, das auf einem kleinen Tisch neben seinem Stuhl stand. Nachdem er das flache Kästchen geöffnet hatte, hielt er es dem Ehepaar entgegen. „Erkennt ihr das wieder?“, verlangte Akunemkanon gleich darauf zu wissen, während er prüfend die Gesichter des Paares betrachtete. Bei dem Gegenstand, der sich in dem Kästchen befand, handelte es sich um eine aus breiten, quadratischen Goldgliedern geschmiedete Kette. Den Mittelpunkt und Blickfang dieser Kette bildeten zwei goldene Fliegen, die zwischen ihren Vorderbeinen eine stilisierte Lotosblüte trugen, in deren Mitte das Isisblutsymbol zu sehen war. Es hätte keinen Zweck gehabt zu leugnen, worum es sich bei diesem Schmuckstück handelte, zu viele Menschen hatten es am Tag der Hochzeit und auch danach bewundernd betrachtet. Scheinbar unbewegt und gelassen hatte Karim die Kette betrachtet, während Isis äußerst angespannt und besorgt wirkte, Beide nickten jedoch in schweigender Bestätigung auf die Frage Akunemkanons. Dieser seufzte leise während er den Holzkasten schloss und wieder zu Seite stellte, sich anschließend in neutralem Tonfall erkundigend: „Könnt ihr mir eine glaubhafte Erklärung dafür geben, dass diese Kette in der Hand eines toten Dörflers gefunden wurde?“ Da sowohl Isis als auch Karim darauf nur betroffen schwiegen, gab Atemu an ihrer statt Antwort auf die Frage seines Vaters: „Es könnte sich um ein Duplikat handeln. Immerhin ist es doch möglich, dass auch andere Menschen als Isis auf eine solche Idee kämen.“ Akunemkanon nickte daraufhin nachdenklich, während er weiter die beiden Verdächtigen betrachtete. Gleichzeitig erwiderte der Tjt auf die Worte seines Neffen ruhig: „Wenn dem so ist, wird einer der Beiden uns sicher die in ihrem Besitz befindliche Kette zeigen können und diese Angelegenheit umgehend aufklären.“ Wieder nickte der König bei dieser Äußerung und sah abwechselnd erwartungsvoll Karim und Isis an, zugleich auffordernd nachhakend: „Nun? Könnt ihr uns eure Kette zeigen?“ „Verzeih, Majestät“, erwiderte Isis darauf leise, mit gesenktem Blick, „aber die Kette wurde gestohlen, während wir in Gebtiu waren.“ „Dann wurde sie mit Absicht gestohlen und in das Dorf gebracht, um euch zu schaden“, stellte Mahaado mit nur mühsam unterdrückter Erregung fest. „Das wäre natürlich möglich“, konterte wiederum Akunadin gelassen, „aber es ist schon ein erstaunlicher Zufall, dass jemand genau dann die Kette stiehlt, wenn sich deren Eigentümer nur einen halben Tagesritt von dem überfallenen Dorf entfernt aufhalten.“ „Es war kein Geheimnis, dass wir diese Reise unternehmen würden. Jeder hätte etwas Entsprechendes planen können, wenn er nur entschlossen dazu gewesen wäre“, gab Isis nun zu bedenken. „Du bist also der Ansicht, dass jemand aus dem Palast für die Zerstörung der Dörfer verantwortlich ist“, mischte sich nun auch wieder Akunemkanon in die Debatte, „das wäre Hochverrat!“ „Es muss nicht jemand aus dem Palast sein, es kann auch jemand sein, der Verbündete unter den Palastbewohnern oder den Bediensteten hat“, lenkte Isis vorsichtig ein. Immerhin gehörte Karim ebenfalls zum Palast und im Moment galt es jeden Schatten, der auf ihn fallen mochte, abzulenken. Doch offenbar war es dafür bereits zu spät, denn nun ergriff Akunadin wieder das Wort, während für Sekunden ein winziges Lächeln um seine Lippen spielte, das nicht einmal im Ansatz den Versuch unternahm seine Augen zu erreichen. „Ich denke, derjenige, der für die Zerstörung der Dörfer verantwortlich ist, befindet sich sehr wohl im Palast. Nur nicht zu dem Zeitpunkt, als das letzte Dorf überfallen wurde. An diesem Überfall hat er sich in eigener Person beteiligt, sei es aus Hochmut, weil er sich vollkommen sicher und überlegen fühlte, oder aus einer uns noch unbekannten Notwendigkeit heraus. Er weiß, dass er schuldig ist und es für ihn keine Möglichkeit mehr gibt, sich zu verstecken. Also schweigt er verbissen, um keinen weiteren Fehler zu begehen, statt zu versuchen vor seinem Wohltäter seine Unschuld zu beweisen.“ „Aber das ergibt keinen Sinn“, widersprach Atemu verärgert, ohne Karim überhaupt die Möglichkeit zu lassen, sich selbst zu verteidigen. „Warum sollte es für den Anführer der Rebellen auf einmal notwendig sein, an den Raubzügen teilzunehmen, wenn das doch bisher nicht der Fall gewesen ist? Und warum sollte er so leichtsinnig sein, ein so auffälliges Schmuckstück mit sich zu tragen, zu riskieren, es zu verlieren und es schließlich einfach zurückzulassen, sodass wir ihm auf die Schliche kommen müssen?!“ „Die Antwort auf deine erste Frage, Hoheit, kann wohl nur der Betreffende selbst beantworten“, erwiderte Akunadin unverändert gelassen, „obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass er nicht auch schon an anderen Überfällen teilgenommen hat. Die Kette sollte ihm sicher als Schutz und Glücksbringer dienen, dass sie stattdessen verlorenging und er nicht in der Lage war sie wieder zu finden, bevor er nach Gebtiu zurückkehren musste, um seine Abwesenheit nicht auffällig werden zu lassen, ist ein Zeichen für den Unwillen der Götter angesichts seiner Verbrechen.“ „Warum haben die Götter dann nicht schon vor mehr als drei Jahren ihren Unmut geäußert, als die Überfälle begonnen haben?“, verlangte Mahaado zu wissen, dem es deutlich schwerer fiel seine gereizte Stimmung unter Kontrolle zu halten. „Ich bin nur ein einfacher Mensch, wie könnte ich es wagen, das Vorgehen der Götter in Zweifel zu ziehen“, erklärte der Tjt mit betont milder Stimme und direktem Blick, der Mahaado mit grimmigem Gesicht verstummen ließ. Wieder herrschte für einen Moment drückendes Schweigen in dem kleinen Raum, bevor sich Akunemkanon direkt an seinen obersten Befehlshaber wandte und äußerte: „Es haben mein Sohn, deine Frau und ihr Bruder zu deinen Gunsten gesprochen und auch wenn der Tjt die unangenehme Aufgabe übernommen hat, all die Punkte zu nennen, die gegen dich sprechen, so bin ich doch überzeugt, dass auch er von deiner Unschuld überzeugt ist. Dennoch will ich von dir selbst hören, was du zu den Vorwürfen zu sagen hast. Ich hatte bisher nie Grund zu der Annahme, dass du Kemet schaden wolltest, wenn du also eine Idee hast und sei sie noch so flüchtig, wer dir Übel will, so hilf uns, dich von diesem Verdacht freizusprechen.“ „Majestät“, Karims Stimme klang vollkommen gefasst, nichts an seiner Haltung wies daraufhin, dass er sich irgendeiner Schuld bewusst war, „alles was ich sagen kann ist, dass weder Isis noch ich diese Kette mit nach Gebtiu genommen haben. Keiner von uns ist auch nur in die Nähe des überfallenen Dorfes gekommen. Natürlich haben wir von dem Überfall erfahren, aber erst als wir bereits auf dem Rückweg in die Hauptstadt waren. Wie die Kette in das Dorf gelangt ist, weiß ich nicht anders zu erklären, als auf die Arten, wie sie bereits genannt worden sind.“ „Wärst du bereit zu schwören, dass du nichts mit diesen Überfällen zu tun hast?“, hakte Akunemkanon ernst nach, Karim nicht aus den Augen lassend. Jeder, der einen Meineid schwor, würde vor dem Totengericht seine schwere und gerechte Strafe erhalten. Kein Ägypter, der an ein Leben nach dem Tod glaubte, würde sich selbst der Möglichkeit darauf berauben. Karim wich dem Blick des Königs nicht einen Moment aus und erwiderte ruhig: „Ich schwöre, auf Maat und das Leben meines ungeborenen Kindes.“ Akunemkanon atmete ebenso erleichtert auf wie sein Sohn, während ein freundliches Lächeln in seinem Gesicht erschien. „Ich glaube dir. Wir werden herausfinden, wer Kemet und dir schaden will und ihn seiner gerechten Strafe zu führen. Bis wir den Schuldigen gefunden haben, wird es allerdings nötig sein, dass du dich nicht vom Palast entfernst, um weiteren Angriffen vorzubeugen.“ Karim verneigte sich ehrerbietig, während er erwiderte: „Ich danke dir, Majestät, für dein Vertrauen.“ Er hatte sich kaum aufgerichtet, als Sechemib ein etwas verlegen klingendes Räuspern hören ließ und anschließend äußerst höflich erklärte: „Vergib, oh Beschützer der beiden Länder, aber es gibt da etwas, das du noch nicht weißt.“ Der Blick mit dem Akunemkanon den Priester betrachtete war eher überrascht als verärgert, während er äußerte: „Ich hatte angenommen, du hättest mir einen vollständigen Bericht gegeben. Wenn du deine Arbeit stets so unvollkommen erledigst, könnte es notwendig sein, deine Position zu überdenken. Sieh zu, dass solche Fehler in Zukunft nicht mehr geschehen.“ „Ja, Majestät. Vergib, Majestät“, murmelte der Priester daraufhin unterwürfig und zerknirscht, den Blick auf den Boden vor sich gerichtet. „Nun, was hast du also vergessen zu erwähnen?“, erkundigte sich der König ruhig, zum eigentlichen Thema zurückkehrend. „Es gibt einen Zeugen, der den obersten Befehlshaber der königlichen Armee in der Nacht des Überfalls im Dorf gesehen hat. Er schwört, dass er ihn jeder Zeit wiedererkennen würde.“ „Lügner!“, so leise Karim dieses eine Wort hervorgestoßen hatte, verriet es doch nur zu gut das Gefühlschaos aus Hilflosigkeit, Wut und Abneigung gegen den Überbringer dieser Nachricht. Sechemib ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken, sondern erklärte nur mit selbstsicherer Ruhe: „Ich lüge nicht. Es gibt diesen Zeugen, er hat uns begleitet, um dem Herrn der beiden Länder Rede und Antwort zu stehen, wenn dieser es wünscht.“ „Und was hast du ihm dafür geboten, dass er mich verleumdet?“, Karims Stimme klang schneidend, während er Sechemib unverwandt in die Augen sah. Dieses Mal schien der Priester aufrichtig gekränkt zu sein über die Worte des obersten Befehlshabers. „Es mag beim Militär üblich sein, Leute zu bestechen und Beweise zu fälschen, ich aber diene dem Gott Amun“, unverkennbarer Stolz schwang in diesem Satz mit, während sich Sechemib ein wenig höher aufrichtete, um seinem Kontrahenten klar zu machen, dass er sich nicht von diesem unterkriegen lassen würde. Bevor die beiden Gegner ihre Auseinandersetzung jedoch fortführen konnten, entschied Akunemkanon mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Genug. - Karim wird bis auf weiteres in seinem Zimmer unter Arrest gestellt. Des Weiteren wird Isis nicht gestattet die Frauengemächer zu verlassen. Sechemib, du wirst diesen Zeugen zu mir bringen. Alle anderen dürfen sich zurückziehen, bis auf Akunadin.“ Schweigend gehorchten alle Anwesenden diesen Befehlen. Während Isis und Karim, jeweils von zwei herbeigerufenen Wachen flankiert, in ihre jeweiligen Gemächer geführt wurden, holte Sechemib den erwähnten Zeugen. Mahaado begleitete in düsterem Schweigen den Kronprinzen, während Seth, der das Geschehen mit schweigender Aufmerksamkeit verfolgt hatte, nachdenklich Richtung Garten ging, sicher dort Merenseth zu finden. Er hatte kaum den Garten betreten, als ihm der Benu auch schon entgegen geflogen kam und ein fragendes Tschilpen hören ließ, sobald er sich auf dem auffordernd ausgestreckten Arm des jungen Mannes niedergelassen hatte. Seth jedoch erklärte lediglich: „Nicht hier“, während er auch schon kehrt machte und sich auf sein Zimmer begab. Dort angekommen, ließ sich der Vogel auf seiner Stange nieder, während der junge Priester an das einzige Fenster im Raum trat und einen Moment schweigend hinaussah. Schließlich wandte sich Seth seinem Benu zu, verschränkte die Arme vor der Brust und gab knapp und sachlich wieder, was er während des Verhörs erfahren hatte. Unterdessen nahm Merenseth ihre menschliche Gestalt an und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer. Sobald der Priester seinen Bericht beendet hatte, fragte das Vogelmädchen ernst: „Du glaubst nicht, dass er dort war?“ „Ich glaube gar nichts“, erwiderte Seth entschieden, fügte aber gleich darauf hinzu: „An der Sache stimmt etwas nicht. Möglich, dass Sechemib sie inszeniert hat um Karim und damit dem König zu schaden.“ „Dann willst du die Wahrheit selbst überprüfen?“, schlussfolgerte Merenseth, den nachdenklichen jungen Mann vor sich abwartend ansehend. „Vielleicht. Ich habe dem Tjt mein Wort gegeben ihm dabei zu helfen Kemet zu schützen. Wenn Sechemib tatsächlich dem König schaden will, dann…“ Bevor Seth den Satz beenden konnte, klopfte es zaghaft an der Tür. Verwundert stellte Seth fest, dass auf seine Aufforderung hin Kisara das kleine Zimmer betrat. Es war das erste Mal, dass sie ihn aufsuchte und nicht umgekehrt. Seth hatte bis zu diesem Moment noch nicht einmal daran gedacht, ob sie überhaupt wusste, wo sich sein Zimmer befand. Offenbar hatte sie es jedoch herausgefunden und stand nun unsicher und verlegen vor ihm, ihn aus großen, bittenden Augen ansehend, in denen zugleich unumstößliches Vertrauen zu lesen war. Da Kisara auch nach einer Weile keine Anstalten machte zu erklären, was sie zu Seth geführt hatte und dieser allmählich die Geduld verlor noch länger zu warten, erklärte er bestimmt: „Wenn es nicht wichtig ist, was du zu sagen hast, geh.“ Dieser Satz genügte um Kisara hastig hervorstoßen zu lassen: „Die Kette. Sie war noch da, nachdem Isis und ihr Mann abgereist waren.“ „Was?“, entfuhr es Seth verblüfft, während er Kisara mit neuerwachtem Interesse ansah. „Die Kette, die als Beweisstück dient, sie war noch da. Karim kann sie nicht getragen haben als er das Dorf überfallen hat“, erklärte Kisara mutiger geworden, mit Überzeugung. „Woher weißt du von der Kette und dem Verdacht gegen Karim?“, erkundigte sich Seth ein wenig misstrauisch und erhielt darauf die Antwort: „Hapi hat mir befohlen mich um Isis zu kümmern, während sie unter Arrest steht.“ Ohne weiter darauf einzugehen, kam Seth nun zum eigentlich Punkt: „Woher weißt du, dass die Kette erst verschwunden ist, nachdem die Beiden abgereist waren?“ Bei dieser Frage wurde Kisara wieder sichtlich verlegen und war nicht mehr im Stande ihrem Gegenüber in die Augen zu sehen. Stattdessen glitt ihr Blick ziellos durch das Zimmer, schließlich an dem ruhig auf der Stuhllehne sitzenden Vogel hängenbleibend, der die Vorgänge aufmerksam zu verfolgen schien. Den Blick noch immer auf den Benu gerichtet, erklärte sie schließlich leise: „Sie hat mir gefallen. Deshalb hab ich sie mir hin und wieder angesehen, wenn es keiner mitbekommen hat.“ „Wann hast du bemerkt, dass sie verschwunden war?“, verlangte Seth als nächstes zu wissen, völlig unempfindlich gegen die Verlegenheit des Mädchens und mit keinem Wort auf dessen Fehlverhalten eingehend. „Vier Tage vor ihrer Rückkehr“, erwiderte Kisara mit leicht geröteten Wangen, sich etwas entspannend, nachdem das Schlimmste überstanden war. „Und wann hast du sie zuletzt gesehen?“ „Zwei Tage davor.“ „Hast du eine Vermutung, wer die Kette genommen haben könnte?“ Kisara schüttelte ratlos den Kopf, bevor sie erklärte: „Aber ich denke, es muss eine Frau gewesen sein. Ein Mann wäre in den Frauengemächern aufgefallen und ohne das Wissen Hapis wäre er nie in das Zimmer von Isis gelangt.“ Seth runzelte nur leicht die Stirn. Während er schweigend die Möglichkeiten durchging, bei denen durchaus aus ein Mann der Dieb hätte sein können. Laut stellte er dagegen nur die Frage: „Warum befand sich die Kette eigentlich bei Isis, wenn sie doch Karim gehört?“ Kisara lächelte darauf ein wenig verschmitzt, während sie erwiderte: „Ich glaube, sie war ihm etwas peinlich. Deshalb hat er Isis wohl gebeten sie für ihn aufzubewahren. Außerdem hat er sowieso die meiste Zeit bei ihr verbracht, Wenn er die Kette anlegen wollte, brauchte er sie nicht erst holen lassen müssen.“ „Hm“, war alles was Seth daraufhin von sich gab, es gänzlich Kisaras Fantasie überlassend, ob es sich dabei um Zustimmung, Zweifel oder einfach nur um ein Andeutung handelte, dass er nachdachte. „Warum bist du damit zu mir gekommen?“, wechselte der junge Priester plötzlich abrupt das Thema, den Blick durchdringend auf das weißhaarige Mädchen gerichtet, das bei seiner in bittendem Tonfall vorgebrachten Antwort wieder leicht verlegen wirkte. „Du kannst ihnen doch bestimmt helfen, wenn du dem Tjt sagst, was ich dir erzählt habe. Dann werden Isis und Karim doch sicher nicht mehr verdächtigt.“ „Warum bist du nicht selbst zum Tjt gegangen und hast ihm davon erzählt?“ „Oh nein, das könnte ich nicht“, wehrte Kisara vehement ab, allein bei dem Gedanken bereits völlig entsetzt. „Du hast Angst vor ihm“, stellte Seth ein wenig überrascht fest, während Kisara mit gesenktem Blick zustimmend nickte. „Das musst du nicht. Er ist gerecht.“ Kisara schien von Seths ruhig vorgebrachten Worten nicht sonderlich überzeugt zu sein. „Er hätte mich bestimmt dafür bestraft, dass ich unerlaubt an die Sachen der Herrschaft gegangen bin. Vielleicht hätte er sogar geglaubt, dass ich die Kette gestohlen hätte.“ „Hast du?“ hakte Seth daraufhin in neutralem Tonfall nach, der nichts darüber verriet ob er das weißhaarige Mädchen einer solchen Tat für fähig hielt oder nicht. „Nein!“ lautete die mit erschrockener Heftigkeit vorgebrachte Antwort Kisaras, worauf Seth lediglich nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Durch dieses Nicken beruhigt, sah Kisara den jungen Priester ernst an, während sie sich versicherte: „Du wirst ihnen helfen, nicht wahr?“ Die Frage, die keinen Zweifel daran ließ wie fest das Mädchen daran glaubte, dass Seth Isis und Karim ebenso beistehen würde, wie er ihr, ließ Seth sich verlegen räuspern, bevor er mit abweisender Miene kühl erwiderte: „Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Kisara nahm es als Zustimmung und ein dankbares Lächeln erhellte ihr Gesicht, während sie die ganze Sache offenbar schon als so gut wie aufgeklärt und erledigt betrachtete. Nachdem sich das Mädchen schließlich bedankt und verabschiedet hatte, um Seth nicht länger als nötig von seinen Ermittlungen abzuhalten, seufzte der junge Mann geplagt auf, straffte dann entschlossen die Schultern und wandte sich wieder seinem Benu zu, der inzwischen wieder in Menschengestalt vor ihm saß. „Meren, du musst für mich herausfinden, ob noch andere Dorfbewohner überlebt haben und ob einer von ihnen Karim während des Überfalls bemerkt hat.“ Noch bevor Merenseth ihn darauf hinzuweisen konnte, wie schwierig es werden würde einen lebenden Dorfbewohner ausfindig zu machen, geschweige denn mehrere, fügte Seth ergänzend hinzu: „Ich weiß, dass es schwierig ist, Aber du bist ein Benu.“ Für einen Moment betrachtete Merenseth ihr Gegenüber mit einem undeutbaren Blick, dann neigte sie lediglich leicht den Kopf und erwiderte: „Ich werde mich beeilen“, sich anschließend erhebend und zum Fenster tretend. Seth nickte auf diese Bemerkung nur knapp, wartete bis Merenseth wieder ihre Vogelgestalt angenommen hatte und davongeflogen war und verließ dann ebenfalls zielstrebig das Zimmer, um kurze Zeit später die Gemächer des Erbprinzen zu betreten, der ihn nicht weniger erstaunt ansah, als Seth zuvor Kisara. Auch Mahaado befand sich in den Gemächern des Prinzen, und er war es auch der gewohnt angriffslustig wissen wollte: „Was willst du hier?“ „Die Wahrheit herausfinden“, erwiderte Seth kühl und sachlich, den grimmigen Blick Mahaados ungerührt erwidernd. Dieser schnaubte nur abfällig, bevor er brummte: „Die Wahrheit. Dass ich nicht lache. Euch Priestern ist es doch nur Recht, wenn Karim verbannt oder noch besser geköpft wird. Und als kostenlose Dreingabe erhaltet ihr die Verbannung meiner Familie noch dazu.“ „Mahaado“, mahnte Atemu wie so oft beschwichtigend, „ich kann deine Besorgnis verstehen, aber blind auf jeden loszugehen, der Hilfe anbietet, ist keine Lösung. Lass uns lieber hören, was Seth zu sagen hat.“ Nur widerwillig stimmte Mahaado der Meinung des Prinzen zu, lauschte anschließend jedoch ebenso aufmerksam wie dieser dem Bericht des jungen Priesters. „Wenn es stimmt, was Kisara erzählt hat, könnte es sein, dass die Kette sich immer noch im Palast befindet und das Beweisstück tatsächlich nur ein Duplikat ist. Ich halte es zwar für unwahrscheinlich, aber es ist besser wenn wir es mit Sicherheit ausschließen können. Der Zeuge sollte ebenfalls überprüft werden. Es ist merkwürdig, dass er in dem Chaos des Überfalls Karim so genau gesehen und erkannt haben will und trotzdem noch lebt. Darüber hinaus wäre es gut zu wissen, wann genau der Überfall stattgefunden hat und ob Karim überhaupt die Möglichkeit hatte zu dieser Zeit im Dorf zu sein“, beendete Seth schließlich seine Ausführungen. Mahaado war unterdessen unruhig auf und abgelaufen, hielt nun abrupt inne und fragte: „Wie stellst du dir das Alles vor? Ohne die Zustimmung des Königs können wir nicht einfach den Palast von oben bis unten durchsuchen, schon gar nicht bei so einem vagen Verdacht und welchen Grund hätte er einer solchen Bitte zu zustimmen?“ An dieser Stelle unterbrach Atemu seinen Freund: „Ich werde mit Vater reden, er wird sicher zustimmen, wenn die Hoffnung besteht Karims Unschuld zu beweisen.“ Die Zuversicht des Prinzen schien Mahaado ein wenig zu beruhigen. Er hatte zwar seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufgenommen, schritt aber nun wesentlich langsamer hin und her, eher als würde es ihm beim Nachdenken helfen und nicht als wäre es der hilflose Versuch seiner Unruhe Herr zu werden. „Was ist mit dem Zeugen?“, hakte der junge Adlige als nächstes nach und erhielt zur Antwort, dass der Prinz auch für dessen Vernehmung bei seinem Vater vorsprechen würde. „Ich fürchte nur, wir werden nicht beweisen können, ob er über den Hergang des Überfalls lügt oder ob er die Wahrheit sagt“, fügte Atemu nachdenklich hinzu und sah dabei fragend zu Seth, ob dieser vielleicht eine Lösung für das Problem wusste. „Ich habe bereits jemanden beauftragt herauszufinden, ob es noch andere Überlebende gibt und diese zu befragen“, erklärte Seth ruhig und erhielt einen anerkennenden Blick von Seiten des Prinzen, während Mahaado ungeduldig ausrief: Aber das wird Wochen in Anspruch nehmen, wenn es überhaupt Überlebende gibt.“ „Es gibt sie“, erwiderte Seth überzeugt, „es gibt immer welche. Es macht keinen Sinn ein ganzes Dorf auszulöschen, wenn man die Überzeugung nähren will, dass eine bestimmte Gruppe schuld an den Verbrechen hat, man braucht jemanden der das Gerücht verbreitet. Und was die Zeit betrifft, liegt es an uns, dafür zu sorgen, dass deine Verwandten bis dahin am Leben bleiben.“ Ungläubig starrte Mahaado den jungen Priester an, während für einen Augenblick nachdenkliches Schweigen in dem hellen, luxuriösen Zimmer herrschte. „Gibt es nichts, was ich tun kann?“, brach Mahaado schließlich das Schweigen, noch immer unruhig auf und ablaufend, während seine Stimme jede Aggressivität verloren hatte und nun nur noch resigniert und unzufrieden klang. „Aufhören ständig hin und her zu rennen, wäre ein Anfang“, erwiderte Seth darauf mit kühler Herablassung, wofür er einen grimmigen Blick von Mahaado und ein entnervtes Seufzen von Atemu erhielt. Nichts desto trotz gehorchte Mahaado widerspruchslos dem Vorschlag und ließ sich mit missmutig verzogenem Gesicht in den nächststehenden Stuhl fallen. Es wurmte ihn, dass er nicht selbst auf einen Teil der von Seth angesprochenen Punkte gekommen war. Es ätzte wie Säure, dass er ausgerechnet von einem künftigen Amunpriester, einem Helfershelfer des Tjt, Ratschläge annehmen musste, um seine Familie vor dem sicheren Untergang zu retten. Am meisten jedoch schmerzte, dass er in dieser Situation offenbar nicht das Geringste tun konnte, sondern ebenso wie Karim und Isis dazu verurteilt zu sein schien hilflos abzuwarten, was Andere für sie taten. Wütend über seine eigene Hilflosigkeit presste Mahaado die Lippen zusammen und ballte die Hände unwillkürlich zu Fäusten, wie gern hätte er in diesem Moment dem Verräter einen Dämon auf den Hals gejagt, um ihn das Fürchten zu lehren. „Geh zu deiner Schwester und Karim und lass dir so genau wie möglich schildern, was sie am Tag vor und nach dem Überfall getan haben. Wo sie waren, mit wem sie gesprochen haben. Wenn wir beweisen können, dass sie gar nicht die Zeit hatten in das Dorf zu gelangen, am Überfall teilzunehmen und wieder zurückzukehren, ist es nicht mehr wichtig, dass sie theoretisch die Möglichkeit hatten“, erklärte Seth sachlich, die düsteren Gedanken des Gauprinzen unterbrechend. Atemu nickte zustimmend, während sich Mahaado bereits erhob, erleichtert doch etwas tun zu können. „Ich werde sofort mit ihnen reden“, entschied er entschlossen und wollte sich bereits mit einer Verneigung gegen den Erbprinzen verabschieden, als Seth noch warnend hinzufügte: „Du wirst mit Beiden allein reden und weder Karim noch Isis sagen, was der Andere berichtet hat oder dass wir nach weiteren Zeugen suchen.“ Mahaados Augen verengten sich bei dieser dreisten Forderung zu verärgerten Schlitzen: „Du wagst es anzudeuten, dass sie lügen könnten?“, die Stimme des jungen Adligen klang unwillkürlich einige Lagen tiefer als gewöhnlich, während er diese Frage drohend hervorstieß. „Es sieht so aus, als hätten sie das bereits mehr als einmal getan“, entgegnete Seth ungerührt und fügte nach einer kleinen Pause leiser hinzu: „Und sie sind nicht die Einzigen.“ Die Worte waren mehr für ihn selbst als für seine Zuhörer gedacht, dennoch lief diesen plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken, während sie den jungen Priester verunsichert ansahen. In dessen Stimme hatte eine verhaltene Drohung mitgeklungen, die es sehr ratsam erscheinen ließ auf der Hut zu sein und besser nicht den Zorn Seths zu wecken. Kapitel 22: Ermittlungen ------------------------ Zu seiner eigenen Überraschung war Mahaado ohne alle Schwierigkeiten in das Zimmer Karims gelangt. Keine Wache hatte ihn aufgehalten oder auch nur zu wissen verlangt, warum er zu seinem Schwager wollte. Dieser stand vollkommen ruhig mit dem Rücken gegen eine der Wände gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet und schien in Gedanken sehr weit fort zu sein. Denn entgegen seiner sonstigen Aufmerksamkeit dauerte es dieses Mal einen Moment bevor überhaupt bemerkte, dass er nicht mehr allein war. Sobald er jedoch entdeckt hatte, dass Mahaado vor ihm stand, stieß er sich von der Wand ab, löste die verschränkten Arme und erkundigte sich ruhig, was Mahaado zu ihm führe, als hätte es die Anklage auf Hochverrat nie gegeben. Ohne Umschweife erklärte Mahaado, dass sie versuchen würden die Unschuld Karims zu beweisen und er deshalb genau wissen müssen, was Karim an den Tagen vor und nach dem Überfall getan hatte. Zweifelnd schüttelte Karim den Kopf, „was beweist das schon, wenn ich sage, dass wir am Tag vor dem Überfall im Tempel waren, anschließend bei meiner Tante und den Rest der Zeit in unserer Unterkunft, weil es Isis nicht gut ging.“ „Hat dich am Abend oder frühen Morgen vielleicht ein Diener gesehen, der bezeugen kann, dass du nicht fort gewesen bist?“ Wieder schüttelte Karim den Kopf, während Mahaado fieberhaft überlegte, wer Karim noch gesehen haben könnte, um zu bestätigen, dass dieser nicht bei dem Überfall dabei gewesen war. Ernst und aufmerksam beobachtete Karim seinen Schwager eine Weile schweigend, bevor er mit ruhiger Entschiedenheit erklärte: „Es hat keinen Sinn nach einem Ausweg für mich zu suchen, Mahaado, die Falle ist zu gut gestellt. Deshalb bitte ich dich, versuche Isis und Mana in Sicherheit zu bringen. Ich will nicht, dass ihnen etwas passiert.“ Mit düsterem Gesichtsausdruck hatte Mahaado den Worten Karims gelauscht, verschränkte trotzig die Arme und erwiderte sehr bestimmt: „Mach dir keine Sorgen um deine Familie, ihr wird genauso wenig etwas geschehen wie dir. Und statt dich mit deinem Tod abzufinden, solltest du lieber versuchen uns zu helfen. Du bist Soldat, wie kannst du eine Schlacht schon verloren geben, noch bevor sie überhaupt geschlagen ist?!“ Ein wenig amüsiert erwiderte Karim den bohrenden Blick seines Schwagers, „du hast Recht, einfach aufzugeben liegt mir nicht sonderlich. Aber als Soldat muss man auch entscheiden können, wann es sich zu kämpfen lohnt und wann man seine Kräfte für etwas anderes aufspart. Im Moment ist es einfach wichtiger, dass Isis und Mana in Sicherheit sind.“ „Ich sagte doch, dass du dir keine Sorgen um sie machen musst und wenn du dir endlich die Mühe machst uns zu helfen, kannst du dich sehr bald selbst davon überzeugen“, beharrte Mahaado unwillig auf seiner Ansicht. Das Lächeln in Karims Gesicht war zu einem breiten Grinsen geworden, während er den entschlossenen jungen Mann mit echter Dankbarkeit und Zuneigung ansah. „Einverstanden. - Was die Zeit vor und nach dem Überfall betrifft, kann ich nichts sagen, was irgendwie von Nutzen wäre. Aber ich denke, ihr solltet euch die Leute, die der König in das Dorf gesandt hat genauer ansehen. Es würde mich nicht überraschen, wenn einer von ihnen der Verräter ist.“ Mahaados Haltung und Gesichtszüge hatten sich merklich entspannt, als Karim endlich einlenkte, und bei dessen Worten über den Verräter zustimmend genickt. „Denkst du an Sechemib? Immerhin ist er die rechte Hand des Tjt und er war derjenige, der den Zeugen gefunden hat.“ „Möglich, aber es dürfte schwierig werden, ihm das nachzuweisen. Es sei denn es gelingt euch diesen Zeugen dazu zu bringen, zu gestehen von wem er angestiftet worden ist mich zu verleumden.“ Wieder nickte Mahaado zustimmend und erkundigte sich, ob Karim noch irgendetwas eingefallen sei, was ihnen helfen könnte die Sache aufzuklären. Da dieser jedoch nur bedauernd den Kopf schüttelte, seufzte Mahaado ein wenig resigniert, bat seinen Schwager ihn wissen zu lassen, falls ihm doch noch etwas einfiele und verabschiedete sich gleich darauf, um als nächstes seine Schwester aufzusuchen. Angespannt lief Isis in ihrem Zimmer auf und ab, während sie händeringend nach einem Plan suchte, wie Karim gerettet werden könnte. Als Mahaado das Zimmer betrat, wandte sie ihm sofort ihre Aufmerksamkeit zu und verlangte besorgt zu wissen, ob es irgendwelche Neuigkeiten gebe. Kaum hatte ihr Bruder bedauernd den Kopf geschüttelt, nahm die junge Frau ihre unruhige Wanderung wieder auf, während sie leise erklärte: „Aber wir müssen doch irgendetwas tun können.“ „Deshalb bin ich hier…“, begann Mahaado wurde aber im gleichen Moment von einem fröhlich hereinstürmenden, etwa zweijährigen Mädchen unterbrochen, das glücklich seinen Namen rief und sich ihm gleich darauf in die auffordernd ausgestreckte Arme warf, ihm die eigenen Arme um den Hals schlingend. Beim Klang von Manas Stimme hatte sich Mahaado mit einem Lächeln herumgedreht, und war etwas in die Hocke gegangen, um die überschwängliche Begrüßung seiner Nichte entgegen zu nehmen. Das Mädchen liebte ihren Onkel abgöttisch, ebenso wie er sie liebte. Jeder, der die Beiden zusammen erlebte musste unwillkürlich bei dem Anblick schmunzeln. Dieses Mal gelang es ihnen jedoch nicht Isis ein Lächeln zu entlocken, stattdessen bat die Mutter ihre Tochter ernst: „Mana, lass uns bitte allein. Geh und spiel solang mit Kisara.“ Große, bettelnde Kinderaugen und eine schmollend vorgeschobene Unterlippe waren darauf die Antwort, während sich das kleine Mädchen noch fester an den Hals ihres Onkels klammerte und sehr bestimmt erklärte, dass sie bleiben wolle. „Mana!“, die mütterliche Ermahnung klang schon weit weniger ruhig, sondern gereizt und ungeduldig. Bevor es allerdings zu einem ernsthaften Streit zwischen Mutter und Tochter kommen konnte, flüsterte Mahaado seine Nichte etwas ins Ohr, worauf diese ihn durchdringend ansah und wissen wollte: „Versprochen?“ Als ihr Onkel darauf nickte und erwiderte: „Versprochen“, hatte sie schließlich nichts mehr dagegen abgesetzt zu werden und brav das Zimmer zu verlassen, während Mahaado seine Aufmerksamkeit wieder ganz seiner Schwester widmete. „Hat der König schon entschieden, was mit Karim geschehen soll?“, erkundigte sich Isis hastig, bemüht die Angst in ihrer Stimme nicht zu deutlich werden zu lassen. Mahaado schüttelte den Kopf, während er erwiderte: „Nein und das wird er wohl auch nicht so schnell. Mach dir nicht zu viele Sorgen, das ist schlecht für das Baby.“ „Dem Baby geht es gut“, erwiderte die junge Frau ein wenig ungehalten mit gerunzelter Stirn, bevor sie sich innerlich selbst zur Ordnung rief, tief durchatmete, um sich zu beruhigen und anschließend in bemüht neutralem Tonfall wissen wollte: „Wenn nicht wegen Karim, weshalb bist du dann hier?“, während sie sich auf einer nahestehende Sitzbank niederließ. „Du bist meine Schwester“, antwortete Mahaado leicht gekränkt, „was wäre ich für ein Bruder, wenn ich nicht wissen wollte wie es dir geht.“ Kurz rieb sich Isis mit den Fingern einer Hand über die Stirn, während sie ein leises Seufzen hören ließ und anschließend entschuldigend meinte: „Verzeih, ich wollte dich nicht beleidigen. Die ganze Sache ist nur so ungerecht, dass es mir schwer fällt noch klar zu denken.“ Mit wenigen Schritten war Mahaado bei Isis, setzt sich neben ihr auf die Bank, ergriff tröstend ihre Hand und erklärte beschwichtigend: „Schon gut, vergessen wir das einfach. Atemu und ich versuchen Beweise zu finden, dass es Karim nicht gewesen sein kann. - Kannst du mir sagen, was ihr am Tag nach dem Überfall getan habt?“ Einen Augenblick schwieg Isis nachdenklich, bevor sie erwiderte: „Das war der 7. Djehuti, richtig?“, Mahaado nickte nur zustimmend und Isis fuhr fort: „An dem Tag haben wir Gebtiu verlassen und uns auf die Rückreise gemacht. Wir sind früh aufgebrochen, um nicht in die Pilgermassen zu geraten, sodass wir von dem Überfall erst hörten, nachdem wir schon Rahenu durchquert hatten.“ Mit zunehmender Besorgnis hatte Mahaado den Worten seiner Schwester gelauscht, es gehörte nicht viel Fantasie dazu, zu sehen, dass die Abreise direkt nach dem Überfall ein gefundenes Fressen für jene wäre, die in Karim den Schuldigen sehen wollten. Dennoch fragte er in täuschend gelassenem Tonfall, um seine Isis nicht noch mehr zu beunruhigen: „Und am Tag vor dem Überfall, was habt ihr da getan?“ Wieder überlegte Isis einen Moment, bevor sie antwortete: „Früh waren wir ein letztes Mal im Tempel, dann sind wir über den Markt geschlendert und haben Karims Tante besucht. Aber wir sind nicht lang geblieben, mir ging es nicht so gut, deshalb haben wir den Rest Tages in unserer Unterkunft verbracht.“ Das war nicht viel mehr als ihm schon Karim erzählt hatte, aber zumindest widersprachen sich die Aussagen nicht, also stand nicht zu befürchten, dass von dieser Seite Angriffe erfolgen würden. Isis runzelte dennoch besorgt die Stirn, während sie leise feststellte: „Nichts davon taugt als Beweis, dass Karim es nicht gewesen sein kann.“ „Wir werden schon noch etwas finden“, beruhigte Mahaado sie, ohne in diesem Moment selbst daran zu glauben. Allerdings hatte er nicht vor seiner Schwester diese Tatsache einzugestehen und so erhob er sich schnell, um zu verhindern, dass sie ihn fragte, wie er seine Behauptung Wirklichkeit werden lassen wolle und verließ nach ein paar letzten aufmunternden Worten die Frauengemächer wieder. Er hatte beabsichtigt mit dem Wenigen, das er erfahren hatte, zurück zu den Gemächern des Kronprinzen zu gehen, damit sie gemeinsam überlegen konnten, was als nächstes zu tun war, doch zu seiner Überraschung kam ihm Atemu auf dem Weg bereits entgegen und erklärte, dass sein Vater ihm die Erlaubnis erteilt hatte mit dem Zeugen zu sprechen. „Ich nehme an, du wärst gern dabei“, kam der Kronprinz der Frage seines Freundes zuvor, während sie sich bereits auf dem Weg zu dem kleinen Raum machten, in dem der Mann untergebracht worden war. Mahaado nickte darauf nur zustimmend, bevor er sich erkundigte: „Hat der Möchtegernpriester seine voreilige Hilfe schon bereut, dass er dich nicht begleitet?“ „Nein, er hat für den Tjt zu arbeiten“ antwortete Atemu gelassen, während Mahaado kurz das Gesicht verzog und anschließend kategorisch erklärte: „Soll er. Wir schaffen es auch sehr gut ohne ihn.“ „Mahaado, er ist nicht hier. Es besteht keinerlei Veranlassung ihn anzugiften“, mahnte Atemu milde, seinem Begleiter lediglich einen Seitenblick gönnend. Mahaado wirkte bei diesen Worten ein wenig verlegen, versuchte das jedoch mit der Bemerkung „verzeih, die Macht der Gewohnheit“ zu kaschieren. „Vielleicht solltest du dir allmählich eine neue Gewohnheit zu legen“, schlug Atemu mit einem Lächeln vor und bekam darauf die von einem bedauernden Seufzen begleitete Antwort: „Ich kann es ja versuchen.“ Das Lächeln Atemus wurde breiter, während sie in diesem Moment vor dem Zimmer ankamen, in dem der Mann untergebracht worden war, der behauptete Karim bei dem Überfall gesehen zu haben. Vor der Tür des Zimmers war vorsorglich eine Wache postiert worden, um zu verhindern, dass dem Mann möglicherweise ein tödlicher Unfall zustieß, während er sich im Palast aufhielt. Der Wachtposten verneigte sich höflich vor den beiden Prinzen und öffnete anschließend auf die Aufforderung Atemus hin die Tür, sodass die beiden jungen Männer eintreten konnten. Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen und Atemu den Mann aufgefordert sich aus seiner unterwürfigen Haltung zu erheben, da sie beabsichtigten mit ihm zu reden, prallte Mahaado überrascht zurück, während er nur ungläubig äußerte: „Sened!“ „Du kennst ihn?“, erkundigte sich Atemu interessiert, während er aufmerksam zwischen seinem verblüfften Freund und dem für einen kurzen Moment verunsichert wirkenden Unbekannten hin und hersah. „Ob ich ihn kenne?“, wiederholte Mahaado noch immer nach Fassung ringend die Frage, riss sich dann sichtlich zusammen und forderte, statt zu antworten, den Mann mit deutlichem Spott in der Stimme auf: „Sag, Sened, kenne ich dich?“ „Es ist lange her, Herr, ich bin jetzt ein freier Mann und stehe nicht mehr in den Diensten deines Vaters. Es wäre besser die Vergangenheit ruhen zu lassen.“ Bei diesen Worten verzogen sich Mahaados Lippen zu einem abfälligen Lächeln, er ging jedoch nicht weiter auf die Äußerung Seneds ein, sondern erwiderte stattdessen: „Du schwörst also, Karim in der Nacht des Überfalls im Dorf gesehen zu haben.“ Unsicher schwieg Sened einen Moment, während er zwischen den beiden Prinzen hin und her blickte und sich schließlich entschied Atemu anzusehen, während er die Frage Mahaados beantwortete: „Ich habe ihn in jener Nacht gesehen. Er saß auf einem weißen Pferd, mit gezogenem Schwert und dieser prächtigen Kette und hat zwischen den Dorfbewohnern gewütet, als wäre er ein böser Dämon im Auftrag des Herrn von Ombos.“ Mahaado verzog bei dieser phantasievollen Beschreibung angewidert das Gesicht, beherrschte sich jedoch immer noch und überließ es Atemu die weiteren Fragen zu stellen. Angesichts der unerwarteten Bekanntschaft zwischen Mahaado und Sened, verlangte der künftige Erbe des Horus zunächst einmal zu wissen, wie lang Sened bereits in dem Dorf gelebt hatte. Als dieser darauf erwiderte, dass er bereits seit mehr als fünf Jahren dort lebte, nickte Atemu lediglich kurz, während er einen verstohlenen Seitenblick zu Mahaado warf, der gegen diese Angabe anscheinend jedoch nichts einzuwenden hatte. Sollte Sened sie in diesem Punkt dennoch belogen haben, würden spätestens die Pachtverträge ihnen darüber Aufklärung verschaffen. „Erzähl uns, was in jener Nacht vorgefallen ist“, forderte der Kronprinz den Dörfler als nächstes auf, der daraufhin für einen Moment schwieg, als bereite es ihm Probleme sich an die erlebten Schrecknisse zu erinnern. Dann jedoch begann er zu berichten: „Es war mitten in der Nacht, als plötzlich lautes Geschrei anfing, dass Feuer ausgebrochen sei. Als ich aus meinem Haus trat, war bereits alles in heller Aufregung, jeder versuchte irgendwie den Flammen zu entkommen und sich selbst zu retten. Mir ging es nicht anders, ich hab nur schnell einige Sachen zusammengepackt und bin geflüchtet. Aber als ich das Dorf verließ kam der oberste Befehlshaber mit einem irren Grinsen direkt auf mich zu geritten und wollte mich offensichtlich töten, ich konnte mich gerade noch so zwischen zwei brennende Häuser retten, vor denen sein Pferd gescheut hat, sonst wäre ich heute nicht hier. Ich bin dann durch das brennende Dorf gerannt und habe versucht mich auf der anderen Seite in Sicherheit zu bringen. – Die Schreie in jener Nacht waren fürchterlich.“ Bei den letzten, pathetisch klingenden Worten Seneds warfen sich die beiden Prinzen einen kurzen Blick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mann vor sich zuwandten und Atemu sich erkundigte: „Warst du die ganze Zeit allein oder sind noch Andere auf dem gleichen Weg mit dir geflüchtet?“ „Es haben noch Andere versucht auf diesem Weg zu flüchten, aber zu meinem Bedauern sind sie alle in den Flammen umgekommen.“ „Du musst unter dem besonderen Schutz der Götter stehen, dass dir dieses Schicksal als Einzigem erspart blieb“, erwiderte Atemu ruhig, ohne dem kurzen, skeptischen Blick Seneds preiszugeben, ob er diese Bemerkung tatsächlich ernst meinte oder ob sich in ihr ausschließlich Ironie verbarg. „Es muss wohl so sein. Ich weiß nicht, womit ich Unwürdiger diese Gnade verdient habe, aber ich werde alles tun, um mich des Vertrauens der Götter würdig zu erweisen“, Sened klang zugleich unterwürfig und salbungsvoll, bemüht den einen Prinzen nicht gegen sich aufzubringen und den anderen davon zu überzeugen, dass er ausschließlich lautere Absichten mit seiner Beschuldigung Karims verfolgte. Keiner der Prinzen machte sich die Mühe auf seine Worte einzugehen, stattdessen tauschten sie erneut einen Blick, um sich darüber zu verständigen, ob sie alles erfahren hatten oder der jeweils andere noch eine Frage stellen wollte. Doch weder Mahaado noch Atemu schien es notwendig noch länger in der Gegenwart dieses Mannes zu verbringen und so neigte der künftige Erbe des Horus nur huldvoll das Haupt, als Zeichen, dass die Unterredung beendet war, und verließ gleich darauf ohne ein weiteres Wort, gefolgt von Mahaado das Zimmer Seneds. Sobald sie außer Hörweite des Wachpostens waren, ließ Atemu jede hoheitlich Attitüde fahren und erkundigte sich mit sichtlicher Ungeduld: „Woher kanntest du ihn und warum die Feindseligkeit?“ „Er war früher der Haushofmeister meines Vaters. Als dieser mit dem obersten Amunpriester unserer Provinz in Streit geriet, war es Sened, der bei der Anhörung die Behauptung bestätigte, mein Vater würde eine Verschwörung gegen den König planen. Daraufhin wurde entschieden, dass Isis und ich fortan am königlichen Hof leben sollten, um sicher zu stellen, dass Vater keine Dummheiten begehen würde.“ Für einen Moment schwieg Atemu betroffen, bevor er wissen wollte: „Was hat dein Vater damals mit Sened gemacht?“ „Nichts, Sened hat sich nach der Untersuchung eine zeitlang in den Schutz den Amunpriester begeben und sich irgendwann davon gestohlen. Er muss wohl eine ganze Weile ständig durch das Land gezogen sein, aus Angst Vater könnte ihm Häscher hintersenden, um ihn zu bestrafen.“ „Und als er sicher war, dass ihn niemand verfolgte, hat er sich in dem Dorf bei Gebtiu niedergelassen.“ Mahaado nickte zustimmend. „Glaubst du, er behauptet Karim gesehen zu haben, um deiner Familie zu schaden?“, erkundigte Atemu sich nachdenklich, während sie sich seinen Gemächern näherten. „Ich weiß nicht. Das würde immerhin voraussetzen, dass er von Isis Ehe wusste. Aber ich würde ihm auch zutrauen zu lügen, wenn dabei für ihn nur genug Geld herausspringt.“ „Dann können wir wohl erst einmal nur abwarten, was der Mann herausfindet, den Seth beauftragt hat“, stellte Atemu fest und betrat gefolgt von Mahaado seine Räumlichkeiten. Nachdem Merenseth den Auftrag erhalten hatte, Überlebende des jüngsten Überfalls ausfindig zu machen, war sie nach Gebtiu geflogen, in der Annahme, dass die überlebenden Dörfler dort wohl am ehesten Zuflucht gesucht hatten. Gebtiu war nicht nur ein wichtiger Handelsort, in dem der Schutz- und Schöpfergott Min verehrt wurde, sondern auch Isis fand an diesem Ort als Mutter des Horus Verehrung. So wurde diese Stadt nicht nur von Karawanen und Händlern frequentiert, sondern auch von vielen Pilgern besucht, die um den Schutz und Beistand der beiden Gottheiten baten. So mischten sich Schwangere und solche, die es werden wollten, mit Kaufleute und Karawanenführer und Bauern die in der Zeit der Nilschwemme den Göttern für ihre reiche Gnade dankten und um eine gute Ernte baten. Merenseth interessierte sich jedoch nicht weiter für diese Menschen, stattdessen saß sie am Rande des Marktes auf einer Palme und beobachtete aufmerksam die Passanten unter sich. Es dauerte einige Zeit bis der Benu schließlich einen hageren, leicht gebeugt gehenden Mann mit lederartiger Haut entdeckte, der sich im Gegensatz zu den anderen Marktbesuchern angespannt und hastig bewegte, sich immer wieder misstrauisch umsah und schreckhaft bei jedem unerwarteten Geräusch zusammenzuckte, während er sich bemühte in der Nähe von trügerischen Schutz versprechenden Häuserwänden zu laufen. In großer Eile erledigte der Mann seine wenigen Einkäufe, ohne den mindesten Versuch mit den Verkäufern um den Preis der Waren zu feilschen. Sobald er den Markt wieder verließ erhob sich Merenseth lautlos von ihrem Beobachtungsposten und folgte ihm fliegend bis zu einem unauffälligen Haus mittlerer Größe, an das sich eine Töpferwerkstatt anschloss. Eine Weile wartete Merenseth wartete in der Nähe des Hauses, um zu sehen, ob der Mann noch einmal herauskommen würde oder ob er tatsächlich in diesem Haus wohnte. Als nichts geschah, was diesem letzten Anschein widersprach, flog der Vogel unbemerkt davon und kehrte nicht mehr wieder. Stattdessen näherte sich einige Zeit später eine junge Frau zielstrebig dem Haus mit der Töpferwerkstatt, klopfte und erkundigte sich höflich ob in diesem Haus jemand wohne, der in dem kürzlich überfallenen Dorf gewohnt habe. Diese seltsame Frage einer vollkommen Fremden sorgte für einige Verwunderung und Skepsis, die Merenseth nur mit Mühe soweit beseitigen konnte, dass sie schließlich doch in das Haus gelassen wurde und wenig später nicht nur dem Mann gegenüber stand, den sie zuvor beobachtet hatte, sondern auch einem verhärmt aussehenden Jungen von acht Jahren, der neben dem Lager eines bewusstlosen Mädchens saß und dessen fiebrige Stirn kühlte. Für einen Moment betrachtete die junge Frau schweigend und konzentriert das Kind, bevor sie sich leise an den ein wenig abseits hockenden Mann wandte und erklärte, sie sei geschickt worden, um herauszufinden, wer die Angreifer in der Nacht des Überfalles waren. Der Mann lachte bitter auf, bevor er mit Abscheu erklärte: „Wer die Dörfer überfällt, weiß jeder, nur der König scheint nicht in der Lage zu sein, es zu erkennen.“ Merenseth ging nicht auf diese Bemerkung ein, sondern bat nur ruhig: „Erzähl mir, was in jener Nacht passiert ist.“ „Wir sind überfallen worden und alles, was unser Leben bis dahin ausgemacht hat, ist zerstört worden. Das ist passiert“, erwiderte der Mann in abweisendem Missmut. Wiederum schwieg Merenseth auf den hilflosen Hohn, wartete geduldig darauf, dass er ihr eine richtige Antwort, auf ihre Bitte gab. Doch der Mann, der auf den Namen Hesira hörte, schien sich gerade erst warm zu reden, denn nun fuhr er mit hilflosem Zorn erst Recht auf die in reizendem Schweigen dasitzende Frau los: „Habt ihr euch noch nicht genug an unserem Elend ergötzt? Warum forscht ihr immer erst nach wenn es längst zu spät ist? Ist es nicht die Aufgabe des Königs uns zu beschützen? Wenn er so schwach ist, soll er diese Aufgabe an jemanden übertragen, der es besser versteht als er!“ Ohne eine erkennbare Reaktion hatte sich Merenseth die Anklage Hesiras angehört. Er schlug in blinder Verzweiflung mit Worten um sich, um seine Qual erträglicher zu machen, während er sich zugleich danach sehnte, dass ihm jemand versicherte, alles wäre nur ein böser Traum, ein Missverständnis, das schon bald wieder in Ordnung käme. Doch diese Versicherung konnte der Benu nicht geben und so fragte er stattdessen sanft: „Sind das deine Kinder?“ Hesira warf nur einen flüchtigen Blick auf das Geschwisterpaar, bevor er widerspenstig entgegnete: „Nein“, anschließend in sturem Schweigen versinkend. „Das Mädchen wird sterben“, stellte Merenseth nach einer Weile leise fest, worauf sich das Gesicht Hesiras nur noch mehr verdüsterte und er grimmig die Lippen aufeinander presste, während der Junge erschrocken zu dem unwillkommenen Gast aufsah und sich in einer schützenden Geste zwischen Merenseth und seine Schwester schob, als wäre diese dafür verantwortlich, sollte Inenek tatsächlich sterben. Ohne von diesen Reaktionen Notiz zu nehmen, ergänzte Merenseth unterdessen ihre Worte um die Frage: „Liegt dir so wenig an ihr, dass es dir gleichgültig ist, ob wir ihren Mörder fassen oder nicht?“ Wütend fuhr Hesira auf: „Was weißt du schon?! Dem König ist es völlig egal, was mit uns geschieht! Wann hat er versucht uns zu helfen und uns zu beschützen? Weshalb sollte ich ihm jetzt dabei helfen sein schlechtes Gewissen zu beruhigen? Soll er doch versuchen Anderen etwas vorzumachen, mich kann er nicht täuschen!“ „Wenn du ihm hilfst, verhinderst du, dass anderen Kindern Gleiches geschieht“, gab Merenseth zu bedenken, „Akunemkanon ist der Erbe des Horus. Aber solang er in dieser Welt weilt, ist er ein Mensch, mit den Fehlern und Schwächen eines Menschen. Ohne die Hilfe derer, für die er die Verantwortung übernommen hat, wird es ihm nicht gelingen seine Aufgabe zu erfüllen.“ Hesira gab darauf nur ein abfälliges Geräusch von sich und wandte den Kopf ab. Wieder herrschte drückendes Schweigen, bis Atoti, der noch immer wachsam zwischen seiner Schwester und Merenseth saß, schließlich leise und entschlossen erklärte: „Ich werde dir helfen.“ Neugierig betrachtete die junge Frau den Jungen einen Moment, als versuche sie herauszufinden, wie ehrlich dessen Angebot gemeint war, dann verneigte sie sich leicht, während sie erwiderte: „Ich danke dir.“ Misstrauisch hatte Hesira das Ganze aus den Augenwinkeln verfolgt, konnte jedoch nichts entdecken, was darauf hinwies, dass die Frau aus der Pharaonenstadt sich über Atoti lustig machte oder in irgendeiner anderen Weise versuchte sie hinters Licht zu führen. Verunsichert rutschte Hesira ein wenig in und her, bemüht eine bequemere Sitzposition zu finden, dabei aufmerksam zuhörend, was Atoti über die Nacht des Überfalls berichtete. Inenek und Atoti waren gerade ins Bett geschickt worden, als plötzlich der Ruf „Feuer“ durch das Dorf geklungen war und dessen Einwohner aus der nächtlichen Ruhe aufschreckte. Atotis Vater war hinausgelaufen, um bei den Löscharbeiten zu helfen, seitdem hatten die Kinder ihn nicht wiedergesehen. Atotis Mutter hatte unterdessen hastig das Notwendigste in einem Tuch zusammengepackt und war anschließend mit einem Kind an jeder Hand aus dem Dorf geflüchtet, damit sie nicht Opfer der Flammen würden, sollte es den Männern nicht gelingen es unter Kontrolle zu bekommen. Doch die Hoffnung auf Sicherheit wurde sehr schnell zerstört, als sie sahen wie außerhalb des Dorfes ein kleiner Trupp Reiter wahllos auf alles einhieb, was versuchte aus dem Ort zu fliehen. Gleichgültig ob es sich dabei um Männer, Frauen, Kinder oder Alte handelte, sie wurden ohne Gnade hingemetzelt oder niedergeritten. Nicht einmal vor dem Vieh der Bauern machen die Reiter halt, während sie dabei johlten und grölten als wären sie auf einer besonders erfolgreichen Jagdgesellschaft. Den Kindern blieb keine Zeit zu begreifen, was gerade geschah, als ihre Mutter plötzlich Ineneks kleine Hand in die Atotis legte und ihm befahl: „Lass die Hand deiner Schwester nicht los und lauf mit ihr so weit du kannst.“ So dringlich hatte die Stimme der Mutter geklungen, dass Atoti nicht gewagt hatte zu widersprechen, sondern nur die Hand seiner Schwester fester packte und nach einem letzten, Bestätigung erheischenden Blick zu seiner Mutter, dass sie blad nachkommen würde, losgelaufen war. Aber Inenek war zu klein und zu müde, als dass sie schnelles Laufen lange durchgehalten hätte und so nahm Atoti sie schließlich auf den Rücken, um schneller vorwärts zu kommen. Suchend hatte er bei dieser Gelegenheit einen Blick zurückgeworfen, in der Hoffnung seine Eltern zu entdecken. Statt seiner Eltern sah er jedoch einen der Reiter viel zu schnell auf sich zu kommen, ohne dass es weit und breit eine Möglichkeit gegeben hätte sich zu verstecken. Starr vor Angst hatte Atoti nur zusehen können, wie der Reiter näher kam. Erst das leise Wimmern Ineneks löste die Erstarrung, Atoti warf sich herum und begann zu rennen, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Aber so sehr er sich auch beeilte, wie sehr er sich auch anstrengte den sich nähernden Hufen und dem Schnauben des Pferdes zu entkommen, es genügte nicht. Er war einfach nicht schnell genug, In einem letzten, verzweifelten Versuch sprang er schließlich hastig zur Seite, um nicht von den Hufen des Tieres zertrampelt zu werden. Aber das genügte nicht dem Schwert des Reiters zu entkommen. Das wurde ihm klar, als er plötzlich seine Schwester aufschreien hörte und gleich darauf eine warme, klebrige Flüssigkeit langsam begann über seine Arme zu rinnen und zu Boden zu tropfen. Atoti war überzeugt gewesen, dass es kein Entkommen mehr gab, der Mann würde ihn und seine Schwester töten und es gab niemanden, der das verhindern würde. Doch das Wunder geschah: Bewaffnet mit einem Dreschflegel preschte Hesira auf einem Pferd heran, dass er einem der Angreifer abspenstig gemacht hatte. Ohne zu zögern stürzte er den fremden Reiter mit Hilfe seiner Waffe vom Pferd, sodass dieser ohnmächtig liegen blieb. Dann befahl Hesira Atoti hastig ihm Inenek zu überlassen und auf das nun herrenlose Pferd zu steigen. Gleich darauf ritten sie in wildem Galopp, ohne noch einmal zurückzusehen auf und davon. Erst als sie weit genug vom Dorf und dessen Schrecken entfernt waren, legten sie eine kurze Rast ein, um notdürftig Ineneks Wunde zu versorgen, bevor sie ohne weitere Unterbrechung ihre Reise nach Gebtiu fortsetzen. Wieder herrschte Schweigen, nachdem Atoti seinen Bericht beendet hatte. Nachdenklich betrachtete Merenseth das bewusstlose, kleine Mädchen. Es machte seinem Namen alle Ehre. Dass es trotz seiner Verletzung noch immer lebte, zeugte von einem zähen Überlebenswillen. Dennoch, ihre Lebenskraft schwand mehr und mehr, es würde nicht mehr lange dauern und es gäbe ein weiters Opfer des Überfalls zu beklagen. Es gab keine Worte die den Verlust für Atoti erträglicher machen würden und so zog es die Vogelfrau vor, sich weiter auf ihren Auftrag zu konzentrieren, indem sie sich erkundigte, ob Atoti oder Hesira ein Mann aufgefallen war, auf den die Beschreibung Karims passte. Doch sowohl der Mann als auch der Junge schüttelten verneinend die Köpfe. Allerdings erklärte Hesira nach einem Moment zögernd, als würde er seiner plötzlich Hilfsbereitschaft selbst nicht trauen: „Da war ein weißhaariger Mann. Er saß etwas Abseits auf einem Stein, hatte die Arme verschränkt und völlig gelassen zugesehen…“, noch immer war Hesira die Fassungslosigkeit über das Verhalten des Fremden anzuhören. Für einen Moment verstummte er darauf, als müsse er sich erst wieder sammeln, und fuhr dann fort: „Aber nicht nur das war seltsam. Er hat ziemlich dicht am Feuer gesessen, ohne es überhaupt zu bemerken oder zu fürchten, dass man ihn erkennen oder töten könnte.“ „Wie alt war der Mann? Konntest du sehen, ob er ein Amulett oder etwas Ähnliches trug?“, fragte Merenseth leise und sachlich, während sie sich bemühte ihre plötzliche innere Anspannung und Unruhe nicht offenkundig werden zu lassen. „Älter als du, jünger als ich“, erwiderte Hesira auf die erste Frage seines Gastes und fügte hinzu: „Mehr kann ich nicht sagen, sein Alter war schwer zu schätzen.“ Wieder schwieg er einen Augenblick, rang mit sich oder versuchte seine eigenen Erinnerungen zu verstehen, dann begann er wieder zu berichten: „Als ich aus dem Dorf geflüchtet bin, musste ich direkt an ihm vorbei. Ich hatte Angst, dass er mich umbringen würde und so dachte ich, wenn ich ihn zuerst angreife, dann habe ich zumindest eine kleine Chance zu überleben… Er hat mich zur Seite gestoßen, als wäre ich ein kleiner Junge, mich nicht einmal angesehen. Aber gesprochen hat er, langsam und träge, als würde er halb schlafen. ‚Verschwinde, bevor ich es mir anders überlege und dich doch noch töte’, hat er gesagt, ‚und vergiss nicht, dass der König schuld an euerm Leid trägt. Würde er seine Aufgabe besser erfüllen, wären wir nicht gezwungen das zu tun.’ – Er hat gelächelt. Während er in die Flammen gestarrt hat und den Schreien zuhörte, hat er gelächelt! Er hat es genossen uns leiden zu sehen!“ Hesiras Stimme bebte vor fassungslosem Entsetzen, während er nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. Jetzt wäre Merenseth gern unruhig hin und hergerutscht, hätte liebend gern ihre Vogelgestalt angenommen, um davon zufliegen und all das hinter sich zu lassen, frei von allem was mit den Menschen zu tun hatte, Kummer bereitete, lähmte, hilflos machte. Sie blieb wo sie war und wiederholte schließlich nur leise ihre Frage nach dem Amulett. Einen Augenblick schien Hesira sie anklagend anzusehen, dann jedoch wandte er den Blick ab, dachte kurz nach und nickte schließlich. „Ich weiß nicht, ob es tatsächlich ein Amulett war, aber er trug eine seltsame Kette. Das heißt, eigentlich war es ein goldener Reif mit einem Udjatauge in der Mitte, den er an einer einfachen Schnur um den Hals getragen hat.“ Aufmerksam hatte Merenseth den Worten Hesiras gelauscht, möglicherweise hatte sie gerade die Antwort darauf gefunden, warum der noch immer namenlose Anführer damals den Angriff des weißen Dämons überlebt hatte. Gegenüber Hesira erwähnte sie jedoch nichts dergleichen, sondern bedankte sich lediglich für dessen Auskunft und erkundigte sich, ob Atoti oder Hesira noch von weiteren Überlebenden aus ihrem Dorf wussten, die Merenseth aufsuchen und befragen konnte. „Komm morgen wieder her, ich werde sie fragen, ob sie mit dir reden wollen“, gab Hesira zur Antwort, wieder zu seiner widerspenstigen Haltung zurückkehrend, als täte es ihm bereits leid einer Abgesandten des Königs geholfen zu haben. Merenseth schien von diesem Verhalten noch immer völlig unberührt, neigte lediglich leicht den Kopf und erhob sich anschließend, sich zugleich verabschiedend. Als sie am nächsten Tag wiederkehrte, erwarteten sie in dem Haus mit der Töpferwerkstatt nicht nur Hesira und Atoti, sondern noch fünf weitere Dorfbewohner, die offenbar bereit waren mit ihr zu reden. Jeder von ihnen schien sich davor zu fürchten das Erlebte wiederzugeben, als würden sie es auf diese Weise noch einmal erleben müssen. Zugleich schienen sie zu hoffen, dass ihre Berichte dazu beitrugen dem Schrecken endlich ein Ende zu setzen. Keiner von ihnen hatte einen Mann gesehen, auf den die Beschreibung Karims passte, zwei weitere Männer jedoch hatten wie Hesira den weißhaarigen Mann gesehen, der dem Überfall in aller Seelenruhe beigewohnt hatte, als wäre es ein eigens für ihn inszeniertes Schauspiel. Merenseth hatte sich am Tag zuvor, nach ihrem Gespräch mit Hesira und Atoti, Papyrus, Binsenstift und Tusche besorgt, die Berichte des Mannes und des Jungen aufgeschrieben. Ebenso machte es sie mit den fünf weiteren Aussagen, die sie zu hören bekam, sich deren Inhalt anschließend mit Unterschrift oder Daumenabdruck bestätigen lassend. Nachdem Merenseth schließlich alle Berichte gehört und aufgeschrieben hatte, war es an der Zeit aufzubrechen. Etwas gab es jedoch, was sie zuvor noch erledigen musste. Es war gegen Abend, der wolkenlose Himmel erglühte im Rot der untergehenden Sonne, vor dem sich ein wenig heller die glutfarbene Silhouette eines zierlichen Vogels abzeichnete, der ruhig auf dem Dach der Töpferwerkstatt saß, den Blick abwartend auf eine Fensteröffnung des angrenzenden Wohnhauses gerichtet. Der Vogel hatte bereits eine Weile stumm und reglos auf dem Dach gesessen, bevor er plötzlich leicht den Kopf hob und leise zu singen begann. Ein Lied unwiderruflichen Abschieds, das zugleich Versprechen und Trost enthielt. Das Lied des Benu war noch nicht zur Hälfte verklungen, als die durchscheinende, helle Gestalt einer Grasmücke aus dem Haus geflogen kam, dem noch immer singenden Benu einen kurzen Gruß zu zwitscherte, sich anschließend Richtung Westen wandte und sich innerhalb von Sekunden im Licht der untergehenden Sonne verlor. Post scriptum der wahrheitsgemäßen Vollständigkeit Onkel: Die Verwandtschaftsbezeichnungen im alten Ägypten waren – so weit bekannt – nicht sehr genau. So gab es offenbar keine eigene Bezeichnung für Onkel und Tante, was es etwas schwierig macht, die Verwandtschaften nachzuvollziehen. Der Verständlichkeit halber (und meiner Bequemlichkeit) habe ich mich entschieden die entsprechenden Bezeichnung dennoch zu verwenden, zumindest im Erzähltext. Kapitel 23: Treiben und getrieben sein -------------------------------------- Wie ein Lauffeuer verbreitete sich im Palast das Gerücht, dass der Kronprinz veranlasst hatte, das gesamte Schloss nach der gestohlenen Kette des Generals durchsuchen zu lassen. Akunadin hatte dieses Gerücht nur milde belächelt und sich wichtigeren Dingen zugewandt, musste jedoch wenig später zu seinem Verdruss feststellen, dass es durchaus nicht nur ein Gerücht war. Sein Unmut verstärkte sich noch, als eine sehr höfliche und ebenso hartnäckige Abordnung von Höflingen bei ihm erschien und darauf bestand auch seine Räume zu durchsuchen. Mit eisiger Miene und stoischer Herablassung sah der oberste Priester des Amun schweigend zu, wie sich die sechs Männer daran machten seine Räumlichkeiten gründlich nach der verhängnisvollen Kette zu durchsuchen. Sobald die Höflinge ihre erfolglose Suche beendet, sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigt hatten und wieder verschwunden waren, lief Akunadin mit wehenden Gewändern zu seinem Bruder. Bewohner und Bedienstete des Palastes, die ihm auf seinem Weg begegneten, wichen beim Anblick seiner düsteren Miene hastig zur Seite, sich noch tiefer als gewöhnlich verneigend. Im Stillen darüber erleichtert, wenn der Tjt gleichgültig an ihnen vorüberging und sie nicht befürchten mussten seinen offensichtlichen Zorn zu spüren zu bekommen. Akunemkanon hatte kaum befohlen seinen Bruder zu ihm zu lassen, als Akunadin auch schon das Zimmer betrat, mit einer knappen Geste die Diener hinausscheuchte und anschließend mit nur mühsam zurückgehaltner Wut in der Stimme fragte: „Nach allem, was ich für dich getan habe, traust du mir tatsächlich zu, ich könnte eine alberne Kette stehlen?“ Für einen Augenblick wirkte Akunemkanon bei diesem unerwarteten Ausbruch überrascht, dann jedoch wurde er verlegen, während er sich zugleich bemühte möglichst ruhig und sachlich zu erwidern: „Natürlich nicht. Aber es wäre immerhin möglich, dass ein Diener die Kette in deinen Räumen verborgen hat, weil er sie dort sicher glaubte.“ „Nur wegen dieser Kette untergräbst du mein Ansehen, indem du durch die Durchsuchung andeutest, das du mir nicht vertraust?!“ „Es geht nicht nur um die Kette, das weißt du“, konterte Akunemkanon bestimmt, „Ebenso, dass ich dir vertraue.“ „Das werden nach dem Vorgefallenen die Anhänger Karims mit Freuden bezweifeln“, erwiderte Akunadin grimmig, „wir befinden uns im Moment ohnehin in einer heiklen Situation, weil wir Karim des Hochverrats verdächtigen und den Anschein erwecken, ihn und sein Unwesen bis jetzt stets gedeckt zu haben.“ Noch während Akunadin sprach, hatte sich sein Bruder aus seinem Stuhl erhoben und war zu einem der in den Garten führenden Durchgänge getreten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, betrachtete er die im hellen Sonnenlicht liegenden Anlagen. Sobald Akunadin schwieg, wandte sich der König um, trat einige Schritte auf seinen Bruder zu und sagte voller Überzeugung: „Wie könnte jemand annehmen, dass zwischen uns Missstimmung herrscht, wenn unsere Söhne sich doch gemeinsam bemühen Karims Unschuld zu beweisen.“ Seth half Atemu Karims Unschuld zu beweisen? Er hatte angenommen, Seth ausreichend davon überzeugt zu haben, keinem der Beiden zu vertrauen. Offenbar hatte er mit dieser Annahme einen Fehler begangen. Irgendwie musste er das wieder ausgleichen, überlegte Akunadin, während er mit leicht verengten Augen seinen Bruder betrachtete und auf dessen Bemerkung lediglich erwiderte: „Niemand außer und weiß, dass Seth mein Sohn ist.“ „Du hast es ihm immer noch nicht gesagt?“, Akunemkanon klang überrascht. Gleich darauf hob er abwehrend die Hand, um seinen Bruder am Sprechen zu hindern, „Ich weiß, ich habe dir damals zugestanden den Zeitpunkt selbst zu bestimmen. Aber wäre es langsam nicht an der Zeit den Jungen über seine Herkunft aufzuklären?“ „Er wird es erfahren, wenn ich es für angebracht halte. Bis dahin ist es besser für ihn, wenn er keine Ahnung hat, dass ich derjenige bin, der ihn und seine Mutter damals verlassen hat.“ Verständnisvoll und mitfühlend ruhte Akunemkanons Blick bei diesen Worten auf seinem Bruder. Dieses Geständnis war und würde diesem erst recht gegenüber seinem Sohn alles andere als leicht fallen. Um Akunadin nicht weiter in Bedrängnis zu bringen, ließ Akunemkanon das Thema Verwandtschaftsaufklärung für diesen Moment auf sich beruhen und erklärte stattdessen mit einem aufmunternden Lächeln: „Nun, ich denke, auch wenn Niemand weiß, wer Seth ist, wird doch die Tatsache, dass ein künftiger Priester des Amun sich für den General der Armee einsetzt für genügend positiven Eindruck sorgen, um böse Stimmen zum Schweigen zu ringen.“ Mit einem besorgten Stirnrunzeln fügte der König nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich hoffe nur, es gelingt uns die Sache noch vor dem Beginn des Opetfestes aufzuklären. – Wie weit bist du inzwischen mit den Vorbereitungen? Gibt es irgendwelche Probleme?“ Mit einem erleichterten Aufatmen vernahm Akunemkanon gleich darauf, dass alles reibungslos von statten ging und auch der sicheren Ankunft des angekündigten hethitischen Gesandten nichts entgegen stand. Und so erklärte er schließlich mit ruhiger Entschiedenheit: „Ich werde Atemu während des Opetfestes zu meinem Mitregenten ernennen. Er ist alt genug, um Verantwortung zu übernehmen und sich mit den Aufgaben eines Königs vertraut zu machen.“ Ein wenig nachdenklich fügte er noch hinzu: „Wie wäre es, wenn du Seth als Priester und nicht nur als Zuschauer an der Eröffnungsfeier teilhaben lässt? An diesem Tag müsste, er doch seine Ausbildung bereits abgeschlossen und die Weihe empfangen haben.“ Akunadin nickte darauf bestätigend und fügte erklärend hinzu: „Ich überlege, ihn als einen der Reinigungspriester einzusetzen.“ „Warum nicht als Barkenträger?“, schlug Akunemkanon mit freundlicher Großzügigkeit vor und erhielt darauf die mit steifer Förmlichkeit vorgebrachte Antwort: „Majestät, es wäre äußerst unklug einen Priesterschüler über den ihm gebührenden Rang hinaus auszuzeichnen. Es würde nur für Unfrieden unter den anderen Priestern sorgen.“ „Und das können wir im Moment wirklich nicht gebrauchen“, ergänzte Akunemkanon mit einem resignierten Seufzen die Worte seines Bruders. „So ist es“, bestätigte der Tjt mit einem erneuten Nicken und entspannte sich wieder ein wenig, bevor er bat: „Erlaube, dass ich mich zurückziehe. Bis zum Beginn des Festes gibt es noch Einiges zu tun.“ „Natürlich, geh nur“, stimmte Akunemkanon sofort freundlich zu und wandte sich selbst ebenfalls wieder den Berichten zu, die er gelesen hatte, bevor sein Bruder zu ihm gekommen war. Sobald Akunadin die königlichen Gemächer verlassen hatte, ging er auf dem kürzesten Weg in den Harem. Die Nachricht, dass Atemu zum Mitregenten ernannt werden sollte, brachte ihn in Zugzwang. Bevor er sich jedoch darum kümmerte, wollte er zunächst dafür sorgen, dass Seth ihm keine unangenehmen Überraschungen mehr bereiten würde. In den Frauengemächern angekommen, suchte er nach Meresankh, die er schließlich in einem der weitläufigen, luftigen Räume fand, in denen bei besonderen Anlässen Feierlichkeiten stattfanden und die sonst als eine Art Gesellschaftsraum für die Frauen dienten. Meresankh saß mit einigen anderen Damen zusammen und musizierte. Entschuldigte sich bei diesen jedoch umgehend, als sie den Tjt entdeckte und kam ihm gleich darauf entgegen. Nur wenige Schritte vor Akunadin blieb sie schließlich stehen, verneigte sich höflich und begrüßte ihn mit den Worten: „Du kommst zu einer ungewöhnlichen Zeit. Ist etwas geschehen?“ Niemand außer dem König hätte es gewagt den obersten Priester des Amun so direkt anzusprechen, statt sich jedoch unnötig mit einer Zurechtweisung aufzuhalten, erwiderte Akunadin nur knapp: „Wir müssen reden.“ Meresankh neigte leicht den Kopf und antwortete freundlich: „Im Garten ist es zu dieser Zeit besonders angenehm…“ Bevor sie ihren Satz beenden konnte, entschied Akunadin sachlich: „Gehen wir“, zugleich bereits die ersten Schritte in die entsprechende Richtung machend, sicher dass Meresankh ihm folgen würde. Sie schwiegen bis sie sich weit genug von den Frauengemächern entfernt hatten, um von dort keine unnötige Störung befürchten zu müssen. Dann jedoch befahl der Tjt bestimmt, ohne irgendwelche Umschweife oder einleitende Erklärungen: „Du wirst mit Seth schlafen.“ „Was?“ war alles, was Meresankh nur mit ungläubigem und völlig überrumpeltem Gesichtsausdruck, entgegen aller Hofetikette hervorbrachte, während Akunadin, ohne auf ihren Ausruf zu achten, ergänzte: „Er ist jung und vernarrt in dich. Schläfst du mit ihm, wird er dich beeindrucken wollen und dir, wenn du es geschickt anstellst, alles erzählen, was er denkt und plant.“ „Aber warum fragst du ihn nicht selbst?“ wollte Meresankh noch immer vollkommen überrascht von dem eben Gehörten wissen, sich krampfhaft darum bemühend ebenso sachlich zu erscheinen wie ihr Begleiter. „Er steht in deinen Diensten und du hast ihn stets wie einen Sohn behandelt. Warum sollte er dir nicht Rede und Antwort stehen, wenn du ihn befragst?“ „Dazu müsste ich sicher sein, dass er noch immer auf meiner Seite steht. Da er aber für diese lächerliche Palastdurchsuchung verantwortlich ist, um die Unschuld Karims zu beweisen, muss ich annehmen, dass er mir gegenüber nicht ehrlich sein wird. Wenn ich aber sicher wäre, dass er Karim misstraut, bräuchte ich ihn nicht zu fragen. Täte ich es dennoch und zöge damit offiziell seine Absichten in Zweifel, würde ich ihn erst recht auf die Seite Karims treiben.“ Meresankh nickte ein wenig benommen von dieser verwirrenden Erklärung, schwieg einen kurzen Moment und erkundigte sich dann: „Woher weißt du, dass Seth für die Palastdurchsuchung verantwortlich ist?“ „Sie haben auch meine Räume durchsucht“, die Stimme des Tjt klang beherrscht, lediglich die eisige Kälte, die in diesen wenigen Worten mitschwang, gab Auskunft darüber wie sehr ihn diese Tatsache noch immer verärgerte. „Als ich Akunemkanon um eine Erklärung bat, erwähnte er, dass Seth und Atemu die Verantwortlichen dafür seien.“ „Und nun vermutest du, Seth könnte annehmen, dass du etwas mit dem Verschwinden der Kette zu tun hast“ schlussfolgerte Meresankh nachdenklich, ohne darauf eine Antwort zu erhalten. „Ist es möglich, dass sie die Kette finden?“ Die Antwort des Tjt bestand nur in einem starren Blick, der Meresankh einen kalten Schauer über den Rücken jagte und sie erleichtert aufatmen ließ, als Akunadin seinen Kopf wieder abwandte und an ihrer statt ein unschuldiges Staudengewächs fixierte, das augenblicklich zu verkümmern schien. – Zumindest bildete sich Meresankh dies für einen winzigen Sekundenbruchteil ein, bevor sie sich selbst zur Ordnung rief, zum ursprünglichen Thema zurückkehrte und sich vorsichtig erkundigte: „Wirst du auch zufrieden sein, wenn ich die Absichten des Jungen herausfinde, ohne mit ihm zu schlafen?“ „Solange ich rechtzeitig erfahre, was er vor hat, bleibt es dir überlassen, welche Mittel du benutzt“ erwiderte Akunadin gleichmütig, drehte sich gleich darauf herum und kehrte zu den Frauengemächern zurück, ohne noch ein weiteres Wort mit seiner Begleiterin zu wechseln. Diese war ebenfalls nicht zum Plaudern aufgelegt, stattdessen wirkte sie eher besorgt und als wäre sie in Gedanken damit beschäftigt, die beste Lösung für ein schwieriges Problem zu finden. Wie so häufig in den vergangenen Tagen, beschäftigte sich Seth auch jetzt wieder mit der Frage wie und ob sich die Unschuld Karims beweisen ließe. Allerdings gelangte er dabei nicht zu irgendwelchen nennenswerten neuen Erkenntnissen. Nichts desto trotz ließ ihm diese Angelegenheit einfach keine Ruhe, sondern zwang ihn sich immer und immer wieder mit ihr zu beschäftigen, sei es auch noch so ergebnislos. Er war auf dem Rückweg vom Tempel des Amun, wo er mechanisch die ihm übertragenen Reinigungs- und Opferriten erledigt hatte, während er die vorgeschriebenen Texte rezitierte, mit seinen Gedanken in die Vergangenheit zurückkehrend. Wieder sah er das Dorf brennen, wieder suchte er vergebens nach seiner Mutter und Meni, wieder flüchtete er in die Wüste und machte sich schließlich auf den Weg in die Pharaonenstadt. Überrascht stellte er fest, dass ein Teil von ihm sich wünschte, Karim wäre tatsächlich schuldig. Dann hätte er endlich den Verantwortlichen für den Tod seiner Mutter und Menis gefunden, könnte er dem gesichtslosen Gespenst seiner Albträume ein Gesicht geben und beginnen die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen. Aber es gab zu viele Ungereimtheiten, als dass Seth den Kommandanten als den Schuldigen hätte betrachten können. Solang Karim als der Kopf hinter den Überfällen angesehen wurde, würde sich jedoch niemand mehr die Mühe machen, nach dem tatsächlichen Anführer zu suchen. Ob Merenseth schon etwas herausgefunden hatte? Seth begann bereits ungeduldig auf ihre Rückkehr zu warten. Nicht nur, um zu erfahren was die Überlebenden erzählt hatten, sondern auch, um den Benu als nächstes prüfen zu lassen, ob Sened die Wahrheit gesagt hatte. Keiner der beiden Prinzen hatte allzu überzeugt von dem gewirkt, was Sened ihnen erzählt hatte. Allerdings konnte das ebenso gut auf einem blinden Vorurteil beruhen und das würde ihnen bei der Aufklärung der ganzen Sache kein bisschen weiter helfen. Seth hatte diesen letzten Gedanken kaum zu Ende gedacht, als seine gesamte Aufmerksamkeit plötzlich gänzlich anderweitig in Anspruch genommen wurde. Mit katzenhafter Lautlosigkeit war neben ihm Meresankh aufgetaucht, die sich nun scherzhaft darüber beschwerte, dass der junge Priester ihr gegenüber sehr unhöflich gewesen wäre, sie so vollkommen zu übersehen. „Die Probleme, die du zu lösen hast, müssen wirklich von komplizierter Natur sein, sonst bist du weit weniger unaufmerksam. Ich habe sogar den Tjt sagen hören, dass dir nur sehr selten etwas entgeht und er noch nie einen solchen Schüler wie dich hatte.“ Verblüfft starrte Seth seine plötzliche Begleiterin unverhohlen an, bevor er ruckartig ein wenig den Oberkörper vorbeugte und gleichzeitig brummte „du übertreibst.“ Unterdessen war in seinem Inneren ein wahrer Sturm aus sich überschlagenden Gedanken und verwirrenden Empfindungen losgebrochen, untermalt von plötzlichem Herzrasen und nervösem Magenzucken. Seit er Meresankh das erste Mal gesehen hatte, war es ihm in ihrer Gegenwart unmöglich gleichmütig zu bleiben, stets war da die Befürchtung sich vor ihr lächerlich zu machen. Dazu gehörte auch die irrationale Besorgnis, er könnte plötzlich anfangen zu stottern oder etwas äußerst Dummes sagen, sodass er bei ihrer Anwesenheit noch schweigsamer wurde, als er es in Gegenwart Anderer ohnehin schon war. Meresankh schien das jedoch nicht zu stören, sie verhielt sich als wäre Seth der angenehmste Gesprächspartner, den man sich nur vorstellen konnte und als gäbe es keinen Ort, an dem sie sich in diesem Moment lieber aufhalten würde, während immer wieder ihr Arm wie zufällig den Seths streifte und den jungen Mann nur noch mehr irritierte. „Oh, ich übertreibe keineswegs“, Meresankh lächelte freundlich, „ich sage nur, was ich gehört habe. Und ich habe auch gehört, dass du es warst, der vorgeschlagen hat, den Palast nach der Kette durchsuchen zu lassen, um so die Unschuld von Isis Mann zu beweisen.“ Seths Ohren röteten sich bei diesen Worten vor Verlegenheit, während er unwillig eingestand: „Es war eine dumme Idee.“ „Aber durchaus nicht!“, widersprach Meresankh lebhaft, „es hätte doch sehr gut möglich sein können, dass jemand aus Neid die Kette entwendet hat und wenn sie gefunden worden wäre, hätte jeder erfahren, dass ein Priester des Amun den rettenden Einfall hatte und die Feindschaft zwischen Armee und Amunpriestern als hinfällig betrachtet werden kann.“ Seth schwieg zu diesen Worten, zum einen schmeichelten ihm die Worte Meresankhs, zum anderen wollte er nicht riskieren sie zu enttäuschen, indem er ihr widersprach. Da sie auf ihre Bemerkung keine Antwort erhielt, erkundigte sich Meresankh in aufmunterndem Tonfall: „Du wirst dich doch von diesem einen Misserfolg nicht umstimmen lassen? Ich bin sicher, du hast schon eine neue Idee, wie Karim gerettet werden kann.“ So viel unerwartet in ihn gesetztes Vertrauen ließ Seth doch stutzig werden. Für gewöhnlich waren ihm die Meinungen anderer recht gleichgültig, wusste er doch aus Erfahrung was er konnte, wozu er im Stande war. Diese Frau jedoch war für ihn eben nicht irgendjemand und so war ihm auch ihre Meinung nicht gleichgültig, aber so viel Vorschusslob war dann doch ein wenig alarmierend. „Warum willst du, dass Karim frei kommt? Wird er entmachtet, ist das doch von Vorteil für den Tjt.“ „Versuchst du gerade herauszufinden, ob ich Akunadin untreu werde?“, fragte Meresankh verschmitzt und fügte hinzu: „Dann müsste ich die Frage an dich zurück geben: Warum hilfst du einem Gegner des Tjt, wenn du ihm doch so viel verdankst?“ Seth runzelte ein wenig verärgert die Stirn, während er würdevoll erklärte: „Das hat nichts mit Untreue zu tun. Der Tjt will Gerechtigkeit für Kemet, wie will er sie erreichen, wenn Unschuldige verurteilt werden?“ „Und du weißt, dass Karim unschuldig ist?“ Wieder blieb Seth eine Antwort schuldig und Meresankh biss sich ein wenig enttäuscht auf die Unterlippe, während sie überlegte, wie es ihr doch noch gelingen könnte, herauszufinden, was Akunadin von ihr wissen wollte. Vorerst jedoch kam sie nicht dazu einen weiteren Versuch zu unternehmen, denn in diesem Moment kam ein Diener heran, der Seth darüber informierte, dass dieser zum obersten Priester des Amun kommen solle. Nachdem der Diener seine Nachricht überbracht und wieder gegangen war, stand der junge Priester noch immer ungewohnt unentschlossen neben seiner schönen Begleiterin und wirkte plötzlich ein wenig linkisch, als wüsste er nicht recht, was er tun solle. Erst als Meresankh ihn aufmunternd anlächelte und erklärte: „Den Tjt darf man nicht warten lassen, beeil dich besser zu ihm zu gehen“, verneigte er sich schließlich knapp, drehte sich um und ging. Er hatte erst wenige Schritte getan, als Meresankh an seinen Rücken gewandt leise hinzufügte: „Vielleicht sehen wir uns heute Abend in den Gärten.“ Es klang mehr nach einer vagen Hoffnung als nach einem Vorschlag und schien keine Antwort zu erwarten. Kurz war Seth noch einmal stehen geblieben und neigte nun kaum merklich seinen Kopf, bevor er seinen Weg zum Tjt fortsetzte. Noch immer lächelnd sah Meresankh dem sich entfernenden Mann nach. Vielleicht war ihr Unternehmen doch nicht so aussichtslos, wie sie eben noch angenommen hatte. Bis zum Abend wäre Seth sicher mehr als beschäftigt. Zeit genug, um sich ein wenig mit Kisara zu unterhalten, möglicherweise erfuhr sie dabei etwas, dass ihr weiterhelfen würde. Es war nicht weiter schwierig gewesen, Kisara dazu zu bringen, von Seth zu erzählen. Das Mädchen bewunderte den Jungen aufrichtig, vertraute ihm blind und schien ihn nahezu anzubeten. Da sie nicht oft einen so freundlichen, aufgeschlossenen und aufmerksamen Zuhörer wie Meresankh hatte, der sie so gut verstand, nutzte das Mädchen die seltene Gelegenheit ausführlich von Seth zu berichten und sich bestätigen zu lassen, dass er tatsächlich so bewundernswert war, wie sie fest glaubte. Nachdem Meresankh sich mit Kisara unterhalten und sich für den Abend zurechtgemacht hatte, war sie schließlich in die Gärten gegangen, wo sie nun von einigen Büschen verborgen darauf wartete, dass Seth sich zeigte. Sie hatte ihren Platz mit Bedacht gewählt, konnte sie doch von dieser Stelle sehen ohne selbst gesehen zu werden, sodass sie den Vorteil hatte zu entscheiden, wann sie sich dem jungen Priester zeigen würde. Trotzdem sie davon überzeugt war, dass Seth ihre Verabredung nicht verpassen würde, stellte Meresankh überrascht fest, dass sie ein wenig aufgeregt war. Unsicher, ob es ihr tatsächlich gelingen würde diesen spröden, wortkargen Jungen dazu zu bringen, ihr zu erzählen, was in ihm vorging. Sie nahm an, dass es Jägern, die sich an Wild heranpirschten, um es zu erlegen, ähnlich erging. Dass diese die Spannung über den fraglichen Erfolg ihres Unternehmens als Teil der Jagd ebenso genossen, wie sie in diesem Augenblick das Spiel mit dem ahnungslosen Priesterschüler. Dann sah sie ihn, wie er den Palast verließ, sich prüfend umsah und sein Gesicht schließlich gen Himmel wandte, als suche er dort nach etwas Bestimmtem. Verblüfft beobachtete Meresankh dieses Verhalten einen Augenblick, dann entschied sie, dass es wohl besser wäre sich zu zeigen und ihn daran zu erinnern, weshalb er tatsächlich in die Gärten gekommen war. Mit einem bezaubernden Lächeln trat sie aus ihrem Versteck hervor und auf den jungen Priester zu, ihn mit den koketten Worten begrüßend: „Suchst du mich? Dann schaust du in die falsche Richtung. Aber ich fühle mich geschmeichelt, dass du glaubst ich könnte fliegen.“ Für einen kurzen Moment schien Seth verlegen, dann jedoch erkundigte er sich nur betont sachlich: „Weshalb wolltest du mich treffen?“ Meresankh verzog enttäuscht die Lippen, als hätte sie die schroffe Frage verletzt und erwiderte kühl: „Ich wüsste nicht, dass ich so etwas behauptet hätte“, wandte sich dann schwungvoll ab und schritt hoheitsvoll von dannen, im Stillen zählend, wie lang es dauern würde, bis er ihr nachgelaufen käme. Sie kam bis zu der Zahl 12, als neben ihr ein Schatten auftauchte und Seth nach einer Weile, in der sie schweigend neben einander her liefen, sehr beiläufig erklärte: „Ich warte auf Merenseth.“ Meresankh warf ihm nur einen kurzen Seitenblick zu, während sie noch immer in kühlem Tonfall erwiderte: „Ich will nichts von anderen Frauen hören. Schon gar nicht, wenn sie zaubern können.“ Kurz wirkte Seth verblüfft, dann jedoch berichtigte er mit einem unwillkürlichen Lächeln: „Merenseth ist ein Vogel.“ „Oh“, lautete die in einer perfekten Mischung aus Verlegenheit und Überraschung vorgebrachte Antwort Meresankhs, bevor sie nach einer Pause, in der sie sich offenbar bemühte ihre Verlegenheit zu überwinden, nachhakte: „Meinst du den Benu des Königs?“ Als Seth darauf nur bestätigend nickte, entschied Meresankh mit einem erleichterten Lächeln fröhlich: „Dann möchte ich doch etwas über sie hören!“, sich zugleich mit neuer Zutraulichkeit bei Seth einhakend. Mit dieser plötzlichen Nähe ein wenig überfordert, runzelte Seth die Stirn, während er sich bemühte einen klaren Kopf zu behalten und doch nur die Frage hervorbrachte: „Was möchtest du wissen?“ Sich im gleichen Moment über seine dümmliche Unbeholfenheit ärgernd. Spielerisch legte Meresankh einen Finger gegen ihre Lippen, den Kopf ein wenig neigend, sodass ihrem Begleiter ein bezaubernder Blick auf die anmutige Linie ihres Halses und das sanfte Pulsieren der Schlagader unter samtig schimmernder, goldbrauner Haut gewährt wurde. Nach einem Moment des Überlegens fragte sie in gespielter Naivität: „Ist Merenseth tatsächlich ein Benu?“ Seth schluckte hart und antwortete mit einem mühsam vorgebrachten „Ja“, während er sich angestrengt bemühte nicht zu offensichtlich auf dieses verführerische Stückchen Haut zu starren. Peinlicher Weise fielen ihm in genau diesem Moment die erotischen Papyri ein, die zwischen den Jungen seiner Klasse herumgereicht worden waren. Er konnte noch nicht einmal tief durchatmen, um diese – zugegebenermaßen sehr interessanten - Bilder in seinem Kopf zu vertreiben, denn dann würde ihm ihr Duft den Kopf vernebeln und er wäre immer noch nicht in der Lage wieder normal zu denken. Meresankh lächelte wissend, während sie ihn unauffällig aus den Augenwinkeln beobachtete und anschließend so tat, als würde sie die Verlegenheit des Jungen nicht bemerken. „Kann dein Benu Wünsche erfüllen?“ „Was?“, Seth klang verwirrt, als hätte er entscheidende Teile des Gesprächs verpasst und wüsste nun nicht, worum es gerade ging. Meresankh lachte leise und kehlig, jagte auf diese Weise eine angenehme Gänsehaut über Seths Körper, während sie sich provozierend noch ein wenig enger an ihn schmiegte und es schaffte ihre Stimme wie ein Schnurren klingen zu lassen, als sie geduldig wiederholte: „Merenseth, dein Benu. Kann sie Wünsche erfüllen?“ Nur mit großer Mühe gelang es Seth sich wieder vollkommen auf die Unterhaltung zu konzentrieren. „Sie gehört offiziell seiner Majestät“, stellte er zunächst einmal pedantisch richtig, ohne jedoch hinzuzufügen, dass es sich dabei um eine reine Formsache handelte. Denn seit Akunemkanon ihm das Amt der Pflege für Merenseth übertragen hatte, hatte er sich nicht wieder nach dem Tier erkundigt. „Bei den Wünschen kommt es auf die Art an, ob sie erfüllbar sind oder nicht.“ „Welche Art Wünsche würde sie denn nicht erfüllen?“ „Tote wiederbeleben“, etwas in der Stimme Seths bei diesen Worten, die er erst nach einem kurzen Zögern aussprach, veranlasste Meresankh ihm tröstend über das Handgelenk zu streichen, bevor sie sich mit einem sanften Lächeln erkundigte: „Und was wäre mit dem Wunsch, dass wir zusammen da Opetfest besuchen?“ „Dann wäre dieser Wunsch für die Eröffnungsfeier nicht erfüllbar“, erklärte Seth bemüht forsch, „für die anderen elf Tage wäre er es.“ „Dann hoffe ich, dass Merenseth bald zurückkommt, damit ich ihr meinen Wunsch vortragen kann.“ Meresankh lächelte verführerisch, sodass Seth erneut vor Verlegenheit rote Ohren bekam, verunsichert den Blick abwandte und undeutlich murmelte: „Ich auch.“ Für eine Weile liefen sie wieder schweigend neben einander her, während zwischen ihnen die Spannung immer größer wurde und die Luft förmlich zu knistern schien vor unausgesprochenen Gefühlen. „Wenn ich mir von einem Benu wünsche, dass mich der Priester Seth küsst, wäre das ein erfüllbarer Wunsch?“ Es war nur ein heiseres Flüstern, das fingerspitzengleich die Haut zu liebkosen schien, mit dem Meresankh schließlich das Schweigen brach. Und doch genügte es um Seth abrupt inne halten zu lassen und seine Begleiterin ungläubig anzustarren, die noch einige Schritte weiter ging, bevor auch sie stehen blieb, sich zu dem jungen Priester umwandte und ihn mit ernstem, fragendem Blick scheinbar verunsichert ansah. Seth schien äußerlich zur Salzsäule erstarrt, während in seinem Inneren ein regelrechter Sturm tobte. So lang hatte er diese Frau aus der Ferne bewundert, sie sehnsüchtig beobachtet und doch stets gewusst, dass sie für ihn unerreichbar war. Und nun stand sie hier, direkt vor ihm und bat ihn – ihn! – um einen Kuss! Es war einfach unfassbar. Vorsichtig trat der Priester einen Schritt näher, unsicher nachhakend: „Du würdest dir von meinem Benu wünschen, dass ich dich küsse?“ Lediglich ein Nicken war die Antwort, während Meresankh ihn aus großen, gefühlvollen Augen unverwandt ansah. Nervös schluckte Seth. Er hatte jetzt genau zwei Möglichkeiten: Entweder er ergriff schleunigst die Flucht, bevor die atemberaubenste Frau, die er kannte, herausfand, dass er abgesehen von einem gelegentlichen Kuss seiner Mutter, keine blasse Ahnung vom Küssen hatte oder er ergriff die Gelegenheit beim Schopf und riskierte sich vollkommen lächerlich zu machen. Er war noch nie einer Herausforderung ausgewichen; und überzeugt, dass küssen so schwierig nicht sein konnte, wenn es die meisten Menschen so problemlos hinbekamen. Außerdem konnte er sich eine derart einmalige Gelegenheit unmöglich entgehen lassen. Noch während diese Gedanken in einem wahnwitzigen Tempo durch sein Gehirn schossen, hatte er bereits den letzten Abstand zwischen sich und Meresankh geschlossen und seine Hände an ihre Wangen gelegt. Ihren Kopf gefangen haltend, als hätte er Angst, sie würde es sich in letzter Sekunde anders überlegen und einen Rückzieher machen. Aber sie hatte nicht die geringste Absicht, ihre Meinung zu ändern, sondern kam ihm auf halbem Weg mit ihrem Gesicht entgegen. Sanft, beinahe unschuldig berührten sich schließlich ihre Lippen. Recht zufrieden mit seinem ersten Versuch, hob Seth gleich darauf den Kopf, neugierig zu erfahren, was sie von diesem Kuss hielt. Meresankh schien allerdings enttäuscht: „Das nennst du einen Kuss?“, trotz des Tadels, klang ihre Stimme noch immer samtweich und dunkel, während ihre rechte Hand in seinen Nacken glitt und Seth wieder näher an ihr Gesicht heranzog. Auf diese Weise den verständnislosen Gedankengang des Priesters, wie man die intime Berührung zweier Lippen zwecks Zuneigungsbekundung sonst nennen sollte, umgehend zu Staub zerfallen lassend. „Gute Nacht sagen kannst du mir später.“ Es war nur noch ein vielversprechendes Flüstern, ganz nah an seinem Mund, bevor sie ihn lehrte, was es tatsächlich hieß zu küssen. – Und sie war eine großartige Lehrerin. Einige Zeit später lagen sie nackt und erschöpft nebeneinander in dem schmalen Bett, das in Seths Kammer stand. Noch vor wenigen Stunden hätte dieser steif und fest behauptet, dass es unmöglich wäre mehr als eine Person darin unterzubringen. Nun wusste er es nicht nur besser, sondern war darüber hinaus der festen Überzeugung, dass schmale Betten zu den Fantasie und Erfindungsreichtum fördernsten Dingen gehörten, die sich vorstellen ließen. Den Kopf auf die Schulter Seths gebettet, sodass dieser nur den Kopf zu drehen brauchte, wenn er den Duft ihrer gesalbten Haare einatmen wollte, mit den Fingern einer Hand gedankenverloren unsichtbare Figuren auf die Haut des Priesters malend, lag Meresankh. Wieder einmal hatte Akunadin seinen Willen durchgesetzt und sie getan, was er von ihr verlangt hatte. Aber wie anders war es dieses Mal gewesen; hatten ihr die anderen Aufträge eher Unbehagen oder Angst bereitet, waren es dieses Mal Lust und Vergnügen gewesen. Dieses halbe Kind neben ihr, hatte ihr mit seiner Gier zu entdecken, herauszufinden und zu lernen, mit seiner ungestümen Unerfahrenheit das Gefühl gegeben tatsächlich begehrt zu werden, verehrt, angebetet. Wie anders war dagegen das Verhalten Akunadins. Oh, es fehlte ihm keineswegs an Finesse. Aber wenn sie mit einander schliefen, hatte das stets etwas Mechanisches, als würde der oberste Priester lediglich einen unvermeidlichen Trieb befriedigen, um den Kopf anschließend frei für die wichtigen Dingen des Lebens zu haben. „Wirst du versuchen den Tjt zu stürzen?“, Kaum war Meresankh diese Frage entschlüpft, als sie sich auch schon auf die Unterlippe biss. Wie konnte sie nur so dumm sein, so direkt zu fragen, auf diese Weise würde sie nie eine Antwort erhalten. Wieder einmal verblüfft starrte Seth Meresankh an. In ihrer Frage hatte leise Hoffnung mitgeklungen, während ihr Gesicht nun einen eindeutig verzagten Ausdruck zeigte. „Ich habe keinen Grund, so etwas zu tun“ antwortete er schließlich und fügte ohne Pause mit gerunzelten Brauen hinzu: „Warum hast du Angst vor ihm, hat er dir etwas getan?“ Nun war es an Meresankh Seth überrascht anzusehen, bevor sie fröhlich auflachte und erklärte: „Wenn du ein Leben in Luxus als Etwas bezeichnen würdest, dass man jemand anderem antut, dann hat er mir etwas angetan.“ Seth wirkte nicht überzeugt. Seine Stirn furchte sich noch stärker, als er beharrlich nachhakte: „Warum wolltest du dann wissen, ob ich ihn stürzen will?“ „Weil mich noch immer die Frage beschäftigt, warum ausgerechnet ein Priester des Amun versucht dem obersten Befehlshaber der Armee helfen.“ Noch immer skeptisch schwieg Seth zunächst auf Meresankhs Bemerkung, schien jedes einzelne Wort auf eine verborgene Bedeutung zu überprüfen, einen versteckten Sinn herauslesen zu wollen, ohne jedoch fündig zu werden. Meresankh beobachtete ihn eine Weile aufmerksam und entschied dann, dass es nicht schaden konnte, ihn ein wenig abzulenken. Mit spielerischer Leichtigkeit begannen ihre Finger erneut über die erstaunlich helle Haut des jungen Priesters zu streichen. „Verrat es mir doch“, ein sanfter Hauch an seinem Hals. „Oder hältst du mich für so wenig vertrauenswürdig?“ Die Zärtlichkeiten endeten abrupt, als sie diese Möglichkeit aussprach, während ihre Stimme alles Erotische verlor, abkühlte und verletzt klang. Hatte Seth zuvor nur mit Mühe atmen und denken können, trafen ihn die weiteren Worte Meresankh wie ein Strahl eisigen Wassers, sodass er nun nur missmutig brummte: „Da gibt es nichts zu verraten. Karim war es nicht, das werde ich beweisen, sobald Merenseth zurück ist.“ „Aber warum?“ wiederholte Meresankh stur ihre Frage und bewies, dass sie Seth an Eigensinn durchaus nicht nachstand. „Weil es meine Pflicht als Diener des Königs ist.“ Schwang da ein ironischer Unterton mit? Meresankh war sich nicht sicher, genauso gut konnte er es vollkommen ernst gemeint haben. „Warum musst du die Rückkehr Merenseths abwarten? Wirst du sie bitten, dir einen Wunsch zu erfüllen?“ Die zweite Frage war mit einem Lächeln in neckendem Tonfall gestellt worden. Seth ging jedoch nicht darauf ein, sondern erwiderte lediglich: „Das habe ich.“ Meresankh wirkte überrascht, wusste nicht wie sie darauf reagieren, was sie sagen sollte. So erklärte sie schließlich mit einem anerkennenden Lächeln und einer Stimme, die dem jungen Priester buchstäblich unter die Haut ging: „Du bist ein Mann voller Überraschungen.“ Seth hielt es für besser, darauf den Mund zu halten, während es ihm zu seiner eigenen Genugtuung gelang dem Blick Meresankhs nicht nur standzuhalten, sondern den eigenen auch noch probeweise mit einer arrogant gehobenen Augenbraue zu garnieren, die zu besagen schien: ‚Tatsächlich. Und du erzählst mir das weil…?’ Meresankhs Lächeln verstärkte sich bei diesem Anblick noch, während sie sich erkundigte: „Weißt du noch, was ich dir vorhin über das Gute-Nacht-Sagen gesagt habe?“ Seth nickte nur abwartend. „Wie wäre es mit jetztt?“ Dieses Mal hob sich die Augenbraue scheinbar ganz von selbst, in blitzartiger Geschwindigkeit nach oben, während Seth nur kategorisch erklärte: „Später.“ Meresankh zu sich heranzog und ihr bewies, wie gut er von ihr gelernt hatte. Er hatte das Gefühl, nur wenige Minuten geschlafen zu haben, als er durch ein dumpfes Geräusch plötzlich aus seinem leichten Schlaf geweckt wurde und sich hastig im Bett aufsetzte. Nachdem er sich versichert hatte, dass Meresankh unbehelligt weiterschlief, sah Seth zum Fenster, von wo das Geräusch erklungen war, und entdeckte eine am Boden liegende Leinentasche sowie Merenseth, die gerade durch das Fenster hereinschlüpfte, die Tasche gleich darauf wieder mit ihren Krallen packte, sich mit einem Flügelschlag dem Tisch näherte, die Tasche dort erneut fallen ließ und sich schließlich auf ihrer Sitzstange niederließ. Als der Benu bemerkte, dass Seth nicht schlief, sondern gerade auf sie zu kam, reckte sie sich ein wenig und schlug einmal kurz mit den Flügeln. Gerade als Merenseth zu einem begrüßenden Tschilpen ansetzte, hielt Seth ihr im letzten Moment den Schnabel zu und flüsterte: „Sei still, sonst weckst du sie auf!“ Fragend hoben sich ein wenig die glutfarbenen Schopffedern, bevor Merenseth ihren Schnabel aus den Fingern Seths befreite und den Kopf wandte. Kaum hatte sie die schlafende Frau im Bett entdeckt, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem nackten, noch immer ein wenig mageren Priester zu und schien ihn gründlich von oben bis unten zu mustern, bevor sie ihn mit undurchdringlichem Blick anzustarren schien. Unbehaglich hielt Seth diesem Blick stand, während er sowohl irritiert als auch verärgert fühlte, wie dieses Mal nicht nur seine Ohren vor Verlegenheit zu glühen begannen. Frustriert ballte er die Hände zu Fäusten und zog die Brauen zusammen. Er konnte sich denken, dass Merenseth alles andere als erbaut darüber war, dass er ihr anscheinend die ganze Arbeit überließ, während er sich selbst mit Meresankh vergnügte. Aber er sah nicht ein, dass er sich deswegen schuldig fühlen sollte. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand, dass er nicht über die Möglichkeiten eines Benu verfügte, war schließlich nicht seine Schuld. Merenseth war tatsächlich ein wenig irritiert. Nicht darüber, dass Seth offensichtlich den menschlichen Fortpflanzungstrieb für sich entdeckt hatte – das hatte früher oder später passieren müssen. Allerdings fand sie, er hätte mit dem Ausleben seiner Neugier wenigstens noch solange warten können, bis es ihnen gelungen wäre Kemet vor dem Untergang zu bewahren. Wer wusste schon, ob er in diesem Zustand fähig wäre klar zu denken? Andererseits ließ sich an Geschehenem nichts mehr ändern und warum sollte er nicht auch einmal glücklich sein und einfach das tun, was Menschen in seinem Alter eben taten. Kurz zwinkerte Merenseth, während sie ihren Kopf ein wenig schräg legte, als könnte sie die Dinge auf diese Weise aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Dann zuckte ihr schlanker Hals vor, schnappte sie mit dem Schnabel nach einer Haarsträhne Seths und zupfte heftig genug daran, dass sie der Priester zornig anfunkelte, während er heroisch der Versuchung widerstand, über die malträtierte Kopfhaut zu reiben. Unterdessen hatte der Benu die Strähne bereits wieder losgelassen und schon den Schnabel geöffnet, um durch ein Tschilpen kundzutun, dass sie die Dinge akzeptierte wie sie waren. Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie die Frau in dem Bett nicht wecken sollte. So schlug sie lediglich noch einmal mit den Flügeln, faltete sie wieder zusammen und drehte sich auf der Stange herum, um das Zimmer zu verlassen und die beiden Menschen nicht weiter zu stören. „Warte!“, flüsterte Seth hastig, „es gibt noch etwas, dass du herausfinden musst. Sieh in den Pachtverträgen für das Dorf nach, ob dort für die letzten fünf Jahre ein Mann namens Sened zu finden ist und frage, ob sich die anderen Dorfbewohner an diesen Mann erinnern.“ Merenseth hatte sich nicht noch einmal herumgedreht, sondern Seth lediglich aufmerksam den schmalen Kopf zugewandt, musterte nun den jungen Priester erneut mit einem durchdringenden Blick, der wieder Unbehagen in diesem aufkommen ließ. Dann wandte sie den Kopf ab und neigte den Schnabel leicht Richtung Boden, auf diese Weise ihr Einverständnis signalisierend. Im nächsten Moment hockte sie schon auf dem Fenstersims, schlüpfte nach draußen und flog davon. Seth war an das Fenster getreten und sah seinem Benu den kurzen Moment nach, bevor dieser aus seinem Blickwinkel verschwand, während sich am Himmel bereits der neue Tag ankündigte. Er hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl im Bauch, das in keinerlei nachvollziehbarem Zusammenhang mit den vorangegangenen Ereignissen stand. Es war die unerwartete Sorge, dass er seinen Benu vielleicht nicht wiedersehen würde. Blödsinn! Unausgegorene Vorahnungen waren etwas für abergläubische Alte und gelangweilte Reiche, die bereit waren für etwas Abwechslung viel Geld zu bezahlen. Entschlossen schüttelte Seth seine plötzliche, irrationale Angst ab und wandte sich dem Bett zu. Nachdenklich starrte er auf die schöne, noch immer schlafende Frau und entschied, sie nicht zu wecken, sondern sich stattdessen in Ruhe den Inhalt der Leinentasche anzusehen, die Merenseth ihm gebracht hatte. Kapitel 24: Wer mit dem Feuer spielt ------------------------------------ Mit wachsender Erregung hatte Seth die von Merenseth abgefassten Berichte der Überlebenden gelesen. Obwohl sich Merenseth beim Schreiben auf Tatsachen beschränkt, alles Emotionalisierende weggelassen hatte, riefen die Schilderungen unweigerlich Seths eigene Erinnerungen wach, beschworen wieder die Gefühle von Hilflosigkeit, Angst und Wut herauf, ließen den Wunsch Rache zu üben auflodern, wie damals die Flammen, in denen seine Mutter und Meni gestorben waren. In keinem der Berichte fand sich ein Hinweis darauf, dass Karim gesehen worden war. Stattdessen hatte Merenseth mehrmals die genaue Beschreibung eines Mannes festgehalten, die hervorragend auf denjenigen zutraf, der Merenseth in der Nacht des Brandes getötet hatte, dem sie vor drei Jahren unerwartet wieder begegnet waren und dessen Spur sie bald darauf wieder verloren hatten. Seth nahm an, dass auch seinem Benu diese Tatsache nur zu bewusst war, sonst wäre sie wohl kaum so ins Detail gegangen. Plötzlich schlangen sich zwei Arme von hinten um seinen Hals, drückte sich ein wohlgeformter Frauenkörper an seinen Rücken, viel eine Strähne nachtschwarzen, duftenden Haares nach vorn und streichelte über seine Wange, roch er den Duft sorgsam parfümierter Haut, spürte den sanften Atem an seinem Ohr als Meresankh mit einer noch vom Schlaf dunklen Stimme fragte: „Was liest du?“ „Nichts“ lautete die knappe, abweisende Erwiderung Seths, während er das gerade gelesene Papyrus fast hastig zusammenrollte. Es war ihm unangenehm, dass Meresankh ihn in einem Moment überrumpelt hatte, als er nicht mehr daran gedacht hatte, dass er nicht allein in seinem Zimmer war, seine Wachsamkeit und Vorsicht fallen gelassen hatte, sich schutzlos und ausgeliefert vorkam. Er wollte nicht, dass sie ihn so sah, verletzlich, wollte nicht, dass sie ihn für schwach hielt oder ihn am Ende vielleicht noch bemitleidete. So tat er das Einzige, was ihm in diesem Augenblick angemessen schien: Er stieß sie vor den Kopf, um sein Innerstes in Sicherheit zu bringen, um stark und unangreifbar zu erscheinen. Meresankh hatte das Gefühl, als wäre ihr mit der knappen Antwort des jungen Priesters eine Tür vor der Nase zugeschlagen worden. Sie hatte jedoch nicht vor, so leicht aufzugeben, denn nun war ihre Neugier geweckt. Wenn er derart abweisend auf eine einfache Frage reagierte, mussten diese Papyri etwas enthalten, das für Karim und damit auch für den Tjt von Bedeutung war. „Komm ins Bett“, lockte sie sanft und leise, sicher dass er zugänglicher wäre, nachdem sie mit einander geschlafen hätten. Seth schaute jedoch nur flüchtig aus dem Fenster, erhob sich dann von seinem Stuhl, Meresankh auf diese Weise zwingend ihn los zu lassen und zurückzutreten, während er bestimmt erwiderte: „Nicht jetzt. Wir sehen uns später.“ Damit raffte er die auf dem Tisch liegenden Papyri zusammen und war im nächsten Moment auch schon ohne weiteres Wort aus dem Zimmer verschwunden. Eine ungläubig die geschlossene Tür anstarrende Meresankh zurücklassend. Er war genau wie Akunadin. Hatte er bekommen was er wollte, ließ er sie links liegen und wechselte in den Unantastbarkeitsmodus, gesteuert von unbestechlicher Vernunft. In diesem Moment wusste sie nicht, welchen der beiden Männer sie mehr verabscheute. Zielstrebig lief Seth zu den Gemächern des Kronprinzen, wo er den vor der Tür wartenden Diener ignorierend, hart gegen die Tür pochte und, als er darauf keine Reaktion erhielt, kurzerhand versuchte ungebeten die Tür zu öffnen. Dabei stieß er allerdings unerwartet auf den Widerstand des Bediensteten, der ihm zunächst noch höflich versuchte klar zu machen, dass seine Hoheit im Augenblick nicht zu sprechen sei. Als sich jedoch der Priester von seinem Vorhaben den Kronprinzen sehen zu wollen, durchaus nicht abbringen ließ, sondern nur herrisch verlangte, der Diener solle ihm nicht im Weg stehen, er habe es eilig, wurde dieser energischer und immer weniger höflich im Beharren auf seiner Ansicht. Die verbissene Diskussion zwischen Priester und Diener fand ihr abruptes Ende, als sich plötzlich die Tür öffnete und ein recht zerzaust aussehender, ungeschminkter Atemu im Türrahmen stand, der missmutig und verschlafen zu wissen verlangte: „Was ist hier los?“ „Hoheit“, stammelte der Diener blass geworden, nachdem er sich hastig herumgedreht und zu Boden geworfen hatte. Weiter kam er jedoch nicht mit dem Versuch eine Erklärung und Entschuldigung zu formulieren, denn Seth erklärte statt seiner knapp: „Ich muss dich sprechen“, dabei bereits über den noch immer am Boden knienden Diener hinwegsteigend und an dem verblüfft dastehenden Kronprinzen vorbei das Zimmer betretend. Noch immer mehr als nur irritiert, schloss Atemu schließlich die Tür zu seinem Zimmer, etwas das für gewöhnlich irgendein beflissener Diener für ihn tat, und sah Seth fragend an. „Ich habe die Berichte von Überlebenden erhalten, keiner von ihnen hat Karim gesehen.“ Mit einem Schlag hellwach, hatte Atemu den Worten Seths gelauscht und stellte überrascht fest: „Dein Bote ist schon zurück?!“ „War. Im Moment prüft sie, ob Sened die Wahrheit gesagt hat.“ „Dein Bote ist eine Frau?“, auf die fassungslos gestellte Frage erhielt der Prinz nur einen derart zurechtweisenden Blick, dass er sich verlegen räusperte und eilig zum eigentlichen Thema zurückkam. „Dann ist Karim also tatsächlich unschuldig. Sind das die Berichte, die du erhalten hast?“ Auf Seths knappes Nicken hin, ergänzte Atemu: „Wenn in keinem der Berichte steht, dass Karim während des Überfalls im Dorf war, brauchen wir den Bericht über Sened nicht mehr. Ich werde zu Vater gehen und ihm die Papyri zeigen, dann muss er Karim begnadigen.“ „Wir sollten die Texte kopieren“ erwiderte Seth ruhig und erklärte auf den erstaunten Blick des Prinzen: „Jemand hat sich viel Mühe gemacht, Karim als den Schuldigen erscheinen zu lassen. Wenn es dieser Person gelingt unbemerkt in den Harem einzudringen und eine Kette zu stehlen, dann wird er auch dafür Sorge tragen, dass Papyri, die seine Pläne stören, verschwinden.“ Atemu gab ein zustimmendes Geräusch von sich, zugleich nickend. „Vielleicht sollten, wir dafür sorgen, dass bestimmte Personen vor Vater von den Berichten erfahren. Wenn wir beweisen können, dass einer von ihnen versucht die Papyri zu vernichten, dürften wir auch denjenigen haben, der versucht Karim zu vernichten.“ Dieses Mal war es an Seth zustimmend zu nicken. „Es gibt jemanden, der an den Berichten sicher sehr interessiert sein dürfte“, spann er den Gedanken des Kronprinzen in trockenem Tonfall fort. „Gut. Dann wirst du dich darum kümmern, dass dieser Jemand davon erfährt, dass die Papyri in meinen Zimmern verwahrt werden. Ich werde unterdessen dafür sorgen, dass ein Schreiber Kopien anfertigt und dann die Originale in Sicherheit bringen.“ „Was ist mit dem Schreiber, kann man ihm trauen?“ Obwohl Atemu in diesem Moment dachte, dass der Priester mit seinem Misstrauen ein wenig übertrieb, erwiderte er lediglich beruhigend: „Er kann nicht sprechen und er wird nicht erfahren, was mit den Texten, die er kopiert hat, geschieht.“ Zufrieden mit dieser Antwort stimmte Seth mit einem Nicken dem Vorgehen zu, reichte dem Prinzen die mitgebrachten Papyri, verbeugte sich und verließ gleich darauf den Prinzen, um seine Pflichten als Priesterschüler zu erledigen. Im Tempel wurde Seth bereits ungeduldig von Sechemib erwartet, der ihn mit den Worten begrüßte: „Da bist du ja endlich. Du solltest deine Pflichten als Diener Amuns ernster nehmen, wenn du es eines Tages zu etwas bringen willst.“ Er ließ Seth keine Möglichkeit darauf zu antworten, sondern drehte sich nur mit der kurzen Aufforderung um, Seth solle ihm folgen. In einem kleinen Nebenraum der weitläufigen Tempelanlage, in dem die Priester an Festtagen die Schreine der Götter vorbereiteten, bevor diese durch die Menge der Gläubigen getragen wurden, wurden Sechemib und Seth bereits von acht weiteren Priesterschülern erwartet, deren leise geführte Unterhaltungen sofort abbrachen, als sie ihren Lehrer bemerkten. Ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten, erklärte Sechemib, sobald er sich der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher war: „Da euch nach dem Willen des Tjt die Ehre zukommt, während der Eröffnung des Opetfestes als Reinigungspriester die Prozession anzuführen, wurde ich beauftragt dafür zu sorgen, dass ihr Amun an diesem Tag keine Schande bereitet.“ Auf diese Ankündigung erhob sich trotz der Ehrfurcht vor dem Priesterlehrer leises Gemurmel, als der Großteil der Anwesenden zum ersten Mal zu hören bekam, welches Amt ihnen übertragen worden war. Es hatte zuvor bereits Spekulationen darüber gegeben, warum sie zusammengerufen worden waren, dennoch sorgte die ausgesprochene Tatsache für Aufregung. Es genügte jedoch eine Mahnung Sechemibs und die Priesterschüler schwiegen, aufmerksam den weiteren Erklärungen und Anweisungen des älteren Amunpriesters lauschend. Keiner von ihnen wollte riskieren, sich am Tag der Zeremonie zu blamieren oder durch eine falsche Geste die Götter zu erzürnen und Unheil über Kemet zu bringen. Schließlich schien Sechemib mit dem was er sah und hörte zufrieden zu sein, sodass er seine Schüler entließ und diese zu ihren eigentlichen Aufgaben zurückkehrten. Seth erhielt auf seinem Weg Gesellschaft von Sechemib, der würdevoll neben ihm ging und ohne seinen Schüler anzusehen erklärte: „Ich hoffe, du bist dir der Ehre bewusst, die dir zuteil wird. Es zeigt nur, wie sehr der Tjt dich schätzt, dass er dir trotz der Demütigung, die du ihm zugefügt hast, ein solches Amt überträgt.“ „Ich weiß nicht wovon du redest“, auch Seth sah seinen Begleiter nicht an, während er mit kühler Abweisung auf dessen Bemerkung reagierte und zugleich vor einem entgegenkommenden Tempelpriester höflich den Kopf neigte. „Die Durchsuchung der Räume des Tjt nach der Kette Karims“, präzisierte Sechemib ruhig, „du willst doch nicht behaupten, nicht gewusst zu haben, was für einen Eindruck das hervorrufen musste.“ Ohne auf diese Worte einzugehen, erwiderte Seth mit ätzender Herablassung in der Stimme: „Was ist mit dir, Gottesvater? Du hast einen einzigen Zeugen gefunden, der Karim gesehen haben will, während der Kronprinz sich im mehr als zehnfachen Besitz von Zeugenaussagen befindet, die das Gegenteil besagen. Du hast dem Tjt einen schlechten Dienst erwiesen, als du einem zweifelhaften Mann, der aus Missgunst gelogen hat, mehr Glauben geschenkt hast, als zehn ehrlichen. Deine blinde Voreingenommenheit wird Akunadin sehr viel größeren Schaden zufügen als die erfolglose Suche nach einer Kette.“ Scheinbar unbewegt hatte Sechemib der Rede Seths gelauscht, lediglich die plötzlich blassere Farbe seiner Haut und der gestraffte Rücken gaben einen Hinweis darauf, wie sehr sich der Priester in diesem Moment um seine Selbstbeherrschung bemühen musste. „Sei vorsichtig! Sonst wird dir deine Unverschämtheit eines Tages zum Verhängnis. Die Gunst des Prinzen und das Wohlwollen des Tjt sind nicht unerschöpflich!“ Ohnmächtiger Zorn schwang in den leise vorgebrachten Worten Sechemibs mit, bevor er sich ohne eine Antwort abzuwarten abwandte und Seth allein ließ. Dieser war stehen geblieben und sah dem davon eilenden Priester prüfend nach, während kurz ein kleines, kaltes Lächeln um seine Lippen spielte. Gleich darauf änderte er ebenfalls seine Richtung und ging zurück in den Palast, um Atemu vorzuwarnen, dass die Falle gestellt worden war. Anschließend kehrte er in den Tempel zurück, um endlich die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Es war bereits Nachmittag und die Abschrift der Zeugenaussagen zu Atemus voller Zufriedenheit erledigt worden, als ein Diener den Prinzen informierte, dass der Priester Sechemib ihn sprechen wolle. Gnädig erklärte Atemu man solle den Priester zu ihm lassen und erkundigte sich gleich darauf bei Sechemib, nachdem dieser den Prinzen gebührend gegrüßt hatte: „Was führt dich her?“ „Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe übertragen, mit dir den Ablauf der Eröffnungszeremonie des Opetfestes zu besprechen. Und wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf: Ich bin sicher, du wirst den Aufgaben, die nach dem Fest auf dich warten, vollauf Genüge leisten.“ Atemu wirkte von diesen Worten überrascht, neigte dann jedoch nur huldvoll das Haupt und bedankte sich angemessen, bevor er wissen wollte: „Wie kommt es, dass mein Onkel sich von dir vertreten lässt und es nicht einmal für nötig befindet mich darüber zu informieren?“ „Vergib, Hoheit. Der Tjt wäre nur zu gern zu dir geeilt, aber seine zahlreichen Pflichten im Dienst deines ehrwürdigen Vaters verwehren ihm dieses Vergnügen.“ Es gelang dem Prinzen trotz dieser gedrechselten Anbiederei sein Gesicht nicht skeptisch zu verziehen, sondern glaubwürdig vorzugeben, mit dieser Erklärung zufrieden gestellt worden zu sein, den Priester auffordernd mit seiner Aufgabe zu beginnen. Während Sechemib nun ausführlich besprach wo Atemu am Tag der Zeremonie zu stehen, gehen, sitzen, was er zu tun und zu sagen hatte, wenn sein Vater ihn als Mitregenten bekannt gab, huschte sein Blick flink und unauffällig durch den Raum, auf der Suche nach einem Ort, an dem die von Seth erwähnten Berichte liegen mochten. Schließlich entdeckte er auf einem zierlichen Wandtisch eine kleine Truhe. Sobald er seine Ausführungen beendet und der Prinz keine Neigung zeigte Fragen zu stellen, erklärte der Priester mit gehöriger Unterwürfigkeit in der Stimme: „Verzeih, Herr. Aber du hast dort eine wunderschöne Truhe stehen, solche Kunstfertigkeit sieht man heutzutage immer seltener.“ „Sie gefällt dir?“, erkundigte sich der Prinz beiläufig und fügte ohne eine Antwort abzuwarten, mit einer auffordernden Geste, großzügig hinzu: „Dann sieh sie dir ruhig näher an, du wirst sie sicher mit der gebührenden Sorgfalt behandeln.“ Sich verbeugend und bedankend näherte sich Sechemib dem Kästchen und nahm es gründlich in Augenschein, dabei dessen Form, Holz und Einlegearbeiten wortreich bewundernd, während er prüfte, ob sich die kleine Truhe öffnen ließe, um einen Blick hinein werfen zu können. Sein vergebliches Bemühen blieb allerdings nicht unbemerkt. Mit einem Lächeln erklärte der Kronprinz freundlich: „Bemüh dich nicht. Diese Truhe gibt ihre Geheimnisse nur Auserwählten preis.“ „Natürlich, Hoheit. Verzeih meine Unverfrorenheit, ihre Schönheit hat mich verführt.“ „Schon gut. Es ist nichts geschehen. – Wenn deine Neugier nun befriedigt ist, darfst du dich zurückziehen.“ „Danke, Herr.“ Sechemib verneigte sich tief, bevor er den Prinzen gleich darauf wieder allein ließ. Kaum war der Priester fort, befahl Atemu einem Diener Mahaado und Seth zu ihm kommen zu lassen, ihnen wenig später zufrieden erklärend, dass die Beute nach dem Köder geschnappt hatte. Nun hieß es, sich in Geduld zu üben und zu warten, was Sechemib als Nächstes tun würde. Der Abend verging und es wurde Nacht, ohne dass irgendetwas geschah. Etwas, das nicht nur für die Ungeduld Mahaados eine schwere Prüfung darstellte. Auch Atemus und Seths Geduld wurde während der langen Stunden fruchtlosen Wartens zusehend schwächer. Während der eine jedoch versuchte Mahaado davon abzuhalten tiefe Furchen in den Fußboden des hoheitlichen Schlafgemachs zu treten, indem er ihn ein ums andere Mal zu einer Partie ‚Hund und Schakal’ herausforderte, stand der andere mit verschränkten Armen mitten im Raum, den stoischen Blick auf das Spielbrett zwischen den beiden Prinzen gerichtet und lauschte aufmerksam auf jedes Geräusch, das aus dem Nebenzimmer drang. Der sonst offene Durchgang zwischen den Räumen, war auf Befehl des Kronprinzen bereits am Vormittag mit einem Vorhang aus dünnem Stoff versehen worden, der nun die drei Wartenden schützend verbarg. Die Diener hatten für diesen Abend die Anweisung erhalten, den Kronprinzen nicht zu stören. Der Raum, in dem der Thronerbe für gewöhnlich schlief, besaß keine Fenster oder Durchgänge, abgesehen von dem einen, der in das angrenzende Zimmer führte. Nur knapp unter der Decke des kunstvoll mit Wandmalereien versehenen Raumes befanden sich kleine, quadratischen Öffnungen. Durch diese drang nur sehr wenig Licht, war es jedoch möglich den Raum mit frischer Luft zu versorgen, während zugleich die Geräusche der Nacht zu hören waren und sich in diesem Fall zunehmend störend bemerkbar machten, erschwerten sie es doch etwas aus dem Nebenraum zu hören. Im Augenblick spendete nur eine einzelne Öllampe den Spielern flackernde Helligkeit. Gerade genug, um zu erkennen was sie taten und zu schwach, um durch den Vorhang im angrenzenden Zimmer bemerkt zu werden. Plötzlich wandte Seth irritiert den Kopf in Richtung des Vorhangs, etwas hatte sich geändert, stimmte nicht mehr mit der eben noch ruhigen, fast schon friedlichen Stimmung überein. Sein Körper wusste es schon, noch bevor sein Verstand den stärker werdenden Geruch von brennendem Holz und Stoff registriert und verarbeitet hatte. Im gleichen Augenblick als er zum Vorhang eilen und ihn zur Seite reißen wollte, um bestätigt zu sehen, was er bereits ahnte, zischte plötzlich ein brennender Pfeil durch den Vorhang, verfehlte Seth nur knapp und verfing sich schließlich in den zurückgeschlagenen Bahnen durchscheinenden, hellen Stoffs, der Mücken und andere Insekten davon abhalten sollte den erlauchten Schlaf des Kronprinzen zu stören. Der erste Pfeil hatte den Vorhang kaum passiert, als auch schon ein zweiter Pfeil gefolgt von einem dritten herangeflogen kam und es nur der reflexartig schnellen Reaktion der beiden Prinzen zu verdanken war, dass sie vorerst mit dem Schrecken davon kamen. Allerdings war diese Schonung nur von kurzer Dauer. Bei dem hastigen Bemühen rechtzeitig den Brandpfeilen auszuweichen, war das Öllicht ins Wanken geraten und zur Seite gekippt. Im Nu sog sich der Stoff des Bettes mit dem herausfließenden Öl voll und ließ die Flammen hell auflodern. Während die Prinzen noch vergeblich versuchten das Feuer einzudämmen, indem sie Decken und Kissen aus der Reichweite des Bettes in die hinterste Zimmerecke zogen und kleinere Flammenherde austraten, war Seth zu dem bereits lichterloh brennenden Vorhang gestürzt, in der Hoffnung den Attentäter wider alle Vernunft doch noch aufhalten und festnehmen zu können. Als der Priester versuchte, durch den Türbogen in das andere Zimmer zu hechten, gab ein Teil des Vorhangstoffes dem gierigen Fraß der Flammen nach und fiel zu Boden, einen in unmittelbarer Nähe liegenden, kostbaren Läufer entzündend, der offenbar zuvor mit Lampenöl getränkt worden war. Gerade noch rechtzeitig zuckte Seth zurück und starrte grimmig auf die lodernden Flammen. Plötzlich zwischen den Flammen hindurch die hochgewachsene Gestalt eines weißhaarigen Mannes in einem langen, dunkeln Mantel bemerkend, der höhnisch grinste, während er die um ihn züngelnden Flammen scheinbar nicht einmal bemerkte. Stattdessen schien er das Schauspiel einfach nur zu genießen, bevor er sich schließlich spöttisch vor Seth und den beiden, direkt hinter dem Priester stehenden Prinzen verneigte, die ihren vergeblichen Kampf gegen das Feuer in dem Schlafgemach eingestellt hatten und Seth in dem Bestreben gefolgt waren, das Zimmer zu verlassen, um den Flammen zu entkommen. Nun jedoch standen sie ebenso reglos wie Seth und starrten auf den Unbekannten, über den sie bisher nur in den Berichten der Zeugen gelesen hatten. Gelassen wandte der Fremde sich ab und verließ das Zimmer. Gleich darauf mit der nun im Gegensatz zu den hell erleuchteten Gemächern noch schwärzer wirkenden Nacht verschmelzend. Für einen Augenblick standen die Männer starr, konnten die Prinzen nicht glauben, dass der in den Zeugenaussagen beschriebene Mann plötzlich leibhaftig vor ihnen gestanden hatte, während sich Seth mit der Frage beschäftigte, wie es dem Weißhaarigen gelungen war unbemerkt in den Palast zu gelangen und die Räume des Kronprinzen ausfindig zu machen. Dahinter konnte nur Sechemib stecken und die Tatsache, dass er nicht davor zurückschreckte das Leben des Thronerben zu gefährden zeigte nur wie ernst es ihm mit der Zerstörung Kemets sein musste. Sie hatten ihn vollkommen unterschätzt. Eine bittere Erkenntnis, die sie mit ihrem Leben bezahlen würden. Die Hitze in dem Zimmer war inzwischen so groß, dass er das Gefühl hatte bei jedem Atemzug Flammen einzuatmen, während sein Körper bereits nicht mehr in der Lage zu sein schien zu schwitzen. Die Haut fühlte sich unangenehm trocken und gespannt an, als würde sie allmählich immer kleiner und enger werden und ihn nach und nach ersticken lassen. Den anderen Beiden ging es wohl nicht anders. Plötzlich kam wieder Leben in Mahaado als er hastig am Saum seiner Kleidung züngelnde Flammen ausschlug und im nächsten Moment auch schon Seth durch das entstandene Loch in dem Vorhang schubste, gefolgt von Atemu, während er atemlos hervorstieß: „Los, raus hier!“ Gleich darauf den andern Beiden bei ihrem Hindernislauf durch das brennende Zimmer Richtung Durchgang zu den Gärten dicht auf den Fersen folgend. Ringsum verzehrten die Flammen noch immer hungrig alles, dessen sie nur irgendwie habhaft werden konnten. Schützend hielten sich die drei Männer je eine Hand vor Nase und Mund, während sie mit tränenden Augen durch den von Rauch vernebelten Raum mehr stolperten als tatsächlich liefen, mehr auf Verdacht die richtige Richtung einschlugen, als dass sie sahen, wohin sie traten. Nach Atem ringend, hustend und zitternd taumelten sie schließlich in den Garten hinaus, froh dem Inferno entkommen zu sein und bemüht genug Luft in die Lungen zu bekommen, damit der Kopf aufhörte zu dröhnen, die Kehle nicht mehr brannte und ihre Beine sie wieder sicher genug trugen, damit sie die anderen Palastbewohner alarmieren konnten, bevor das Feuer noch weiter um sich griff. Als sie bemerkten, dass offenbar das Feuer inzwischen bereits ohne ihr Zutun entdeckt worden war, sackten sie erleichtert in sich zusammen, sahen in der sich nach der vorherigen Hitze eisig anfühlenden Nachluft, im Gras hockend zu wie immer mehr Diener herbeieilten, sich gegenseitig knappe Befehle oder Informationen zu riefen und sich mit Sand und Wasser daran machten, dass Feuer zu ersticken. Eine Weile sahen der Priester und die beiden Prinzen den eifrigen Bemühungen der Bediensten schweigend zu, bis Mahaado plötzlich erklärte: „Das Gute ist, dass jetzt kein Zweifel mehr besteht, dass Karim und Isis unschuldig sind. Ich war der Einzige, der zu ihnen durfte, sie hatten keine Möglichkeit den Weißhaarigen zu alarmieren. Sie wussten nicht einmal von der Existenz der Protokolle.“ Atemu und Seth hatten zunächst mit abwartender Aufmerksamkeit den Prinzen angesehen. Kurz kreuzten sich ihre Blicke, ehe der Kronprinz schließlich zustimmend nickte, „spätestens Morgen wird der Arrest sicher aufgehoben werden.“ Seth hingegen schnaubte nur leise und abfällig, angesichts der naiven Meinung des Gauprinzen, sparte sich jedoch eine langschweifige Erklärung und erwiderte lediglich: „Du solltest deine Vorstellung von Realität besser schnell korrigieren. Wir können weder beweisen, dass Sechemib hinter der ganzen Sache steckt, noch dass er mit dem Weißhaarigen in Verbindung steht oder dass Karim es nicht tut.“ „Deine Zuversicht hilft uns natürlich sehr viel mehr weiter“, schoss Mahaado wütend zurück. Bevor Seth dazu kam dem Prinzen darauf die passende Antwort zu geben, dass es in diesem Moment nämlich nicht um schöngefärbte Hirngespinste ging, sondern um Fakten und Tatsachen, fuhr Atemu verärgert dazwischen: „Haltet den Mund, alle Beide! Wir sind gerade so mit dem Leben davon gekommen und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch in den Haaren zu liegen!“ Erstaunt betrachteten die beiden Streithähne den ungewohnt wütenden Thronerben, schienen sich dann jedoch die Worte für den Augenblick zu Herzen zu nehmen und schwiegen erneut einträchtig. In diesem Moment näherten sich im Laufschritt, mit besorgten Gesichtern und ungewöhnlich nachlässig gekleidet Akunemkanon und sein Bruder. Eine kurze Musterung der drei im Gras hockenden, Ruß verschmierten, verschwitzten und angesengten Gestalten ergab zur Erleichterung der beiden mächtigsten Männer des Landes, dass sowohl die Prinzen als auch der Priester anscheinend wohlauf und weitestgehend unbeschadet geblieben waren. Dennoch entschied Akunemkanon in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete: „Shimon soll sich um euch kümmern, danach werdet ihr uns erklären, was hier vorgefallen ist.“ Während sich Atemu, Mahaado und Seth ein wenig mühsam erhoben, sich vor dem König verneigten und anschließend dem Hofarzt folgten, der in einiger Entfernung geduldig darauf gewartet hatte, sich um die Verletzten kümmern zu können, wandte sich Akunemkanon bereits an einen vorbeieilenden Diener und befahl diesem, er solle die Soldaten, die dazu abkommandiert waren, die privaten Gärten des Königs zu bewachen, umgehend darüber informieren, dass sie vor dem König zu erscheinen hätten. Hastig verneigte sich der Diener und verschwand zwischen den dunklen Schatten der Bäume und Sträucher, auf der Suche nach den in dieser Nacht Wachhabenden, im Stillen bereits ein Gebet für ihre unsterblichen Seelen murmelnd Der sonst so nachsichtige Erbe des Horus, wirkte angesichts der Bedrohung für seinen einzigen Sohn, nicht mehr im Geringsten nachsichtig oder gütig. Auch der Tjt, der ohnehin nicht dafür bekannt war Versäumnisse mit Nachsicht zu behandeln, würde einen Angriff auf den Kronprinzen sicher nicht einfach dulden und wieder zur Tagesordnung übergehen. Im Gegensatz zu der Aufgabe Überlebende ausfindig zu machen und zu befragen, war das Überprüfen der Frage, ob Sened in Bezug auf sein Leben im Dorf bei Gebtiu die Wahrheit gesagt hatte, beinahe lächerlich einfach gewesen. Die Pachtverträge hatten bestätigt, dass ein Freier namens Sened seit fünf Jahren gegen Abgaben ebenso Land bearbeitete, wie die anderen Bauern des Dorfes. Auch die Dörfler, die Merenseth noch einmal aufgesucht hatte, bestätigten ihr, dass Sened in ihrem Dorf gelebt hatte, obwohl niemand mit Sicherheit hätte behaupten können, ihn in der Nacht des Überfalls gesehen zu haben. Sie glaubten, dass er da gewesen sein musste, weil keiner von ihnen bemerkt hatte, dass er am Tag zuvor das Dorf verlassen hätte. Versehen mit diesen Informationen kehrte Merenseth schließlich wieder in die Pharaonenstadt zurück. Sie war gerade durch das schmale Fenster in Seths Zimmer geschlüpft, hatte eine weitere Papyrusrolle auf dem Tisch abgelegt und sich auf ihrer Stange niedergelassen, als Seth gesäubert und verarztet, noch immer nach Rauch riechend in angekohlter Kleidung den Raum betrat. Verwundert musterte der Vogel den Priester, während sich die Schopffedern leicht hoben und Merenseth ein eindeutig fragendes Tschilpen hören ließ. Seth hob bei dieser Begrüßung den Kopf, während seine Miene schon nicht mehr ganz so missmutig wirkte. „Du bist zurück. – Hast du etwas herausgefunden?“ Mit einem weiteren Tschilpen, wandte Merenseth ihren Kopf Richtung des Tisches, auf dem die Papyrusrolle lag. Mit wenigen Schritten stand Seth an dem Tisch und las sich den Inhalt der Rolle durch, während sich sein Gesicht dabei erneut verdüsterte. Wieder eine Sackgasse. Verärgert ließ Seth das Papyrus auf die Tischplatte zurückfallen. Wie sollte er je herausfinden, wer tatsächlich hinter den Überfällen steckte, wenn alle seine Versuche mehr in Erfahrung zu bringen erfolglos blieben?! Je länger er auf das unschuldige Stück Papyrus starrte, umso wütender wurde er. Seine Hand ballte sich zur Faust; bevor er damit jedoch auf den Tisch schlagen konnte, um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen, klopfte es. Seth brauchte einen Moment, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte, dann erkundigte er sich schlechtgelaunt: „Ja?“ Was die Person offenbar als Aufforderung nahm einzutreten. Denn gleich darauf öffnete sich die Tür und Meresankh betrat das Zimmer. „Ich habe es gerade erfahren. Ist mit dir alles in Ordnung, geht es dir gut?“ Nein, ging es nicht. Aber das dachte Seth nur, während er unwirsch etwas brummte, das man als Bestätigung auffassen konnte. Meresankh lächelte erleichtert. „Ich habe gehört, dass du zusammen mit den Prinzen dem König Bericht erstatten sollst.“ Richtig. Seth runzelte die Stirn, während er Meresankh nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Dass hatte er über seinem Ärger tatsächlich für einen Moment vergessen. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach dem Papyrus, ohne in diesem Moment sicher zu sein, dass er Gelegenheit haben würde es Atemu und Mahaado zu zeigen. Er war bereits auf dem Weg zur Tür, als ihn die Stimme Meresankhs noch einmal zurückhielt: „Solltest du dich nicht vorher angemessen kleiden?“ Seth knurrte leise. Langsam wurde offenbar wirklich sein Gehirn weich. Genau das war doch der eigentlich Grund gewesen, sein Zimmer aufzusuchen. Also machte er kehrt, legte das Papyrus wieder auf dem Tisch ab, wandte Meresankh den Rücken zu und zog sich eilig um. Als er sich wieder herumdrehte, reichte Meresankh ihm lächelnd die Papyrusrolle. „Es ist wirklich schade, dass du im Moment keine Zeit hast.“ Seth brummte nur zustimmend, während er den Bericht entgegennahm und erneut Anstalten machte den Raum zu verlassen, nur um noch einmal aufgehalten zu werden, als Meresankh eine Hand auf seinen Unterarm legte und sich erkundigte: „Sehen wir uns später noch?“ „Von mir aus“, Seth klang entnervt, er war nicht in der Stimmung für Gesellschaft, aber wie hätte er ihr ihre Bitte ausschlagen können. „Ein wenig mehr Begeisterung wäre schön“, tadelte Meresankh ihn mit einem freundlichen Lächeln, ihm anschließend einen Kuss auf die Wange drückend, „aber ich verstehe schon, du hast im Moment Wichtigeres zu tun, als dich mit einer Frau zu befassen.“ „Das ist es nicht.“ Doch war es, dachte Seth im gleichen Moment als er das Gegenteil behauptete und sich zugleich angestrengt bemühte die aufkommenden Schuldgefühle darüber zu unterdrücken, dass er dem Zusammensein mit dieser überwältigenden Frau in diesem Augenblick so wenig abgewinnen konnte. Dass sie die ganze Zeit von den aufmerksamen Augen seines Benu beobachtet wurden, machte die Sache auch nicht besser. Aber wenigstens brauchte er sich keine Zurückhaltung dabei aufzuerlegen Merenseth einen ungehaltenen Blick zu zuwerfen. Pikiert hob der Vogel angesichts des ihm geltenden finsteren Starrens seine Schopffedern, bevor er demonstrativ seine Blickrichtung änderte. Im nächsten Moment auftschilpend, als er Kisara an der Tür entdeckte, die Meresankh nicht wieder geschlossen hatte. Bemüht nicht aufzufallen hatte sich das Mädchen bis zu diesem Moment gegen das Türblatt gepresst. Als ihr nun nicht nur die Aufmerksamkeit des Benus sondern auch Seths und Meresankhs zuteil wurde, löste sie sich verlegen errötend von der Tür, krampfte ihre Hände in ihr Kleid und wirkte ziemlich unglücklich, während sie unsicher stammelte: „Ich… Ich… wollte nur wissen, ob es dir gut geht…“ Unruhig hatten ihre Hände begonnen den robusten Leinenstoff ihres Kleides zu kneten, während ihr Blick ziellos durch den Raum huschte, um letztendlich an ihren Füßen hängen zu bleiben. „Es geht mir gut!“ Die Erklärung hatte lauter und ungehaltener geklungen, als sie eigentlich sollte und ließ Kisara erschrocken zusammen zucken, während sie sich in sich selbst zu verkriechen schien. Für einen Moment war der Blick des jungen Priesters missmutig auf das weißhaarige Mädchen gerichtet, während er ärgerlich dachte, dass so viel weibliche Besorgnis sehr viel schwerer zu ertragen waren, als sämtliche Schicksalsschläge zusammen genommen. Sollten sie doch Apophis begegnen, wenn sie ihn nur in Ruhe ließen! „Sie meint es doch nur gut“, versuchte Meresankh zu beschwichtigen, während sie mütterlich Seths Arm tätschelte, „du bedeutest ihr nämlich sehr viel.“ Wenn möglich wurde Kisaras Gesichtsfarbe noch dunkler als zuvor, während sie in diesem Moment darum zu beten schien, dass der Boden sich auftäte, um sie zu verschlingen. Gleichzeitig hatte Seth sein Gesicht der Frau neben sich zugewandt und starrte sie mit so eisiger Wut im Blick an, dass Meresankh erschrocken ihre Hand zurückzog und nun ihrerseits unsicher wurde, während sie leise etwas murmelte, das wie eine Entschuldigung klang. Ohne darauf einzugehen, ließ Seth die beiden Frauen kurzerhand stehen und verließ seine Kammer, um dem Befehl des Königs nachzukommen. Er war der Ansicht, dass er mehr als genug Zeit für diesen Irrsinn verschwendet hatte. Überrascht standen Kisara und Meresankh noch einen Moment bewegungslos in der Kammer, bevor sich zunächst das weißhaarige Mädchen abwandte und mit inzwischen nicht mehr rotem, sondern sehr blassem, unglücklichem Gesichtsausdruck und hängenden Schultern lautlos davon schlich. Meresankh wartete noch einen Augenblick, bis sich sicher war, dass das Mädchen tatsächlich gegangen war, dann verließ auch sie die Kammer, ebenfalls den Weg zu den Räumen des Königs einschlagend. Sie bemerkte nicht, wie hinter ihr Merenseth von ihrer Stange hüpfte und in elegantem Gleitflug das kurze Stück bis zur Tür zurücklegte, dort landend und die Tür in der für Vögel typischen Art zu laufen durchquerte. Kaum war sie in dem vor dem Zimmer verlaufenden Gang angekommen, breitete sie wieder die Flügel aus und erhob sich mit wenigen Schlägen in die Luft, bis sie knapp unter der Decke schwebend die Verfolgung Meresankhs aufnahm. Sie hatte gesehen, wie diese Frau hastig den Bericht über Sened überflog, während Seth sich umzog und ihm darauf scheinbar vollkommen unschuldig das wieder zusammengerollte Papyrus hinzuhalten, als hätte sie keine Ahnung was darin stand. Merenseth war der Ansicht, dass es sicher nicht schaden konnte, diesem seltsamen Verhalten auf den Grund zu gehen. Zunächst schien es jedoch so, als beabsichtige Meresankh lediglich vor den königlichen Gemächern auf den Ausgang der Unterredung warten zu wollen. Dann jedoch näherte sich Akunadin. Meresankh verneigte sich zunächst höflich und berichtete dann leise von dem Inhalt der Papyrusrolle. Der Tjt hörte sich den kurzen Bericht schweigend an, nickte dann lediglich und verschwand schließlich ohne ein Wort gesagt zu haben hinter der Tür zu den Räumen des Königs, die während der folgenden Unterredung für alle außer dem König, den beiden Prinzen, dem obersten Priester und seinem Lehrling verschlossen blieb. Akunadin war der Letzte, der den Raum betrat. Sein Bruder saß mit angespannt düsterem Gesichtsausdruck in einem Stuhl, während sein Sohn und dessen Freunde in schweigend abwartender Haltung vor Akunemkanon standen, als würde er über sie zu Gericht sitzen. Erleichtert, dass sie nun vollzähligen waren und die Situation bald klären würden, sah Akunemkanon zu seinem Bruder auf, wies dann stumm auf einen im spitzen Winkel zu seinem stehenden Stuhl und erklärte, sobald sich der Tjt gesetzt hatte: „Die Wachen sind tot. Jemand hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten.“ Für einen Moment herrschte betroffenes Schweigen, dann entschied Akunadin mit ruhiger Sachlichkeit: „Daran lässt sich nichts mehr ändern“, damit das Thema offenbar vorerst als erledigt betrachtend und sich direkt an Atemu, Mahaado und Seth wendend: „Wisst ihr wie es zu dem Feuer kam? Habt ihr jemanden gesehen, der dafür verantwortlich sein könnte?“ Die Antwort der Drei bestand in einem einhelligen Nicken, bevor der Kronprinz erklärend hinzufügte: „Wir haben gesehen, wer das Feuer gelegt und wohl auch die Wachen getötet hat.“ „Jemand den ihr kennt?“ „Es war das erste Mal, dass wir ihn sahen. Aber wir hatten bereits von ihm gelesen.“ Sowohl der König als auch sein Bruder wirkten bei dieser Antwort verwundert und Akunemkanon wollte wissen: „Was soll das heißen?“ „Wir haben Zeugenaussagen von Überlebenden des letzten Überfalls, in denen genau dieser Mann mehrmals beschrieben wurde.“ Hellhörig geworden richtete sich der König etwas höher auf, während der Tjt aufmerksam mit starrem Blick den Kronprinzen fixierte, als wolle er diesen hypnotisieren. „Dann hat dieser Mann diese Berichte vernichten wollen“, Akunemkanon klang nachdenklich, fragend. „Er kann nicht nur wegen der Berichte gekommen sein. Er scheint gewusst zu haben, dass wir im Nebenzimmer waren und versucht uns zu töten.“ Bei dieser Bemerkung Mahaados verfinsterte sich die Miene des Königs von neuem, während er eine Hand zur Faust schloss, als hätte er den Attentäter gern mit eigener Hand erwürgt. „Was ist aus den Berichten geworden, sind sie verbrannt?“, verlangte Akunadin sachlich zu wissen, seinen Bruder auf diese Weise dazu zwingend, sich zu beherrschen und auf das Wesentliche zu konzentrieren. Vergeltung konnten sie üben, wenn sie den Schuldigen gefasst hatten. Atemu nickte bestätigend, „Die Kopien, ja.“ Dieser Beweis vorausschauenden Denkens seines Sohnes sorgte sehr viel effektiver dafür, dass Akunemkanon ruhiger wurde, als zuvor die Worte seines Bruders. Für einen Moment erschien ein zufriedenes Lächeln im Gesicht des Herrn der beiden Länder, sein Sohn würde einen würdigen Mitregenten und Nachfolger abgeben, davon war er überzeugt. Unterdessen setzte der Tjt die Befragung fort: „Wo befinden sich die Originale?“ „Hier“, meldete sich erneut Mahaado zu Wort und hob den Leinenbeutel ein wenig höher, den er die ganze Zeit über schon in der Hand gehalten hatte. „Seine Hoheit vertraute sie mir an, nachdem er die Abschriften hatte anfertigen lassen.“ „Zeige sie mir“, entschied Akunemkanon bestimmt und streckte auffordernd eine Hand nach dem Leinenbeutel aus. Noch während Mahaado die kurze Distanz überwand, um dem Befehl des Herrn der beiden Länder nachzukommen, stellte Seth, der bisher schweigend zugehört hatte, plötzlich fest: „Jemand aus dem Palast muss den Mann informiert haben. Jemand der von den Berichten wusste und ihm auch geholfen hat, unbemerkt hier einzudringen und das Feuer zu legen.“ Überrascht sahen die anderen ihn an, entweder erstaunt über das, was er sagte oder darüber, dass er sich überhaupt zu Wort meldete. „Sechemib!“, leise und triumphierend sprach Mahaado gleich darauf den Namen des Amunpriesters aus, überließ Akunemkanon den Beutel mit den Zeugenberichten und kehrte an die Seite Atemus zurück. Im nächsten Augenblick auch schon vom Tjt nachdrücklich aufgefordert werdend: „Ich erwarte eine Erklärung.“ „Er war der Einzige, der außer uns von den Berichten wusste. Er kam gestern Nachmittag zu mir, um alles Notwendige für das Opetfest zu besprechen und interessierte sich sehr für das Kästchen, in das ich die Kopien gelegt hatte“, erklärte Atemu anstelle Mahaados, die Aufmerksamkeit seines Onkels wieder auf sich ziehend, der mit gerunzelten Brauen zuhörte und sich versicherte: „Er kam wegen des Opetfestes zu dir?“ Wieder nickte Atemu, „er erklärte, er käme auf deine Anweisung, da du zu beschäftigt mit anderen Pflichten seist.“ „Ich habe keine solche Anweisung erteilt“, stellte der Tjt daraufhin knapp und bestimmt fest. „Dann sollten wir am besten Sechemib selbst fragen, was er dazu zu sagen hat“, entschied Akunemkanon darauf und wies mit der Zustimmung Akunadins Seth an, einem Diener Bescheid zu geben, dass Sechemib umgehend in den Gemächern des Herrschers erscheinen solle. Während sie darauf warteten, dass Sechemib dem Befehl folge leistete, überflogen König und Tjt die gesammelten Zeugenaussagen. Erfuhren, dass es der in diesen Berichten beschriebene weißhaarige Mann gewesen war, den die Prinzen und der Priester gesehen hatten und entdeckten, dass keiner der Dörfler einen Mann gesehen hatte, auf den die Beschreibung Karims auch nur ansatzweise zutraf. „Der Mann, den Sechemib als Zeuge ausgewiesen hat, scheint der Einzige zu sein, der Karim tatsächlich gesehen zu haben scheint“, stellte Akunemkanon schließlich fest, während in seiner Stimme bereits erste Zweifel mitschwangen, ob die Aussage dieses Mannes tatsächlich noch als glaubwürdig angesehen werden konnte. Bevor einer der Anderen dazu kam, darauf zu reagieren, war es Mahaado, der auf die Bemerkung des Herrschers antwortete: „Der Mann, Sened, stand früher in den Diensten meines Vaters. Es wäre möglich, dass er wusste, wer Karim ist und in welcher Beziehung er zu meiner Schwester steht.“ „Du meinst, er könnte absichtlich gelogen haben, um über Karim deiner Familie zu schaden?“ Akunemkanon klang interessiert, während Mahaado auf dessen Frage bestätigend nickte. „Absurd“, die Stimme des Tjt klang kalt und herablassend. „Sened hat dazu beigetragen, den von seinem Herrn geplanten Aufstand rechtzeitig zu entlarven. Sollte jemand auf Rache aus sein, dann eher die Familie des Gaufürsten, nicht Sened. Darüber hinaus, hätte er kaum Gelegenheit gehabt, in seinem Dorf zu erfahren, dass Isis und Karim verheiratet sind.“ „Aber du musst zugeben, dass es ein mehr als seltsamer Zufall ist, dass ausgerechnet Sechemib den einzigen Zeugen auftreibt, der behauptet Karim in der Nacht des Überfalls gesehen zu haben, während alle anderen Dörfler das Gegenteil aussagen.“ Ungerührt sah der Tjt den König an und erwiderte ohne jede Unterwürfigkeit: „Derjenige, der heute Abend den Brand legte, hat bewiesen, dass er mühelos in der Lage ist, ausgebildete Wachen zu töten. Es sollte für ihn noch weniger eine Schwierigkeit darstellen, nicht im Kampf geübte Dorfbewohner zum Schweigen zu bringen, um seinen Kumpan zu schützen.“ „Und ausgerechnet den einen hat er übersehen?“ Mahaado klang mehr als nur skeptisch und kassierte für seine dreiste Einmischung einen strafenden Blick des Tjt, der ihn den Kopf senken ließ, während sich Akunadin zu einer weiteren Erklärung herabließ: „Sened hat sich von Anfang an unter den Schutz des Königs gestellt, ihn zu töten wäre für den Mörder mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen.“ „Deine Theorie besitzt einen Fehler“, mischte sich nun wieder Seth in die Diskussion ein. „Karim hatte keine Ahnung von den Zeugenberichten und auch keine Möglichkeit den Weißhaarigen zu informieren oder ihm dabei zu helfen in den Palast zu gelangen. Sechemib hatte Beides. Sened kann durch Karawanen auf dem Weg nach Gebtiu von der Heirat des obersten Befehlshabers erfahren haben. Und er war schon einmal bereit seinen Herrn für Geld zu verraten.“ In diesem Moment klopfte es. Unwillig rief Akunemkanon den Störenfried herein, sodass gleich darauf ein Diener den Raum betrat, sich unterwürfig zu Boden warf und demütig erklärte: „Vergib, Majestät, der Priester Sechemib ist nirgends im Palast zu finden.“ „Was ist mit Sened?“, verlangte Atemu aus einer vagen Ahnung heraus zu wissen und erhielt von dem Diener die verunsicherte Antwort: „Ich verstehe nicht, Hoheit.“ „Geh und sieh nach, ob Sened auch verschwunden ist oder ob er sich noch immer in seinem Zimmer befindet.“ „Ja, Herr.“ Und schon war der Diener wieder aus dem Raum verschwunden, um seinen neuen Auftrag zu erfüllen. Ungeduldig warteten die Zurückgebliebenen darauf, dass der Diener wiederkam, was erfreulich schnell der Fall war. Allerdings nur bis zu dem Moment, als dieser berichtete, was er vorgefunden hatte: Die Wache hatte scheinbar dösend an der Wand gelehnt. Als der Diener versucht hatte sie zu wecken, hatte er feststellen müssen, dass sie erdrosselt worden war. Seinem Auftrag gemäß, hatte der Diener anschließend die Tür zum Zimmer Seneds geöffnet. Dieser stand eng gegen die am weitesten von der Tür entfernte Wand gepresst, mit einem zu unvorstellbarem Grauen erstarrten Gesichtsausdruck, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Zögernd, voller Furcht war der Diener näher getreten und hatte den Mann vorsichtig berührt. Er war bereits vollkommen kalt. Was immer Geschehen war, es musste Sened zu Tode erschreckt haben, denn an seinem Körper war keine Wunde zu erkennen, die eine Erklärung für seinen Tod hätte geben können. Nachdem der Diener seinen Bericht beendet hatte, entließ Akunemkanon ihn, anschließend nacheinander jeden der vier Anwesenden ansehend, als erwartete er irgendeine Reaktion. Als jedoch alle entweder in betroffenem oder emotionslosem Schweigen verharrten, stellte er schließlich fest: „Es scheint, als würde keiner von euch seine Theorie ohne Sechemib oder Sened beweisen können. Ich werde veranlassen, dass nach Sechemib und dem Weißhaarigen gesucht wird. Die Entscheidung über Karim werde ich Amun anvertrauen, er wird weise und gerecht richten.“ Es schien als wollte Atemu auf die Worte seines Vaters noch etwas sagen, doch der winkte beschwichtigend ab, „Ich denke, ich weiß, was du sagen willst. Aber deine Bedenken sind unnötig. Amun ist groß. Auch ich hoffe, dass Karim unschuldig ist, aber wir haben nicht genügend Beweise um ihn frei zu sprechen. Ein Gottesurteil hingegen wird von niemandem angezweifelt werden.“ Atemu hatte die bereits zum Sprechen geöffneten Lippen wieder geschlossen und nickte nun in ergebener Zustimmung. Kurz lächelte Akunemkanon seinem Sohn aufmunternd zu, bevor er die Besprechung beendete und die Versammelten entließ, gab es in dieser Nacht doch nichts mehr, das getan werden konnte, außer die Suche nach dem Priester und dem weißhaarigen Mörder beginnen zu lassen. Kapitel 25: Gott und Mensch --------------------------- Nachdem Meresankh mit Akunadin gesprochen hatte, hatte sie nicht auf das Ende der Besprechung gewartet, sondern war wohl in den Harem zurückgekehrt. Statt ihr zu folgen, hatte sich Merenseth in der Nähe der königlichen Gemächer auf eine große Bodenvase gehockt und geduldig wartend darüber nachgedacht, ob es sinnvoll wäre Seth zu berichten, was sie beobachtet hatte. Würde er ihr überhaupt zuhören, wenn er erfuhr, dass es um Meresankh ging? Würde er ihr Glauben schenken? War es klug seinen Ärger herauszufordern und ihm eine weitere Enttäuschung zuzumuten oder wäre es besser zu schweigen und nur weiterhin die Augen offen zu halten? Sie war noch zu keiner Entscheidung gekommen, als sich die Tür zu den Räumen Akunemkanons erneut öffnete und die beiden Prinzen zusammen mit Seth heraustraten. Merenseth war neugierig zu erfahren, was es mit dem Kommen und Gehen des Dieners und seines erst besorgten und dann entsetzen Gesichtsausdrucks auf sich hatte. Mit einem Tschilpen flog der Vogel auf und zu den drei jungen Männern hinüber, die den kurzen Laut gehört hatten und sich zu ihr drehten. Gewohnheitsmäßig hob Seth seinen Arm, sodass der Benu darauf Platz nehmen konnte, anschließend den Arm nah an seine Schulter hebend, Merenseth so auffordernd sich dort nieder zulassen. Dann verneigte er sich dann knapp vor den beiden Prinzen und hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, als er von Atemu noch einmal zurückgehalten wurde, der sich überrascht erkundigte: „Wohin willst du jetzt noch?“ „Zu den Ställen“ war alles was Seth erwiderte, bevor er sich endgültig auf den Weg machte, Atemu und Mahaado einfach stehen lassend. Bei seinem Ziel angekommen, suchte er sich eines der temperamentvollsten Pferde im Stall aus, zäumte es eigenhändig und führte es hinaus ins Freie. In flottem Trab durchquerte er die schlafende Stadt, brachte die Wachen am Tor dazu ihn hinaus zu lassen und ritt in die Wüste hinein. Das Pferd zu einem halsbrecherischen Galopp anspornend, Merenseth nach langer Zeit wieder einmal zu einem Wettkampf herausfordernd. Lange ritt Seth so durch die nächtliche Wüste, flog Merenseth neben ihm, ließ sich manchmal zurückfallen, schloss die Seite wechselnd wieder zu ihm auf oder flog eine Weile voraus, schließlich wieder zu ihm zurückkehrend und mit ihm auf gleicher Höhe fliegend. Sie hatten kein Ziel, an das sie gelangen wollten, bewegten sich um der Bewegung willen, nahmen Reißaus vor dem, was im Schatten des Palastes auf sie lauern mochte und kehrten für eine kurze Weile in die Zeit zurück, als Seth ein kleiner Junge gewesen war und sie zusammen das Land erkundet hatten, sorglos und frei. Schließlich jedoch begann das Pferd zu ermüden und langsamer zu werden, sodass Seth es schließlich auf einem niedrigen Felsplateau, einem Ausläufer des nahen Gebirges, zum Stehen brachte und absaß. Nachdem er dicht an den Rand der felsigen Anhöhe getreten war, sah er reglos in die Richtung, aus der sie gekommen waren und in der die Pharaonenstadt lag. Schweigend, mit leicht verengten Augen starrte Seth in die Ferne, scheinbar weder die Kälte der Wüstennacht wahrnehmend noch den beständig wehenden Wind, der an Haar und Kleidung zerrte. Nicht einmal dass Merenseth in Menschengestalt neben ihn trat, sein Schweigen teilte, geduldig abwartete, dass er aussprechen würde, was ihn beschäftigte, schien zu ihm durchzudringen. „Sened ist tot. Sechemib verschwunden.“ Erst nach einer langen Zeit beendete Seth schließlich mit diesen emotionslos ruhig gesprochenen Worten das Schweigen, noch immer in die nächtliche Dunkelheit starrend. Das dürften die Erklärungen für das Verhalten des Dieners gewesen sein, dachte Merenseth im Stillen, erkundigte sich aber nur: „Willst du, dass ich ihn suche?“ „Nein.“ Es klang endgültig. „Wenn er hinter den Überfällen steckt, wird er zurückkommen, um zu beenden, was er angefangen hat. Dann werden ihn früher oder später die Häscher Akunemkanons aufhalten. War er unschuldig oder nur als Mittelsmann beteiligt, ist er bereits tot.“ „Du glaubst nicht mehr, dass er hinter dieser ganzen Sache steckt?“ Seth blieb die Antwort auf diese Frage schuldig und so schwiegen die Beiden erneut, bis Merenseth eine weitere Frage stellte. „Was hast du jetzt vor?“ Einen Moment schien es, als würde der junge Priester auch auf diese Frage keine Antwort geben, dann jedoch gestand er ruhig ein: „Ich weiß es nicht. Übermorgen beginnt das Opetfest. Amun soll dann über das Schicksal Karims entscheiden.“ ‚Menschen!’ dachte Merenseth bei dieser Bemerkung mit unwilligem Unglauben, nur sie konnten ein von ihnen inszeniertes Schauspiel als Gottesurteil deklarieren. Sie hütete sich jedoch ein Wort dazu zu sagen. „Es wäre die Gelegenheit für den Weißhaarigen seinen Versuch, den Kronprinzen zu töten, erfolgreich zu wiederholen.“ „Du redest von Krieg.“ Seth nickte bestätigend. Die öffentliche Ermordung des Thronfolgers würde bei der momentanen Stimmung im Land nicht nur einfach eine Erschütterung bedeuten, sondern dass die verfeindeten Anhänger von Militär und Priesterschaft einen Grund erhalten würden offiziell gegeneinander vorzugehen, weil jeder dem Anderen die Schuld daran geben würde, den Erben der Doppelkrone Kemets gemeuchelt zu haben. Es würde bedeuten, dass sich plötzlich ganze Familien verfeindet gegenüber standen. Einander töteten, für die Durchsetzung ihrer Wahrheit, voller Hass aufeinander, scheinbar ohne jede Erinnerung an die Zeit als sie noch friedlich miteinander gelebt hatten. „Noch kannst du gehen“, leise klang es, fast ein wenig zaghaft. Als wäre sich Merenseth nicht sicher, ob sie den Mann neben sich mit dieser Bemerkung beleidigen würde. Wieder nickte Seth nur zustimmend, schwieg jedoch ansonsten. „Wenn du bleibst, wirst du vielleicht sterben.“ „Das müssen wir alle.“ Dieses Mal war es Merenseth, die nickte, ohne sich an dem schroffen Tonfall Seths zu stören. „Ich werde bei dir sein.“ Es war kein Versprechen, dass alles gut ausgehen würde. Keine Erinnerung, dass der Benu dem Priester verpflichtet war. Es war das schlichte Aussprechen der Tatsache, dass sie seine Entscheidung akzeptieren würde, gleichgültig wie er sich entschied. Dass sie ihn nicht im Stich lassen würde, solang sie noch zu einer Bewegung fähig wäre. Erst in diesem Moment wandte Seth ein wenig den Kopf, ihn leicht schräg neigend, während er auf die Vogelfrau an seiner Seit herabsah, und lächelte. „Dann stehen die Aussichten gut, dass du mir bald dein zu Hause zeigen wirst.“ Ernst sah Merenseth zu Seth auf, musterte ihn aufmerksam und erwiderte schließlich ohne jedes Lächeln: „Ich hoffe, nicht.“ Seths Lächeln wurde zu einem unverschämten Grinsen, „ich wusste, dass dieser ‚Ort der Seligkeit’ nicht halb so beeindruckend sein kann, wie alle glauben.“ Nun musste auch Merenseth lächeln, während sie zugleich den Kopf schüttelte. „Es war wohl zu offensichtlich.“ Seth schnaubte herablassend, „was erwartest du, wenn du dich mehr in dieser Welt herumtreibst als in deinem Paradies.“ „Eine Verbesserung dieser Welt“ konterte Merenseth gelassen, noch immer lächelnd. „Durch deine Gegenwart?“ Seth klang skeptisch, gleichzeitig eine Braue hebend. „Nein, durch deine.“ Prompt fiel die gespielte Überlegenheit des jungen Priesters in sich zusammen, während er Merenseth nur noch verblüfft anstarrte. Dann räusperte er sich verlegen und meinte bemüht souverän: „Wir sollten und langsam auf den Rückweg machen.“ Die Vogelfrau nickte zustimmend, während sie gleichzeitig vorschlug: „Lass uns fliegen.“ „Und was wird aus dem Pferd?“ „Ich werde es tragen.“ Resignierend zuckte Seth mit den Schultern, „einverstanden.“ Sie war schließlich alt genug, um zu wissen, was sie tat. Prüfend musterte Merenseth ihr Gegenüber, bevor sie ein wenig erstaunt nachhakte: „Ist es dir unangenehm von mir getragen zu werden?“ „Unsinn!“ wehrte Seth ab, nicht gewillt weiter auf das Thema einzugehen. Für einen Moment betrachtete Merensth ihn mit schräg gelegtem Kopf, schließlich mit einem belustigten Lächeln erwidernd: „Wie du meinst“, sich im nächsten Augenblick auch schon wieder in einen Vogel verwandelnd, weit größer als das sonst der Fall gewesen war. Geduldig wartete sie, bis sich Seth auf ihren Rücken geschwungen und es sich halbwegs zwischen ihren Flügeln bequem gemacht hatte. Anschließend hob sie sich in die Luft, während das Pferd bereits nervös schnaubend unruhig hin und her trappelte. Als sich der Benu im nächsten Moment wieder ein Stück herabsenkte und mit seinen Zehen nach dem Tier griff, wieherte es angstvoll, rollte panisch mit den Augen und versuchte auszuschlagen, um sich auf diese Weise zu befreien und die Flucht zu ergreifen. Erst als der Benu beruhigend gurrte und eine kurze Tonfolge pfiff, beruhigte sich das Pferd allmählich wieder und schien sich mit seinem Schicksal abzufinden, ohne dabei sonderlich glücklich zu wirken. Ein klein wenig besorgt hatte Seth das Geschehen beobachtet und musste unwillkürlich daran denken, was geschehen war, als er das letzte Mal ein Pferd verloren hatte, dass ihm nicht gehörte. Obwohl er sich über seinen eigenen Aberglauben ärgerte, war er doch erleichtert, als Merenseth das Pferd schließlich unbeschadet unweit von der Pharaonenstadt im Sand absetzte, anschließend landete und ihren Reiter absteigen ließ, um sich anschließend wieder auf ihre normale Größe zu verkleinern. In der Stadt herrschte bereits helle Aufregung. Die Karawane des hethitischen Gesandten war gesehen worden und sollte gegen Mittag in der Stadt ankommen, um die mit Kemet abgeschlossenen Handels- und Friedensverträge zu bestätigen und zu verlängern. Der Gesandte König Hattuschilis sollte keine Zweifel darüber hegen, dass es von Vorteil war die friedlichen Handelsbeziehungen mit Kemet aufrecht zu erhalten und so war die gesamte Stadt auf den Beinen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen und die Karawane gebührend zu empfangen. Anders als sonst, herrschte an diesem Mittag in der Stadt keine träge, verschlafene Stille, sondern gespannte Erwartung. Neugierige hatten sich am Rand der Prunkstraße versammelt, durch die die Karawane zum Palast geführt werden würde. Staunend beobachtete die Menge den prächtigen Tross aus Pferden, Maultieren, Wagen und Menschen, dem ein Trupp ägyptischer Soldaten voran ritt. Neugierig raunten sie sich Bemerkungen über drei in der Karawane befindliche langbeinige Tiere mit braunem Fell und einem oder zwei Höckern zu, die gemächlich dahintrotteten, als würde sie das Staunen, dass sie auslösten, nicht im geringsten verwundern oder interessieren. Neben dem Gesandten, seiner Frau und zwei weiteren hochrangigen, hethitischen Adligen ritten Mahaado und zwei weitere ägyptische Höflinge, die der Karawane zusammen mit den Soldaten entgegen geritten waren und sie nun eskortierten. Akunadin war dagegen gewesen, dass ausgerechnet Mahaado zu jenen gehörten, die den Gesandten als Erste begrüßten, hatte sich in diesem Fall jedoch gegen seinen Bruder nicht durchsetzen können. Im Vorhof des Palastes angekommen, wurde die Karawane bereits von Akunadin erwartet, der zusammen mit Kakau, der den verschwundenen Sechemib ersetzte, sowie Seth und einigen Dienern, am Eingang des Palastes stand und dem Gesandten entgegen ging, sobald dieser von seinem Pferd gestiegen war. „Benteschina, willkommen. Es tut gut zu sehen, dass in Hatti weisen Männern wieder Gehör geschenkt wird.“ Der Angesprochene verneigte sich bei dieser Begrüßung dankend, gleich darauf mit einem Lächeln erwidernd: „Sei gegrüßt, Akunadin. Es ist schön wieder einmal in Kemet sein zu dürfen. Beinahe bin ich versucht, auf schwierige Verhandlungen zu hoffen, um längere Zeit hier verbringen zu können.“ Auch Akunadin lächelte, „du hast wahrlich eine gute Zeit für deinen Besuch gewählt. Es wäre mir eine Ehre dich auch weiter unseren Gast nennen zu dürfen, wenn die Erneuerung der Verträge abgeschlossen ist.“ Noch während sich Benteschina erneut für die Freundlichkeit bedankte und sich anschließend nach dem Befinden Akunemkanons, Atemus und Akunadins erkundigte, forderte dieser den hethitischen Gesandten mit einer Geste auf ihn zu begleiten, gefolgt von den hethitischen Adligen, Mahaado und dessen Begleitern, während sich Kakau, Seth und die Diener den restlichen Mitgliedern der Gesandtschaft annahmen. Während im Thronsaal die hethitischen Gesandten von Akunemkanon und seinem Sohn willkommen geheißen wurden, hatten Kakau und Seth dafür zu sorgen, dass die mitgereisten Schreiber, Diener, Tierpfleger und die Tiere selbst untergebracht und versorgt wurden. Seth hatte sich als letztes darum gekümmert, dass auch die gelangweilt wiederkäuenden, langbeinigen Höckertiere einen Platz in den Ställen erhielten und war nun auf dem Rückweg in das Innere des Palastes, als er von hinten angesprochen wurde. „Du bist ganz schön vergesslich geworden.“ Verwundert drehte sich Seth zu der Stimme in seinem Rücken herum und sah einen etwa zwölfjährigen Jungen mit lachenden, dunklen Augen und ebenso dunklen Haaren, die offenbar jedem Versuch sie zu bändigen erfolgreich Widerstand geleistet hatten. „Mukisanu?!?“ Vollkommen verblüfft starrte der junge Priester auf den ehemaligen Straßenjungen. „Höchstselbst und in eigener Person“, bestätigte der Junge mit stolz gereckter Brust und einem so breiten Grinsen im Gesicht, dass selbst die ägyptische Sonne dagegen zu verblassen schien. Davon völlig unbeeindruckt, verlangte Seth noch immer fassungslos und wenig erfreut zu wissen: „Was machst du hier?“ Das Grinsen in Mukisanus Gesicht verlor etwas von seiner Strahlkraft, während sich erste Verunsicherung in seinen Augen widerspiegelte, trotzdem erwiderte er bewusst forsch: „Ich gehöre jetzt zu den Pferdepflegern Benteschinas von Amurru. – Hier, ich hatte dir versprochen, ihn dir zurück zu geben.“ Damit hielt Mukisanu dem Priester ein ordentlich gefaltetes Stück Stoff entgegen, dass er bis zu diesem Moment hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte. Seth warf nur einen Blick darauf, erkannte den Umhang aus Kranichfedern und erwiderte: „Behalte ihn, er gehört dir.“ Wortlos ließ Mukisanu seine Hände mit dem Umhang sinken, während das Grinsen in seinem Gesicht gänzlich verschwunden war. Peinliches Schweigen herrschte zwischen den Beiden. Enttäuscht hatte Mukisanu den Blick abgewandt und schien nach einem Vorwand zu suchen, Seth wieder allein zu lassen, während dieser den Jungen vor sich nachdenklich musterte. Seltsam, in all der Zeit hatte er an Mukisanu immer als kleinen, drahtigen Jungen mit schmutzigem Gesicht gedacht. Nun stand vor ihm ein Junge, der in Kemet bereits zu den Erwachsenen zählen würde, der dem Aussehen nach nur noch geringe Ähnlichkeit mit dem Kind von damals hatte und doch hatte er ihn sofort wieder erkannt. „Was ist aus Urija und den anderen geworden?“ erkundigte er sich schließlich und erhielt augenblicklich wieder die gesamte Aufmerksamkeit Mukisanus, der nun seinerseits überrascht wirkte. „Weiß nicht“, erwiderte der Junge dann mit einem wegwerfenden Schulterzucken, „nachdem du weg warst, haben sie entschieden, dass ich nicht mehr ihr Anführer bin, sondern Urija, also bin ich weg und hab mich eine Weile allein durchgeschlagen. Dann hab ich eines Tages Arnuwanda getroffen, er ist der Stallmeister Benteschinas. Ich hab eine Wette gegen ihn gewonnen und seitdem arbeite ich für das Haus Amurru.“ „Das Amulett hat gute Arbeit geleistet“, stellte Seth trocken fest, ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen. „Hah! Von wegen, das hab ich allein geschafft!“ erwiderte Mukisanu bestimmt, während das Lächeln in sein Gesicht zurückkehrte, eindeutig erleichternd wirkend. „Aber was ist mit dir, was machst du hier im Palast, hast du nicht gesagt du lebst in einem Dorf?“ Seth nickte bestätigend, „das habe ich. Inzwischen bin ich ein Priester des Amun.“ „Und die leben im Palast?“ Mukisau schien zwischen Staunen und Skepsis hin und hergerissen. „Nur in Ausnahmefällen.“ „Und du bist eine Ausnahme?!“ Seth nickte nur zustimmend, den Jungen anschließend auffordernd ihn zu begleiten, sich auf dem Weg erkundigend, ob Mukisanu sich am nächsten Tag die Eröffnung des Opetfestes ansehen wolle. „Klar“, lautete die begeisterte Antwort. Der die Frage folgte, ob sie sich das Ganze zusammen ansehen könnten. Als Seth erwiderte, dass das nicht möglich wäre, wirkte Mukisanu zunächst enttäuscht, war aber gleich darauf, beeindruckt zu hören, warum es nicht möglich war, kaschierte das jedoch gekonnt durch die flachsende Bemerkung: „Pass bloß auf, dass du keine Fehler machst, sonst fällt uns am Ende noch der Himmel auf den Kopf.“ Seth gab darauf nur ein ungläubig, abfälliges Geräusch von sich, ehe er erwiderte: „Eher wird dich ein Blitz erschlagen, Ungläubiger.“ „Von wegen Ungläubiger. Ihr seit diejenigen mit den falschen Göttern, schließlich haben wir den letzten Krieg gewonnen.“ „Das Gleiche erzählen sich die Leute hier“ konterte Seth mit einem abfällig zynischen Lächeln. „Sieht nicht so aus, als würdest du ihnen glauben“, skeptisch sah Mukisanu zu dem Priester auf, der darauf nur die ausweichende Antwort gab: „Ich denke, Götter existieren unabhängig von menschlichen Kriegen.“ „Hm, muss wohl so sein“ brummelte Mukisanu nachdenklich, bevor er das Thema wechselte und sich erkundigte, wo eigentlich Merenseth stecken würde. „In meinem Zimmer. Ich bringe dich später zu ihr.“ Sich damit zufriedengebend, grinste Mukisanu erfreut und nickte einverstanden, gleich darauf neugierig nachfragend, wohin sie denn in diesem Moment eigentlich überhaupt gehen würden. Statt zu antworten, befahl Seth dem Jungen nur kurze Zeit später auf ihn zu warten und verschwand anschließend hinter der Tür die zu den Frauengemächern des Palastes führte. Interessiert besah sich Mukisanu, während er wartete, die üppigen Wandmalereien und begutachtete den aufgestellten Zierrat. Es war das erste Mal, dass er sich im Inneren eines Palastes befand, in Gegenwart Seths hatte er sich jedoch nicht die Blöße geben wollen beeindruckt zu wirken, schon gar nicht angesichts der Tatsache, dass der Priester die ganzen Kostbarkeiten gar nicht wahr zu nehmen schien. Mukisanu war gerade dabei die gedrungene Figur einer Statue mit erregiertem Glied, übergroßem Kopf, fratzenhaftem Gesicht und Bart näher zu untersuchen, als Seth in Begleitung eines weißhaarigen, schüchtern wirkenden Mädchens zurückkehrte und Mukisanu sich hastig bemühte so zu tun, als sähe er tierohrige Gnomenfiguren, die durch Schnitzkunst und Bemalung geradezu lebendig wirkten, alle Tage. Ein wenig verblüfft starrte er im nächsten Moment unverhohlen auf die weißen Haare des Mädchens und erkundigte sich, nachdem Seth die Beiden einander vorgestellt hatte, sehr direkt: „Warst du krank?“ Kisara schaute verlegen zu Boden, während sie nur wortlos den Kopf schüttelte. „Wieso hast du dann weiße Haare?“, erkundigte sich Mukisanu fasziniert, unempfindlich gegen das offensichtliche Unbehagen des Mädchens. „Ich wurde so geboren“, leise und scheu klang die Antwort, während Kisara nervös ihre Finger ineinander verschlang. „Ach so“, Mukisanu klang enttäuscht, dass er keine spannende Geschichte zu hören bekommen würde, und schien plötzlich alles Interesse an der ungewöhnlichen Haarfarbe verloren zu haben. Vorsichtig hob Kisara ein wenig den Kopf, dem hethitischen Jungen einen prüfenden Blick unter gesenkten Lidern zu werfend, bevor sie noch immer zaghaft, aber bereits mit etwas mehr Zutrauen fragte: „Dir gefällt Bes?“ Verständnislos starrte Mukisanu Kisara an, „wer?“ Mit wachsendem Mut hob Kisara den Kopf noch ein Stück weiter, während sich ihre Schultern strafften und ihre Mundwinkel sich zu einem freundlichen Lächeln verzogen. „Bes“, mit unbewusster Grazie wies Kisaras Hand auf die Statue, die Mukisanu zuvor so genau betrachtet hatte. „Na ja, er sieht ein bisschen komisch aus, findest du nicht?“, lautete die von einem gleichgültigen Schulterzucken begleitete Antwort des Jungen. „Doch“, nickte Kisara zutraulich, fröhlich lächelnd, „aber du darfst ihn nicht beleidigen. Er sieht vielleicht nicht so aus, aber er ist ein mächtiger Schutzgeist. Wenn du ihn verärgerst wird er dich deiner Geschlechtskraft berauben.“ Mukisanu wirkte skeptisch, wollte es aber dennoch nicht riskieren, den Wahrheitsgehalt dieser Bemerkung zu testen und so sah er nur fragend zu Seth, um in Erfahrung zu bringen, was er davon hielt. Seth hatte mit einiger Verblüffung beobachtet, dass Mukisanu auf Kisara offenbar die gleiche Wirkung hatte, wie damals bei ihrer ersten Begegnung auf ihn. Sein Erstaunen dauerte allerdings nur kurz, dann erklärte er, ohne auf das Geplänkel zwischen den Beiden einzugehen: „Kisara wird dich morgen begleiten, wenn du dir den Festumzug ansehen willst.“ „Ich komm schon allein zurecht“, versuchte Mukisanu abzuwehren, der eigentlich keine Lust hatte, bei seinem Streifzug auf ein Mädchen Rücksicht nehmen zu müssen. „Sie kennt sich hier besser aus als du. Ohne sie wirst du wahrscheinlich nichts anderes als Rücken zu sehen bekommen.“ Mukisanu seufzte schwer, fügte sich aber dem durchdringenden Blick, mit dem Seth ihn anstarrte und brummelte: „schön, meinetwegen.“ Sich gleich darauf an Kisara wendend und sich erkundigend wann und wo sie sich am nächsten Tag treffen wollten. Sobald das erledigt war, trennten sich ihre Wege wieder, Kisara kehrte zurück an ihre Arbeit und die beiden Jungen machten sich, wie von Seth versprochen, auf den Weg zu Merenseth. Diese hockte, den Kopf unter einem Flügel geborgen, schlafend auf ihrer Stange und ließ zunächst ein verschlafenes Tschilpen hören, nachdem sie von den Jungen geweckt und ihren Kopf unter dem Flügel hervorgezogen hatte. Als sie erkannte, dass Mukisanu vor ihr stand, streckte sie den Hals vor, rieb ihren Kopf an der Wange des Jungen und zupfte ihn anschließend zur Begrüßung an einer Harrsträhne. Mukisanu grinste breit, während er erklärte: „Du hast dich kein bisschen verändert, altes Mädchen.“ Gekränkt hoben sich augenblicklich die Schopffedern, des Benu und er ließ ein empörtes Tschilpen hören. Erstaunt sah Mukisanu zu Seth, „hab ich was Falsches gesagt?“ Seth grinste, „nein, sie verträgt nur manchmal die Wahrheit nicht.“ Entrüstet plusterte Merenseth sich auf und schlug aufgeregt mit den Flügeln, während Seth mit einem noch breiter werdenden Grinsen seinen Worten hinzufügte: „Sie ist unglaublich eitel.“ Vollends beleidigt, stieß Merenseth einen kurzen Pfiff aus und drehte sich auf der Stange herum, sich den Anschein gebend, jeden Moment aus dem Fenster und davon fliegen zu wollen. Sie wurde jedoch hastig daran gehindert, indem Mukisanu ihre langen Schwanzfedern packte und erklärte: „Ich hab’s nicht so gemeint, sei nicht beleidigt. Ich freu mich dich wiederzusehen.“ Merenseth wandte zunächst nur ihren Kopf, um den Jungen anzusehen. Tschilpte einmal kurz und drehte sich schließlich erneut auf der Stange, sodass sie den Jungen nun wieder ihre Vorderseite zuwandte, während Mukisanu augenblicklich die Schwanzfedern losließ, erleichtert grinste und bat: „Können wir einen Rundflug über die Stand machen?“ Fragend sah der Benu zu Seth, der nickte lediglich zustimmend, während er die Beiden ermahnte, sich nicht erwischen zu lassen. Während der junge Priester anschließend zu seinen Pflichten zurückkehrte, trug der Jüngste der hethitischen Pferdepfleger den Benu des Herrn der beiden Länder auf seinem Arm durch den Palast und genoss kurz darauf das Gefühl nach langer Zeit scheinbar schwerelos dahinfliegend die Welt von oben betrachten zu können. Heller, klarer als sonst schien die Sonne am nächsten Morgen zu strahlen, als wäre sie sich der Bedeutung dieses Tages bewusst und wollte ihren Teil zum Gelingen beitragen. Schon früh hatte sich eine große Menschenmenge vor dem Haupttempel des Amun im Norden der Stadt versammelt und wartete gespannt auf das Erscheinen des Gottes, seiner Gemahlin Mut und ihres gemeinsamen Sohnes Chons. Soldaten sorgten dafür, dass die Menge eine breite Gasse frei ließ, durch die die Prozession zum Fluss gelangen würde. Den Anfang des Festzuges bildeten die Gebete singenden und Palmwedel tragenden Reinigungspriester, in ihren zeremoniellen Gewändern, den aufwendig gearbeiteten Perücken und der kostbaren Schminke bereits für beeindrucktes Raunen sorgend, ihnen folgten Sänger und Musiker, die in perfekter Harmonie den Göttern Lobpreis sangen. Klar und laut klangen ihre Stimmen, mit denen sie einen Klangteppich webten, auf dem die nubischen Tänzer anmutig von der Größe, Weißheit und Stärke der Götter erzählten. Darauf erst wurden schließlich die Kultbilder Amuns, Muts und Chons sichtbar, die jeder für sich auf einem Tragschrein in Barkenform ruhten und auf den Schultern ausgewählter Priester durch die jubelnde Menge getragen wurden. Den Schluss der Prozession bildeten der König und sein Gefolge, in dem sich zum Erstaunen von vielen Beobachtern, direkt neben ihrem Bruder, auch Isis, die Frau Karims befand. Die einen glaubten, sie nehme als Unterpfand für Karims Wohlverhalten teil, die anderen sahen darin ein Zeichen der nach wie vor bestehenden Wertschätzung des Oberbefehlshabers durch den König. Bei der Anlegestelle am Flussufer angekommen, verteilten sich die Teilnehmer der Prozession auf die bereitstehenden Boote. Den Mittelpunkt der Flotte bildeten die drei Boote, in denen sich gut sichtbar für alle die Schreine der drei Götter befanden. Obwohl Schleppboote dafür sorgten, dass die Boote der Prozession flussaufwärts, Richtung Süden fahren konnten, waren traditionell Taue von den Schiffen der Götter zum Ufer gespannt worden, sodass Hunderte von Menschen, jeder der ein Stück Seil ergattern konnte, dabei halfen, Amun und seine Familie zum zweiten großen Heiligtum der Pharaonenstadt zu geleiten, zu Amuns südlichem Harem, wie es genannt wurde. Während der ganzen Zeit spielten und sangen die Musikanten gemeinsam mit der Menge und im Wechsel mit den Gebeten der Priester, war die Luft erfüllt von Scherzen, Lachen und Anfeuerungsrufen. An der südlichen Anlegestelle angekommen, verließ die Prozession schließlich wieder die Schiffe und zog langsam durch die Menge in den Tempel. Vorbei an langen Tischen, die gefüllt waren mit Opfergaben, Blumen und Früchten. Im Inneren des Heiligtums angekommen, wurde die göttliche Familie von ausgewählten Persönlichkeiten begrüßt, die diese Ehre als Anerkennung für ihre Dienste zugewiesen bekommen hatten, gefolgt von weiteren Tänzen und dem symbolischen Darbringen einzelner Opfergaben. Schließlich war es soweit: Der Erbe des Horus würde durch das Priesterorakel des Amun Zustimmung oder Ablehnung für anstehende Entscheidungen erfahren. Gespannte Stille senkte sich auf die Versammelten herab, während im Mittelpunkt des Tempelinnenhofs, unweit vom Sitzplatz des Herrschers, die Barke des Amun auf den Schultern von vier Priestern ruhte. Würde sich die Barke auf die Frage Akunemkanons nach vorn neigen, so bedeutete es die Zustimmung des Gottes, neigten sich Kultbild und Barke dagegen zurück, so war das gleichbedeutend mit einer Ablehnung. Angespannt ließ Isis den Schrein des Gottes nicht aus den Augen, als sie hörte wie der Herr der beiden Länder das Orakel fragte, ob Karim unschuldig sei, unbewusst die Hand ihres Bruders so fest umklammernd, dass dieser unwillkürlich das Gesicht verzog, bevor er mehr um sie zu beruhigen, als dass er tatsächlich von einem guten Ausgang überzeugt war, den Druck ihrer Hand tröstend und aufmunternd zugleich erwiderte. Isis schien es nicht einmal zu bemerken, denn in diesem Moment begann sich langsam, fast unmerklich die Barke zu neigen. Ein Raunen erhob sich unter den Zuschauern, als sich wider aller Erwartung die Barke des Amun nach vorn bewegte. Wispernd und flüsternd stellten die Menschen Vermutungen an, was diese Entscheidung zu bedeuten haben mochte. War es wirklich möglich, dass Karim unschuldig war? Hatte Akunadin seine Finger im Spiel und wollte es sich mit seinem Bruder nicht verderben? Isis hörte nichts von alledem, sie starrte fassungslos auf den Schrein des Gottes und konnte nicht glauben, dass in diesem Moment alle ihre Sorgen zu Nichts zerfallen waren. Karim frei gesprochen worden war, von höchster Stelle. Erst der erneute Druck von Mahaados Hand auf ihre, weckte sie aus ihrer Starre, ließ sie zu ihrem Bruder blicken und sie dort ihre eigene Überraschung widergespiegelt sehen. Dann jedoch grinste Mahaado jungenhaft, während er flüsterte: „Vielleicht haben wir uns ja geirrt und Akunadin hat doch mehr Ähnlichkeit mit seinen Verwandten, als wir dachten.“ Das strahlende Lächeln in Isis Gesicht, machte ohne alle Worte klar, was sie in diesem Moment empfand: Grenzenlose Erleichterung und ein kitzelndes Glücksgefühl, dass sie zwang sich auf die Mundwinkel zu beißen, um nicht vor Freude laut auf zu lachen. Unterdessen hatte Akunemkanon dem Orakel seine zweite Frage gestellt, ob sein Sohn als Mitregent akzeptiert würde. Die Antwort kam dieses Mal schnell und eindeutig: Er wurde. Freudig jubelte die Menge, während man dem Prinzen eine Schale reichte, die mit einem Gemisch aus Milch und Nilwasser gefüllt war. Isismilch, die daran erinnerte, dass die Mutter des Horus auch die Mutter all seiner Nachfolger war und diese mit ihrer Milch genährt hatte. Nachdem er getrunken hatte, verneigte sich Atemu ehrerbietig vor den Bildern der drei Gottheiten und legte den Schwur ab Kemet zu schützen, den Willen der Götter zu befolgen und stets die Maat aufrecht zu erhalten. Nachdem die Würdenträger des Reiches dem Mitregenten des Herrschers Gehorsam und Treue geschworen hatten, die Priester des Amun den Segen für den Herrn der beiden Länder, seinen Sohn und alle Bewohner Kemets erbeten hatten, war es erneut an den Sängern, Tänzern und Musikanten die Götter zu preisen, den König und seinen Mitregenten zu ehren. Anschließend begannen die eigentlichen Feierlichkeiten, die mehrer Tage dauern würden. Bevor Akunemkanon und sein Gefolge in den Palast zurückkehrten, um dort ebenfalls das Opetfest zu feiern, verdeutlichten sie ihre Verbundenheit mit dem Volk, indem sie von den hergerichteten Speisen aßen, sich eigens für diesen Tag einstudierte Darbietungen ansahen und mit viel Gefühl und Pathos vorgetragenen Lobhymnen lauschten. Es war bereits später Nachmittag, als sie sich schließlich auf den Rückweg machten, ihren Weg vorsorglich von Soldaten gesäumt, die dafür sorgen sollten, dass der Zug des Königs nicht aufgehalten oder behindert wurde. Akunadin war seinem Amt als Hohepriester entsprechend im Tempel zurückgeblieben, um die Einkehr der Götterbilder in das Allerheiligste des Tempels und die Verteilung der Opfergaben zu überwachen, während sich Benteschina und seine Begleiter unter die Feiernden gemischt hatten. Ebenso wie in der Nähe des südlichen Amuntempels herrschte auch in der Stadt fröhlich buntes Treiben, feierten die Menschen jeder auf seine Art die Größe und Gnade Amuns und seiner Familie. Der Königszug befand sich bereits auf der breiten Straße, an dessen Ende sich die Palastanlage erstreckte, als plötzlich vor den ersten Reitern der festgestampfte Erdboden aufbrach, sodass die Pferde panisch wieherten, zu steigen versuchten und die Flucht ergriffen hätten, wenn sie nicht von den Menschen auf ihrem Rücken mühsam daran gehindert worden wären. Unterdessen hatte sich aus dem geöffneten Erdreich ein riesiges, graulich grünes Wesen mit geschupptem Leib erhoben. Sanft schwankte der Körper des mächtigen Tieres hin und her, während es das entsetzte Starren der Menge um sich und die abrupte, verängstigte Stille gar nicht wahrzunehmen schien, sondern sich darauf konzentrierte eine bestimmte Person zu finden, dabei immer wieder mit der Zunge die Luft auf die verschiedenen Gerüche hin überprüfend. Dann hatte das Wesen gefunden, wonach es suchte, stieß in einem blitzartigen Angriff herab und verbiss sich im nächsten Augenblick auch schon mit seinen kräftigen Kiefern in der Schulter Akunemkanons, der nur ein entsetztes Keuchen hervorbrachte, bevor er versuchte sich instinktiv an irgendetwas festzuhalten, um nicht unter Druck und Schmerz vom Pferd zu fallen und im Staub zu liegen. Für einen Moment schienen die Menschen wie erstarrt, während sie voll ungläubigen Entsetzens auf das Schauspiel vor sich sahen. Der Gottkönig Kemets, der Erbe des Horus und Hüter der beiden Länder wurde von einem Uräus, einem Garanten der königlichen Macht angegriffen. Hatte Akunemkanon den Zorn der Krongöttin Unterägyptens auf sich geladen, dass diese ihn nun auf so schreckliche Weise strafte? Aber wie konnte so etwas geschehen, wenn nur wenige Stunden zuvor Amun selbst durch das Orakel seine Zufriedenheit mit dem Erbe des Horus kundgetan hatte? War es vielleicht Apepis selbst, der sich aus dem Jenseits befreit hatte, um Akunemkanon zu töten und Kemet ins Unglück zu stoßen? Noch während ein Teil der Zuschauer versuchte zu begreifen, was sie da gerade sahen, andere instinktiv die Flucht ergriffen, um nicht selbst den Zorn des Schlangenwesens zu spüren zu bekommen, während wieder andere entsetzt auf die Knie sanken und die Götter um Gnade anflehten, hatte der Uräus seinen Klammerbiss gelöst und seine Aufmerksamkeit einigen Soldaten zugewandt, die heraneilten, um ihren Herrn zu schützen. Es blieb bei dem Versuch. Sie starben schreiend im Feuer, das die Schlange spie, bevor sie sich auch schon wieder Akunemkanon zuwandte und erneut herabstieß, die nun endgültig ringsum ausbrechende Panik und die in blinder Flucht Rettung suchenden Menschen noch immer nicht beachtend. Ein hässliches Knacken folgte, das Atemu in dieser bizarren Situation überlaut vorkam, während er fassungslos mit ansehen musste wie sein Vater für einen Wimpernschlag leblos halb im Maul der Schlange baumelte, bevor diese ihn achtlos zu Boden fallen ließ und sich ihm selbst zuwandte. Ohne darüber nachzudenken, sprang der Kronprinz von seinem Pferd, das nun ohne denjenigen, der es ruhig gehalten hatte, verängstigt davon preschte, die Nervosität der anderen Tiere noch einmal steigerte und einige von ihnen dazu brachte ebenfalls durchzugehen. Während Atemu zu seinem Vater hinüber lief, in der aussichtslosen Hoffnung, noch irgendetwas für ihn tun zu können. Beinahe hätte er gleich darauf das Schicksal seines Vaters geteilt, hätten nicht im letzten Moment drei überlebensgroße, kauernde Hundegestalten einen schützenden Ring um ihn und seinen Vater gebildet. Wütend zischte das Schlangenwesen, als es so kurz vor seinem Ziel plötzlich gestoppt wurde und attackierte angriffslustig die reglosen Wächter, die nichts von den heftigen Angriffen der Schlange zu spüren schienen. Anders als diejenigen, die sie gerufen hatten. Unwillkürlich schnappten Mahaado, Isis und Seth nach Luft, als die ungezügelte Wut des Uräus sich über den Dämonen entlud und diese sich mit Hilfe des Ka derer, die sie gerufen hatten, dagegen schützten. Die Ordnung des Königszuges war längst dem herrschenden Durcheinander gewichen, Viele waren ebenso wie die noch vor kurzem so fröhliche Zuschauermenge in heilloser Angst geflohen, andere lagen reglos am Boden, Opfer der kopflosen Panik. Shimon gehörte zu den wenigen des königlichen Gefolges, die nicht Reißaus genommen hatten. Und der nun unauffällig zwischen den noch immer stillschweigend Widerstand leistenden Caniden hindurch schlüpfte und sich gegenüber von Atemu, neben den leblosen Körper Akunemkanons kniete. Während Mahaado den von ihm gerufenen Upuaut angreifen ließ, erkannte Shimon, dass er dem ehemaligen Herrscher Kemets nicht mehr helfen konnte, dieser bereits seine Reise in das Jenseits angetreten hatte. Voller Trauer sah der alte Hofarzt auf Akunemkanon herab, während Hund und Schlange in einander verbissen gegen einander kämpften, die breite Prunkstraße in einen staubigen Nebel hüllten und alles in Trümmer gehen ließen, was ihnen zu nahe kam. Der Erbe des Horus war für Shimon mehr als nur der Garant für das Bestehen Kemets gewesen. Über lange Jahre waren sie Vertraute gewesen, manchmal mehr wie Freunde, Vater und Sohn, als Herrscher und Arzt. Shimon war immer der Überzeugung gewesen, dass er als erster von ihnen beiden sterben würde. Nun war er es, der zurückblieb und dem künftigen König sagen musste: „Du hast keine Zeit zu trauern, nicht jetzt. Kehre in den Palast zurück und lass so schnell wie möglich die Krönung stattfinden, sonst wird Kemet untergehen.“ Mit tränenblinden Augen, voller Verständnislosigkeit blickte Atemu den alten Hofarzt an. Er hatte gerade seinen Vater verloren, wie sollte er in so einem Moment an Politik denken?! Unterdessen war es Upuaut gelungen, den Uräus vorerst in die Flucht zu schlagen. Zischend vor Hass und Unzufriedenheit verschwand das Wesen dorthin, woher er gekommen war, lösten sich die dämonischen Wächter in Luft auf und stützte sich Mahaado nach Atem ringend auf seinen Knien ab, während er einige unflätige Verwünschungen murmelte. Irgendjemand sorgte dafür, dass Diener herbei liefen, die den Leichnam des Königs in den Palast trugen, während Atemu sich in einem merkwürdig traumartigen Zustand bewegte, als würde er schlafwandeln. Er schien nicht zu bemerken, wie sich ihm Seth und Mahaado näherten, ihn wortlos in ihre Mitte nahmen und begleiteten. Irgendetwas in ihm weigerte sich zu begreifen, was geschehen war, wollte es nicht wahrhaben, während gleichzeitig die Frage in seinem Kopf zu rumoren begann: Warum? Was hatte sein Vater getan, das er an diesem Tag und auf diese Weise hatte sterben müssen? Hatte er nicht stets versucht das Beste für Kemet zu tun, Maat zu stärken und aufrechtzuerhalten? Das Land und seine Bewohner vor allem zu schützen, dass ihnen gefährlich werden konnte? „Warum?“ Er merkte erst, dass er die Frage laut gestellt hatte, als er hörte wie Mahaado grimmig erwiderte: „Wir werden den Weißhaarigen finden, er wird die Antwort wissen und anschließend seine Strafe erhalten.“ Schweigend starrte der Kronprinz seinen Freund eine lange Zeit reglos an, bevor er schließlich langsam, mechanisch nickte und seinen Blick fragend zu Seth wandte, der abwartend die Szene beobachtet hatte. „Was ist mit dir?“ Ohne dem Blick des Prinzen auszuweichen oder zu zögern, erwiderte der Priester auf diese Frage sachlich: „Ich werde euch helfen.“ Wieder nickte der Prinz, rieb sich dann über die Stirn, als könne er auf diese Weise die Gedanken an den erlebten Albtraum vertreiben und erklärte stockend und unzusammenhängend: „Shimon. Die Krönung. Akunadin soll alles so schnell wie möglich vorbereiten.“ Seth verneigte sich darauf nur wortlos und verließ im nächsten Moment auch schon den Raum, in den sie den Prinzen geführt hatten, als sie in den Palast zurückgekehrt waren. Kapitel 26: Dämon ----------------- Die Nachricht vom Tod Akunemkanons verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Niemand wusste, warum der Herr der beiden Länder auf diese Weise hatte sterben müssen, was den Zorn der Götter verursacht hatte und was nun mit ihnen selbst geschehen würde. Viele der Besucher, die zum Opetfest angereist waren, beeilten sich die Stadt zu verlassen, in der Hoffnung so dem weiteren Wüten der Schlange zu entgehen. Sobald Akunadin vom Tod seines Bruders erfuhr, beeilte er sich in den Palast zurückzukehren, dort zunächst feststellend, dass Atemu noch lebte und bereits Anweisung gegeben hatte, alles für die Krönung vorzubereiten. Der oberste Priester wirkte ungewöhnlich angespannt, es schien ihm Mühe zu bereiten seine sonst so gleichmütige Fassade aufrecht zu erhalten, während er den Worten des Kronprinzen lauschte, der ihn darüber in Kenntnisse setzte, dass er innerhalb kürzester Zeit die Nachfolge seines Vaters antreten würde und von Akunadin erwartete, dass dieser die Rolle des Zeremonienmeisters übernahm. Kaum hatte der Tjt den Raum verlassen, in dem die Unterredung stattgefunden hatte, sah er sich Benteschina gegenüber, der ebenfalls in den Palast zurückgekehrt war, nachdem er von Gerüchten über den Tod Akunemkanons gehört hatte und nun eine Erklärung von Akunadin erwartete. Die knappe Bestätigung der Gerüchte durch den Priester, ließ den hethitischen Gesandten für einen Augenblick nachdenklich schweigen, vielleicht wartete er auch darauf, dass Akunadin ihm Näheres über die Todesumstände erzählte. Als nichts dergleichen geschah, erklärte Benteschina schließlich: „Ich sagte bei meiner Ankunft, dass ich gegen Schwierigkeiten bei den Verhandlungen nichts einzuwenden hätte. Der Tod des Herrn der beiden Länder, deines Bruders, ist Nichts, was sich Hatti wünschen konnte. Er war ein guter Herrscher, möge sein Sohn ihm nacheifern.“ Für einen winzigen Sekundenbruchteil schien ein kaltes Lächeln über Akunadins Gesicht zu huschen, bevor er vollkommen ernst erwiderte: „Das wird er. Deshalb bitte ich dich, warte noch mit deiner Rückkehr nach Hatti. Der Prinz wird bald gekrönt sein und wieder Ordnung herrschen.“ Benteschina lächelte milde, „ich hege keinen Zweifel an deiner Tüchtigkeit und hatte nicht vor, Kemet zu verlassen. Diese Verträge sind nicht nur für dein Land von großer Wichtigkeit.“ Dankend verneigte sich Akunadin daraufhin leicht, bevor er sich mit der Entschuldigung, die Krönung vorbereiten zu müssen, von Benteschina verabschiedete. Anders als sonst bei Feierlichkeiten und Zeremonien, herrschte in dem großen, prunkvollen Thronsaal des Palastes eine unruhig angespannte Atmosphäre während der versammelte Hofstaat auf das Erscheinen des künftigen Herrn der beiden Länder wartete. Verunsichert fürchteten die Anwesenden, dass der Zorn Utos noch nicht besänftigt wäre und sie erneut ihren Boten Uräus senden würde, um Kemet zu strafen. Keiner der Höflinge wollte in diesem Fall in der Nähe des Herrschers sein, um nicht ebenfalls Opfer der göttlichen Strafe zu werden. Trotz der unguten Stimmung ging ein anerkennendes Raunen durch den Saal, als sich schließlich die dem König vorbehaltene zweiflügelige Tür öffnete und Atemu den Raum betrat, gefolgt von Akunadin und zwei weiteren Priestern, die dem zuvor stattgefunden Reinigungsritual des Thronfolgers beigewohnt hatten. Zielstrebig schritt Atemu auf den etwas erhöht stehenden Thron aus Elektron zu, vor diesem stehen bleibend und sich den Versammelten zuwendend, die sich tief vor ihm verneigten. Anschließend wurde der Hofstaat Zeuge, wie der neue König als Zeichen der Machtübertragung und Bestätigung seiner Legitimität mit heiligem Öl gesalbt wurde, ihm die Götter Horus und Seth, verkörpert durch den Tjt und einen weiteren Priester, zunächst die rote Krone Unterägyptens und dann die weiße Krone Oberägyptens aufsetzten, dabei die alten Krönungstexte zitierend. Als der Hymnus auf die jugendliche Kraft des Herrschers erklang, während dieser den Thron bestieg, huldigte der Hofstaat dem neuen Herrscher, sich zu Boden werfend und dort verharrend bis der Hymnus verklungen war. Erst danach erhoben sie sich wieder und verfolgten wie Binse und Papyrus, die Wappenpflanzen Ober- und Unterägyptens, zum Hieroglyphenzeichen „vereinigt“ verbunden wurden, bestätigten, dass der neue König Herr beider Länder war. Sobald der Vorlesepriester die Titulatur des künftigen Herrschers verkündete hatte - den Horusnamen, den Namen der beiden Herrinnen, den Namen des Goldhorus, des Königs von Ober- und Unterägypten und schließlich den Namen, den Atemu als Sohn des Re trug -, verließen sowohl der König als auch sein Hofstaat den Palast. Im Vorhof des Palastes war ein großes Quadrat abgesteckt worden, dass der neue König mit schnellen Schritten zu durchmessen hatte, um seine Gesundheit und Kraft zu beweisen und zugleich auf diese Weise symbolisch Land und Palast in Besitz zu nehmen. Während Atemu mechanisch die vorgeschriebenen Riten hinter sich brachte und das abgesteckte Gelände durchmaß, Mahaados Blick suchend durch die Reihen der versammelten Menschen. Unterzog selbst Büsche, Bäume und Nischen prüfenden Blicken ob sich in ihnen jemand oder etwas verbarg, das dem jungen König gefährlich werden konnte, ohne dabei jedoch etwas zu entdecken. Er wollte bereits den Blick abwenden und sich wieder auf die Krönungszeremonie konzentrieren, als er am Rand der Menge, in der Nähe der Mauer glaubte etwas Weißes aufblitzen zu sehen. Ohne zu zögern oder länger darüber nachzudenken begann Mahaado sich in die entsprechende Richtung zu drängeln, die verwunderten Blicke und missbilligenden Geräusche dabei völlig ignorierend. Unterdessen hatte der neue Herr der beiden Länder das abgesteckte Stück Land durchquert und das Stirnband-Diadem mit den beiden hohen Federn sowie der Uräusschlange aufgesetzt bekommen. Unwillkürlich hatten die Zuschauer den Atem angehalten, in der ängstlichen Befürchtung, dass das Machtsymbol jeden Moment zum Leben erwachen und den Frevler töten würde. Doch nichts geschah. Ohne jeden Zwischenfall fand die Krönungszeremonie mit der Prozession durch die Stadt, die noch immer die Spuren des Opetfestes und des gewaltsamen Todes des letzten Königs trug, mit den Besuchen der Tempel, um den Göttern die Ehre zu erweisen, ihren Abschluss. Die wenigen Neugierigen, die trotz der letzten Ereignisse der Prozession beiwohnten, jubelten jedoch nicht, sondern starrten in dumpfem Schweigen, ängstlicher Erwartung oder grimmiger Spannung auf den vorüber ziehenden Krönungszug, manch einer ein leises, missbilligendes Zischen ausstoßend, andere besorgte Gebete für das Leben und das Wohl Kemets murmelnd. Die Boten waren ausgeritten, um die Thronbesteigung im ganzen Land zu verkünden, während König und Hofstaat in den Palast zurückkehrten, um das Ereignis zu feiern. Die Stimmung unter den Anwesenden war spürbar leichter geworden, nun da es wieder einen rechtmäßigen König gab und die Zeremonie ohne alle Probleme von statten gegangen war. Dass es keinen weiteren Angriff des Uräus gegeben hatte, war den Höflingen Bestätigung genug, dass die Götter mit dem neuen König einverstanden waren. Der junge Herrscher hingegen fühlte nichts von der Erleichterung oder Zuversicht, die sein Gefolge erfüllte. Er spürte nur das schwere Gewicht des Goldschmucks drückend auf seinen Schultern, Sinnbild für die Verantwortung, die er nun zu tragen hatte. Kämpfte dagegen an, unter der Last der beiden Kronen müde den Kopf zu senken. Kämpfte dagegen an sich das Diadem herunterzureißen, dass ihm schmerzhaft die Stirn zusammenpresste. Mit seinen Gedanken war er mehr bei dem Leichnam seines Vaters, der für seine in 70 Tagen stattfindende Beisetzung vorbereitet wurde. Bis dahin wurde noch fieberhaft am Grabmal Akunemkanons gebaut, dessen Vollendung es nicht geben würde. Atemu hatte plötzlich das Gefühl in dem überfüllten Saal zu ersticken, die aufgesetzte Fröhlichkeit der Versammelten nicht einen Moment länger ertragen zu können und schlich sich möglichst unauffällig nach draußen. In dem Versuch sich eine Atempause zu verschaffen, in der er nicht vorzugeben brauchte eine lebende Gottheit zu sein, die über niedere menschliche Gefühle wie Trauer, Einsamkeit oder Ratlosigkeit vollkommen erhaben war. Er wusste, dass er diese Rolle nur allzu bald wieder würde einnehmen müssen. Aber in diesem Augenblick war die Trauer über den Verlust des Vaters zu groß, als dass er sie einfach hätte zur Seite schieben und ignorieren können. Die grelle Sonne außerhalb des Palastes blendete ihn, während er den Blick gen Westen gerichtet, reglos zwischen künstlich gewässerten, grünen Sträuchern stand, den allgegenwärtigen Geruch der Wüste nicht mehr bewusst wahrnehmend, versuchte die Geräusche um sich her auszublenden. Wo mochte Vater jetzt sein? Hatte er bereits das Totengericht hinter sich gelassen und war in die Binsengefilde Earus eingegangen? War er noch auf dem Weg zu seinem Urteilsspruch oder war er bereits von den Gefahren und Ungeheuern auf dem Weg dorthin ausgelöscht worden? - Nein, Vater war kein schlechter Mensch. Er würde den Weg zum Totengericht ebenso bestehen wie die Prüfung seines Herzens und in den Feldern von Earu auf ihn warten. Das leise Geräusch sich nähernder Schritte, die direkt hinter ihm verstummten, schreckte den jungen König aus seinen Betrachtungen auf und ließ ihn einen kurzen Blick über die Schulter werfen, um in Erfahrung zu bringen, wer ihn störte, bevor er demjenigen wieder demonstrativ den Rücken zuwandte und befahl: „Lass mich allein.“ Statt einer direkten Erwiderung erhielt Atemu nur die ruhig und unnachgiebig vorgebrachte Antwort: „Du hast keine Zeit schwach zu sein. Oder du wirst bald ebenso tot wie dein Vater sein.“ Verärgert wandte sich der König dem jungen Priester in seinem Rücken zu, „Wie kannst du es wagen! Ich bin der Gottkönig!“ „Dann verhalte dich auch so“, konterte Seth ungerührt, „du kannst nicht den Platz eines Königs beanspruchen, ohne die Verantwortung zu übernehmen, für die, die an dich glauben und dir vertrauen.“ Ebenso plötzlich wie er aufgetaucht war, verschwand der Zorn Atemus wieder und er ließ mutlos die Schultern unter dem goldenen Schulterkragen hängen, während er sich abermals halb abwandte, nach Westen blickte und leise erklärte: „Ich weiß. - Aber ich weiß nicht wie.“ Wenn er auf tröstende Worte gehofft hatte, die ihm Mut zusprachen, hatte er sich getäuscht. Stattdessen musterte ihn Seth nur kritisch und erwiderte dann, scheinbar das Thema wechselnd: „Karim ist zu seinen Truppen zurückgekehrt und erwartet deine Befehle. Der Tjt wird noch heute mit den Verhandlungen über die hethitischen Verträge beginnen. Shimon belehrt jeden darüber, dass du der vollkommene König sein wirst.“ Bevor Atemu auch nur dazu kam sich eine Antwort darauf zu überlegen, eilten zwei einfach gekleidete Männer in großer Hast auf sie zu und warfen sich wenige Schritte vor dem jungen Herrscher in den heißen Sand, dass es staubte. Ohne darauf zu warten, dass sie angesprochen wurden, erklärte der Eine der beiden, der die Dienstbotenkleidung des Palastes trug, hastig: „Vergib, Majestät, mein Bruder kam zu mir, ich bitte dich, höre dir an, was er zu erzählen hat.“ Im ersten Moment viel zu verblüfft von dieser Dreistigkeit, starrte Atemu nur auf die beiden im Staub liegenden Männer und schwieg, was der Begleiter des Dieners als Aufforderung nahm, das Wort zu ergreifen: „Die Leute in der Stadt haben angefangen zu streiten. Sie lassen sich nicht beruhigen, es werden immer mehr, die aufeinander losgehen.“ „Wir machen uns Sorgen um deine Sicherheit. Mein Bruder hat bewaffnete Männer gesehen, die sich unter die Leute gemischt haben und gehört, wie einer von ihnen den Vorschlag machte den Palast zu stürmen, um zu sehen, ob die Götter dich als rechtmäßigen Erben beschützen würden.“ Wie vor den Kopf gestoßen lauschte der König diesen Worten, nicht wissend, was er tun sollte und für einen kurzen Moment mit dem Gedanken spielend, dass es vielleicht nicht das Schlechteste wäre, wenn er es darauf ankommen ließe und hoffentlich bald starb. Die ruhige Stimme Seths ließ diesen Gedanken schnell wieder vergehen. „Ich schlage vor, du lässt Karim benachrichtigen, dass Soldaten die Stadt überwachen.“ Für einen Moment zögerte Atemu, dann nickte er und befahl dem Diener, Karim den Befehl zu überbringen. Kaum hatten sich die beiden Männer entfernt, als auch schon Isis mit beunruhigtem Gesichtausdruck auf den König zu gelaufen kam und noch bevor sie ganz bei diesem angekommen war berichtete: „Majestät, Maahado ist verschwunden.“ „Verschwunden?“ Atemu waren Erstaunen und Verwunderung anzuhören. „Ja, er sagte, er wolle etwas überprüfen und ist dann einfach in der Menge verschwunden. Ich denke, er hat jemanden gesehen, den er verfolgen wollte.“ Kurz sah der König zum Priester, der den gleichen Gedanken zu hegen schien wie er selbst, bevor er an Isis gewandt zu wissen verlangte: „In welche Richtung ist er gegangen?“ Bedauernd schüttelte Isis den Kopf, mehr als nur besorgt über den Verbleib ihres Bruders. Unbemerkt von den anderen, hatte sich Mukisanu der kleinen Gruppe genähert und neugierig das Gespräch verfolgt, sich mehr abenteuerlustig als höflich erkundigend, wie Mahaado aussähe. Sobald seine Frage von Isis beantwortet worden war, erklärte er: „Der hatte es ziemlich eilig. Hat sich eines der Pferde geholt und ist einem großen, weißhaarigen Mann hinterher.“ „Woher weißt du das?“, interessiert musterte Atemu den ihm unbekannten Jungen. Mukisanu grinste stolz, „ach, ich hatte ein paar Flügel dabei.“ Verständnislos starrte der König den Jungen an, während sich Seth mit der Frage einmischte: „Hast du gesehen, in welche Richtung sie geritten sind?“ Mukisanu nickte, „Richtung Westen, direkt in die Wüste.“ „Du solltest ein ernstes Wort mit den Torwachen reden“, stellte der Priester an Atemu gewandt lapidar fest, hatten diese doch Befehl erhalten keine Fremden in die Stadt zu lassen. Der Herr der beiden Länder nickte darauf nur wortlos, während Seth bereits auffordernd den Namen seines Benu aussprach, der ruhig auf der Schulter Mukisanus gesessen hatte. Merenseth tschilpte kurz, flog auf und vergrößerte sich, zum Erstaunen der Umstehenden, die verunsichert zurückwichen. Den freigewordenen Platz nutzend, ließ sich Merenseth auf dem Boden nieder und wartete geduldig darauf, dass Seth aufsteigen würde. Dieser befahl jedoch zunächst an Atemu gewandt: „Steig auf, wir müssen uns beeilen.“ Noch immer völlig überrumpelt von dem beeindruckenden Anblick des Benu, nickte dieser nur erneut, zögernd auf den Vogel zugehend, während Isis entschlossen einen Schritt vortrat und erklärte: „Ich komme mit.“ „Nein“, knapp und bestimmt klang die Ablehnung Seths, „du wärst uns nur im Weg. kümmere dich darum, dass die hethitische Gesandtschaft in Sicherheit gebracht wird. Karim soll dafür sorgen, dass der Palast verteidigt wird, wenn es nötig ist.“ Für einen Moment schien es, als wollte Isis stur auf ihrem Willen beharren. Dann jedoch warf sie Atemu einen Blick zu, der mittlerweile auf dem Rücken des Benu saß und die Entscheidung des Priesters im Nachhinein absegnete. So verneigte sich Isis vor dem Herrscher, Seth von dieser Ehrbezeigung bewusst ausschließend und kehrte eilig in den Palast zurück. „Mukisanu, du wirst ihr helfen“, entschied Seth, sich gleich darauf ebenfalls auf Merenseths Rücken schwingend. Noch während Mukisanu zustimmte, hob sich der Benu mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft und flog in westlicher Richtung hinaus in die Wüste. Maahado war es nach einer wilden Jagd gelungen den Weißhaarigen einzuholen. Oder vielmehr, dieser hatte urplötzlich in der Nähe einer offenbar häufiger als Lagerplatz benutzen Stelle sein Pferd angehalten, war abgestiegen und hatte mit verschränkten Armen gelassen darauf gewartet, dass Maahado herankam. Misstrauisch hatte dieser das Tempo seines Pferdes verlangsamt, ständig mit dem Angriff eines Dämons rechnend. Statt ihn jedoch anzugreifen, breitete der weißhaarige Mann die Arme aus und verneigte sich tief, als Maahados Pferd dicht vor ihm zum Stehen kam, und erklärte mit einer tiefen, spöttischen Stimme: „Willkommen in meiner bescheidenen Behausung.“ Maahado runzelte verärgert die Stirn, ging jedoch nicht auf die Bemerkung ein, sondern verlangte nur zu wissen: „Wer bist du?“ Wieder verneigte sich der Mann, dieses Mal die rechte Hand auf seine linke Brust legend, in der Stimme wenn möglich noch mehr Spott als zuvor. „Ninetjer, zu Diensten, oh großer Herr.“ „Warum versuchst du Kemet zu vernichten?“ Mühsam gelang es Mahaado seinen Zorn über die unverschämte Dreistigkeit des Mannes zu zügeln. „Weil ich es kann.“ Dieses Mal verneigte sich Ninetjer nicht, sondern stand in stolzer Haltung da, ein fanatisches Funkeln in den Augen. „Wir werden dich aufhalten!“ Ein schallendes Lachen war die Antwort, dem die provokante Frage folgte: „So wie ihr mich aufgehalten habt, als ich Dörfer niederbrannte? Wie ihr mich aufgehalten habt, als ich in den Palast eingedrungen bin? Wie ihr mich aufgehalten habt, als ich Akunemkanon getötet habe?“ In hilfloser Wut biss Mahaado die Zähne zusammen, bevor er bestimmt erwiderte: „Du wirst für all das bezahlen.“ Ninetjer grinste nur abfällig, musterte den noch immer auf seinem Pferd sitzenden Prinzen und meinte schließlich: „Du gehörst zu denen, die Dämonen beschwören können. Zeig mir, wie gut du bist!“ Jetzt war es Maahado der lächelte, grimmig und entschlossen. „Gern.“ Mit ungehinderter Wucht trafen Upuaut und Uräus gleich darauf erneut aufeinander. Anders als beim ersten Mal, gelang es Mahaado jedoch nicht die Schlange zu bezwingen. Schien diese viel mehr aggressiver und stärker zu sein. Nicht bereit eine weitere Niederlage hinzunehmen. Und während Mahaado zunehmend Mühe hatte, zu verbergen, dass der Kampf an seinen Kräften zehrte, stand Ninetjer völlig ungerührt mit halbgeschlossenen Augen da und schien den Kampf nicht einmal richtig wahrzunehmen. Mahaado entschied, dass er mit seiner bisherigen Taktik, zu versuchen die Schlange in einem direkten Zweikampf zu besiegen, nicht weiterkommen würde. Auf seinen knappen Befehl hin verschwand Upuaut ebenso plötzlich wie er erschienen war. Die Schlange zischte wütend und enttäuscht als ihr Opfer, um dessen Körper sie sich bereits gewunden hatte, um es langsam zu erwürgen, plötzlich nicht mehr da war. Im nächsten Augenblick stürzte aus den Wolken ein riesiger, falkenartiger Vogel herab, packte mit seinen Krallen die Schlage beim Genick und presste sie mit seinem Gewicht zu Boden, während er mit seinem Schnabel nach ihren Augen hackte. Für einen kurzen Moment schien es, als wäre Ninetjer aus seinem Halbschlaf erwachte und würde in Bedrängnis geraten. Dann jedoch tat er das Gleiche wie zuvor Mahaado. Lautlos verschwand die Schlange und ein dunkler Schwarm bösartig sirrender Insekten erhob sich stattdessen in die Luft, unaufhaltsam über den von Mahaado gerufenen Dämon herfallend. Ein dunkler, undurchdringlicher Klumpen, der sich wie der Körper eines einzigen, größeren Wesens ausdehnte und wieder zusammenzog, als würde er atmen, während ein Teil der Insekten summend aufflog, sich an anderer Stelle niederließ, über den Körper des hilflos mit den Flügeln schlagenden Vogeldämons trippelte und sich an dessen größer werdenden Wunden gütlich tat. Langsam und gnadenlos verschlangen diese winzigen, geflügelten Raubtiere ihren sehr viel größeren Gegner so bei lebendigem Leib. Die Schmerzen des Dämons wurden zum Schmerz des Prinzen, lähmten seinen Geist, ließen ihn taumelnd nach Luft schnappen. Er fühlte, wie er immer schwächer wurde. Seine Umgebung begann sich zu drehen, während Mahaado immer stärker werdenden, brennenden Durst verspürte, der sich auch durch noch so verzweifeltes Schlucken von Speichel nicht besänftigen ließ, hervorgerufen durch das verzweifelte abziehen von Lebenskraft durch den Dämon. Wie die Fliegen dem Falken, ließ auch Ninetjer seinem Gegner keine Möglichkeit zur Besinnung zu kommen oder sich zu wehren. Noch während der Vogeldämon versuchte sich mit Hilfe des Mahaado entzogenen Kas seiner Angreifer zu entledigen, brach aus der Erde, ebenso plötzlich wie er verschwunden war, wieder Uräus empor und wand sich mit einem zufriedenen Zischen eng um den Körper des Prinzen. Ihn jeder Bewegungsfreiheit beraubend, das Atmen noch zusätzlich erschwerend. Ninetjer wirkte nun nicht mehr, als würde er halb schlafen, sondern stand mit weitgeöffneten Augen und einem mindestens ebenso hämischen Grinsen wie die Schlange vor dem Prinzen und weidete sich an dessen ungläubigem Gesichtsausdruck. „Hast du tatsächlich geglaubt, du wärst mir ebenbürtig? - Nur weil dein Hund Uräus in der Stadt in die Flucht geschlagen hat?“ Allein die Möglichkeit eines solchen Gedankens ließ Ninetjer schallend auflachen. „Bilde dir nicht zu viel ein. Ich wollte nur nicht, dass die Stadt so früh und auf diese Weise zerstört wird. – Und der alte Zausel sollte ruhig noch ein paar unruhige Stunden mehr erleben.“ „Wieso kannst du zwei Monster auf einmal beschwören?“ Mühsam presste Mahaado diese Frage hervor, die Worte Ninetjers schlicht ignorierend. Normalerweise hätte er sich lieber die Zunge abgebissen, als diesem Irren eine solche Frage zu stellen, die der sicher als Lob oder Anerkennung auffassen würde. Aber die Antwort mochte wichtig sein, um ihn zu besiegen. Leute, die sich selbst überschätzten neigten nicht nur zur Überheblichkeit, sondern auch zu Fehlern – da brauchte er sich nur einen ganz bestimmten Priester ansehen… Aber offenbar gehörte Ninetjer nicht zu dieser Art Leute, denn er lachte nur, bevor er feststellte: „Das würdest du gern wissen. Vielleicht werde ich es dir sogar verraten, kurz bevor du tot bist. – Wenn du schreiend um Erbarmen flehst und mich schon nicht mehr verstehst.“ „Möge Ammit deine Seele in tausend Stücke reißen!“ spuckte Maahado in unbeugsamen Widerstand hervor, verzweifelt bemüht, sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen als die Schlange sich auf eine knappe Handbewegung Ninetjers hin noch enger um seinen Körper wand und zugleich in das ungeschützte Fleisch der Halsbeuge biss. Schmerz zog Ninetjer an, bereitete ihm Freude. Maahado würde alles andere eher tun, als diesem Mann einen Gefallen. Ninetjer lachte jedoch nur leise, angesichts der Antwort des Prinzen, „ich werde Kemet zerstören, mit allem, was dazu gehört. Es wird sicher interessant zu erfahren, wie Ammit mir noch etwas tun will, wenn sie nicht mehr existiert.“ Mahaado gab nur ein verächtliches Geräusch von sich, „Hochmut kommt vor dem Fall.“ „Und Schmerz vor dem Tod“ konterte Ninetjer ungerührt, bewegte erneut seine Hand und Mahaado schrie auf. Schrie vor Schmerz als nahezu jeder Knochen in seinem Körper von dem muskulösen Schlangenleib zermalmt wurde. Im gleichen Moment schoss plötzlich ein weiteres Wesen heran. Eine Mischung aus Panther und Mensch, das in vollem Lauf die Schlange knapp unter deren Kopf packte und mit sich zog, als wäre sie ein Stück Seil, das es abzuwickeln galt. Ohne den Schlangenleib, der ihn als einziges noch aufrecht gehalten hatte, stürzte Mahaado schmerzverkrümmt und besinnungslos zu Boden. Ninetjer wirkte nur für einen Sekundenbruchteil überrascht, dann hatte er auch schon den schnell näherkommenden, glutfarbenen Vogel entdeckt, auf dessen Rücken zwei Männer saßen, von denen einer offensichtlich für die Anwesenheit des Pantherdämons verantwortlich war, der noch immer in einiger Entfernung mit Uräus rang, ohne dass er dabei nennenswerte Erfolge hätte verzeichnen können. Ein abfälliges Lächeln erschien in Ninetjers Gesicht, während er mit einem kurzen Befehl dem Schwarm Insekten befahl, von dem Kadaver des Falkendämons abzulassen und sich auf diese neue Nahrungsquelle zu konzentrieren. Wieder hob sich der Schwarm gefräßiger Raubtiere in die Luft, hin und wieder im Sonnenlicht farbig aufschillernd, während sie hungrig auf den Benu und seine Reiter zu flogen. Ninetjer wartete nicht ab, wie das Aufeinandertreffen ausgehen würde, sondern wandte sich ab, ohne den leblos im Sand liegenden Prinzen zu beachten, und lief zu einer bestimmten Stelle im Staub der Lagerstätte. Unterdessen versuchte Merenseth mit einigen waghalsigen Flugmanövern den angriffslustigen Fliegen zu entkommen, während Atemu sich darum bemühte dabei nicht vom Rücken des Benu zu stürzen; gleichzeitig die Auswirkungen des Kampfes seines Pantherdämons mit dem Uräus zu spüren bekommend. Mit gerunzelter Stirn hatte Seth den wie einen riesigen Vorhang in der Luft schwebenden Schwarm betrachtet, bemüht zu erkennen, was dahinter vor sich ging. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Weißhaarige aus dem Hinterhalt einen Angriff begann. Doch es war unmöglich irgendetwas zu erkennen. Reflexartig streckte er den Arm aus als der Benu ein weiteres halsbrecherisches Ausweichmanöver flog, so im letzten Moment verhindernd, dass der im Fliegen ungeübte Herr der beiden Länder in einen allzu frühen Tod stürzte. Gleich darauf einen Feuerdämon rufend, dessen glühende Gestalt kreuz und quer durch den wütend schwirrenden Schwarm Insekten raste und diese in Brand steckte. Es sah aus als würden Tausende von winzigsten Sternschnuppen verglühend zu Boden sinken, sich gegenseitig mit in den Tod reißend, wenn ein bereits brennendes Insekt taumelnd auf ein noch unversehrtes traf. Es dauerte nur wenige Augenblicke bis der Funkenregen vorüber, der Schwarm vollständig vernichtet war und Merenseth endlich zur Landung ansetzen konnte. Atemu runzelte irritiert die Stirn, als er bemerkte, dass die Angriffe des Uräus plötzlich ausblieben, dachte aber im nächsten Moment schon nicht mehr darüber nach, sondern sprang hastig vom Rücken des Benu und rannte zu Mahaado. Seth folgte ihm wesentlich langsamer, sich argwöhnisch und gründlich nach dem spurlos verschwunden weißhaarigen Mann und seiner Schlange umsehend. Der junge König kniete neben seinem Freund im Sand, ihn stützend im Arm haltend, während er mehr als nur besorgt herauszufinden versuchte, wie schlimm es um den Prinzen stand. Die Lippen Mahaados waren aufgesprungen und blutig, sein Gaumen fühlte sich trocken und verklebt an, die Augenlider waren seltsam schwer und obwohl ihm keine Riesenschlange mehr die Brust zuschnürte, war das Atmen nicht leichter geworden. Trotzdem mühte er sich etwas zu sagen. Atemu konnte sehen, wie sich Mahaados Lippen bewegten, ohne dass er auch nur einen Ton hören konnte. Beschwichtigend drückte er ihn etwas enger an sich, erleichtert, dass sein Freund noch lebte. „Spar deine Kraft. Wir bringen dich zurück in den Palast. Wenn du dich erholt hast, kannst du erzählen.“ Er hatte leise gesprochen, beruhigend und für einen Moment schien es, als würde Mahaado auf ihn hören. Dann jedoch schüttelte dieser nur schwach den Kopf, die Augen geschlossen. Rasselend holte er Atem, sammelte alle Kraft die ihm geblieben war und flüsterte heiser: „Ninetjer… zwei Monster… gleichzeitig.“ Sowohl besorgt als auch irritiert runzelte Atemu die Stirn, entschied dann jedoch entschlossen: „Später, erst soll sich Shimon um dich kümmern. - Seth, hilf mir ihn zu tragen!“ Mit kühlem Blick hatte der junge Priester Mahaado gemustert, während dieser mit dem König gesprochen hatte. Was für ein Idiot, sich einfach allein gegen einen Mann behaupten zu wollen, der im Stande war ein ganzes Land in Atem zu halten. Aber so gedankenlos sein Handeln gewesen sein mochte, diese Art zu sterben, hatte er nicht verdient. Ohne irgendeinen Kommentar, kam Seth dem Befehl Atemus nach und gemeinsam trugen sie den verletzten Prinzen so vorsichtig wie möglich zu Merenseth, die sich alle Mühe gab ihnen die schwierige Aufgabe, den Schwerverletzten auf ihren Rücken zu heben, zu erleichtern. Mahaado selbst bekam von diesen Anstrengungen nichts mit, eine gnädige Bewusstlosigkeit hatte ihn von seinen Schmerzen befreit. Schützend und behutsam hielt der junge König den Prinzen während des Rückflugs in seinen Armen, nicht gewillt diese Aufgabe auch nur zeitweise seinem Begleiter zu überlassen. Als er das drückende Schweigen nicht länger ertrug, fragte er den Rücken vor ihm: „Was glaubst du, was er versucht hat uns zu sagen?“ Kurz blickte Seth über seine Schulter auf Atemu, als wolle er überprüfen ob dieser angesichts der Ereignisse bereits den Verstand verloren hatte, dann wandte er seinen Blick wieder nach vorn und erwiderte ruhig: „Der Mann, der ihn und deinen Vater getötet hat…“ Weiter kam er nicht, denn Atemu zischte plötzlich mit unterdrückter Wut in der Stimme: „Sprich nicht von Mahaado als sei er bereits tot!“ Wieder warf Seth einen kurzen Blick über die Schulter, dieses Mal schien sich eine Mischung aus Unglaube und Mitgefühl darin zu spiegeln, bevor er sich erneut abwandte und etwas sanfter als zuvor feststellte: „Er atmet nicht mehr.“ Vor Anspannung den leblosen Körper in seinen Armen unwillkürlich fester an sich pressend konterte Atemu stur: „Das kannst du nicht wissen. Er wird sich wieder erholen!“ Seth schwieg darauf eine Weile, bevor er zu der ihm gestellten Frage zurückkehrte und erklärte: „Ninetjer ist der Weißhaarige, den wir suchen. Er kann offenbar zwei Dämonen auf einmal beschwören.“ Wieder runzelte Atemu die Stirn, dieses Mal nachdenklich. „Das ist unmöglich, niemand kann mehr als ein Monster auf einmal beschwören.“ „Erinnere dich, als wir ankamen waren nur Ninetjer und Mahaado zu sehen. Mahaado war eindeutig nicht mehr in der Lage einen Dämon zu beherrschen. Demnach kann nur Ninetjer sowohl Uräus als auch die Nzi beschworen haben.“ Noch immer nachdenklich starrte Atemu blicklos vor sich hin, nickte schließlich zustimmend, auch wenn es Seth nicht sehen konnte, und erkundigte sich als Nächstes, wie lang sie noch brauchen würden, bis sie wieder den Palast erreichen würden. „Nicht mehr lange“ war alles, was Seth darauf erwiderte und tatsächlich sahen sie kurze Zeit später die Silhouette der Pharaonenstadt, die durch das Hitzeflimmern der Luft beständig zu erbeben schien – oder zu erzittern. Sie hatte allen Grund dazu. In den Straßen herrschte blinder Aufruhr Gegner und Anhänger des Königshauses hatte es auf die Straßen getrieben, jede Seite entschlossen ihre Sicht der Dinge zu vertreten, wenn nötig mit Gewalt. Die einen waren der Ansicht, es wäre falsch den Sohn dessen auf den Thron Kemets zu heben, der vor Aller Augen von den Göttern gerichtet worden war. Dem die Leute die Schuld an den Missständen gaben, angefangen von Missernten durch Unwetter bis hin zu der herrschenden Ungerechtigkeit, dass die einen so viel hatten, dass sie nicht wussten wohin mit ihrem Reichtum und die anderen nicht einmal genug besaßen, um sich mit dem Allernötigsten zu versorgen. Deshalb waren sie der Überzeugung, der Thron und das Land müssten jemandem anvertraut werden, der sich für die Menschen interessierte und sich mit ihren Problemen auskannte, der fähig war diese Probleme auch zu beseitigen. Die anderen dagegen waren der Überzeugung, dass nicht Akunemkanon Schuld an den Schwierigkeiten Kemets war, sondern dass seine Würdenträger ihn schlecht beraten hatten. Atemu war sein rechtmäßiger Erbe, ihn nicht die Nachfolge antreten zu lassen, würde bedeuten die Maat zu stören, Isfet zu stärken und damit Kemet dem Untergang zu weihen. Es gab diejenigen, die die Schuld allein bei der Gier der Soldaten sahen und jene, die sicher waren, dass das Unwesen und die Macht der Amunpriester das Land ins Unglück stürzen würde. Waren es zunächst nur hitzige Wortgefechte darüber gewesen, wer nun Recht hatte, schlugen diese schließlich immer häufiger in offene Gewalt um. Zunächst mit Fäusten ausgetragen, dann mit Steinen und Stöcken, schließlich mit allem was sich irgendwie als Waffe verwenden ließ. Ansporn waren dabei nicht nur die eigene Wut und Angst vor dem Schicksal, das die Götter Kemet zugedacht haben mochten, sondern auch die Gefolgsleute Ninetjers, die je nach Situation, den Leuten einflüsterten, was sie hören mussten, um die Situation eskalieren zu lassen. Die Versuche der von Karim abkommandierten Soldaten für Ordnung zu sorgen, unterstützt von Priestern, die Dämonen beschwören konnten, führten nur dazu dass die Empörung sich noch steigerte. Mehr als nur beunruhigt sahen Atemu und Seth auf die Vorgänge unter ihnen herab, während der Benu sie auf kürzestem Weg zum Palast trug. Dort wurden sie bereits ungeduldig von Isis erwartet, die ihnen auch schon entgegenlief, kaum dass Merenseth zur Landung ansetzte. Statt wie sonst ihre Reiter absteigen zu lassen, verkleinerte sich der Vogel diese Mal und schlüpfte unter den Beinen der beiden Männer zur Seite, während Isis beim ersten Blick auf ihren Bruder abrupt stehen blieb und fassungslos starrte. Dann setzte sie sich ebenso plötzlich wie sie stehen geblieben war wieder in Bewegung. Wie eine Furie auf den näherstehenden Priester losgehend, als wäre dieser persönlich für den Tod Mahaados verantwortlich. Ungerührt ließ Seth diesen Angriff über sich ergehen, wehrte sich weder gegen die schmalen Fäuste, die auf ihn eintrommelten, noch erwiderte er etwas auf die ohne Zusammenhang vorgebrachten Worte, die abwechselnd forderten er solle ihr ihren Bruder wiedergeben und klagten, warum sie die beiden Männer nicht begleitet habe, um ihren Bruder beschützen zu können. Erst die Ankunft Karims, der von einem Diener informiert, herbeigelaufen kam, brachte Seth dazu ruhig die Handgelenke der verzweifelten Frau festzuhalten und sie zu ihrem Mann zu schieben, der sie tröstend und beruhigend festhielt, während er fragend zwischen Priester und König hin und her sah. Letzterer hatte unterdessen veranlasst, dass Mahaado zu Shimon gebracht wurde, und erklärte nun in knappen Worten, was vorgefallen war. Karim spannte sich merklich an, verlor jedoch kein Wort der Beschuldigung, drückte lediglich seine Frau etwas fester an sich und befahl dem Diener, der ihm gefolgt war, er solle Kisara holen, damit diese sich um seine Frau kümmern konnte. Kaum hatte er seinen Befehl beendet, verlangte Seth zu wissen, ob die Hethiter in Sicherheit wären, wo der Tjt sei und wie es in der Stadt aussähe. Obwohl es eigentlich am König gewesen wäre, diese Fragen zu stellen, verlor Karim auch darüber kein Wort, sondern konzentrierte sich lediglich darauf Bericht zu erstatten. Die Hethiter waren erfolgreich in Sicherheit gebracht worden und wurden von einer Handvoll Soldaten beschützt. Der Tjt hatte sich nach Angaben Kakaus auf den Weg in die Stadt gemacht, um persönlich dafür zu sorgen, dass die Menschen Vernunft annahmen und sich friedlich verhielten. Bisher allerdings schien er damit ebenso wenig Erfolg zu haben, wie alle Anderen. Die Stimmung in der Stadt wurde immer gereizter und den Berichten der hin und her pendelnden Boten zufolge, war es nur noch eine Frage sehr kurzer Zeit, bis es die ersten Toten geben würde. Soldaten und Dämonenpriester hatten zwar Anweisung möglichst niemanden aus der Bevölkerung zu töten, aber auf der anderen Seite gab es keine solche Anweisung und niemand konnte sagen, wann die Stimmung endgültig umschlagen würde. Karim hatte kaum ausgeredet, als der Diener zurückkehrte, der losgeschickt worden war Kisara zu suchen. Hastig warf er sich in den Staub und erklärte, um Vergebung bittend, dass es ihm nicht möglich gewesen wäre, das Mädchen zu finden. Angesichts der letzten Male, die jemand so etwas gesagt hatte, war das eine alles andere als aufbauende Nachricht. Zwar handelte es sich im Fall Kisaras nur um eine Dienerin, aber wenn ihr Verschwinden bedeutete, dass sich die Bewohner des Palastes von ihrem Herrn abwandten, würde das zur Folge haben, dass der Aufruhr auch bald im Haus des Königs selbst ausbrechen würde. Bevor jedoch einer von ihnen dazu kam auf die Erklärung des Dieners zu reagieren, erschütterte plötzlich ein lautes, zorniges Brüllen die umstehenden Mauern. Erschrocken und überrascht sah sich die kleine Gruppe nach der Ursache des Lärms um, selbst der Diener wagte es den Kopf ein wenig zu heben und vorsichtig einen Blick zu riskieren. Aber es war nichts zu sehen, was dieses Brüllen hätte erklären können. In Seth hatte sich bei diesem Geräusch begonnen eine dumpfe Ahnung bemerkbar zu machen. Das Brüllen kam ihm bekannt vor und zusammen mit der Tatsache, dass Kisara verschwunden war, wirkte es wie eine äußerst beunruhigende Drohung. Er war bereits dabei sich abzuwenden, um dem Nachhall des Gebrülls zu folgen, als ein Bote aus der Stadt herbei kam, offenbar nach dem obersten Befehlshaber Ausschau haltend. Karim warf nur einen Blick auf den Mann, befahl dem noch immer im Staub knienden Diener Isis in die Frauengemächer zu begleiten und dafür Sorge zu tragen, dass Hapi sich um sie kümmerte, und wandte anschließend seine komplette Aufmerksamkeit dem Boten zu, der dem König hastig seine Ehrerbietung erwies und eilig begann zu berichten, dass es in der Stadt die ersten Toten gegeben hatte. Beim Erscheinen des Boten hatte Seth entschieden zu bleiben und lediglich seinem Benu einen Blick zu geworfen, begleitet von einer knappen, auffordernden Kopfbewegung. Der Vogel schien ihn verstanden zu haben und flog im nächsten Moment bemerkenswert zielstrebig in die Richtung aus der das Gebrüll erklungen war. Unterdessen hatte der Bote seinen Bericht beendet und nun die Fragen zu beantworten wer und wie viele getötet worden waren und ob bekannt war, wer Schuld an deren Tod trug. „Zwei der Dämonenpriester sind von Monstern angegriffen worden. Als sie sich verteidigt haben, wurden sie von hinten erschlagen. Wer es getan hat, ist nicht klar. Aber derjenige versteht mit einer Bola umzugehen.“ Karim fixierte den Boten mit einem durchdringenden Blick, „Gerüchte?“ Der Bote nickte, „die einen sagen, dass sich das Heer gegen die Priester stellt, die anderen dass es ein entlassener Soldat gewesen sein muss, der sich rächen wollte.“ Besorgt runzelte Atemu die Stirn, „was bedeutet das?“ verlangte er an Karim gewandt zu wissen. „Es bedeutet, dass unsere Leute Freiwild sind. Die einen werden von den Anhängern des Militärs gejagt werden, die anderen von denen der Priesterschaft.“ „Was schlägst du also vor?“ „Die Priester sollen in den Palast zurückkehren. Mit einer Mauer zwischen sich und ihren Gegnern, dürfte es ihnen leichter fallen zu kämpfen. Die Soldaten bleiben vorerst in der Stadt.“ Atemu nickte zustimmend, worauf sich Karim wieder dem Boten zuwandte und diesem seine Befehle mitteilte. Noch während sich dieser verneigte, um anschließend wieder im Eiltempo zu verschwinden und die Befehle an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten, bemerkte Seth: „Der Aufstand muss von langer Hand geplant gewesen sein. Während des Opetfestes ist es verboten Waffen zu tragen. Trägt doch jemand eine Waffe wird sie konfisziert. Nach dem Anschlag auf Akunemkanon wurde das Verbot noch verschärft…“ Karim nickte zustimmend und äußerte ungeduldig: „Ich kenne die Fakten. Worauf willst du hinaus?“ Für einen Moment sah Seth den Befehlshaber nur schweigend an, ergänzte dann jedoch nur ruhig: „Die Waffen müssen früher in die Stadt gebracht und versteckt worden sein. Außerdem wissen wir, dass Akunemkanon nicht durch die Götter, sondern durch einen Dämon starb.“ „Das ist ebenfalls bekannt“, Karim klang leicht ungehalten, „komm zum Punkt.“ „Es geht Ninetjer nicht darum, wer auf dem Thron sitzt oder wie was verteilt ist. Es geht ihm allein darum zu zerstören, Chaos anzurichten. – In der Stadt wirst du eine ganze Reihe ehemaliger Soldaten finden, die zu Ninetjer gehören und dafür sorgen, dass sein Plan sich erfüllt.“ Karims Gesicht hatte sich verfinstert, während er schweigend über die Worte des Priesters nachdachte. „Was schlägst du also vor?“ erkundigte sich Atemu, nicht weniger besorgt wirkend als sein oberster Befehlshaber. „Viel können wir nicht tun. Wir müssten versuchen Ninetjers Männer zu finden und dafür zu sorgen, dass sie die Leute nicht mehr aufwiegeln können. Die Waffenlager müssen gefunden und die geheimen Zugänge zur Stadt versiegelt werden, damit sie keine Verstärkung mehr erhalten -“ Wieder wurde Seth unterbrochen, dieses Mal von Atemu, der verblüfft nachhakte: „Geheime Zugänge?“ „Ich gehe davon aus, dass die Torwachen tatsächlich niemanden herein gelassen haben“, erwiderte Seth ruhig und warf einen fragenden Blick zu Karim, der bestätigend nickte. „Als wir Mahaado fanden, war Ninetjer plötzlich verschwunden.“ „Und du glaubst, er ist durch einen Geheimgang hierher gelangt?“ Atemu klang ungläubig, „er kann genauso gut auf einem Pferd in die Wüste geflüchtet sein.“ „Dann hätten wir ihn sehen müssen. Außerdem ist er derjenige, der die Dörfer in Brand gesteckt hat, er hat jedes Mal zugesehen, wenn eines von ihnen zerstört wurde. Also wird er es sich in diesem Fall kaum entgehen lassen.“ „Du meinst er ist hier?!“ Atemu klang alarmiert, Seth nickte nur und Karim schien im Kopf bereits die Möglichkeiten durchzugehen, von wo aus man den besten Überblick über die Stadt hatte. „Ich kümmere mich darum.“ „Ich werde dich begleiten.“ Der junge König hatte seinen Satz noch nicht einmal ganz beendet, als Karim auch schon begann den Kopf zu schütteln und erwiderte: „Es ist besser du bleibst hier, es ist zu gefährlich für dich in die Stadt zu gehen.“ „Aber…“ versuchte Atemu einzuwenden, wurde aber dieses Mal seinerseits von Seth unterbrochen: „Karim hat Recht. Wenn du stirbst gibt es keinen Nachfolger und das Land wird Isfet vollkommen ausgeliefert sein.“ „Dann soll ich herumsitzen und Däumchen drehen, während alle anderen sich in Gefahr begeben?“ „Ja.“ Lautete die zweistimmig vorgebrachte Erwiderung. „Das werde ich nicht!“ abrupt wandte sich Atemu ab und stolzierte hocherhobenen Hauptes davon. Unwillig zerbiss Karim einen Fluch zwischen den Zähnen, bevor er sich beeilte dem Erben des Horus zu folgen und ihn so gut er es vermochte zu beschützen. Seth sah den beiden davoneilenden Männern noch einen Moment nach und wandte sich dann in die gleiche Richtung, in die zuvor Merenseth auf der Suche nach der Ursache für das noch immer von Zeit zu Zeit erklingende Gebrüll geflogen war. Im gleichen Augenblick als er sich in Bewegung setzen wollte, entdeckte er Merenseth, die eilig auf ihn kam. Merenseth in Menschengestalt, für jeden sichtbar. Seth hätte nie geglaubt, dass es so einfach sein könnte, in ihm alle Anzeichen von Panik aufkommen zu lassen. Wie von selbst bewegten sich seine Füße auf Merenseth zu, während er schon von weitem wissen wollte, was passiert sei. Statt einer direkten Antwort erwiderte Merenseth nur hastig: „Komm“, drehte sich um und lief den Weg zurück, den sie gekommen war. Unterwegs erklärte sie: „Ich habe versucht jemanden zu finden, der mir beim Tragen hilft oder Shimon benachrichtigen kann. Aber der Dämon scheint alle vertrieben zu haben.“ Noch einmal wollte Seth wissen, was passiert sei, erhielt aber nur die Antwort: „Das weiß ich nicht. Aber die Tür zum Dämonenzimmer ist versperrt.“ Dämonenzimmer wurde von den Schülern der Raum im Palast genannt, wo den Auserwählten unter ihnen beigebracht wurde, wie man Dämonen beschwor und beherrschte. Ein Raum, der viele an ein unterirdisches Grab erinnerte. Anders als die normalen Zimmer befand es sich unter der Erde und war an Wänden, Decke und Fußboden vollständig mit Gebeten, Bannsprüchen und allen möglichen Symbolen versehen. Die zu dem Raum hinabführende Treppe, ebenso wie der sich anschließende kurze Flur, wurde von blakenden Fackeln erleuchtet. Seth hatte sich gelegentlich gefragt, ob diese Ausdruck für Geiz oder einen seltsamen Sinn für Humor waren oder ob irgendjemand der Meinung war, auf diese Weisung zu einer mystischen Stimmung und Atmosphäre beizutragen. In diesem Augenblick verschwendete er nicht einen Gedanken an solche Überlegungen, denn in den zuckenden Schatten des Flures entdeckte er am Boden eine vertraute Gestalt in einem hellen Leinenkleid. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und sein Magen krampfte sich zusammen, als er neben der jungen Frau in die Hocke ging und eine Hand ausstreckte um sie zu berühren, sich zu versichern, dass tatsächlich wahr war, was ihm seine Augen da mitteilten. Es gelang ihm nicht die Bewegung zu Ende zu führen, unverrichteter Dinge sank sein Arm auf halbem Weg kraftlos herab. Ein wenig verkrümmt, die eine Hand um das Messer in ihrer Brust gekrampft, die andere ausgestreckt, als hätte sie nach etwas greifen wollen, lag da Meresankh. Die schwarzen, seidigen Haare waren ihr zum Teil ins Gesicht gefallen, dessen Augen blicklos ins Leere starrten. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte der Priester auf die Frau herab, seltsam heißer die Frage hervorstoßend: „Wer?“ Obwohl er es nicht sehen konnte, da er ihr den Rücken zuwandte, schüttelte Merenseth nur den Kopf und erwiderte dann leise: „Das ist noch nicht alles.“ Ruckartig zuckte Seths Kopf hoch, drehte er sich ein wenig, sodass er die Vogelfrau ansehen konnte. Einen Moment starrte er nur stumm, schien nach Worten zu suchen oder sich geistig darauf vorzubereiten, was ihn noch erwarten mochte. Dann erhob er sich abrupt und erklärte mit einer Stimme, die klang wie gesplitterte Keramik: „Gehen wir.“ Sie brauchten nicht lang, um das Ende des Ganges zu erreichen, wo sich der Eingang zum Dämonenzimmer befand. Im Augenblick jedoch wurde die Tür von einem riesigen Mischwesen, halb Stier halb Mensch verdeckt, das sich wachsam aufrichtete, als sich ihm Merenseth und der Priester näherten. Zu Füßen des überaus muskulösen Dämons, der sich auf eine nicht weniger beeindruckende hölzerne Keule stützte, lag der drahtige Körper eines Jungen, als würde er den Dämon verehren. Seth zuckte ein wenig zusammen, als er erkannte, dass es sich bei dem Jungen um Mukisanu handelte. „Er lebt“ versuchte Merenseth in einem unbeholfenen Versuch ihren Begleiter zu beruhigen, „aber er braucht dringend Hilfe.“ Der Stierdämon hatte sich unterdessen drohend aufgerichtet und schien bereits nach der besten Stelle zum Zuschlagen zu suchen. Es war unmöglich nah genug an Mukisanu heranzukommen, um ihn fortbringen zu können, ohne dass der Dämon auf die Helfer losgehen würde. Ihnen sollte besser schleunigst etwas einfallen. „Ich kümmere mich um den Dämon, du dich um Mukisanu“ entschied Seth knapp und rief, ohne auf eine Antwort zu warten, einen Dämon in der Gestalt einer Säbelantilope herbei. Gegen den riesigen Stierdämon wirkte die Antilope lächerlich zierlich und der schweren Keule hilflos ausgeliefert. Nichts desto trotz ließ Seth das Tier angreifen. Es zeigte sich, dass der Stierdämon mit der Geschwindigkeit der Antilope und ihrer Gewandtheit bei weitem nicht mithalten konnte. Mühelos wich der wesentlich kleinere Dämon der herabsausenden Keule des größeren aus, machte sich die Keule als Stufe zunutze, in dem sie darauf sprang und anschließend mit zum Angriff gesenktem Kopf ihre langen, leicht gebogenen Hörner in das weiche Fleisch des Unterkiefers ihres Gegner bohrte. Den Stierdämon auf die Hörner nehmend und ihn mit einem unwirklich aussehenden Schwung des Kopfes über sich hinwegschleudernd, wurde die Antilope von ihrem eigenen Schwung mitgerissen und landete schließlich auf dem Bauch des Stierdämons, ihre Hörner aus dessen Unterkiefer befreiend und den Kopf schüttelnd, als müsse sie ihn wieder klar bekommen, solange ihr Gegner noch von diesem Angriff betäubt war. Merenseth hatte sich nicht damit aufgehalten diese in atemberaubender Geschwindigkeit durchgeführte Aktion zu bewundern, sondern sich sobald der Stierdämon abgelenkt war, zu Mukisanu begeben. Bei ihrem ersten Versuch Mukisanu zu retten, hatte sie zwar herausgefunden, dass der Stierdämon sie in ihrer Vogelgestalt nicht für voll nahm und deshalb ignorierte, leider war aber der Gang zu eng, als dass sie darin hätte fliegen und Mukisanu auf diese Weise fortschaffen können. Alle Versuche sich dem Jungen in Menschengestalt zu nähern waren an der vehementen Verteidigungshaltung des Stierdämons gescheitert. Es war für Merenseth schwierig jemanden zu tragen, wenn sie nicht ihre Vogelgestalt hatte. Aber mit einiger Mühe gelang es ihr doch, sich Mukisanu auf den Rücken zu laden und ihn dort festzuhalten, während der Kampf zwischen Stier und Antilope weiter tobte. Sich eng an die Wand des Ganges haltend, wagte sich Merenseth langsam vorwärts, um nicht unversehens zwischen die beiden Monster zu geraten. Sobald es ihr gelungen war den Flur zu verlassen und die Treppe hinauf zu steigen, machte sie sich auf schnellstem Weg zu den Räumen Shimons auf. Trotz der immer größer werdenden Zahl an Verletzten, um die sich der alte Arzt und seine Helfer inzwischen zu kümmern hatten, ließ es sich Schimon nicht nehmen kurz die ihm fremde Frau verwundert und neugierig zu mustern, bevor er seine Aufmerksamkeit der hässlichen Wunde an Mukisanus Kopf zuwandte und leise murmelte: „Sieht so aus, als hättest du einen ziemlichen Dickschädel, mein Junge. Denn Göttern sei Dank, sonst hättest du das nicht überlebt“, während er sich bereits daran machte die Wunde zu säubern. Als er das nächste Mal von seiner Arbeit aufsah, war die Frau, die ihm den Jungen gebracht hatte, bereits wieder spurlos verschwunden. Ergänzende Randbemerkung Bola: Hauptsächlich von fremden Hilfsgruppen verwendete Waffe, die aus einem Seil mit Holz- oder Steingewicht an einem Ende bestand. Nzi: Swahili für Fliegen. Kapitel 27: Vater und Sohn -------------------------- Als Merenseth in den unterirdischen Flur zurückkehrte, war der Kampf bereits zu Ende. Die Antilope wieder verschwunden und der Stier nicht mehr in der Lage Seth daran zu hindern die einzige Tür im Gang zu öffnen. Das zu Beginn so lautstarke Gebrüll war beinahe vollständig verstummt, nur noch ab und zu schwappte ein dumpfes, wütendes Grollen durch den Gang, verlor sich nur allzu schnell zwischen Fußboden und Decke, ehe es die Treppe erreichen konnte. Was Seth und Merenseth zu sehen bekamen, als sie den Raum betraten, war Akunadin. Der Tjt stand angespannt und schweißüberströmt nahe der Mitte des Raumes und bemühte sich ein weißes, schuppiges Wesen mit langem Schwanz und fledermausartigen Flügeln unter Kontrolle zu halten. Der Körper des Wesens lag in einem schützenden Ring um eine am Boden kauernde weißhaarige Gestalt, die ihr Gesicht zwischen den angezogenen Beinen barg und sich die Ohren zuhielt, in der vergeblichen Anstrengung, das wütende Grollen des weißen Dämons neben sich nicht hören zu müssen. Der Tjt wirkte erleichtert, als er die Ankunft seines seinen Schülers bemerkte, „du kommst gerade rechtzeitig. Der Dämon ist zu mächtig. Übernimm meinen Platz, damit ich mich etwas ausruhen kann.“ Dann entdeckte Akunadin Seths Begleitung und fragte herrisch: „Wer ist das? Sie hat hier nichts zu suchen, es ist zu gefährlich! Sie soll gehen, sofort!“ „Sie bleibt“, erwiderte Seth nur entschieden, während er Akunadin keines Blickes würdigte, sondern auf das Mädchen in dem Bannkreis starrte, das beim Klang seiner Stimme ruckartig aufgesehen hatte und mit verweintem Gesicht, aber sichtlich erleichtert hervorbrachte: „Seth! Ich wusste, dass du kommst. Hilf mir, bitte. Ich habe nichts getan. Es macht mir Angst.“ Mit „es“ war offenbar das Echsenwesen gemeint, das noch immer wie ein Schutzwall um Kisara lag, während diese sich ganz offensichtlich bemühte diesem seltsamen Wesen nicht zu nahe zu kommen. Es erstaunte den jungen Priester, dass es Kisara gelungen war, ausgerechnet dieses Mal bei Bewusstsein zu bleiben. Er hatte bisher nur erlebt, dass der Dämon in ihrer Seele erwachte, wenn sie ohnmächtig war. - Aber das ließ sich auch später noch klären. Sofern es ein später gab. Ohne auf die erneute Forderung Akunadins einzugehen, dessen Platz einzunehmen, um den Dämon unter Kontrolle zu halten, blieb Seth wo er war und fragte stattdessen mit schneidender Stimme: „Warum ist sie hier?“ Sein Tonfall stand in so vollkommenem Gegensatz zu dem, was Akunadin und Kisara von ihm gewöhnt waren, dass beide ihn für einen Moment verblüfft anstarrten. Im nächsten Moment zeichnete sich im Gesicht des Mädchens verzagte Unsicherheit ab, gleichzeitig runzelte der Tjt verärgert die Stirn und erwiderte in einem Tonfall, der dem seines Schülers in nichts nachstand: „Das sollte offensichtlich sein. Ich treibe ihren Dämon aus. Sie hat den Verstand verloren, wie alle in der Stadt, und völlig ohne Grund Meresankh angegriffen. Ich kann nicht zu lassen, dass so jemand frei über ein derart mächtiges Wesen gebietet.“ „Das ist nicht wahr!“ weinte Kisara, sich gleichzeitig mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht wischend, „ich habe niemanden getötet. So etwas würde ich niemals tun und du hattest sie doch gern.“ Seths Gesichtsausdruck wurde, wenn möglich, noch ausdrucksloser und verschlossener, während er Kisara nur einen kurzen Blick zu warf, der diese schuldbewusst zusammenzucken und den Kopf senken ließ. Akunadins ausgestreckte Arme hatten inzwischen begonnen vor Entkräftung zu zittern. Lange würde er den Bann nicht mehr aufrecht erhalten können. Um davon abzulenken, erklärte an Seth gewandt mit einer Stimme, der es gelang die Erschöpfung hervorragend zu kaschieren: „Glaube, was du willst. Ich habe es gesehen. Ich werde nicht zulassen, dass das Königshaus weiterhin einer solchen Gefahr ausgesetzt wird.“ Damit begann er die uralten Formeln zu intonieren, die notwendig waren, um einen Dämon aus der Seele eines Menschen zu trennen. Unbeachtet von den Anderen, hatte sich Merenseth derweil dem Bannkreis genähert, ohne ihn zu berühren. Er war offensichtlich von einem Meister seines Faches gemacht worden und jede Berührung mit ihm hätte sie zu einem hilflosen Kücken werden lassen. So kniete sie schließlich vor dem Kreis, auf Augenhöhe mit dem Dämon, ihn ruhig betrachtend, während er drohend die Lefzen zeigte und ein weiteres missmutiges Grollen hören ließ, das im gleichen Augenblick abbrach, als Akunadin mit der Austreibung begann. Wütend richtete sich das Wesen in Sekundenbruchteilen zu seiner vollen Größe auf, spreizte die Flügel, fauchte, kreischte, zischte in einem Atemzug und in ohrenbetäubender Lautstärke. Hieb mit den Klauen nach seinem Peiniger, ohne in der Lage zu sein, ihm nahe zu kommen. Versuchte ihn mit all seiner Macht und Magie einzuschüchtern, von seinem Tun abzuhalten und musste doch erkennen, dass er keinen Erfolg hatte. In seiner Frustration kreischte der Dämon noch lauter, drehte sich in rasender Welt um sich selbst, versuchte den Bannkreis zu durchbrechen. Dann erstarrte das Wesen plötzlich reglos mitten in der Luft. Begann, ganz langsam, immer blasser und durchscheinender zu werden, sich immer schneller aufzulösen und zu verschwinden. Zitternd vor Angst hatte Kisara versucht sich so klein wie möglich zu machen. Der verzweifelte Versuch die Aufmerksamkeit des vor Zorn rasenden Dämons nicht versehentlich auf sich zu lenken. Die Arme schützend um ihren Kopf gelegt, die Augen geschlossen, liefen ihr noch immer die Tränen über das Gesicht, bewegte sie unablässig die Lippen in dem stummen Flehen jemand möge sie endlich aus diesem Albtraum befreien. Hin und wieder zuckte sie erschrocken zusammen, wenn sie spürte, dass der Dämon ihr zu nahe kam und versuchte sich noch kleiner zu machen, als es überhaupt möglich war, um nur nicht mit diesem Schrecken in Berührung zu kommen. Lautlos und noch immer unbeachtet war Merenseth wieder an die Seite Seths zurückgekehrt, während dieser mit grimmig verschlossener Miene abwechselnd zwischen Kisara und Akunadin hin und her sah, fest die Zähne aufeinander beißend. Er hätte Akunadin gern daran gehindert die Austreibung durchzuführen. Aber einmal begonnen, musste sie zu Ende geführt werden. Andernfalls würde zuerst der Mensch, der dem Dämon als Wirt diente und anschließend jedes in der Nähe befindliche Wesen getötet werden, bis der Zorn des Dämons verraucht war - oder es einem Priester gelang ihn unter Kontrolle zu bringen und in eine Art Zwischenreich zu bannen, von wo der Dämon jederzeit gerufen werden konnte; gezwungen jedem zu dienen, der seinen Namen kannte. „Sie wird sterben“, erklärte Merenseth leise, sobald sie wieder neben dem jungen Priester stand. „Nur wenn er einen Fehler macht“ Seth ließ unausgesprochen, dass der Tjt nie einen Fehler machte. Merenseth jedoch schüttelte den Kopf, „sie wird auch sterben, wenn der Tjt keinen Fehler begeht. Kaiphas ist entschlossen eher sich selbst und seinen Wirt zu töten als sich von einem Menschen in die Knechtschaft zwingen zu lassen.“ Leicht fassungslos wandte Seth der neben ihm stehenden Vogelfrau das Gesicht zu, während ihm gleich mehre Fragen auf einmal durch den Kopf schossen, die er aber ebenso auf später verschob wie die Frage nach Kisaras fehlender Bewusstlosigkeit. Stattdessen verlangte er nur nach einem Moment des Schweigens zu wissen: „Was kann ich tun?“ „Geh in den Bannkreis, halte ihre Hände und sage ihren Namen. Alles andere liegt bei ihr.“ Ungläubig starrte Seth auf die Vogelfrau hinab. „Ich soll was?!“ „Dich besser beeilen, wenn du ihr noch helfen willst“ erwiderte Merenseth ruhig, ohne jeden Anflug von Ironie oder Spott, während sie auffordernd in Richtung Bannkreis nickte. Als Seth dem Hinweis folgend seinen Blick wieder auf Kisara richtete, sah er, dass diese still und blass auf dem Boden lag, die weißen Haare um sich gebreitet wie einen Fächer, während über ihr eine weiße, durchscheinende Taube schwebte, die ab und zu mit den Flügeln schlug und alles in allem ziemlich verwirrt wirkte, als verstünde sie nicht, wie und warum sie in diesen Raum gelangt war. Auch Akunadin hatte beobachtet, wie sich das Mädchen in plötzlichem Schmerz aufbäumte als der Dämon sich aufgelöst hatte. Wie sie gleich darauf wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte und reglos liegen blieb, während ihr Ba sich allmählich aus ihrem Körper löste. Unwillkürlich schnaufte der oberste Priester erleichtert, fast war es geschafft. Bald würde auch dieser Dämon zu seinen Waffen zählen. Er musste jedoch schnell feststellen, dass etwas ganz und gar nicht so ablief wie es sollte. Statt dass sich die Seele zunächst scheinbar verdoppelte und sich anschließend eine von ihnen in den Bewohner der eigentlichen Seele wandelte, passierte in diesem Fall zunächst einmal gar nichts. Nur die Taube begann immer heftiger mit den Flügeln zu schlagen, dabei ängstlich gurrend. Plötzlich wurde in dem durchscheinenden Gefieder am Bauch des Vogels ein dunkler Riss sichtbar, der schnell größer und breiter wurde, während aus dem Inneren des Vogelkörpers ein immer greller werdendes Licht hervorbrach, das nach und nach seine gesamte Umgebung in blendende Helligkeit tauchte. Ohne weiter darüber nachzudenken, ob tatsächlich funktionieren konnte, was Merenseth vorgeschlagen hatte oder ob es einfach nur eine verdammt dämliche Idee zur falschen Zeit war, beeilte sich Seth hastig in den Bannkreis zu gelangen. Etwas, dass ihm ohne Probleme möglich war, wie er erstaunt registrierte, während er sich bereits neben das bewusstlose Mädchen kauerte, dessen Hände mit seinen packte und kategorisch befahl: „Kisara, wach auf!“ „Was…?“ brachte Akunadin nur völlig überrumpelt hervor, während er gezwungen war zu zusehen, wie sein Schüler seine Pläne durchkreuzte. Dass der Junge seinen Bannkreis betreten konnte, war nicht weiter verwunderlich, in seiner Seele wohnte kein Dämon, der ihm hätte Probleme bereiten können. Aber das war auch nicht der Punkt. Sondern viel mehr: Was fiel dem Jungen ein, sich einfach gegen ihn zu stellen?! Dann musste der Tjt mit ansehen, wie sich das Licht wieder in das Innere der Taube zurückzog. Der Riss sich schloss und das Ba in den Körper des Mädchens zurückkehrte, während Seth seinen Befehl im Kommandoton noch ein, zwei Mal wiederholte. Der alte Priester entspannte sich ein wenig, vielleicht war es doch keine so schlechte Idee des Jungen gewesen einzugreifen. Der Widerstand des Dämons den Akunadin die ganze Zeit gespürt hatte, ließ merklich nach, als würde sich das Wesen allmählich beruhigen und sein Schicksal endlich akzeptieren. Jetzt sollte es ihnen eigentlich gelingen, sich den Dämon dienstbar zu machen. Im nächsten Augenblick bäumte sich Kisara plötzlich wieder auf, den Rücken so weit durchgestreckt, dass man meinen konnte ihn bereits gefährlich knacken zu hören. Augen und Mund waren weit aufgerissen, während etwas wie Nebel sich mit rasender Geschwindigkeit aus ihrem Körper löste, auf Seth zuschoss, auf dessen Körper traf und ihn mit unglaublicher Wucht von den Füßen riss, aus dem Bannkreis und durch das Zimmer schleuderte. Es blieb keine Zeit sich darüber zu wundern, wie etwas scheinbar völlig Substanzloses eine solche Kraft entwickeln konnte, noch blieb Zeit sich mit dem Gedanken abzufinden jeden Moment mehr als nur unsanft engere Bekanntschaft mit der nächsten Zimmerwand zu schließen, als der Flug auch schon ebenso abrupt endete, wie er begonnen hatte. Statt gegen harte Lehmziegeln, stieß Seths Kopf plötzlich gegen etwas Weiches, Warmes. Fühlte er an seinen Wangen das sanfte Kitzeln wohlvertrauter Federn, spürte wie sich je vier Krallen schmerzhaft in seine Schultern bohrten und kräftige Flügelschläge die Luft in Bewegung versetzten. Sobald der junge Priester wieder auf seinen eigenen Füßen stand, verlangte er wenn auch noch etwas wacklig so doch gekonnt energisch zu wissen: „Was war das?“ „Kaiphas“, erwiderte Merenseth, die wieder in ihrer Menschengestalt neben ihm stand; Beide den fassungslos starrenden Akunadin vollkommen ignorierend. Sowohl verärgert als auch verwirrt runzelte Seth die Stirn, „er hat versucht mich zu töten.“ Merenseth schüttelte den Kopf, „er hat seinen Wohnort gewechselt.“ In diesem Augenblick wirkte Seth nicht weniger fassungslos als Akunadin und hob unwillkürlich eine Hand, um sie anzustarren, als könnte er auf diese Weise überprüfen, ob die Worte Merenseths tatsächlich wahr waren. Aber er fühlte sich kein bisschen anders als vor dem Zusammenstoß und schien auch nicht anders auszusehen, zumindest verwandelte sich seine Hand nicht plötzlich in eine Klaue. Aber der Gedanke, dass in seiner Seele Etwas wohnte, was da eigentlich nicht hingehörte, gab ihm das unangenehme Gefühl über sein Herz kratzen zu müssen, um dieses Etwas wieder los zu werden. „Warum?“ murmelte er mehr zu sich selbst, als zu Merenseth, dennoch erhielt er von ihr zumindest teilweise eine Antwort darauf. „Dämonen gefällt die Weite der menschlichen Seele, dort sind sie frei. Für ihn war es die einzige Möglichkeit dem Bannkreis zu entkommen.“ Das Stichwort Bannkreis ließ Seth zu Kisara blicken, die wie zuvor leblos am Boden lag. Wie hatte er mit einem Dämon den Kreis durchbrechen können? Das ergab keinen Sinn. - Wie so Einiges in letzter Zeit. Plötzlich glitt sein Blick ins Leere, kehrte sich nach Innen, als aus den Tiefen seiner Seele begannen Bilder an die Oberfläche zu steigen. Bilder, die nicht seiner Erinnerung entstammten, sondern der Kisaras, die anscheinend bei Kaiphas überstürztem Umzug mitgerissen worden waren und die Seth kein bisschen gefielen. „Kümmer dich um Kisara“, es klang ruhig, bar jeder Emotion. Die gesamte Aufmerksamkeit Seths war nun auf Akunadin gerichtet, dessen Arme herabgesunken waren und der misstrauisch die Vorgänge beobachtet hatte. Sobald er bemerkte, dass er die volle Aufmerksamkeit Seths besaß, straffte er sich, streckte die Schultern durch und nahm innerhalb von Sekunden wieder die vertraute Pose des obersten Priesters an, der alles im Griff hat. „Du hast sie getötet.“ Hass schwang in dieser Feststellung mit, zurückgehalten einzig und allein durch die Achtung die Seth über die Jahre gelernt hatte seinem Lehrer entgegen zu bringen und die sich nicht einfach ablegen ließ. „Wenn jemand Schuld an ihrem Tod ist, dann du. Du weißt, dass eine Austreibung nicht unterbrochen werden darf und trotzdem bist du eigenmächtig in den Bannkreis getreten.“ „Ich rede von Meresankh.“ Für einen Moment schwieg Akunadin überrascht, dann erwiderte ruhig: „Dein Verstand ist verwirrt, deshalb werde ich diese falsche Beschuldigung als nicht gesagt betrachten.“ Damit wollte sich der Tjt abwenden und den Raum verlassen, die eisige Stimme Seths ließ ihn jedoch wieder inne halte. „Du hast hier auf sie gewartet. Als sie zusammen mit Kisara die Treppen heruntergekommen ist, hast du deinen Dämon gerufen, um zu verhindern dass sie davon laufen. Dann hast du Meresankh das Messer in die Brust gestoßen und Kisara hier in das Zimmer gezerrt. Der Dämon hatte den Auftrag vor der Tür Wache zu halten. – Warum? Damit du nicht gestört wirst bist du mit der Austreibung fertig bist?“ „Ein Dämon als Wächter ist die übliche Form anzuzeigen, wenn eine Austreibung vorgenommen wird.“ Eisige Herablassung lag in den Worten Akunadins, während er seinen Ankläger auf diese Weise zurechtwies. Unausgesprochen mitklingen lassend, dass Seth diese simple Tatsache nach seinen Studien eigentlich zu wissen hätte. „Ist es auch üblich Menschen grundlos niederschlagen zu lassen?“ Seths Stimme klang ätzend, ohne dass sie einen sichtbaren Eindruck bei Akunadin hinterließ. „Ich weiß nicht wovon du redest“ erwiderte dieser gleichgültig und ergänzte: „Ich habe genügend Zeit mit dir verschwendet, es gibt im Moment wesentlich Wichtigeres zu tun.“ Zielstrebig schritt Akunadin Richtung Tür, nicht gewillt sich noch länger von diesem Jungen aufhalten zu lassen. Er kam jedoch nicht weit, denn plötzlich kauerte in der Tür ein riesiger Hund, ruhig und ausdruckslos. „Was soll das?!“ Akunadin war wütend herumgefahren, sein Blick schien sich in den Seths zu bohren, ihm seinen Willen aufzwingen zu wollen. „Ich will die Wahrheit“ erwiderte Seth mit der Entschlossenheit dessen, der sich im Recht weiß. „Die Wahrheit“ murmelte Akunadin leise, mit einem Gesichtsausdruck als würde er auf etwas Bitteres beißen. Er wusste, dass er sich noch nicht genug erholte hatte, um selbst einen Dämon zu rufen und dieser lächerlichen Farce ein Ende zu setzen. Aber er wusste auch, dass Seth in diesem Moment nur schwer zu überzeugen wäre, seine Sicht der Dinge zu teilen. Am besten würde er wohl mit einer Teilwahrheit beginnen. Mit wiedergewonnener Selbstbeherrschung und stolzer Haltung erklärte der oberste Priester schließlich ruhig, nachdem er sich erneut vollkommen seinem Schüler zugewandt hatte: „Ich habe herausgefunden, dass Meresankh es war, die die Kette Karims entwendet hat. Sie hatte also Verbindungen zu den Aufständischen und wollte offenbar den Dämon des Mädchens dafür benutzen die Rebellen zu unterstützen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als so zu handeln, um sie noch rechtzeitig aufzuhalten.“ Ungläubig hatte Seth diesen Worten gelauscht und wollte schon ablehnend den Kopf schütteln, als Akunadin hinzufügte: „Glaube nicht, dass es mir leicht gefallen ist. Ich habe sie über Jahre gekannt, ich habe ihr vertraut. Sie war eine außergewöhnliche Frau…“ Eine kurze, bedeutungsschwere Pause, die Seth unwillkürlich das Blut ins Gesicht trieb, dann fügte Akunadin, langsam und deutlich hinzu: „Aber ich konnte nicht zulassen, dass sie Kemet Schaden zufügt.“ Noch immer wirkte Seth wie betäubt, während Akunadin ihn einen Moment prüfend betrachtete und dann mit erstaunlicher Freundlichkeit fragte: „Bist du nun zufrieden, mein Sohn? Können wir uns jetzt um die Rettung Kemets kümmern?“ Seth Kopf ruckte hoch und er starrte Akunadin feindselig an, während er in trotziger Ablehnung erwiderte: „Ich bin nicht dein Sohn.“ Akunadin lächelte begütigend und widersprach: „Ich gebe zu, dass das nicht gerade der beste Zeitpunkt ist, um diese Frage zu klären. Aber du bist tatsächlich mein Sohn. Ich habe mir immer Vorwürfe gemacht, dich und deine Mutter verlassen zu haben. Aber mein Bruder brauchte mich. Ich hatte geplant euch nachzuholen, sobald es mir möglich wäre, aber als ich einen Trupp Berittener schickte, die euch sicheres Geleit geben sollten, war deine Mutter in den Flammen gestorben und du spurlos verschwunden. Du kannst dir nicht vorstellen, was es für mich bedeutete, dich so plötzlich in der Priesterschule wiederzusehen.“ Dass der Anführer des erwähnten Reittrupps Ninetjer war, der statt sich an die Verabredung zu halten, Seth in die Hauptstadt zu bringen, sich lieber von dem Gaufürsten dafür bezahlen ließ ein illegales Abrißunternehmen durchzuführen, verschwieg Akunadin lieber. Genauso wie die Tatsache, dass er plante seinen Sohn auf den Thron zu setzen. Atemu war ebenso schwach wie es sein Vater gewesen war. Sie hatten die Herrschaft nicht verdient. Er selbst konnte den Thron nicht besteigen, ohne jede Menge Zeit und Kraft darauf zu verschwenden seine Gegner und Zweifler zum Schweigen zu bringen. Sein Sohn war die perfekte Lösung. Er hatte ihm alles beigebracht, was er brauchte um ein starker, fähiger Herrscher zu werden. Niemand außer ihnen beiden wusste noch von der Verwandtschaft zwischen ihnen, sodass es keine Gerüchte über Verwandtenmord und somit eine beachtliche Zahler Gegner weniger geben würde. Atemu würde während der Unruhen sterben, sodass auch in der Hinsicht keine Zweifel aufkommen würden. Der Antritt seiner Nachfolge durch einen seiner Vertrauten erschien allein schon dadurch gerechtfertigt, dass es keine anderen Anwärter gab, wenn er selbst, Akunadin, in selbstloser Großmut darauf verzichten würde. Aufmerksam hatte der Tjt die Wirkung seiner Worte beobachtet und musste ein siegesgewisses Lächeln unterdrücken, als er sah, wie Wut und Entschlossenheit Seths angesichts der Neuigkeiten, die er gerade erfahren hatte, spröde wurden, brachen und in sich zusammenfielen. Wie stattdessen Unsicherheit, Schuld und Zweifel in Blick und Haltung zu lesen waren. Er hatte es geschafft. Nichts band Menschen stärker, als das Gefühl im Unrecht gewesen zu sein und ihr Bedürfnis danach, diesen Fehler wieder gut zu machen. Er würde sich um den Jungen keine Sorgen mehr machen müssen, jetzt gehörte er ihm. „Warum hast du deine Familie nicht schon Jahre vor dem Brand zu dir kommen lassen? Das Land war friedlich, es hätte dich nur einen Befehl gekostet sie zu dir zu holen und dafür zu sorgen, dass es ihnen an nichts fehlt. Warum hast du Meresankh mit einem Messer erdolcht, wie es die Dienerinnen im Harem für die Zubereitung von Obst verwenden? Warum hast du es aussehen lassen, als hätte Kisara Meresankh ermordet, wenn es eine gerechtfertigte Strafe war? Und wenn Meresankh fähig war eine Austreibung vorzunehmen, warum hat sie dann nicht einen Dämon gerufen, als du sie im Keller überrascht hast? Woher wusstest du, dass sie auf dem Weg in den Keller war, wenn du doch vorhattest in der Stadt die Dämonenpriester zu unterstützen?“ Merenseth stand zwischen Kisara und den beiden Männern, der lächerlich wirkende Versuch eines Schutzschildes, während sie ruhig, beinahe freundlich diese Fragen stellte, die doch wie gefährlich spitze Nadeln auf bloße Haut trafen. Es schien als müsse Akunadin mühsam einen Fluch unterdrücken, bevor er schließlich mit der ganzen hochfahrenden Herablassung seines Amtes eine weit unter ihm stehende Person zurechtwies: „Diener reden nur wenn sie gefragt werden.“ „Sie ist kein Diener“ mischte sich nun auch Seth wieder in das Gespräch und erinnerte Akunadin unangenehm daran, dass er hatte beobachten müssen, wie sich diese Frau in einen Vogel und wieder zurückverwandelt hatte. Das Lächeln wirkte krampfhaft, bemüht als der Tjt an seinen Sohn gewandt beschwichtigend erwiderte: „Ich wollte dich nicht beleidigen. – Dass ein so mächtiger Dämon und ein Benu gewillt sind, dir zur Seite zu stehen, kann nur ein Omen sein. Jeder Vater ist wohl davon überzeugt, dass sein Kind etwas Besonderes ist, aber ich habe den Beweis vor Augen. Ich bin sicher, wenn du der Herr Kemets wärst, du würdest deine Macht zum Wohl des Landes einsetzen. Ihm zu neuem Glanz, zu neuer Macht verhelfen.“ Seth runzelte ungehalten die Stirn, „Kemet hat bereits einen König. Er wird tun, was notwendig ist.“ „Einen König, der alle Entscheidungen nur aufgrund von Gefühlen und momentanen Eindrücken fällt?“ Akunadin klang spöttisch, „Einen König, der mehr Ahnung von den Spielen dieses Landes hat, als von den Bedürfnissen der Menschen?“ „Er wird es lernen. Deine Aufgabe ist es ihm dabei zu helfen.“ Akunadin lachte bitter auf, „natürlich. So wie ich seinem Vater geholfen habe. Ich habe gearbeitet, er erntete Ruhm und Dank. Ich werde nicht zulassen, dass ich ein zweites Mal derart missachtet werde.“ „Du, missachtet?“ Seth klang ungläubig, „du hast das höchste Amt nach dem König in diesem Land inne. Viele der Leute verehren dich beinahe wie einen Gott und du glaubst dich ungerecht behandelt?!“ „Das kannst du nicht begreifen, niemand kann das. Aber kannst du wirklich einem König dienen wollen, der deine Fähigkeiten nie vollkommen zu schätzen wissen wird? Für den du immer nur ein nützliches Werkzeug sein wirst und nicht mehr? Dem du gezwungen bist dankbar zu sein, weil er dir einmal geholfen hat? Der dir fortan wie ein Mühlstein am Hals hängt und dich daran hindert zu zeigen, wozu du tatsächlich in der Lage bist?“ Die zornsprühende Rede Akunadins ließ Seths Rücken in der demütigenden Erinnerung daran wie ein niederer Sklave ausgepeitscht worden zu sein, auf die Gnade eines Anderen angewiesen, erneut vor Scham und Schmerz brennen, obwohl die Spuren der Züchtigung schon lange verblasst waren. Dennoch erwiderte er nur: „Atemu ist der rechtmäßige König und er wird es bleiben.“ Damit schien für Seth die Sache erledigt zu sein und er wandte sich ab, um nach Kisara zu sehen, zugleich den die Tür versperrenden Dämon wieder entlassend. Vielleicht war es etwas wie ein letztes Aufblitzen eines beinahe verlorenen Verbundenheitsgefühls, dass ihn bereits mit abgewandtem Gesicht zu Akunadin sagen ließ: „Verlass den Palast und kehre nicht zurück. Hochverrat wird nicht einmal dem obersten Priester des Amun verziehen.“ Was diese Worte in Akunadin auslösten, war unbändige Wut. Dieser kleine Nichtsnutz wagte es ihn belehren! Ihn!, der dieses Nichts aus der Gosse gezogen und zu dem gemacht hatte, was er war! Ihn, der ihm die Möglichkeit geboten hatte das Land als König zu regieren! Diese Kreatur wagte es tatsächlich seine Autorität infrage zu stellen, seinen bis zuletzt sorgsam ausgeklügelten und durchgeführten Plan kurz vor dessen Vollendung zu durchkreuzen und all die Mühen die er auf sich genommen hatte zu Nichte machen zu wollen, indem er sich ihm verweigerte und sich auf die Seite eines schwachen, erbärmlichen Traumtänzers stellte! Das würde er nicht zulassen. Eher opferte er einen undankbaren, treulosen Sohn, als seinen Plan eines neuen Reiches! Er hatte sich noch nicht genügend erholt, um einen Dämonenkampf durchzuhalten, aber das musste er auch nicht, wenn es ihm gelang Seth lange genug abzulenken. „Hochverrat?“ Akunadin lachte auf, „du hast keine Beweise dafür. Du bist nur ein Priesterschüler, unbedeutend. Wer sollte dir glauben schenken, wenn du mich beschuldigst.“ Seth hatte sich bei diesen Worten wieder zu Akunadin gewandt, ihn aufmerksam ansehend. „Ich bin sicher, Ninetjer wird nur zu bereit sein zu erzählen, warum er sich mit Sechemib getroffen hat und ob er in deinem Auftrag handelte.“ Gewissheit klang in diesen Worten mit. Die Gewissheit, dass es nicht Ninetjer sein würde, der aus diesem Kräftemessen als Sieger hervorgehen würde. „Und du wirst die Frage beantworten müssen, warum es trotz der Berichte der Gaufürsten über die abgebrannten Dörfer keinen einzigen ernstzunehmenden Versuch gab, die Rebellen gefangen zu nehmen. – Sag mir, Vater“, Seth betonte die Anrede in höhnischem Spott, „als Mutter starb, hattest du da den Befehl gegeben, das Dorf abzubrennen oder warst du nur erleichtert, als du von ihrem Tod hörtest?“ Es war nur eine Vermutung, mehr Ahnung als Gewissheit, das trotzige Aufbegehren eines verlassenen Kindes, die ihn diese letzten Worte äußern ließen und doch hätte er auf diese Frage gern Antwort gehabt. War sein Vater der Mörder seiner Mutter, Menis und all der anderen Dörfler die ihr Leben in den Flammen gelassen hatten? Hatte er all die Zeit einen menschenverachtenden Heuchler als vermeintlichen Retter Kemets geachtet und bewundert? Akunadin machte sich jedoch nicht die Mühe zu antworten. Unbemerkt hatte er sich nah genug an den jungen Priester heranbewegen können, sodass dieser dem Angriff des Dämons würde unmöglich rechtzeitig entgehen können. Den Dämon zu rufen und ihm den Befehl zum Angriff zu geben war eins. Seth hatte gerade noch Zeit fassungslos auf die lederartige rotbraune Haut des gehörnten Wesens zu starren, als er im nächsten Augenblick auch schon von den Füßen gerissen wurde und altvertraute Krallen ihn im letzten Moment in Sicherheit brachten. Allerdings war nun Kisara ohne Schutz und so richtete der Dämon seine Aufmerksamkeit auf dieses näherliegende, wehrlose Opfer. In größter Hast befreite sich Seth aus dem Griff seines Benu und rief seinerseits einen Dämon, um das von Akunadin gerufene Monster aufzuhalten. Sich nur kurz davon überzeugend, dass es dem geflügelten Löwen tatsächlich gelang seinen ebenfalls geflügelten, zweibeinigen Gegner aufzuhalten, wandte er im nächsten Augenblick seine Aufmerksamkeit auch schon Akunadin zu. Hass, bitter wie Galle, stieg in Seth auf. Machte ihn unempfänglich für die Schwäche des obersten Priesters, der sich nur noch mühsam auf den Beinen halten konnte, je länger der Kampf zwischen den beiden Dämonen dauerte. Der Wunsch diesen Mann, der behauptete sein Vater zu sein, büßen zu lassen, ihn leiden zu sehen kochte hoch wie zähflüssiges Wachs, dass alles Andere ausschloss, unter einer luftdichten Hülle versiegelte, die Wahrnehmung verengte auf den einzigen Gedanken, dass dieser Mann den Tod verdient hatte. Etwas in seiner Seele schien darauf zu reagieren. Der Dämon erhob sein Haupt, schien Seths Wunsch zu prüfen und für gut zu befinden. Manifestierte sich, ohne dass Seth ihn bewusst gerufen hätte, stürzte sich auf den Tjt und tötete ihn innerhalb eines Wimpernschlags. Mit dem Tod des Tjt, verschwand auch der gehörnte Dämon, den er gerufen hatte. Mit blassen Lippen, mehr murmelnd als tatsächlich sprechend, entließ Seth den geflügelten Löwen, während sich Kaiphas bereits wieder zurückgezogen hatte, um sich auszuruhen, zufrieden seinen Peiniger strafen zu können. Seth hatte Mühe zu begreifen, was geschehen war. Kaiphas war erschienen, ohne dass er ihn gerufen hatte, ohne dass er das Bewusstsein verloren hatte. Er hatte den Willen des Dämon gespürt, hatte das Gefühl gehabt eins mit ihm zu sein, gleichzeitig zwei Wesen gewesen zu sein, die einen Willen, ein Ziel hatten. Da war kein Platz gewesen für Angst, Verunsicherung oder Zögern. Nur der Wusch Rache zu nehmen an dem, der Verrat begangen hatte. Er hatte gerade getötet. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Axthieb. Er hatte seinen Vater ermordet. Er war in die Pharaonenstadt gekommen, um denjenigen zu finden, der sein Dorf auf dem Gewissen hatte. Gefunden hatte er seinen Vater. Seth fühlte sich, als hätte der Axthieb ihn auf Höhe des Bauchnabels sauber in zwei Hälften gehackt und er würde nun jeden Augenblick auseinander fallen. Gleichzeitig war ihm unglaublich übel. Eine Übelkeit ohne Brechreiz, mehr Ekel vor sich selbst, dem was er getan hatte. Er hatte sich blindlings von einem Wunsch verleiten lassen, ohne die Konsequenzen abzuschätzen. Sich der Möglichkeit beraubt, herauszufinden ob sein Vater tatsächlich Schuld am Tod seiner Mutter war. Ob sein Vater ihn und seine Mutter tatsächlich damals so leicht im Stich gelassen hatte, wie er jetzt versucht hatte, ihn zu töten. Er würde nicht mehr erfahren, warum sein Vater ihn hatte töten wollen, nachdem er sich die Mühe gemacht hatte ihn zu erziehen. Warum er in all den Jahren nie erwähnt hatte, wer er war. Um sich von dem Chaos in seinem Inneren abzulenken, nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, was er getan hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit Kisara zu. Bemüht Merenseth, die wieder in ihrer Menschengestalt an die Seite des weißhaarigen Mädchens zurückgekehrt war, nicht anzusehen. Er konnte es nicht. Fürchtete sich davor, was er in ihrem Gesicht würde lesen müssen. Gerade als er an ihr vorbei neben Kisara in die Hocke gehen wollte, hielt ihn die Vogelfrau sanft am Handgelenk fest. Da sie nichts sagte und er sich immer noch weigerte sie anzusehen, erkundigte er sich nur mit spröder Stimme, den Blick stur auf Kisara gerichtet: „Ist sie tot?“ Erneut kroch bittere Galle bei dieser Frage seine Kehle hinauf. Im Moment konnte er noch mehr Tote wirklich nicht gebrauchen. Er spürte mehr, als dass er es sah, wie Merenseth den Kopf schüttelte und leise erklärte: „Nein.“ Kurz riskierte Seth einen Seitenblick, wandte seine Aufmerksamkeit aber sofort wieder dem bewusstlosen Mädchen zu. „Dann sollten wir sie schnell zu Shimon bringen.“ Wieder schüttelte Merenseth den Kopf, „Shimon kann ihr nicht helfen. Kein Menschenarzt kann eine verletzte Seele heilen.“ Seth schloss kurz die Augen und atmete tief durch, um seine Begleiterin nicht anzubrüllen, weil sie sich alles einzeln aus der Nase ziehen ließ. „Was dann?“ „Ich bringe sie in die Berge zu Oreithys. Wenn sie gesund ist, hole ich sie zurück.“ Seth nickte einverstanden, ohne ein Wort zu sagen oder sein Handgelenk aus der Umklammerung zu befreien. Merenseth schwieg ebenfalls einen Augenblick, als warte sie, ob er etwas sagen oder tun würde. Dann ob sie ihre andere Hand, legte sie an seine Wange und sorgte dafür, dass er sie ansehen musste. „Wirst du mit uns kommen?“ Nachdenklich starrend erwiderte Seth den Blick der freundlichen braunen Augen, während Merenseth geduldig auf eine Antwort wartete. Dann schüttelte er den Kopf, „Ich bleibe.“ Merenseth nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. „Pass auf dich auf, Sohn Kemets, - und bleib am Leben.“ Missmutig zog Seth die Brauen zusammen, immer dieses alberne Getue. Aber seltsamerweise hatte er nicht mehr das Gefühl in zwei Hälften gehackt worden zu sein und auch die Übelkeit hatte sich dankenswerter Weise verflüchtigt. Stattdessen hatte er das Gefühl über dem, was eben geschehen war, würde sich eine Art Kruste ausbreiten, die alle Gefühle verhinderte. Ähnlich wie Grind dafür sorgt, dass in offene Wunden kein Schmutz gelangt, verhinderte diese Kruste, dass das Erlebte ihn aufsog und unfähig machte zu handeln. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Merenseth ihn zum ersten Mal in ihrer Menschengestalt berührte. Er hatte sich nie zuvor Gedanken darüber gemacht. Zugleich spürte er, wie er immer ruhiger wurde, wieder in der Lage war klar zu denken. „Ist das deine Magie?“, erkundigte sich Seth irritiert und nicht ganz sicher, was er von dieser Sache halten sollte. Merenseth schüttelte den Kopf, „als Mensch kann ich nichts anderes als mich wieder in einen Vogel zu verwandeln.“ Während sie sprach hatte sie die Hand an seiner Wange wieder zurückgezogen und für einen Augenblick vermisste Seth die tröstliche Wärme, die von dieser Hand ausgegangen war, halblaut, mit gerunzelter Stirn überlegend: „Dann ist es Kaiphas?“ Nachdenklich sah Merenseth ihn an, während sie wissen wollte, was genau er meinte. „Es ist wie damals, im Turm der Zeit“ versuchte Seth es zu erklären, unzufrieden mit der Unzulänglichkeit seiner Worte. Es war nicht wie damals, instinktiv ahnte er, dass es dieses Mal genügen würde ein wenig an der Kruste zu kratzen, um sie aufbrechen zu lassen und ihn erneut mit einem wirren Gemisch aus Ekel, Scham, Bedauern und Triumph zu überfluten. „Dämonen können Seelen verletzen, heilen können sie sie nicht“, erwiderte Merenseth ruhig auf die Frage des Priesters. Sie schien zu ahnen, dass da mehr war, als er zugab und fügte wohl deshalb erklärend hinzu: „Das, was du fühlst, ist deine eigene Stärke. Die Stärke deiner Seele. Der Grund, warum du trotz Dämon den Bannkreis durchbrechen konntest. Er konnte sich hinter ihr verbergen.“ Seth wirkte bei diesem doch sehr indirekten Versuch ihn zu beruhigen eher skeptisch, schien jedoch bereit, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen und sich auf wesentlichere Dinge zu konzentrieren. Sein Handgelenkt aus dem Griff Merenseths befreiend, hob er schließlich Kisara vom Boden auf und trug sie ins Freie. Sobald es ihnen gelungen war, das noch immer bewusstlose Mädchen so in ein Tuch zu hüllen, dass der Benu es ohne Schwierigkeiten würde tragen können, machte sich Merenseth zusammen mit ihrer zerbrechlichen Fracht auf zum Turm der Zeit. Kapitel 28: Isfet ----------------- Ein träges Lächeln umspielte Ninetjers Lippen, während er vom höchsten Dach des größten Tempels hinab auf die Pharaonenstadt blickte, in deren Straßen blindes Chaos herrschte. Genoss es zuzusehen, wie die einen sich erbitterte Kämpfe mit jenen lieferten, die sie zu ihren Feinden erkoren hatten; wie die Zahl der Toten und Verletzten stieg; die Zerstörung zunahm. Wie andere in Panik flüchteten, ohne zu erkennen dass es keinen Ort gab, der ihnen echte Sicherheit bot. Er verspürte jetzt schon die Vorfreude zusehen zu können, wie diese Erkenntnis langsam in ihr Bewusstsein dringen würde, sie die Hoffnung verlieren und zu leblosen Schatten verkommen würden. Sie würden auf ewig in dieser Stadt gefangen sein, seelenlose Geister, herumirrend in einer verlorenen Stadt. Es war nur angemessen, dass der Königsstadt die gleiche Großzügigkeit zuteil wurde, wie sie einst der König seinem Dorf erwiesen hatte. In den Händen hielt Ninetjer eine tönerne Schawabti, deren Augen geschlossen, nach innen gerichtet waren, um das, was sich in ihrem Inneren verbarg, zu bewachen, daran zu hindern hinaus zu gelangen. Über den gesamten Körper der kleinen Figur zogen sich Bänder aus Hieroglyphen, eine weitere Barriere bildend. In den über der Brust gekreuzten Händen hielt die Figur die Symbole der Göttinnen Hathor und Serqet, Warnung und Schutz zugleich. Es hatte Zeit und Geduld gekostet diese Figur zu finden und ihrer habhaft zu werden. Die Zusammenarbeit mit Akunadin war dabei ein nützlicher Zeitvertreib gewesen, der den obersten Priester zudem in den Glauben gewiegt hatte, er wäre derjenige, der die Fäden in den Händen hielt, während Ninetjer unbehelligt und in aller Ruhe finden konnte, wonach er suchte. Sacht schlossen sich die Finger um die Figur in seiner Faust, während er erwog ob er sie schon jetzt einsetzen sollte oder ob er nicht vielleicht doch noch etwas damit wartete. Beinahe zärtlich rieb er mit dem Daumen über die sorgfältig eingemeißelten Schriftzeichen. Ein wenig vorgebeugt dasitzend, die Ellebogen auf den Knien, mit der freien Hand das Kinn stützend, starrte er nachdenklich hinab in die Stadt und entschied abrupt, dass die Figur noch warten konnte. Er würde sich selbst um die verbliebenen Dämonenpriester kümmern, ein wenig Spaß wollte er ja auch noch haben und nicht nur tatenlos zusehen. Kaum hatte er diese Entscheidung getroffen, erhob er sich schwungvoll, ein erwartungsvolles Grinsen auf den Lippen, während er die kleine Figur in die Tasche seines Mantels gleiten ließ. Im nächsten Moment war er auch schon dabei das Dach des Tempels mit weiten, geübten Sprüngen hinter sich zu lassen und sich in das chaotische Gewimmel in den Straßen und Gassen der Stadt zu stürzen. Auf seinem Weg durch die Stadt, nach Dämonenpriestern suchend, fragte er immer wieder Menschen, die seinen Weg kreuzten, ob sie ihm bei seiner Suche weiterhelfen konnten. Es bereitete ihm Vergnügen ihre Angst zu sehen, zu riechen, wenn er sie mit seinem Messer bedrohte. Genoss es Hoffnung in ihren Augen aufblitzen zu sehen, wenn er ihnen in Aussicht stellte, dass sie am Leben bleiben würden, wenn sie ihm halfen. Ihr verzweifeltes Bemühen es ihm Recht zu machen, nur um das erbärmliche Etwas, das sie Leben nannten zu erhalten. Und schließlich die geschockte Erkenntnis in ihrem Gesicht, das bald darauf zu einer starren Totenmaske verkam, wenn sie spürten, dass er nie die Absicht gehegt hatte, sie gehen zu lassen. Menschen waren so dermaßen dämlich und jämmerlich, dass sie einfach nichts anderes verdienten, als er ihnen zukommen ließ. Nachdem er schließlich erfolgreich einen der Boten abgefangen und befragt hatte, machte er sich auf den Weg zum Palast. Er gab sich nicht die geringste Mühe unentdeckt zu bleiben, sondern schritt mit der größten Selbstverständlichkeit direkt auf das Haupttor des Palastes zu. Die Zugänge zum Palast waren sorgsam abgeriegelt und verbarrikadiert worden, in dem Versuch das Chaos der Stadt nicht auch auf die Wohnstatt des Gottkönigs übergreifen zu lassen. Ninetjer grinste bei diesem Anblick jedoch nur belustigt, rief ein Monster herbei und ließ es die Barrikade kurzerhand einreißen. Der Lärm, der dabei entstand, sorgte dafür, dass die Dämonenpriester sich in hektischer Aufregung bereits versammelten, während Ninetjer noch beinahe gemächlich und scheinbar vollkommen sorglos durch das Loch in der geborstenen Mauer kletterte. Im Vorhof des Palastes angekommen, fand er sich den verbliebenen Priestern gegenüber, die sich in einem Halbkreis vor ihm aufgebaut hatten, bemüht mit Hilfe ihrer gerufenen Dämonen zu verhindern, dass Ninetjer weiter vordringen konnte. Wieder erschien ein höhnisch belustigtes Grinsen in Ninetjers Gesicht, während er die Gruppe seiner Gegner betrachtete. Sie schienen tatsächlich der Ansicht zu sein, ihn besiegen zu können. Dabei hatten sie den Augenblick, den er ihnen großzügig geschenkte hatte, bereits ungenutzt verstreichen lassen. Standen noch immer still und warteten offenbar darauf, dass er sich kampfbereit machte. Was für Dummköpfe. Mit einer weitausholenden Geste deutete Ninetjer eine Verbeugung an, „ich danke euch, dass ihr so geduldig auf mein Erscheinen gewartet habt. Ich versichere euch, eure Geduld wird belohnt werden. Ihr werdet staunen, was ich euch zu bieten habe.“ Diese Provokation genügte, um drei der Priester dazu zu verleiten ihre Dämonen gleichzeitig auf den unverfrorenen Eindringling zu hetzen. Dieser wich in einer spielerisch beiläufigen Bewegung zur Seite, sodass die drei Monster statt auf Ninetjer auf einander trafen, ihre Krallen, Klauen und Zähne in einander vergruben und die Priester schwächten, bevor diese ihre dämonischen Diener wieder zurückrufen und erneut angreifen lassen konnten. Die Kürze der Zeit hatte Ninetjer bereits genügt, um Uräus hinter dem Rücken der Priester aus dem festgestampften Lehmboden brechen zu lassen. Wer nicht dem Feueratem der Schlange zum Opfer fiel, bekam den geschuppten Leib zu spüren, der sie von den Füßen riss und unter sich begrub. Nur vier der Priester entkamen diesem ersten verheerenden Wüten des Schlangendämons und sandten nun ihre eigenen Monster zu einem Gegenangriff, zwei von ihnen gegen die Schlange, zwei gegen den niederträchtigen Eindringling. Ninetjer grinste nur. Es war zwar nicht ganz das, was er sich erhofft hatte, aber immerhin besser als nichts. Im nächsten Augenblick hatte er auch schon einen Dämon gerufen, der die Gestalt eines menschlichen Skeletts besaß und bizarrer Weise eine Werkzeug trug, wie es die Bauern benutzten, um das Korn zu ernten. Ninetjer genoss das erschrockene Aufkeuchen der Priester beim Anblick dieses Dämons. Es war angenehm in ihre angespannten Gesichter zu sehen und zu wissen, dass man ihnen etwas bieten konnte, was sie zuvor noch nie gesehen hatten. Während das Gerippe begann einen grotesken Tanz aufzuführen und dabei scheinbar zufällig mit seinem Werkzeug die Köpfe seiner beiden dämonischen Gegner von deren Rümpfen trennte, hatte sich Uräus erneut im Boden verkrochen. Brach an anderer Stelle wieder hervor, umschlang die beiden Priester, die ihn angegriffen hatten, mit seinem Körper, presste sie unaufhaltsam gegen einander und spie gleichzeitig eine weitere Feuersalve in die Richtung der beiden anderen verbleibenden Priester. Noch während diese in Flammen aufgingen, wandte sich der Uräus bereits wieder seinen umschlungenen Opfern zu und tötete sie, ihnen das Genick brechend, auf die gleiche Weise wie Akunemkanon. Ein wenig gelangweilt entließ unterdessen Ninetjer wieder das Skelett. Diese Begegnung war enttäuschend verlaufend. Von einer Eliteeinheit des Tjt hatte eigentlich erwartet, dass sie in der Lage wäre für bessere Unterhaltung zu sorgen. Er wandte sich bereits ab noch bevor er den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, in der Absicht den Schlosshof wieder zu verlassen und sich um die weitere Durchführung seines Planes zu kümmern. Plötzlich gruben sich scharfe Krallen in seine Schultern, während ein mächtiges Paar Flügel ihn empor trug. Ninetjer hielt sich nicht damit auf zu fluchen oder herauszufinden, wer ihn angegriffen hatte. Konzentrierte sich stattdessen darauf sich aus den Klauen des Geierdämons zu befreien, dessen Krallen sich noch immer tief in seine Schultern bohrten, während er sich weiter und weiter gen Himmel schraubte. Die Schmerzen in seinen Schultern ignorierend, packte Ninetjer mit seinen Händen die Beine des Vogels und versuchte diesen durch Schaukeln und Tritte gegen Hals und Schnabel dazu zu bewegen ihn loszulassen, ohne dass es ihm auf diese Weise gelang sich zu befreien. Im gleichen Moment als Ninetjer seine Taktik änderte und einen Skorpiondämon beschwor, schien der Geier der Ansicht zu sein, dass er ihn hoch genug getragen hatte und ließ ihn plötzlich los. Wie ein Stein stürzte Ninetjer in die Tiefe, ohne jede Möglichkeit den Sturz zu verlangsamen oder abzufangen. Er würde auf dem Boden aufschlagen und von ihm nicht viel mehr übrig bleiben als was Aasfressern als Nahrung diente. Ein irres Lachen entrang sich seiner Kehle. So einfach würde er es ihnen nicht machen. Er hatte immer noch Uräus. Sobald er nur noch wenig mehr als die Körperlänge des Schlangendämons vom Boden entfernt war, rief er den Dämon bei seinem Namen, der innerhalb von Sekundenbruchteilen erschien, sich mit seinem mächtigen Leib vom Boden abstieß, sich im Sprung um seinen Wirt wickelte und im nächsten Augenblick wieder auf dem Boden auftraf, für einen Moment betäubt liegen bleibend. Noch während der Uräus sich um ihn geschlungen hatte, hatte Ninetjer einen weiteren Dämon beschworen, der nun in stoischem Gleichmut zwischen dem schlangenverpuppten, selbsternannten Vernichter Kemets und seinem Angreifer stand. In den Händen hielt dieser halbmenschlich aussehende Dämon eine große, polierte Kupferscheibe, mit der er das Sonnenlicht reflektierte. Genau in die Augen des erneut angreifenden Geierdämons, der verärgert aufschrie und ein wenig zurückwich, um es aus einem anderen Winkel erneut zu versuchen. Während sich zwischen dem Geierdämon und dem Mischwesen ein ermüdendes Hin und Her von Angriff und Abwehr entwickelte, arbeitete sich Ninetjer aus den Schlingen des Schlangenleibs heraus. Angeschlagen aber noch nicht besiegt beachtete er die beiden kämpfenden Dämonen nicht weiter, sondern sah sich nach demjenigen um, der ihn so unerwartet angegriffen hatte. Als er die Person schließlich entdeckte, die mit vor Anspannung blassem Gesicht und einer Haltung dastand, die von unumstößlicher Entschlossenheit kündete, begann Ninetjer erneut abfällig zu grinsen. Da hatte er sich tatsächlich von einer gefühlsdusligen Schwangeren übertölpeln lassen, die entschlossen war Rache zu nehmen für den Tod ihres Bruders. Glaubte sie allen Ernstes, dass sie dazu in der Lage war? Ninetjer hätte bei diesem Gedanken gern schallend gelacht. Allein seine Rippen schmerzten ihn doch etwas mehr als angenehm gewesen wäre. So wurde das hämische Grinsen nur noch ein wenig breiter und perfider, während er sich großzügig entschloss ihr zu zeigen, dass allein der Wunsch nach Rache noch lange nicht genügte, sie auch zu bekommen. Was zählte waren nicht belanglose Gefühle, was zählte waren einzig allein Stärke und Macht. Nur der Stärkste entschied darüber, wer ein Recht hatte zu leben oder zu sterben. Ninetjer hatte diese äußerst nützliche Lektion im Alter von zehn gelernt, als seine Familie, sein Dorf auf Befehl des letzten Herrn der beiden Länder vernichtet worden waren, als Falle benutzt für einen übermächtigen Feind. Noch während Ninetjer mit nachdenklichem Blick seine Gegnerin fixierte, die Arme scheinbar nachlässig und unbesorgt verschränkt, hatte Isis sich entschieden die fruchtlosen Versuche des Geierdämons zu beenden und das Wesen entlassen. Interessiert wartete Ninetjer darauf, was sein Gegenüber als Nächstes tun würde. Er gestand ihr zu, dass sie zumindest mehr Talent im Dämonenkampf zu haben schien, als diese lachhafte Truppe von Priestern, die Akunadin als Eliteeinheit hatte heranbilden wollen. Im nächsten Moment begann der Boden unter den gespaltenen Hufen des dämonischen Schutzschildes zu erodieren, in sich zusammenzusinken, eine Kuhle zu bilden, die beständig tiefer und breiter wurde. Versuchte sich der Dämon durch einen Sprung zur Seite zu retten, gab der Boden unter seinen Füßen noch schneller nach, nahm ihm die notwendige Sprungkraft, um außer Reichweite der unterirdischen Räuber zu gelangen. Kaltblütig und unbeteiligt sah Ninetjer zu, wie sein Dämon schließlich in dem entstandenen Sandtrichter gefangen war, sich erfolglos bemühend herauszugelangen. Und noch immer unternahm Ninetjer keinen Versuch dem Dämon zu helfen, sondern starrte nur in nüchterner Wissbegier hinab in den Kegel, neugierig zu erfahren, um was für eine Art Dämon es sich bei diesen Wesen handeln mochte. Im gleichen Augenblick als mehrere länglich-runder, rötlicher Tiere mit riesigen Kieferzangen ihre Beute angriffen, bewegte sich der Uräus, der nur wenige Sekunden zuvor noch betäubt am Boden gelegen hatte, mit blitzartiger Geschwindigkeit an seinem Wirt vorbei und stürzte sich auf etwas, das sich hinter diesem befand. Überrascht fuhr Ninetjer herum. Die Augen zu Schlitzen verengt, erhaschte er gerade noch einen Blick auf ein seltsames Gebilde aus mehreren aufeinander stehenden Tierleibern, deren malmende Kieferbewegungen und das unruhige Bewegen der borstigen Beine ein Geräusch erzeugten, das in merkwürdigem Gegensatz zu dem Lärm stand, der aus den Straßen der Stadt drang. Dann hatte der Uräus den leicht schwankenden Turm bereits eingerissen. Offenbar war das genau das gewesen, was die Ameisenlöwen damit beabsichtigt hatten, denn wie ihre Artgenossen in dem Sandtrichter über den Schafmenschen herfielen, begruben die zuvor zu einer Pyramide aufgetürmten Spinnentiere nun den Uräus unter sich, begannen ihre Kiefer in ihm zu verbeißen und ihr Gift zu injizieren, um ihn schließlich zu verzehren. Die Folgen dieses doppelten Angriffs bekam Ninetjer unmittelbar zu spüren. Das Menschenschaf zehrte seine Lebenskraft, schwächte ihn, verursachte Hunger, Durst und schließlich überwältigende Übelkeit gepaart mit Schwindel und schlechter werdender Sicht. Aber das war nicht das Schlimmste, diese Qual ließ sich leicht dadurch beenden, dass man den Dämon dahin zurückschickte, woher er gekommen war. - Ein wütend frustriertes Klappern unzähliger Kieferzangen war die Reaktion auf das Verschwinden dieser bereits sicher geglaubten Mahlzeit. - Schlimmer als die vorübergehende Schwäche seines Ka, war der Angriff auf Uräus, der einem direkten Angriff auf die Seele selbst gleichkam. Starb der die Seele eines Menschen bewohnende Dämon, so starb auch sein Wirt. Wurde einer von ihnen verletzt bekam diese Verletzung auch der Andere dauerhaft zu spüren. Der Preis, der zu zahlen war, wenn man größere Macht erlangen wollte, als es mit der einfachen Beschwörung eines Dämons möglich war und der Grund, warum die wenigstens verrückt genug waren einen solchen Pakt freiwillig einzugehen. Ninetjer blieb nicht viel Zeit, wollte er aus diesem Zweikampf noch als Sieger hervorgehen und sich nicht kurz vor dem Ziel geschlagen geben. Geschlagen von einer einzigen Frau. Mühsam nur gelang es dem weißhaarigen Mann dieses Mal seine Lippen zu einem grimmigen Lächeln zu verziehen, während nun auch unter seinen Füßen begann sich der Boden aufzulösen. Mit einer letzten Kraftanstrengung und einem heftigen Aufbäumen gelang es dem Uräus sich von seinen Angreifern zu befreien und in seinen ureigenen Zufluchtsort zurückzukehren, um sich zu erholen. Zeit für ein wenig gute, alte Handarbeit. Dämonen waren sicher mächtige Waffen, aber diejenigen, die sich ihrer bedienten, vergaßen nur zu gern, wie verletzlich sie selbst dennoch waren. Überzeugt, dass ihre Gegner nicht auf den Gedanken kämen, statt der Beschworenen die Beschwörer anzugreifen. Kannten offenbar nicht die simple Tatsache, dass es in Kampf und Krieg keine Regeln gab. Erlaubt war, was funktionierte. Denn was zählte, was das eigene Überleben. Wer überlebte, hatte nicht nur Recht. Er konnte auch bestimmen, wie ein Geschehen abgelaufen war, indem er es so erzählte, wie er es für richtig hielt. Halb blind vor Entkräftung und geschwächt durch die Wunden, die Uräus zugefügt worden waren, taumelte Ninetjer scheinbar ziellos durch die Gegend, sich dabei dem Teil der Mauer nähernd, den er bei seiner Ankunft zerstört hatte. Dort angekommen ließ er sich entkräftet auf einen der zerbrochenen Steine fallen, augenscheinlich resigniert auf sein Ende wartend. Nur die beiläufig tastenden Hände wollten nicht zu diesem Bild passen und so trieb Isis ihre kleine Armee aus Ameisenlöwen an, die Sache endlich zu beenden. Ein kurzes Rascheln und Klappern war die Antwort, bevor die Spinnentiere im Erdreich verschwanden, wo sie sich leichter fortbewegen konnten und innerhalb von Augenblicken begannen den gesamten Bereich der geborstenen Mauer zu untergraben und absacken zu lassen, sodass nur zu bald die Mauerbruchstücke über dem geschlagenen Gegner zusammenbrechen und diesen unter sich begraben würden. Seinem Schicksal, in Gestalt von hungrigen Ameisenlöwen, rettungslos ausgeliefert. Ohne sich von diesem Treiben verunsichern zu lassen, suchte Ninetjer weiter nach einer ganz bestimmten Waffe. Schließlich bekam er zu fassen wonach seine Hände getastet hatten: Ein in der Mitte geborstenes Stück Rundholz, das einst bei der Herstellung der Mauer irgendeine Funktion erfüllt haben mochte und schließlich nur vergessen worden war oder Teil eines Schutzzaubers gewesen war, nun aber durch Ninetjer raue Art Anzuklopfen ein unregelmäßig gezacktes Ende aufwies. Trotz der unmittelbaren Nähe, in der sich sein Opfer befand, würde es dieses Mal nicht einfach werden es tatsächlich zu treffen. Seine Sicht war noch immer eingeschränkt, sein Körper sowohl von dem direkten Angriff des Geierdämons auf ihn selbst als auch von den Angriffen auf den Schafmensch und Uräus geschwächt, dazu kam das immer stärker werdende Absacken des Bodens unter seinen Füßen. Dennoch war Ninetjer sicher, sein Ziel nicht zu verfehlen. Er war nicht umsonst der beste Speerwerfer des königlichen Heeres gewesen, bevor er dieses verlassen und im Auftrag Akunadins begonnen hatte Unruhe zu stiften. Obwohl das Holz sich weder von seinem Gewicht noch von seiner Dicke tatsächlich für einen Speerwurf eignete, gewann Ninetjer allein durch die Berührung mit dieser behelfsmäßigen Waffe etwas von seiner Überlegenheit zurück, während er das Stück Holz zwischen den restlichen Mauertrümmern hervorzog, ausholte und noch in der gleichen Bewegung den geborstenen Pfahl in Richtung seiner Gegnerin schleuderte. Sich im nächsten Moment mit einem ungelenken Hechtsprung und nur sehr knapp vor seinen unterirdischen Angreifern in Sicherheit bringend, erst jenseits des neu entstandenen Grabens überprüfend, ob er auch tatsächlich getroffen hatte. Er hatte. Die Wucht des Pfahls hatte sie ein wenig nach hinten taumeln lassen, bevor sie zusammen gebrochen war, eine Hand in dem lächerlichen Versuch das Ungeborene zu schützen auf ihrem leicht geschwollenen Bauch über dem wie ein mahnender Finger das längere Ende des Rundholzes aufragte. Auch die unermüdlich grabenden Räuber hatten bemerkt, dass diejenige, die sie gerufen hatte, nicht mehr in der Lage war ihnen zu befehlen. Ihnen viel mehr schutzlos ausgeliefert war; und so änderten sie das Ziel ihres Angriffs, begannen um den toten Körper der jungen Frau eine Grube auszuheben, die sich schnell vergrößerte. Mit einem Grinsen nahm Ninetjer die Ironie zur Kenntnis, dass seine Angreiferin nun von genau den Wesen vertilgt werden würde, die sie gerufen hatte, um ihn zu vernichten. Ninetjer hatte nicht vor, zuzusehen wie der Schwarm sich an dieser leichten Beute gütlich tat, er hatte Besseres zu tun. Zunächst einmal musste er selbst Hunger und Durst stillen, um wieder zu Kräften zu kommen - und um seinen Sieg zu feiern. Zielstrebig wandte sich der weißhaarige Mann ab und verschwand in den Straßen der Stadt, ohne auf das kleine Mädchen zu achten, dass in diesem Augenblick aus dem Schatten des Palasts gelaufen kam und schreiend zu seiner Mutter rannte. Still und neugierig hatte Mana aus einer Zimmerecke heraus ihre Mutter beobachtet, die auf der Seite liegend, den Rücken der Tür zugewandt mit leicht angezogenen Beinen auf ihrem Bett lag, ohne sich zu regen oder auf die Bemühungen einzugehen mit denen Hapi versuchte sie zu trösten und zu umsorgen. Schließlich war die Nebet per gegangen, um anderen Pflichten nachzukommen und Isis ein wenig Ruhe zu gönnen. Vorsichtig hatte Mana noch einen Moment gewartet, bevor sie sich vorsichtig zu ihrer Mutter schlich, als täte sie damit etwas Verbotenes. Sie spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, ganz und gar nicht stimmte, wollte herausfinden was es war und hatte doch gleichzeitig ein wenig Angst davor. So hockte sie sich schließlich neben dem Bett auf den Fußboden, schob ihre kleine, heiße Hand in die kühle, leblose ihrer Mutter und wartete. Das Gesicht ihrer Mutter war vom Weinen verquollen und gerötet, ihr Blick verschleiert, sie schien Mana nicht einmal zu bemerken, während sie blicklos vor sich hin starrte, auf etwas in ihrem Inneren konzentriert. Erst als das kleine Mädchen flüsternd fragte: „Mama?“, sah Isis ihre Tochter an, begann den Druck der kleinen Hand in ihrer zu erwidern, strich mit der freien sanft über Kopf und Wange ihres kleinen Mädchens, schluckte das erneut aufsteigende Schluchzen und erklärte leise: „Mahaado ist tot.“ Ungläubig starrte Mana ihre Mutter an und schüttelte dann heftig den Kopf, gleich darauf beteuernd, dass ihr Onkel ganz bestimmt nicht tot sein konnte, schließlich hatte er versprochen mit ihr zu spielen, wenn die Krönung vorbei war. Ihr Onkel war niemand, der einmal gegebene Versprechen einfach brach. Außerdem war er stark, nicht ganz so stark wie Papa, aber er würde bestimmt nicht einfach so sterben, erst Recht nicht, wenn sie vorhatten auszureiten. Ohne ihrer eifrig argumentierenden Tochter zu widersprechen, zog Isis Mana schließlich sanft zu sich heran, bis das Mädchen zusammen mit ihr auf dem Bett lag, die Arme um sie geschlungen, das Köpfchen an ihrem Hals geborgen, während sie diesem noch immer beruhigend zuraunte, warum der Bruder ihrer Mutter gar nicht tot sein konnte. Mit einem schmerzlichen Lächeln drückte Isis ihre Tochter fest an sich und ihr einen Kuss auf den Hinterkopf gebend, während ihr wieder Tränen über das Gesicht rannen. „Ich werde dafür sorgen, dass er nicht davon kommt“, ein tonlos geflüstertes Versprechen an die duftende Kopfhaut ihrer Tochter. „Mama, du redest komisch. Warum sollte Mahaado denn weglaufen, dann könnte er doch nicht mehr bei uns sein.“ Isis antwortete darauf nicht, barg nur erneut den Kopf an der spärlichen Kinderhaartracht ihrer Tochter, ließ sich von ihrer Nähe und vertrauensvollen Überzeugung einlullen, beruhigen, trösten. Gab sich zumindest eine Weile der Vorstellung hin, dass Mana Recht hatte und sie diejenige war, die sich irrte. So lagen sie eine Weile still beieinander, Mana allmählich eindösend, während ihre Mutter wieder ihren eigenen Gedanken nachhing; ihre Verzweiflung nach und nach von ruhiger Entschlossenheit abgelöst wurde. Mitten in diese beruhigende Stille barst plötzlich lautes Krachen und Dröhnen, das nicht nur Isis und ihre Tochter erschrocken hochfahren ließ, sondern auch die anderen Bewohner des Harems aufschreckte und in nervöser Hast und ängstlicher Besorgnis herumeilen ließ, zusammenraffend, was man in der Eile zu fassen bekam, um sich vor den Rebellen in Sicherheit zu bringen, die vermutlich jeden Augenblick den Palast stürmen würden. Mochten die Götter wissen, was sie mit dessen Bewohnern vorhatten. Während Hapi zunächst ihre Untergebenen scharf zurecht wies, Ruhe zu bewahren und nicht an den Fähigkeiten des jungen Königs und seiner Soldaten zu zweifeln, um sich anschließend der sehr viel schwierigeren Aufgabe zu zuwenden die aufgeregten, zum Teil hysterischen Haremsdamen zu beruhigen, zum Bleiben und Abwarten zu bewegen, erhob sich Isis von ihrem Lager, befahl Mana zu bleiben wo sie war und auf ihre Rückkehr zu warten, küsste das kleine Mädchen auf die Stirn und verließ gleich darauf das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen. Mit leicht schräg gelegtem Kopf sah Mana, noch immer auf dem Bett sitzend, ihrer davoneilenden Mutter nach, wartete einen Moment und schlich ihr dann leise und unbeachtet hinterher. Neugierig zu sehen, warum es ihre Mutter auf einmal so eilig hatte. Es gelang ihr unentdeckt zu bleiben, während sie ihre Mutter durch den Palast bis in den Vorhof verfolgte, blieb jedoch erschrocken im Schatten des Eingangs zurück, als sie die zerstörte Palastmauer und die scheinbar achtlos wie Puppen hingeworfenen Menschenkörper sah. Während sie noch in einer Mischung aus Grausen und Faszination auf diesen Anblick starrte, hatte ihre Mutter einen Geierdämon gerufen und diesen den einzigen Mann angreifen lassen, der noch aufrecht stand. Mana verstand nicht, warum ihre Mutter das tat. Immerhin hatte der Mann weiße Haare, so wie Kisara – und Kisara war wirklich nett, wenn man davon absah, dass sie ständig versuchte Mana dazu zu bringen zu tun, was sie gar nicht wollte. Unterdessen hatte sich der weißhaarige Mann aus den Krallen des Geierdämons befreit. Gespannt beobachtete Mana, wie der Mann wie ein Stein in die Tiefe stürzte und gerade noch rechtzeitig von einer riesigen Schlange aufgegangen wurde. Begeistert von diesem waghalsigen Kunststück klatschte das Mädchen in die Hände, als wäre das Ganze nur ein Schaukampf, abgehalten zu ihrer persönlichen Unterhaltung. Dann kam ein Kampf zwischen dem Geierdämon und einem komisch aussehenden Mann, der halb Mensch halb Schaf war und die ganze Zeit mit einem Spiegel herumfuchtelte. Das war nicht sehr spannend. Aber dann ließ sich ihre Mutter etwas Neues einfallen. Die Käfer sahen furchtbar hässlich aus, mit ihren riesigen Zangen, den zu kurzen Beinen und den ganzen Haaren. Aber sie waren in der Lage sich zu einer riesigen Pyramide aufzurichten – und das sah ziemlich lustig aus. Aber der Schlange schien das nicht zu gefallen, denn die schoss plötzlich vor und machte die Käferpyramide einfach so kaputt. Mana schnalzte missmutig mit der Zunge, gleichzeitig enttäuscht und verärgert die Stirn runzelnd. Blöde Schlange. Das fanden die Käfer offenbar auch, denn die begruben den Störenfried regelrecht unter sich, sodass Mana nicht erkennen konnte, was sie als nächstes taten. Unterdessen war der Schafsmann verschwunden und da wo er gestanden hatte, klaffte nun eine Senke im Boden, aber da das nicht weiter interessant war, wandte das kleine Mädchen ihre Aufmerksamkeit lieber dem weißhaarigen Mann zu. Es schien ihm nicht gut zu gehen, vielleicht hatte er zu viele Honigdatteln gegessen. Mana verzog mitfühlend das Gesicht, als sie daran dachte, wie ihr damals der Bauch davon weh getan hatte. Daran, dass Kisara sie davor gewarnt hatte zu viele auf einmal zu essen, dachte sie nicht. Der weißhaarige Mann atmete mit weit geöffnetem Mund und sein Gesicht hatte die Farbe von schlechter Milch angenommen. Er wirkte verkrümmter, in sich zusammengesunken. Erinnerte Mana an eine alte Eselsfeige, nur, dass ein Baum nicht blind herumtaumeln würde. Zumindest nicht, wenn ihm jemand dabei zusah. Der schwankende Mann hatte sich inzwischen auf eines der herausgebrochenen Mauerteile gesetzt und schien aufgeben zu wollen. Stolz sah Mana zu ihrer Mutter hinüber, die dieses Duell eindeutig gewonnen hatte. Jetzt ging es ihr doch bestimmt wieder besser. Und wenn Mahaado erst wieder da war und er sich ganz genau angehört hatte, wie Mama diesen Zweikampf gewonnen hatte, würde sie doch auch wieder lächeln können. Neugierig wartete das kleine Mädchen ab, wie es nun weiter gehen würde, sicher, dass ihre Mutter sich jeden Moment herumdrehen und nicht mehr so schrecklich traurig aussehen würde wie noch vorhin im Schlafzimmer. Im nächsten Moment geriet die Welt aus den Fugen. Sie knirschte nicht einmal dabei oder gab sonst eine Warnung von sich. Sie hörte einfach von einem Moment zum anderen auf in Ordnung zu sein. Starr vor Schreck starte Mana auf die Stelle, wo eben noch ihre Mutter gestanden und zu dem sitzenden Weißhaarigen gesehen hatte. Jetzt lag sie am Boden mit einem riesigen Stück Holz im Bauch. Heftig schüttelte Mana den Kopf, das konnte nicht sein. Das Bild stimmte einfach nicht, war nur ein Hitzetrugbild, wie die manchmal verschwommen an einem Wasserloch trinkenden Tiere. Ihre Mutter hatte gewonnen, wie konnte sie da jetzt tot am Boden liegen?! „Mama!“, ein gellender Schrei, von dem Mana nicht einmal merkte, dass sie ihn ausstieß, während sie plötzlich weinend losrannte, zu ihrer Mutter lief, neben ihr nieder kniete und sie am Arm schüttelte, unter Tränen befehlend, bittend, bettelnd ihre Mutter solle aufstehen und irgendetwas sagen, das ihr versichern würde, dass alles in Ordnung wäre. Mana bemerkte nicht, wie der Boden unter ihr und ihrer Mutter langsam wegzusacken begann. Achtete nicht darauf, zu sehr in ihrem Grauen gefangen. Und selbst wenn sie es bemerkt hätte, wäre es für sie doch ohne Bedeutung gewesen. Konnte sie doch ihre Mutter nicht einfach allein lassen, wenigstens nicht bis ihr Vater kam und sagen würde, was zu tun war. Plötzlich spritzte rings um sie der gelöste Sand nach oben und fiel in der nächsten Sekunde als trockener, staubiger Regen wieder herab, während Mana von den bläulich weißen Klauen eines riesigen Untieres fortgetragen wurde, das sie gepackt hatte. Das kleine Mädchen schrie und strampelte, versuchte sich zu wehren, sich loszureißen, um wieder an die Seite ihrer Mutter zurückkehren zu können und war dem Wesen doch machtlos ausgeliefert, das sie ebenso plötzlich wieder fallen ließ, wie es sie gepackt hatte und zu der Senke zurückkehrte, an derem tiefsten Punkt sich Manas Mutter befand. Mana sah dass ebenso wenig wie die erneute Salve blendend grellen Lichts, die das geflügelte Echsenwesen spie, um die Ameisenlöwen abzuhalten sich an dem leblosen Körper gütlich zu tun. Sah nicht, wie der Dämon auch den Leichnam ihrer Mutter mit seinen Klauen packte und von dem Sandtrichter fort trug, ihn in einiger Entfernung ablegend, anschließend auch die letzten der verblieben Spinnendämonen vernichtend und sich gleich darauf auflösend, indem er in die Seele desjenigen zurückkehrte, der Mana mit ausgestreckten Armen vor sich hielt und dem nach wie vor schreienden und strampelnden Mädchen herrisch befahl ruhig zu sein. Mana dachte gar nicht daran diesem Befehl zu gehorchen, sondern wand sich nur noch heftiger in dem Versuch frei zu kommen. Missmutig betrachtete Seth das sich energisch wehrende Etwas in seinen Händen. Er hätte es gern geschüttelt, damit es endlich still war. Aber er befürchtete, dabei etwas kaputt zu machen, so zerbrechlich wie das Ding wirkte. Andererseits wusste er auch nicht recht, was er sonst tun sollte. Er hatte es bisher nie mit Kleinkindern zu tun gehabt und eigentlich auch nicht vor daran etwas zu ändern. Zögernd, misstrauisch ahmte er schließlich nach, was er bei anderen Erwachsenen mit weinenden Kindern gesehen hatte und barg das schluchzende Mädchen widerwillig an seinem Oberkörper. Allerdings darauf verzichtend albernes Zeug zu gurren. Stattdessen knurrte er nur leise: „Hör auf zu heulen, das hilft nicht weiter“, um nach einer kurzen Pause, vielleicht in Gedenken an seine eigene Mutter, etwas sanfter hinzuzufügen: „Dir wird nichts passieren.“ Mana schluchzte, hickste und schniefte darauf nur trotzig, anschließend ihre Rotznase an der Kleidung des Priesters abwischend, den Kopf an seine Schulter lehnend, die Arme schützend an ihrem Körper gezogen und sich zumindest soweit beruhigend, dass sie das Schreien und Weinen weitestgehend einstellte. Seth warf noch einen zweifelnden Blick auf das Kind in seinen Armen und machte sich anschließend erneut auf den Weg zu Shimon, dem er erst kurz zuvor den Körper Meresankhs überlassen hatte, damit dieser sich um alles kümmerte. Jetzt hoffte der junge Priester, dass der alte Arzt auch wusste, was man mit einer heulenden Halbwaise anfing und er sich zudem auch um Isis kümmern würde. Ihm selbst würde es wohl überlassen bleiben Atemu und Karim ausfindig zu machen und ihnen die Nachricht über die jüngsten Todesfälle zu überbringen. Etwas auf das er sich alles andere als freute. Davor drücken würde er sich dennoch nicht. Sie hatten die ganze Stadt nach ihm abgesucht. Jedes Dach, das über die anderen hinausragte inspiziert und waren doch nicht fündig geworden. Entweder hatte Seth sich geirrt, was angesichts der erfolglosen Suche immer wahrscheinlicher wurde, oder Ninetjer war ihnen noch immer eine Nasenlänge voraus; heimlich über sie triumphierend. Eine Vorstellung, die Atemu die Fäuste fester um die Zügel seines Pferdes schließen ließ, sodass dieses nervös schnaubte und den Kopf nach hinten warf, um das unangenehme Ziehen zu mildern. Trotz der patrouillierenden Einheiten von Soldaten, die sich bemühten, für Ruhe zu sorgen, herrschte in der Stadt noch immer Aufruhr; wurden der König und sein Befehlshaber immer wieder durch verstopfte Straßen aufgehalten, hin und wieder von aufgebrachten Stadtbewohnern beleidigt, angeschrien er solle tun, was der Auftrag seines Amtes war: Kemet zu schützen. Er wurde von Verzweifelten angefleht zu helfen; und ein-, zweimal versuchte tatsächlich jemand den jungen Herrscher anzugreifen. Karim und seine Leute sorgten so gut sie konnten für den Schutz des Königs, verhindern dass er sah und hörte, konnten sie nicht. Das Gesicht des Königs war im Verlauf der Suche immer düsterer, verschlossener geworden, angespannt saß er auf seinem Pferd und ließ den Blick suchend über die Menge gleiten. Dann entdeckte er ihn. Er lehnte träge an einer geöffneten Haustür einen Weinkrug in der Hand, im einen Moment noch fast schon verträumt dem wirren Treiben auf der Straße zusehend, im nächsten seinen Beobachter bemerkend und ihm fröhlich grinsend zuprostend, ohne Anstalten zu unternehmen vor ihnen zu fliehen. Wut schnürte Atemu die Kehle zu, ließ ihn das Chaos in den Straßen vergessen, verengte seine Wahrnehmung einzig und allein auf diesen Elenden, der es gewagt hatte seinen Vater zu morden, seinen Freund zu Tode zu foltern, die Ruhe und Sicherheit des Lebens zu zerstören, das Atemu bisher gekannt hatte. Der König war bereits von seinem Pferd gestiegen und dabei sich grob durch die Menge zu drängeln, die ihn inzwischen umzingelt hatte, Forderungen stellte, Antworten verlangte und völlig unbeachtet blieb, noch bevor Karim auch nur dazu kam Luft zu holen, um ihn von diesem Vorhaben abzuhalten. Als der Befehlshaber entdeckt hatte, auf wenn der Erbe des Horus zusteuerte, sparte er sich alle mahnenden Worte, beeilte sich nur an die Seite Atemus zu gelangen, ihm Geleitschutz zu geben und die Gewissheit, dass er gegen den Mörder Akunemkanons und Mahaados nicht allein stand. Ungerührt beobachtete der weißhaarige Mann wie sich der König und sein General näherkamen, ohne sich von dem Türstock, an dem er lehnte zu lösen, nur einmal den Weinkrug in seiner Hand zum Mund führend. Beim Näherkommen registrierte Atemu die unnatürlich blasse Haut Ninetjers, die dem anscheinend unverrückbar ins Gesicht gemeißelten hämischen Grinsen und dem fanatischen Glanz seiner Augen ebenso wenig Abbruch taten, wie die dunklen Flecken an den Schultern seiner Kleidung. Der zurückzulegende Weg schien sich endlos zu strecken und war doch viel zu kurz. Denn kaum hatte Atemu seinen Widersacher erreicht, wurde ihm mit brennender Klarheit bewusst, dass er keine Ahnung hatte, was er eigentlich tun sollte. Er hatte die blasse Überlegung im Hinterkopf gehabt, dass er mit diesem Mann reden würde. Ihm seine ganz Wut und Verachtung entgegenschleuderte und Ninetjer daraufhin reumütig um Vergebung bat, sich willfährig jeder Strafe ergebend, die der König über ihn verhängte und so alles wieder in Ordnung kam. In diesem Augenblick jedoch wurde dem Erben des Horus bewusst, dass das nur ein eitler Kindertraum gewesen war. Dieser vor Selbstbewusstsein glühende, von tief verwurzeltem Hass zerfressene Mann vor ihm würde nichts, aber auch rein gar nichts auf irgendetwas geben, was ein anderer zu ihm sagte. Er hielt es nicht einmal für nötig den Herrn der beiden Länder und Hüter der Maat in diesem Moment überhaupt zur Kenntnis zunehmen. Stattdessen hatte er sich im gleichen Augenblick, als ihn General und König erreichten, an Karim gewandt, diesen mit den Worten begrüßend: „Ich kann nicht sagen, dass ich mich freue dich wiederzusehen. Aber um der guten alten Zeiten willen…“ „Es gab keine guten Zeiten“, wurde er grob von Karim unterbrochen, der in angespannter Aufmerksamkeit sein Gegenüber beobachtete, die Hand vorsorglich bereits auf den Griff seines Dolches legend. „Wenigstens etwas, indem wir einer Meinung sind“, erwiderte Ninetjer ungerührt und fügte übergangslos hinzu: „Mein Beileid zum Tod deiner Frau und eures Kindes.“ Es klang nicht, als würde er es tatsächlich bedauern. Die Hand um den Dolchgriff spannte sich an, „was hast du mit ihnen gemacht?“ Es kostete Karim jedes bisschen Selbstbeherrschung diese Frage in halbwegs ruhigem Ton zu stellen, ohne direkt auf seinen alten Rivalen loszugehen. „Du scheinst noch immer keine sehr hohe Meinung von mir zu haben, Ramesa“, stellte Ninetjer unbekümmert fest. „Ich habe auch keinen Grund dazu“, konterte Karim durch zusammengepresste Zähne und erntete dafür ein Grinsen, als wäre er ein dummer Schuljunge, dem es zum ersten Mal gelungen war einen Fünfzeiler fehlerfrei herzusagen. Im nächsten Moment spürte Ninetjer auch schon Karims Messer an seiner Kehle, während ihn der General leise, aber nachdrücklich aufforderte zu erklären, was genau mit seiner Familie geschehen war. Statt darauf zu antworten, stellte Ninetjer nur mit einem abfällig höhnischen Lächeln fest: „Es war ein Fehler dir dieses Amt zu übertragen, du bist unfähig. Selbst nach all diesen Jahren unterschätzt du immer noch deine Gegner.“ Statt zu antworten bewies Karim in einem kurzen Handgemenge, in dem der Weinkrug auf dem Boden zerbrach, wie sehr sein Spötter sich getäuscht hatte. Den weißhaarigen Mann nun Bauch voran mit auf den Rücken gedrehten Armen gegen den Türstock drückend, an dem dieser noch kurz zuvor gelehnt hatte, wiederholte Karim seine Forderung zu erfahren, was mit Isis und Mana geschehen war. Ninetjer lachte auf, „das Kind war noch nicht mal geboren und ihr habt ihm schon einen Namen gegeben?! Wie rührend. Das Totengericht wird ihm sicher besonders wohlgesonnen sein.“ Er hatte kaum ausgesprochen als wie aus dem Nichts Uräus auftauchte und versuchte Karim zu töten. Der hatte mit etwas derartigem gerechnet und brachte sich mit einem schnellen Satz zur Seite in Sicherheit. Offenbar war genau das Ninetjers Ziel gewesen, denn kaum spürte er wie der Druck Karims auf seinen Rücken nachließ hechtete er ebenfalls zur Seite, im Sprung seinen eigenen Dolch ziehend und diesen im nächsten Augenblick dem König Ägyptens so dicht an die Kehle haltend, dass eine feine Linie hellen Bluts am Hals des Herrschers herab zu rinnen begann. Bewegungslos stand Karim jenseits der Schwelle des Hauses und sah auf den gefangenen König. Er hatte versagt. Er hatte den Erben des Horus nicht seiner Aufgabe gemäß beschützt. Ninetjer schien zu wissen, was in seinem Gegenüber vorging, denn er grinste nur zufrieden, während er langsam, den König an dessen Haaren ziehend und ihm weiter das Messer an die Kehle drückend, zurückwich. Hastig suchte Karims Blick die Straße nach seinen Leuten ab, einer von ihnen musste doch bemerkt haben, was geschehen war und dem König zu Hilfe eilen. Doch da, wo bis eben noch eine brodelnde Masse aus Menschen gewesen war, herrschte nun beängstigende Leere. War nur noch der stärker werdende Geruch von Rauch wahrzunehmen, das lauter werdende Geräusch von Häusern die unter der Sturmhitze von Flammen ächzten und in sich zusammenbrachen und immer wieder gellende Schreie der Angst. Und vor diesem Hintergrund Atemu, mit starrem Blick, der puppenhaft dem Schmerz an Kopf und Kehle gehorchte und der ewig grinsende, hämische Ninetjer, der wusste, dass er gewonnen hatte. Während dieser sich rückwärts bewegte, den König mit sich zerrend, pfiff er ein kurzes Signal auf das einer der Rebellen erschien und schweigend abwartete, was von ihm verlangt würde. Ninetjer wies mit dem Kopf auf den noch immer bewegungslos dastehenden Karim und befahl: „Stich ihn ab. Aber mach es gründlich. Wir wollen schließlich nicht, dass er das Wiedersehen mit seiner Frau verpasst.“ Mit ausdruckslosem Gesicht verneigte sich der Mann nur leicht und lief anschließend in gemächlichem Tempo auf Karim zu, als würde es sich um etwas so alltägliches wie die Schlachtung eines Tieres handeln. Ninetjer unterdessen nutzte die Gelegenheit zu einer letzten Spitze gegen seinen ehemaligen Rivalen. „Deine Frau war wirklich unterhaltsam - und sehr talentiert, das muss man ihr lassen. Sie hat nicht ein einziges Mal geschrien. Das hast doch sicher du ihr beigebracht.“ Schweigend presste Karim die Zähne aufeinander, unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballend. Er wusste nicht, was mehr schmerzte: Die Tatsache, dass Isis tot war und er sie nicht hatte beschützen können oder die Vorstellung das sie von diesem widerwärtigen Aas vergewaltigt worden war. Und was war mit Mana? Hatte seine Tochter ebenfalls sterben müssen? Lebte sie noch und hatte gesehen, was ihrer Mutter angetan worden war? Die höhnische Anerkennung in den letzen Worten Ninetjer ließ ihn völlig unberührt, er hatte sie nicht einmal richtig wahrgenommen, zu beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken und Überlegungen. Er würde nicht zulassen, dass es so zu Ende ging. Irgendwie würde er hier lebend herauskommen, Atemu retten und anschließend Ninetjer langsam zu Tode prügeln. Ninetjer unterdessen beabsichtigte nicht der Hinrichtung Karims zu zusehen, sondern entfernte sich zielstrebig, den Erben des Horus noch immer mit sich zerrend. Widerspruchslos gehorchte Atemu diesem wortlosen Befehl, noch immer von einer inneren Starre gefangen gehalten, die es unmöglich machte klar zu denken oder zu handeln. Erst ganz allmählich begannen Wille und Verstand wieder zu arbeiten. Verfluchte sich der junge König im Stillen selbst, dass er sich so hatte überrumpeln lassen, statt rechtzeitig einen Dämon zu rufen und die Sache zu beenden. Dann wäre er nicht gefangen genommen worden. Dann hätte er den Tod Karims verhindern können. Jetzt hatte er nicht nur seinen Vater und Mahaado verloren, sondern auch Isis und Karim. Schlimmer noch: Er hatte sie im Stich gelassen, sie enttäuscht. Und noch immer hatte er keine Idee, wie er diesen Wahnsinnigen aufhalten sollte. „Warum tust du das?“ Es war etwas schwierig zu reden, wenn einem ein Messer gegen die Kehle gepresst wurde und man gleichzeitig das Gefühl hatte, die Kopfhaut würde vom Schädel gerissen werden. „Weil ich keine Lust habe dich zu tragen. Ich könnte dich natürlich auch vorwärts treten“, Ninetjer gestattete sich ein kurzes, genüssliches Grinsen, „aber ich habe es ein klein wenig eilig, als dass ich mich mit solchen Spielereien aufhalten könnte.“ „Ich will wissen, warum du Kemet vernichten willst.“ „Warum willst du es retten?“ konterte Ninetjer gleichgültig, sah sich prüfend um und schlug dann einen unbenutzten Seitenpfad ein, der sie direkt in die Nähe eines der Stadttore brachte. „Es ist meine Pflicht als König.“ „Verstehe, die Menschen sind dir genauso gleichgültig wie mir.“ „Nein! - So ist es nicht…“ versuchte Atemu sich zu rechtfertigen, wurde aber von Ninetjer nicht beachtet, der erklärte: „Ich werde dir einen Gefallen tun und dich von allen Pflichten befreien, du darfst sogar dabei zusehen.“ „Das ist Isfet!“ keuchte Atemu in einer Mischung aus Entsetzen, Empörung und Unglaube hervor und erhielt darauf die herablassend höhnisch klingende Antwort: „Ganz so dumm scheinst du doch nicht zu sein. Isfet wird sicher erfreut sein, wenn du sie begrüßt.“ „Was hast du vor?“ Atemu konnte seine Besorgnis nicht mehr verbergen, gleichgültig ob er seinem Peiniger damit einen Gefallen tat oder nicht. „Das wirst du gleich sehen, wir sind fast da.“ Tatsächlich hatten sie inzwischen das Stadttor erreicht und verließen die Stadt gen Osten, jeder der versuchte sie aufzuhalten oder ihnen auf andere Weise in die Quere kam, wurde gnadenlos von Uräus beseitigt. Schließlich befanden sie sich etwa auf halber Strecke zwischen den beiden größten Tempeln des Amun. Weit genug von der Stadt entfernt, um jeden Fluchtversuch hoffnungslos erscheinen zu lassen, wenn man wusste, dass man von einem Dämon verfolgt werden würde. Atemu hatte auch nicht vor zu fliehen, sondern viel mehr seinen Widersacher aufzuhalten. Das, was er sich überlegt hatte, war nicht wirklich ein Plan zu nennen. Aber es war besser als nichts zu tun und einfach zu zusehen wie Kemet unterging. Ninetjer ahnte nichts von den Gedanken des Königs, steckte stattdessen das Messer fort um mit der freien Hand die kleine Statue hervorholen zu können, während er seinen Köder weiter bei den Haaren gepackt hielt, ihn zwingend Richtung Westen zu sehen. Atemu wusste nicht, worum es sich bei dieser an einen Uschebti erinnernden Figur handelte oder was Ninetjer damit vorhaben mochte, es war für den Moment auch nicht von Bedeutung. Er nutzte vielmehr die günstige Gelegenheit und ließ sich plötzlich nach vorn fallen. Seinen überrumpelten Gegner im ersten Moment mit sich ziehend, bevor dieser reflexartig die Haare des Königs losließ, um nicht mit zu Boden gerissen zu werden. Der Horuserbe hatte unterdessen die Arme von sich gestreckt und riss, sobald seine Hände den sandigen Boden berührten, seine Beine in einem akrobatisch anmutenden Kunststück nach oben, als wolle er in Zukunft auf Händen laufen. Stattdessen trafen seine Fersen gleich darauf mit voller Wucht auf den Unterkiefer Ninetjers. Noch einmal nach tretend, stand Atemu im nächsten Moment auch schon wieder aufrecht, stürmte auf den noch immer überrumpelt taumelnden Mann zu, stieß ihn zu Boden, dabei auf seiner Brust zu sitzen kommend und begann wie von Sinnen auf ihn einzuschlagen. Es war ihm gleichgültig wo seine Schläge trafen, solang es nur Haut und Fleisch des unter ihm Liegenden waren, die er traf. Schlag für Schlag rächte er seinen Vater, Mahaado, Isis, Karim und alle jene, deren Namen er nicht einmal kannte und die ausschließlich das Pech hatten Ninetjer zu begegnen. Es kam Atemu wie eine Ewigkeit vor, die er auf diesen Mörder einschlug, obwohl es doch nur Sekunden waren, die Ninetjer diesen Angriff regungslos über sich ergehen ließ. Dann begann er plötzlich schallend zu lachen. Blut rann ihm aus Nase und kleinen Platzwunden, während sich das Gesicht zu einer schauerlichen Fratze des Irrsinns verzerrte. Ein furchterregender Anblick, der Atemu innehalten ließ, starr auf die Kreatur unter sich stierend, den Schmerz seiner Hände, wo die Haut über den Fingerknöcheln unter der Wucht der Schläge aufgeplatzt war, kaum wahrnehmend, sich fassungslos fragend, was das da unter ihm für ein Mensch war. Warum lachte er immer noch? Warum schien er den Schmerz nicht einmal zu spüren? Wieso schien er das alles nur als einzigen großen Spaß zu nehmen? Atemu spürte wie Tränen der Wut ihm den Hals hoch krochen. Er hob die Faust um erneut zu zuschlagen, diesem widerlichen Kerl das Lachen aus dem Gesicht zu prügeln, ihn zu lehren dass nichts Komisches daran war, Menschen zu foltern und zu töten. Aber er kam nicht mehr dazu, seine Bewegung zu Ende zu führen. Stattdessen war im nächsten Augenblick er es, der auf dem Rücken im Wüstensand lag, Ninetjer über ihm hockend, mit den Knien die königlichen Oberarme fixierend, mit beiden Händen den göttlichen Hals zudrückend. „Ich denke, du hast genug gespielt. Isfet wird dich auch nicht verschmähen, wenn du nicht mehr atmest. Machen wir also einen Knoten in dieses Ende, damit es nicht doch noch aufdröselt.“ Atemu versuchte sich zu wehren, die Hände an seinem Hals fort zu zerren, Ninetjer von seiner Brust herunter zu stoßen. Aber seine Versuche waren aussichtslos und die Luft immer knapper. Die Gestalt über ihm und das Stück blauer Himmel, von dem sie eingerahmt wurde, verschwammen zu einem surrealen Muster wirrer Farbkleckse, musikalisch unterlegt vom rauschenden Pulsieren seines Blutes in den Ohren. Dann wurde er nicht mehr von schweren Knien an den Boden genagelt, wurde sein Hals nicht mehr von dem unbarmherzig eisernen Griff zweier Hände gewürgt. Gierig schnappte Atemu nach Luft, sich dabei verschluckend, hustend und langsam aufrichtend. Erst dann sah er sich um, wer oder was ihn von Ninetjer befreit hatte. „Karim!“ Das Sprechen tat weh, aber die Freude seinen Befehlshaber lebend wieder zu sehen, ließ diese Unannehmlichkeit vollkommen nebensächlich erscheinen. Die anderen beiden Männer achteten nicht auf den ein wenig abseits hockenden König, verbissen gegen einander kämpfend. „Du hast überlebt“, eine lapidare Feststellung, die nicht einmal überrascht klang. „Ich hoffe, du hast ihn getötet. Ich kann Versager nicht gebrauchen.“ Karim schwieg als Antwort auf jede dieser Feststellungen, sich ausschließlich darauf konzentrierend Ninetjer unter Kontrolle zu halten, um ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu töten. Ninetjer grinste. Damals hatten sie Karim statt seiner zum General ernannt, obwohl er der bessere Kämpfer war. Angeblich, weil er zu grausam, zu gnadenlos gewesen sei. Dabei hatte er stets nur getan, was nötig war, um die Macht des Königs zu sichern. Er würde die Gelegenheit nutzen und Karim ein letztes Mal beweisen, wer von ihnen beiden der bessere Krieger war. Erneut den Dämonenskorpion rufend, griff er Karim gleichzeitig an, diesem die Möglichkeit nehmend, dem giftigen Stachel des Tieres auszuweichen. Ihn vielmehr genau auf diese drohend erhobene Waffe zu treibend. Die im nächsten Augenblick von einem flinken graubraunen Tier, dessen Vorderpfoten mit langen, scharfen Krallen versehen waren, umgerissen, fachmännisch zerlegt und genüsslich verspeist wurde. Es sollte die letzte Mahlzeit werden, die der Erdmännchendämon zu sich nahm, denn kaum hatte er die ersten Bissen verzehrt, wurde er das Opfer des Uräus. Kaum hatte dieser den von Atemu gerufenen Dämon getötet, stürzte er sich auf den Gegner seines Wirtes stürzte. Eine mächtige Sykomore, die ebenso plötzlich aufgetaucht war wie der vierbeinige Dämon zuvor, hielt den Uräus auf. Machte es durch seine Wurzeln unmöglich, dass der Schlangendämon in die Erde eintauchte, um den Befehlshaber von dort aus anzugreifen. Die Tatsache nutzend, dass der Baum Karim das Zurückweichen unmöglich machte, trieb Ninetjer ihn mit einer Reihe von gezielten Schlägen und dem Gebrauch seines Messers in die Enge, einen weiteren Dämon beschwörend, der den hoheitlichen Störenfried ein wenig beschäftigen würde, bis er Zeit hatte sich mit ihm zu befassen. Womit er nicht gerechnet hatte, war die Reaktion Karims. Statt zur Seite und damit in den Rachen des Uräus auszuweichen, griff dieser seinen Gegner an, zwang ihn zurückzuweichen. Schließlich bekam Karim den Messerarm Ninetjers zu fassen und verdrehte ihn in der gleichen Bewegung so, dass der Weißhaarige zum Schutzschild gegen den Angriff des Uräus wurde. Es gab keine Möglichkeit für die Schlange den Zusammenprall noch irgendwie zu verhindern. Statt jedoch mit voller Wucht gegen ihren Wirt zu prallen, begann der Dämon sich plötzlich in eine Art gräulichgrünen, giftig aussehenden Rauchs zu verwandeln, während Ninetjer mit weit aufgerissenem Mund und verdrehten Augen, dass nur noch das Weiß der Augäpfel zu sehen war, wie gelähmt dastand. Kaum war der Rauch vollständig im Mund Ninetjers verschwunden, sackte dieser leblos zusammen. Der Dämon, dem Atemu erfolgreich Widerstand geleistet hatte, nachdem er die Sykomore gegen ein agileres Monster ausgetauscht hatte, war ebenfalls verschwunden. Angesichts der plötzlichen Ruhe, sah der König seinen General verunsichert an. „Ist es vorbei?“ Karim schüttelte den Kopf. Ninetjer lebte noch, vorbei würde es erst sein, wenn das nicht mehr der Fall war. Dem bewusstlosen Mann, der nur noch durch den Griff Karims halbwegs aufrecht stand, das Messer aus der schlaffen Hand windend, wollte der General die Sache zu Ende bringen. Und konnte es nicht. Dieser im Augenblick so wehrlos wirkende Mann hatte seine Frau getötet, deren Bruder, den König und unzählige andere Menschen. Ihn zu töten war das einzig Richtige. Aber er konnte niemanden töten, der ihm hilflos ausgeliefert war. Ninetjer sollte wissen, dass er starb und nicht einfach von einer Bewusstlosigkeit in eine andere übergehen. Es bestand die Möglichkeit, dass er sterben würde, wenn er versuchte Ninetjer zu töten, solange dieser bei Bewusstsein war. Aber lieber wollte er dies in Kauf nehmen als seine Ehre zu verlieren. Sich auf eine Stufe mit diesem Abschaum zu stellen und zu morden, was schwächer war als er. Schweigend hatte Atemu Karim beobachtet und wollte gerade den Vorschlag machen, dass sie ihn in den Palast bringen und dort gut gesichert ins Gefängnis werfen könnten, als die trügerische Ruhe zerbrach und der Wahnsinn erneut zu toben begann. Mit unglaublicher Geschwindigkeit quoll aus Ninetjers Mund der gleiche Rauch, der kurz zuvor darin verschwunden war, materialisierte sich erneut zu dem Schlangendämon, der sich gleich darauf auch schon um den Herrn der beiden Länder wickelte, ihn daran hinderte auf irgendeine Weise in das weitere Geschehen einzugreifen. Gleichzeitig tat Ninetjer das Unglaubliche: Er drehte sich zu dem hinter ihm stehenden Mann um, sich dabei das Schultergelenk ausrenkend. Der Schmerz musste unvorstellbar sein, Ninetjer schien ihn nicht einmal wahrzunehmen, während er dem fassungslosen Karim mit der anderen Hand das Messer entriss und es ihm direkt ins Herz stieß, dabei rau hervorstoßend: „Du warst schon immer ein Schwächling, der im falschen Moment gezögert hat, das zu tun, was notwendig ist. Grüß deine Frau von mir, wenn du sie siehst.“ Noch während Karim leblos zu Boden sackte, hatte Ninetjer sich bereits abgewandt, den ausgekugelten Arm mit der gesunden Hand stützend, den im Schlangenleib gefangenen König ebenso wenig beachtend wie den Leichnam seines Rivalen, stattdessen aufmerksam den Boden nach der kleinen, tönernen Figur absuchend, die ihm aus der Hand gefallen war, als ihn der Horuserbe so überraschend angegriffen hatte. Er fand die Figur, unversehrt und gelassen wartend im Sand liegend. Mit einem zufriedenen Grinsen in seinem zerschundenen Gesicht hob Ninetjer sie auf. Schloss seine Faust fest um die kleine Figur und ließ sie zerbrechen. Schlagartig wurde der Himmel schwarz. Gespalten von einem einzigen grellen Blitz, der lautlos aufzuckte, im Boden einschlug und ihn in weitem Umkreis verbrannte. Spannung lag in der Luft und nicht der kleinste Laut war zu hören. Dann erhob sich ein hohes, kräftiges Sirren und Brausen. Ein Sturm kam auf, der sich dort, wo der Blitz eingeschlagen war, zu einem Strudel verdichtete, der immer breiter und höher wurde, sich wirbelnd um sich selbst drehte, alles in sich aufsaugend, was nicht ausreichend Widerstand leistete. Die Luft geriet in Bewegung, schien zu brodeln wie kochendes Wasser, verfärbte sich ebenso dunkel wie der Himmel. Begann sich um den wild rotierenden Wirbel zu verdichten, ihn einzuschließen, zu ersticken. Als der Strudel schließlich verschwunden war, befand sich an der gleichen Stelle eine riesige, dunkel wabernde Masse von der Konsistenz schwarzen Qualms. Diese Masse schien ständig in Bewegung, obwohl sie sich doch nicht vom Fleck bewegte. Veränderte beständig ihre Form, sah in einem Moment aus wie ein riesiger Vogel, im nächsten wie eine Frosch, dann wie ein Flusspferd oder eine Schildkröte. Das Aussehen hielt immer nur für wenige Sekunden, bevor es wieder in sich zusammenfiel und ein neuer Schatten entstand. Uräus hatte seine Geisel freigegeben und war in die Seele seines Wirtes zurückgekehrt. Doch obwohl nichts und niemand Atemu in diesem Moment aufhielt, war er doch unfähig sich zu bewegen, sondern starrte nur in ungläubigem Entsetzen auf dieses riesige Etwas, dass sich westlich der Pharaonenstadt befand. Was hatte Ninetjer getan? Was für ein Ding war das? Und wie konnte man die beiden jetzt noch aufhalten? „Isfet!“ laut und deutlich halte der Ruf über die Ebene, schien trotz der großen Entfernung das Wesen zu erreichen und von diesem vernommen zu werden. Erst schien es, als würde trotz der Forderung Ninetjers nichts geschehen, dann formte sich die dunkle Masse wieder zu der Schattengestalt eines riesigen Vogels, flog über die Stadt hinweg und hatte in Sekunden eine Distanz überquert für die Menschen zu Pferd Stunden benötigt hätten. War es aus der Entfernung schon riesig gewesen, war es aus der Nähe nicht mehr mit Worten zu beschreiben, es überstieg schlicht alles Vorstellbare. Und noch immer starrte Atemu. ‚Denk nach! Es muss irgendetwas geben, das du tun kannst. Irgendetwas!’ Aber die Zeit war zu kurz, um herauszufinden, was dieses Etwas war. Das Wesen, jetzt wieder in Gestalt einer Schildkröte war bereits heran, neigte den Kopf mit aufgerissenem Maul herab, bereit den Herrn der beiden Länder, den Erben des Horus zu verschlingen. Es blieb Atemu nicht einmal mehr Zeit Angst zu haben, zu bedauern oder zu trauern, als er plötzlich an den Schultern gepackt empor gerissen und davongetragen wurde. Das lautlose Zuschnappen des Schildkrötenschnabels nicht mehr wahrnehmend. Vorsichtig blinzelnd öffnete Atemu die Augen, die er kurz zuvor bereits in ergebener Resignation geschlossen hatte und linste nach oben, den Kopf ein wenig in den Nacken legend. Was er sah, war glutrot schimmerndes Gefieder. Erleichterung durchströmte Atemu als er den Benu Seths erkannte, der eilig an Höhe gewinnend Richtung Stadt flog. Er war noch einmal davon gekommen. Jetzt konnte er doch noch hoffen, dass es ihm irgendwie gelang Isfet aufzuhalten, zusammen mit einem Amunpriester, der den Namen des Herrn des Chaos trug. Bevor er sich jedoch nähere Gedanken darüber machen konnte, wie Isfet bezwungen werdne konnte, warf der Vogel ihn plötzlich in die Luft, ihn im nächsten Moment mit dem Rücken wieder auffangend und gleich darauf im Sturzflug auf die Straßen der Stadt unter ihnen zu haltend. Lexikalisches post scriptum Bäume: Besonders schattenspendende, große Bäume erfuhren Verehrung, galten als Schützer der lebenden und der Toten. In Verbindung mit verschiedenen Gottheiten genossen Sykomoren, Akazien, Maulbeerbäume, Christusdorn, Palmen und Ölbäume besondere Verehrung. Ramesa: Ist die ziemlich frei interpretierte Version des korrekt wie folgt lautenden Generalstitel: jmj-rA mSa. Schawabti: Ursprüngliches Wort für Uschebti (von dem angenommen wird, dass es „Antworter“ bedeutet), das von den Ägyptern nicht mehr verstanden wurde. Uschebits sind seit etwa 2000 v. Chr. als Grabbeigaben belegt. Kapitel 29: Ende und Anfang --------------------------- Merenseth war ohne Pause geflogen, jeden noch so kleinen Windhauch ausnutzend, um ihr Ziel schneller zu erreichen. Als sie schließlich den Turm der Zeit erreichte, wurde sie bereits erwartet. Schweigend beobachtete Oreithys wie Merenseth Kisara in das Innere des Turmes trug, ihr kurz darauf folgend. ‚Es ist gegen die Regeln einen Menschen in das Innere des Turms zu bringen.’ Sanft hallte das Echo von den Wänden wider, als der Wächter der Zeit seinen Gast mit diesen Worten begrüßte. ‚Sie wird nie erfahren, dass sie hier gewesen ist, wenn du sie schlafen lässt. - Sobald sie geheilt ist, werde ich sie wieder fortbringen.’ Versuchte Merenseth ihn zu beruhigen, ihre Flügel anlegend und sich zu Oreithys herumdrehend. ‚Wirst du solange hier bleiben und sie bewachen?’ Es lang etwas Drängendes in dieser Frage, die Merenseth dennoch in einem um Verzeihung bittenden Tonfall verneinte. Oreithys schwieg darauf, duldete die kurze Berührung als Merenseth ihren Kopf gegen seinen lehnte, sodass die Schnäbel auf dem Hals des jeweils anderen zu ruhen kamen und sah zu, wie sie gleich darauf zu einem zweiten Durchgang flog, der sich hinter dem im Zentrum des Turms befindenden, ruhelos hin und her schwingenden Pendel befand und von außen nicht zu sehen war. Dieser Durchgang war nicht wie der andere, eine Verbindung zwischen der Welt und dem Turminneren, sondern eine Verbindung in die Welt Apepis. ‚Bleib. Es ist nicht dein Kampf. Menschen sind dafür verantwortlich’ forderte Oreithys plötzlich, brachte Merenseth dazu, dem Durchgang den Rücken zu zukehren. ‚Du vergisst, dass ich an ein Versprechen gebunden bin.’ ‚Es lässt sich lösen. Du bist nicht gezwungen es einzuhalten.’ ‚Ich werde es einhalten.’ Merenseth klang bestimmt, sie würde in diesem Punkt nicht mit sich reden lassen. Oreithys versuchte es dennoch: ‚Was findest du an diesem Menschen? Er ist bedeutungslos, schwach und sterblich. Was ist ein Menschenleben, gegen das Dasein eines Benu? Warum willst du sein Leben in dieser Welt verlängern, wenn er in Earu glücklich werden kann?’ Merenseth gab darauf keine Antwort, hörte nur mit leicht geneigtem Kopf zu, während Oreithys fortfuhr: ‚Du wirst einen neuen Menschen finden, wenn dir so an der Gegenwart von einem gelegen ist. Aber misch dich nicht weiter in diesen Kampf ein.’ Ihren Kopf ein wenig hebend und schief legend, betrachtete Merenseth ihr Gegenüber neugierig, hörte weiter zu und schwieg noch immer. Sobald sie glaubte, Oreithys habe alles gesagt, was er sagen wollte, wandte sie sich ab, um die Tür ins Jenseits zu durchqueren. Nur um erneut aufgehalten zu werden: ‚Wenn du gehst, wirst du sterben.’ ‚Und wiedergeboren werden.’ In der Antwort Merenseths schwang ein Lächeln mit, während sie ihren Kopf wieder In Richtung Oreithys’ wandte. ‚Nicht dieses Mal’, der Hüter der Zeit klang ernst und etwas wie Traurigkeit lag in seiner Stimme. Wieder schwieg Merenseth, dieses Mal nachdenklich. Dann machte sie kehrte, ließ sich dicht neben Oreithys nieder, schmiegte erneut ihren Kopf gegen seinen und erwiderte: ‚Ich werde ihn nicht im Stich lassen. – Ich kann es nicht’, leise klang es, ruhig und bestimmt. Nur die Berührung und das unterschwellige Gurren, die diese Antwort begleiteten, verrieten das Bedauern ihren Bruder zu enttäuschen, das Bemühen ihn zu beruhigen. Dieses Mal erwiderte Oreithys die Zuneigung bekundende Geste, rieb mit seinem Schnabel über den der kleineren Benu, presste kurz den eigenen Schopf gegen ihren, trat dann ein wenig zurück und erklärte nur: ‚Geh. Ich kümmere mich um das Mädchen.’ Einen kurzen Augenblick schien es, als wolle Merenseth es sich anders überlegen. Dann neigte sie nur ihren schlanken Hals, bis ihr Kopf fast den Boden berührte, auf diese Weise Dank, Ehrerbietung zum Ausdruck bringend, sich zugleich verabschiedend. Gleich darauf flog Merenseth durch die von kränklich trübem Licht durchzogene Dunkelheit der Unterwelt. Ohne menschliche Fracht war es möglich diesen kürzesten aller Wege zu nehmen, wenn auch nicht ganz ungefährlich. Apepi mochte noch nicht wieder zu voller Stärke gelangt sein, wie er es am Abend jeden Tages war, wenn Re seine Fahrt durch die Unterwelt begann, dennoch war dies sein ureigenes Reich, konnte er jedem, der ungebeten darin Einkehr hielt, dessen Reise so beschwerlich wie möglich machen. Oft genug gelang es ihm auch die Reisenden in seine dunklen Tiefen zu ziehen, sie darin untergehen zu lassen, auszulöschen mit allem was im Diesseits von ihnen geblieben war. Dieses Mal jedoch war etwas anders. Es war fast als würde das dunkel schlammige Element, das beschönigend als Wasser bezeichnet wurde, und in dem Apepi sich verborgen hielt, bis er seine Opfer angriff, zufrieden glucksen. Hin und wieder tauchte die ölig schimmernde Schliere eines biegsamen Schuppenpanzers auf, der vor Vergnügen oder gespannter Gier freudig zu zitterte. Beklommen beschloss Merenseth dem Kopf des riesigen Schlangendämons zu folgen, der mit gespannter Aufmerksamkeit lauernd Richtung Osten starrte, mit der Zunge zischelnd die Luft prüfend, zufrieden den mächtigen Leib windend. Sobald der Benu den für ihn passierbaren, nächstgelegenen Ausgang erspähte, hielt er darauf zu, kurz darauf durch das Benben eines Tehenpfeilers zurück ins Diesseits schlüpfend. Gerade rechtzeitig um zu sehen, wie sich der übermächtige Schattenriss eines Vogels über die Pharaonenstadt hinweg bewegte, der sich gleich darauf in eine Schildkröte wandelte, um ein Wesen zu verschlingen, das sich gegen die maßlose Dunkelheit winzig ausnahm. Im letzten Moment gelang es dem Benu dieses Wesen zu erreichen, es mit seinen Krallen zu packen und fortzutragen, während er die unstillbare Gier Isfets an sich zerren fühlte und nur mit Mühe dieser alles verschlingenden Masse entkam. Weder der Benu noch seine menschliche Last sahen, wie die Schnabelhälften des Schildkrötenmauls aufeinander trafen, das Wesen im gleichen Moment wieder seine Kontur verlor, verschwamm und als missgestaltiges Mischwesen aus Krokodil und Flusspferd neu erstand, den Leichnam Karims verschlingend und sich anschließend dem mit einem irren Gesichtsausdruck dastehenden letzten Menschen in unmittelbarer Nähe zuwendend. Ninetjer verspürte bei dem Anblick dieses Wesens nicht die geringste Furcht, sondern nur ein berauschendes Machtgefühl. Er war es, ein Bauernsohn und Soldat, einer der nie für gut genug befunden worden war, der immer nur zu hören bekommen hatte, was er nicht durfte und dessen einziger Existenzgrund es stets gewesen war zu sterben, er war es, dem nun der mächtigste aller Dämonen Untertan war. Als sich ihm der Kopf des riesigen Wesens näherte, streckte Ninetjer seinen gesunden Arm aus, als wolle er das Wesen umarmen. Noch immer verzerrte das fanatisch irrsinnige Lächeln sein Gesicht, während er dem Dämon vor sich verkündete, dass sie nun gemeinsam Pharao und seiner Stadt einen Besuch abstatten würden, von dem diese sich nicht mehr erholen sollten. Für einen Moment verharrte der hässliche Kopf des Dämons reglos, als würde er versuchen die Worte des ehemaligen Soldaten zu verstehen oder überlegen, ob das gemachte Angebot verlockend genug war, um es anzunehmen. Dann kam wieder Bewegung in den Schattenriss, schob sich der massige Schädel über den weißhaarigen Mann und verschlang auch ihn. Lautlos, ohne zu zögern, ohne Hast, unaufhaltsam. Lediglich wieder etwas in sich aufnehmend, das von Anfang an zu ihm gehört hatte. Teil gewesen und ihm genommen worden war und was es sich nun wieder rechtmäßig aneignete. Isfet kannte nicht Herr oder Verbündeten. Es lebte ausschließlich für sich selbst und seine Gier sich einzuverleiben, was nicht Teil seiner selbst war, gesteuert nur von dem blinden Verlangen mehr zu werden, größer, zu verschlingen was jenseits seiner selbst und eigenständig war. Es durfte nichts anderes geben als Isfet. Kaum hatte der Dämon verschlungen, was ihn befreit, ihm den Weg ins Diesseits geöffnet hatte, verformte er sich abermals zu einer konturlosen Qualmwolke, die sich zum ebenso schwarzen Himmel auftürmte, als wolle er eins mit ihm werden. Wieder entstand ein Luftwirbel, der ein bedrohlich schrilles Pfeifen erzeugte, während die dunkle Masse schneller und schneller aufwärts bewegt wurde, sich wie eine dichte Wolkendecke über das gesamte Land ausbreitete und schließlich wieder stumm und bedrohlich still verharrte. Dann schossen plötzlich hunderte, tausende von schwarzqualmigen Tentakeln herab, versetzten das gesamte Land in Aufregung, verbreiteten das Chaos der Pharaonenstadt auch in die hintersten und abgelegensten Winkel des Reiches. Verschlangen alles, was mit ihnen in Berührung kam. Zersetzten die hergebrachte Ordnung, hoben angestammte Rechte und Gesetze aus ihrer Verankerung, ließen das tradierte Verhalten der Menschen lächerlich, bedeutungslos erscheinen und tauchten Kemet in eine Finsternis von nie gekannter Dunkelheit. Sobald Seth Mana Shimon überlassen und dieser nur betroffen und müde auf die Nachricht genickt hatte, dass Isis tot im Vorhof des Palastes lag, hatte sich der Priester auf den Weg in die Stadt gemacht, auf der Suche nach dem König und seinem Begleiter. Er bedauerte, in diesem Moment nicht Merenseth an seiner Seite zu haben, hätte ihre Hilfe doch die Suche wesentlich vereinfacht. Stattdessen griff er schließlich auf die Hilfe eines geflügelten Dämons zurück, diesem den Auftrag gebend, nach dem König Ausschau zu halten, während er selbst weiter durch die Straßen eilte. Es war ein merkwürdiges Gefühl durch Gassen zu laufen, in denen noch kurz zuvor blindwütende Menschen aufeinander losgegangen waren und die nun dalagen wie ausgestorben, nur noch die Spuren der Kämpfe zeigend. Der anhaltende Lärm warnte davor sich in Sicherheit zu wiegen. Waren die Auseinandersetzungen noch längst nicht beendet, hatten sich nur verlagert, wie eine alles niederwalzende Welle durch die Stadt rollend, jeder Zeit in der Lage die Richtung zu ändern, bereit zurückzufluten. Seth achtete nicht weiter darauf, bemühte sich nur den Menschen auszuweichen, denen er begegnete, unbeirrt seinen Weg fortsetzend, ab und zu prüfend gen Himmel sehend, ob der ausgesandte Dämon zurückkehrte. Statt des Dämons, beobachtete er plötzlich wie sich der Himmel verfinsterte und ein Blitz darüber zuckte. Aufgeschreckt hielten die Bewohner der Stadt in ihrem Tun inne, furchtsam nach der Quelle des auf einmal hörbaren Sturms Ausschau haltend, dabei den bedrohlich wirkenden Wirbel aus dunklen Wolken entdeckend, der immer größer und größer wurde und alles in seiner Reichweite mit sich riss. Schließlich schien der Luftstrudel seine endgültige Ausdehnung erreicht zu haben, denn plötzlich versiegte das tobende Brausen der Luft, hörte die dichte Wolkenmasse auf sich zu drehen; waberte unruhig auf der Stelle, verzerrte Gestalten von Tierkörpern nachbildend, grotesken Schattenrissen gleich. Dann hob sich die riesige Masse gen Himmel, die Gestalt eines schwarzen Vogels annehmend, der mit einem einzigen Flügelschlag über die Stadt hinweg schwebte. Trotz der plötzlich herrschenden Dunkelheit, schien der Vogel einen Schatten werfen, der die Stadt in noch tieferes Dunkel hüllte und ohne erkennbares Prinzip einem Teil der Bevölkerung den Verstand raubte. Es war nicht so, dass man denjenigen sofort ansah, dass sie nicht mehr bei Verstand waren, standen sie doch ebenso wie die Unversehrten noch einen Moment im Bann des unheimlichen Vogeldämons. Kaum war dieser jedoch in stummer Ausdruckslosigkeit vorüber geflogen und die Stadt nicht mehr in seinem Schatten gefangen, begannen sich einige der Städter wie Wahnsinnige zu gebärden. Sie zerrten an ihren Kleidern, rissen sich die Haare mit blutiger Wurzel heraus, zerkratzen sich Arme und Gesicht, gaben ein unmenschliches Geheul von sich, während ihnen weißer Schaum aus dem Mund quoll, an den Mundwinkeln hängen blieb und zu Boden tropfte. Versuchte jemand sie von ihrem Tun abzuhalten, griffen die Wahnsinnigen ihre Helfer an, geifernd und wild kreischend, erst Ruhe gebend, wenn sie glaubten ihr Opfer wäre tot. Ebenso ungläubig wie alle Anderen hatte Seth die Ereignisse verfolgt, zu dem riesigen schwarzen Vogel hinaufgesehen und so beinahe nicht bemerkt, wie der Dämon zurückkehrte, den er ausgesandt hatte, Atemu zu finden. Bevor Seth jedoch dazu kam seinem dämonischen Diener zu folgen, geriet dieser in den unheimlichen Sog des über der Stadt schwebenden Schattens, wurde er von diesem ebenso vollkommen und lautlos verschlungen wie das klare Bewusstsein eines Teils der Bewohner. Dann war der schwarze Vogel vorüber und Seth entdeckte, dass er im Mittelpunkt einiger Städter stand, die offenbar glaubten, der Priester wäre für den schwarzen Vogel verantwortlich. Mit grimmigen Mienen umringten sie ihn, den Kreis immer enger ziehend, verlangend, dass der Priester den Vogel wieder dorthin sandte, woher er ihn gerufen hatte, ihre Forderung mit wütenden Schmähungen und eindeutigen Drohungen unterstreichend. Seth machte sich nicht die Mühe auf die Forderungen einzugehen. Selbst wenn er gegen die Vielzahl der Stimmen angekommen wäre, hätten sie ihm nicht geglaubt, waren sie viel zu erpicht danach einen Sündenbock zu finden, um diesem Schuld und Verantwortung aufladen zu können. Es war unmöglich den immer näherkommenden auszuweichen; jeden von ihnen im Blick zu behalten, um einem möglichen Angriff rechtzeitig auszuweichen. Dieses Mal würde er nicht damit davon kommen einem seiner Gegner den Kopf in den Magen zu rammen. Auch nicht, wenn er noch die dafür passende Größe gehabt hätte. So rief der Priester stattdessen Kaiphas, der sich gleich darauf in beeindruckender Größe um seinen Wirt schlängelte und ein ohrenbetäubendes Brüllen hören ließ, die näher rückende Menge für einen Moment erschrocken innehaltend und leicht zurückweichen lassend. Als die Leute jedoch bemerkten, dass der Priester glaubte ihnen auf diese Weise entkommen zu können, um nicht Rechenschaft für sein Tun ablegen zu müssen, gewann wieder der Zorn die Oberhand und sie begannen erneut ihr Opfer in die Enge zu treiben. Kurz verengten sich die Augen Seths, als er sah dass allein der Anblick des Dämons die Menschen nicht dazu brachte ihn durchzulassen. Ihm blieben nicht all zu viele Möglichkeiten: Entweder er befahl Kaiphas ihn davon zu tragen, was für Seths Geschmack viel zu sehr nach feiger Flucht schmeckte. Oder er ließ den Dämon tatsächlich angreifen, um sich einen Weg frei zu schlagen, etwas dass ihm vielleicht für kure Zeit Luft verschaffen würde, aber die Menschen mit Sicherheit dazu bringen würde, zurückzuschlagen. Kaiphas mochte in der Lage sein die Mehrzahl von ihnen rechtzeitig auszuschalten, aber das würde wohl nicht reichen, um den Rest zu entmutigen. Zu reden machte keinen Sinn, er brauchte nur in die Gesichter der Leute zu sehen, um zu wissen, dass sie entschlossen waren nichts von dem zu glauben, was er ihnen sagen würde. Wie er es auch drehte und wendete, seine Chancen standen nicht gut und je länger er zögerte, umso schlechter wurden sie. Eine Entscheidung treffend, glitt der Blick des jungen Priesters suchend über die ihn umringenden Menschen und fand schnell, was er suchte. Einen Mann der offenbar nur von der Menge mitgerissen worden war und sich unversehens in der ersten Reihe wiedergefunden hatte, nur halbherzig zu dem Chor der empörten und wütenden Stimmen beitragend, sich unsicher und nervös nach einem Weg umsehend, sich endlich davon stehlen zu können. Diesen Mann unverwandt ansehend, bemüht ihm seinen Willen aufzuzwingen, forderte Seth: „Lass mich durch!“ Unfähig dem intensiven Blick der blauen Augen standzuhalten, huschte der Blick des nervösen Mannes hin und her, panisch nach einem Ausweg suchend, doch noch mit heiler Haut davon zu kommen, während die Umstehenden empört protestierten, manch einer mit der Faust drohend. Seth hielt sich nicht mit weiteren Worten auf, er hatte seinen Willen demonstriert, die Sache gewaltlos zu beenden. Sie hatten sich geweigert, also war es jetzt an Kaiphas sie umzustimmen. Noch während der Echsendämon in einem Scheinangriff nach vorn zuckte und sein beeindruckendes Gebiss nur Millimeter vor den ersten Gegnern zuschnappen ließ, rief Seth einen weiteren Dämon. Einen Mann, der beinahe vollkommen von dem riesigen Schild, das er trug verdeckt wurde und der nun den bloßen Rücken des Priesters deckte, während dieser ohne sich Angst oder Verunsicherung anmerken zu lassen, den Weg beschritt, den Kaiphas mit seinem ersten Angriff begonnen hatte freizulegen. Dieser Weg war trotz des seinen Rücken schützenden Schilddämons und dem abwechselnd nach den Menschen schnappenden oder drohende Lichtkugeln erzeugenden Kaiphas’ keineswegs ungefährlich. Wagten es die Menschen auch nicht direkt anzugreifen, waren sie doch entschlossen genug, dem Priester mit Steinen zu zeigen, was sie von ihm hielten. Die ersten dieser Geschoße wehrte der Schildträger ab, anderen wich der Priester rechtzeitig aus, während er Mühe hatte Kaiphas zu zügeln, der nur zu gern seine Drohungen wahrmachen und zu tödlichen Angriffen werden lassen wollte. Erleichtert entspannte sich Seth bereits ein wenig, als er nur noch einen Schritt davon entfernt war, den lebenden Wall aus Menschen hinter sich zu lassen und seine eigentliche Suche fortsetzen zu können, als ihn unversehens von rechts ein Geschoß traf, während der Schildträger damit beschäftigt war Angriffe von der linken Seite abzuwehren. Kurz taumelte Seth, stolperte und erkannte einen Moment später verwirrt, dass er beinahe gestürzt wäre, sich gerade noch rechtzeitig abfangend und weiterlaufend, einige Sekunden lang orientierungslos und nicht wissend, wo genau er sich befand und warum. Dann nahm er plötzlich wieder die Geräusche der Menge hinter sich war, die begonnen hatte ihn zu verfolgen. Sie hatten gesehen, dass er verwundbar war, nun nicht mehr bereit sich von Dämonen einschüchtern zu lassen. Wieder traf Seth eines der nun unausgesetzt fliegenden Geschosse und er gab die Mühe auf, Kaiphas zu zügeln. Mit ungehinderter Macht fraß sich ein greller Lichtblitz in das festgetretene Erdreich, riss eine tiefe Furche zwischen dem Priester und seinen Verfolgern in den Boden. Die Anführer der Meute zögerten nur Sekundenbruchteile, bevor die Nachdrängenden sie vorwärts und in den Graben hinein trieben. Mit dumpfem Krachen, Hals und Augen reizende Staubwolken aufwirbelnd, die den Jägern eine Zeitlang den Blick auf ihre Beute nahmen, brachte Kaiphas Häuser zum Einsturz, Barrikaden errichtend, die es den Verfolgern erschwerten dem Priester nachzusetzen und es diesem ermöglichten sich in Sicherheit zu bringen. In der Nähe der Prunkstraße angekommen, lehnte sich der junge Priester schließlich gegen eine der noch intakten Hauswände. Ihm war merkwürdig schwindlig, sein Kopf schmerzte, Übelkeit verknotete Magen und Kehle und seine Augen schienen beschlossen zu haben ein Eigenleben zu führen und in ihren Höhlen tanzen zu lernen. Vorsichtig tastete er nach der Stelle an seinem Kopf, an der er getroffen worden war. Seine Haare fühlten sich klebrig und warm an, feucht von einer zähen Flüssigkeit. Als er seine Hand zurückzog und betrachtete, war er nicht überrascht Blut an den Fingerspitzen kleben zu sehen. Für einen Moment neigte Seth den Kopf in den Nacken, ihn ebenfalls gegen die Hauswand stützend, die Augen geschlossen, sich darauf konzentrierend zu atmen und sein weiteres Vorgehen zu überlegen. Als er sich die Augen öffnend wieder aufrichtete, war sein Schildträger kaum noch unter den braungrünen, dornigen Zweigen eines biegsamen Schlingpflanzengewächses zu erkennen. An dem Ende der Gasse, das auf die Prunkstraße hinausführte, stand nun ein in einen dunklen Umhang gehüllter Mann, der offenbar für den Pflanzendämon verantwortlich war. Ohne sich zu rühren, ließ Seth Kaiphas den Mann angreifen, dessen Silhouette ihm vage bekannt vorkam, ohne dass es ihn interessierte oder er eine Vermutung hatte, wo er den Mann schon einmal gesehen haben mochte. Im gleichen Augenblick als der Echsendämon eine weitere seiner grellen Lichtkugeln erzeugte und auf sein Ziel schleuderte, hatte der Vermummte mit Hilfe des Pflanzendämons den Schildträger zu sich herangezogen und schützend vor sich gestellt. Es war Seth der gleich darauf zu spüren bekam, wie ein Teil seines Ka aufgezehrt wurde, als der Schildträger unter der Wucht von Kaiphas Angriff zersplitterte. Wieder wurden die Augen Seths schmal, während er seinen Gegner taxierte und Kaiphas erneut angriff. Mit ungeduldiger Anspannung wartete Seth darauf, dass dieses Duell nun sein Ende fand, als sich plötzlich die peitschenartigen Zweige des Pflanzendämons um ihn schlangen und er zum Schutzschild gegen das tödliche Licht des Echsendämons wurde. Es war unmöglich sich aus diesem enganliegenden Käfig zu befreien, dessen Dornen sich schmerzhaft in die Haut gruben. Unmöglich den heranrasenden Angriff Kaiphas’ noch aufzuhalten… Lautlos traf das grelle Licht des Echsendämons auf den Kopfputz eines menschenähnlichen Wesens, das in den über der Brust gekreuzten Händen Krummstab und Wedel hielt, auf dem Kopf eine Mondscheibe tragend, scheinbar blind für das, was um ihn geschah. Brüllend wich Kaiphas dem auf ihn zurückgeworfenen Angriff aus. Wortlos verzog Seth die Lippen zu einem grimmigen Lächeln, während er durch die Zweige seines Kerkers spähend, zufrieden den Rücken seines neugerufenen Dämons betrachtete. Einen Augenblick später stand der Dämon zwischen dem Vermummten und Seth, reglos in die Augen des Unbekannten starrend, während Kaiphas ein drittes Mal angriff, dieses Mal nicht nur den ungeschützten Rücken des Mannes ins Visier nehmend, sondern auch den Kopfputz des menschlichen Dämons, der leicht den Kopf neigte, als wolle er zustimmend nicken. Kaum hatte der Vermummte im Spiegel der Mondscheibe den drohenden Angriff Kaiphas’ bemerkte, befahl er dem Pflanzendämon hastig, sich in seinem Rücken aufzubauen, den gefangenen Priester erneut als Ersatzopfer anbietend. Dann geschah alles gleichzeitig. Noch während Seth durch den Pflanzendämon gezwungen erneut zum Schutzschild wurde, spie Kaiphas ein drittes Mal blendend helles Licht gegen den Angreifer, stürzte ein glutfarbener Schemen mit atemberaubender Geschwindigkeit vom Himmel, den pflanzlichen Käfig mit den Krallen packend, in der gleichen Sekunde wieder nach oben strebend, sprang der Vermummte hastig zur Seite, sich im Rücken des menschlichen Dämons in Sicherheit bringend. Der jedoch war ebenso plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war und erbarmungslos gleißende Helligkeit erfüllt die Gasse bis in den entlegensten Winkel. Weder der Benu noch seine beiden Passagiere achteten auf dieses Schauspiel. Seth nicht, weil er inzwischen völlig von den Zweigen des Dämons eingeschlossen war. Der Benu nicht, weil er sich auf die Richtung konzentrierte, in die er folg und Atemu nicht, weil er sich darum bemühte seinen Freund noch rechtzeitig aus dessen misslicher Lage zu befreien. Aber jeder dämonische Versuch Seth aus seinem Käfig zu befreien, scheiterte an der Eigenart des Pflanzendämons, die Folgen eines Angriffs auf sein Opfer zu übertragen. Wenig später erreichte der Benu den Schlosshof und stieß bereits während er noch dabei war zu landen einen weithörbaren Schrei aus. Es war ein einzelner Schrei, tief und klar, beinahe menschlich klingend und eindeutig um Hilfe rufend. Kaum hatte der Vogel seine Last abgesetzt und selbst Boden unter den Füßen, begann er die Zweige der Schlingpflanze vom Gesicht des Priesters zu reißen, um zu verhindern, dass sich die spitzen Dornen in dessen Augen gruben. Atemu beeilte sich vom Rücken des Benu zu gleiten und ebenfalls die dornigen Zweige mit bloßen Händen herunterzureißen. Immer wieder setzten sich die Zweige dabei zur Wehr, schienen wie zufällig den nach ihnen greifenden Händen und dem Schnabel auszuweichen, versuchend seine beiden neuen Angreifer ebenfalls einzuwickeln, jedes Mal hastig fortgerissen werdend. Unterdessen schien der Ruf des Benu im Palast gehört worden zu sein, denn zwei nervös wirkende Diener kamen vorsichtig näher, sahen sich besorgt nach der Ursache des Lärms um, entdeckten den energisch Zweige herunterreißenden König und liefen zu diesem hinüber, um dessen Befehle entgegen zu nehmen. Der Befehl war kurz und klar, sodass sie gleich darauf zu viert Seth aus seinem Gefängnis befreiten und gleich darauf einer der Diener zu Shimon voraus lief. Während der zweite Diener den zerstochen und geschwächt wirkenden Priester stützte. Ohne auf Atemu und den Diener zu achten, beugte Merenseth ihren Hals, sah Seth für einen Moment in die Augen und kniff ihn dann plötzlich schmerzhaft in die Nase, ein verärgertes „Lass das!“ provozierend, während sie den Kopf bereits wieder zurückzog und ein empörtes Tschilpen von sich gab. Gestützt auf den Diener, starrte Seth seinen Benu ungehalten an und knurrte missmutig: „Ich habe sie nicht gebeten mich umzubringen, hör auf dich zu beschweren!“ Merenseth schien davon nicht sonderlich beeindruckt. Stattdessen einen kurzen Pfiff ausstoßend, der von reiner Skepsis bis hin zu der Forderung sich behandeln zu lassen alles bedeuten konnte, und schlug mit den Flügeln, um davon zu fliegen, sich gleichzeitig zu normaler Größe verkleinernd. „Ich hab nicht gesagt, dass du verschwinden darfst“, Seth klang noch immer verärgert, erhielt als Antwort jedoch nur einen weiteren Triller, dieses Mal merkwürdig beruhigend klingend, bevor der Vogel endgültig davon flog, hinauf zu dem bedrohlich am dunkeln Himmel schwebenden Wolkenqualm. Irritiert hatten sowohl Atemu als auch der Diener dieses mehr als eigenartige Gespräch verfolgt und schienen nun nicht recht zu wissen, wie sie reagieren sollten, war der Priest doch offenbar sehr viel schwerer mitgenommen, als es dem ersten Anschein nach ausgesehen hatte. Dessen ungeachtet sah Seth noch einen Moment dem sehr schnell kleiner werdenden glutfarbenen Punkt am Himmel nach, ehe er sich, den Diener noch immer als Stütze gebrauchend, umwandte und dem Inneren des Palastes zustrebte. Schwer und bedrohlich hing die riesige dunkle Wolke Isfet über dem Land, schien allein durch ihre Gegenwart Maat und das Leben selbst zu ersticken. In Wahrheit kopflos aufgeregtes Durcheinander verursachend. Immer schneller und gieriger streckte Isfet seine Glieder aus, um sich zurückzuholen, was ihm einst von den Göttern geraubt worden war. Immer auswegloser wurden die Versuche der Menschen sich in Sicherheit zu bringen. Zwischen den stetig aufs Neue herabzuckenden qualmschwarzen Tentakeln flog nun ein einzelner, glutfarbener, im Vergleich zu der Größe Isfets verschwindend kleiner Benu. Immer wieder hastig ausweichend, zielsicher auf die Mitte des riesigen Wesens zu haltend. Keiner der Menschen bemerkte etwas von diesem Schauspiel, hörte die Melodie, die der Vogel begonnen hatte zu singen. Das mächtigste Lied der Benu, einzig zu hören dem Gott Re bestimmt, wenn er am Ende der Nacht die Unterwelt verließ, als Cheper wiedergeboren einen neuen Tag verkündete. Jenes Lied, das es diesem König der Götter die Tore zwischen den Welten öffnete, das Lobpreis und Jubellied, Dank und Bittgesang zugleich war. Isfet vernahm den Gesang. Hörte ihn nur zu gut, diesen Spottgesang auf seine Ohnmacht, seine Niederlage und Knechtschaft. Ein klangloses Brüllen brachte die Luft zum Brodeln, fegte über den Boden und entwurzelte alles, was nicht genügend Halt besaß, verursachte Risse in Felsen und presste die Menschen erbarmungslos zu Boden. Nur der Benu flog weiter unbeirrt zwischen den wild tänzelnden Raucharmen Isfets hindurch, noch immer singend, Isfet reizend. Gleichzeitig begann am Boden als Folge der Melodie das Leben mit aller Kraft hervorzubrechen. Ungestüm zu wuchern, in aller erdenklichen Pracht zu erblühen, um nur Sekunden später unter der wütenden Wucht Isfets zu vergehen und gleich darauf neu zu erstehen. Isfets unzählige Glieder hatten längst aufgehört sich wahllos das Land und was darin lebte einzuverleiben, nur noch daran interessiert diesen höhnisch singenden Störenfried zum Schweigen zu bringen. Bestrebt ein unzweifelhaftes Zeichen zu setzen, wer am Ende der Sieger sein würde. Es konnte nur Isfet geben. Aber noch immer erklang das Lied, das ihn verspottete. Entfloh der Bote der Götter noch immer unermüdlich den Fängen Isfets. Peinigte er ihn mit der Macht Res, schwächte ihn mit der Wahrheit Maats. Trieb ihn dazu in dumpfer Wut blindlings um sich zu schlagen, ohne dabei etwas anderes in Bewegung zu versetzen als Luft. Im Palast hatte Shimon unterdessen die Verletzungen Seths behandelt, während Atemu berichtete was mit Karim geschehen war und was es mit dem Schatten auf sich hatte, der über die Stadt geflogen war. Sobald der König seinen Bericht beendet hatte, verlangte er zu wissen: „Wo ist der Tjt? Er wird wissen, wie wir Isfet besiegen können.“ Unwissend schüttelte Shimon den Kopf, während Seth nur knapp und sachlich erklärte: „Er ist tot.“ „Tot?!“ echote Atemu völlig verblüfft, als wäre Akunemkanon in seiner Vorstellung stets ein unsterbliches Wesen gewesen, während Shimon aufmerksam seinen Patienten betrachtete und schließlich die Frage stellte: „Was ist passiert?“ Ohne dem Blick des alten Arztes auszuweichen, erwiderte Seth noch immer vollkommen sachlich: „Ich habe ihn umgebracht. In dem Raum, in dem die Beschwörungen durchgeführt werden.“ „Aber warum?“ Atemu klang noch immer fassungslos, während er die Stirn in dem Bemühen runzelte zu begreifen. Langsam wandte Seth den Blick von Shimon ab und dem König zu, nicht wissend was er auf diese Frage antworten sollte, bis er seine eigenen Worte hörte: „Weil es nötig war.“ „Nötig?!“ wiederholte Atemu gereizt, „warum soll es nötig gewesen sein den Bruder meines Vaters zu töten?“ Seth schwieg darauf, sah den König nur abwartend an und als dieser ihn anfuhr: „Was ist? Hast du auf einmal deine Sprache verloren? Oder fällt dir nicht ein, wie du deinen Verrat rechtfertigen kannst? Haben dir die Toten nicht gereicht, dass du auch noch den Tjt ermorden musstest?“ Kurz glitt ein zynisches Lächeln über das Gesicht Seths, bevor er erwiderte: „Ich habe keinen Verrat begangen.“ „Willst du vielleicht behaupten, Akunadin hätte mich verraten und du mir einen Gefallen getan, ihn zu töten?“ Seth blieb die Antwort auf diese Frage schuldig, wandte stattdessen seine Aufmerksamkeit wieder Shimon zu, Atemu nur noch mehr in Rage bringend. „Weißt du, was wir tun können?“ „Ich?“ fragte der alte Arzt erstaunt, der nicht damit gerechnet hatte, dass ihm jemand mehr als medizinisches Wissen zutraute. Ein wenig abfällig taxierte der Priester den Arzt für einen Moment, ehe er sich doch zu einer Erklärung herabließ: „Du bist Arzt. Du bekommst vieles zu sehen, was anderen verborgen bleibt. Und du kanntest Akunemkanon und seinen Bruder besser als irgendwer sonst in diesem Palast.“ Neugierig musterte Shimon seinen Patienten, ohne sich an dessen Herablassung zu stören, bevor er nur bestätigend nickte und erwiderte: „Ich kannte sie – und ich denke, ich weiß, wer du bist.“ Wieder verengten sich die Augen Seths für kurzen Moment, während er schneidend erwiderte: „Ein Amunpriester, deine Auffassungsgabe ist beeindruckend.“ Bevor der alte Arzt darauf etwas sagen konnte, mischte sich Atemu wieder in das Gespräch ein. „Hüte dein Zunge, Hemneter, oder sie wird das Erste sein, das dir genommen wird“, dann wandte sich der König an Shimon, diesen mit wesentlich mehr Beherrschung fragend: „Hat er recht, weißt du etwas darüber, wie wir Isfet aufhalten können?“ Shimon nickte. „Ich möchte dir etwas zeigen, wenn du erlaubst.“ Kaum hatte Atemu sein Einverständnis signalisiert, wandte sich der Arzt ab und lief dem König voraus aus dem Zimmer, Seth allein zurücklassend, der ihnen nachdenklich nachsah. In einem kleinen, bescheiden eingerichteten Raum angekommen, der Shimon offenbar als Schlafzimmer diente, blieb der Arzt neben dem Bett stehen und Atemu konnte sehen wie er nach der am Bettende stehenden Kopfstütze griff, gleich darauf die beiden nur ineinander gesteckten Hälften von einander trennend. Die halbmondförmige Auflage legte Shimon achtlos beiseite. Den Sockel behielt er in der Hand, sich dem hinter ihm stehenden König zuwendend. Auf den ersten Blick schien der Sockel recht plump gemacht zu sein, einfach ein rechteckiger Kasten, der mit Schnitzereien versehen worden war. An den vier Ecken des Sockels waren die Namen der vier Horussöhne eingraviert und über diesen der jeweilige Name der Schutzgöttin. Irritiert verzog Atemu das Gesicht und sah den alten Mann fragend an. Was hatten Kanopengötter auf dem Sockel einer Kopfstütze verloren? Shimon lächelte, während er die unausgesprochene Frage des Herrn der beiden Länder beantwortete: „Sie sind nicht nur Totengötter, sondern ebenso Wächter, Sternengötter und Krönungsboten.“ „Und was sind sie in diesem Fall?“ „Entscheide selbst“, erwiderte Shimon nur, während er den Deckel des Kästchens anhob und es Atemu hinhielt, damit dieser hineinsehen konnte. „Papyrus?“ Atemu klang überrascht und ein wenig zweifelnd; was sollte das alles? „Sieh es dir genauer an“, forderte der Arzt nur geduldig und sah zu, wie Atemu nach den kleinen, rechteckigen Stücken bemalten Papyrus’ griff. Es waren drei an der Zahl. Wie alt sie sein mochten, ließ sich nicht sagen, aber es war ihnen anzusehen, dass sie nicht erst vor kurzem entstanden waren. Auf jedem der drei Papyri war ein Dämon abgebildet, zusammen mit einem darunter befindlichen Beschwörungstext. So handlich klein diese Papyrusstücken waren, vermittelten sie doch schon eine Ahnung, wie machtvoll die Dämonen sein mochten, wenn sie gerufen wurden. „Welcher ist der mächtigste?“ verlangte Atemu zu wissen und sah von den Papyri in seinen Händen in das Gesicht Shimons, der ihn mit einem seltsamen, schwer zu deutenden Ausdruck betrachtete und nun behutsam erwiderte: „Du wirst sie alle drei benötigen.“ Irritiert runzelte Atemu die Stirn, „man kann immer nur einen Dämon beschwören.“ Dass er Gelegenheit haben würde einen weiteren herbeizurufen, sollte Isfet dem ersten überlegen sein, wagte er zu bezweifeln. Unterdessen hatte Shimon das Kästchen noch einmal zu sich herangezogen, um ein ungewöhnliches und recht unhandliches Amulett hervor zu holen, auf das Atemu bisher nicht geachtet hatte, zu fasziniert von den Dämonenpapyri. „Damit wird es gehen.“ Verdutzt sah der König Shimon an, kam jedoch nicht dazu seine Frage laut zu stellen, denn der alte Arzt erklärte: „Die Legende besagt, dass Re dieses Kästchen und seinen Inhalt seinem Sohn, dem ersten Horus auf Erden gab, um das Land nicht an Isfet fallen zu lassen. Seitdem blieb es im Besitz der rechtmäßigen Könige Kemets. Dein Vater vertraute es mir vor langer Zeit an, damit ich darauf Acht und es dir weitergebe, sollte ihm etwas zustoßen. Es ist an der Zeit, dass du dein Erbe antrittst - und dich dessen würdig erweist.“ Schweigend, mit gesenktem Kopf hatte der junge König zugehört und ein warnendes Prickeln im Nacken verspürt. Es gab da etwas, dass der alte Arzt ihm verschwieg, das vielleicht wichtig war und er wissen sollte. Aber etwas hielt ihn zurück zu fragen. War es Furcht? Vielleicht. Aber viel mehr als das, war es die feste Überzeugung, dass das, was Shimon ihm verschwieg nichts an seiner Aufgabe als Horuserbe ändern würde. Und so streckte er schließlich nur wortlos die Hand nach dem verzierten Kästchen aus und legte die drei kleinen Papyri wieder hinein, nachdem Shimon es ihm zusammen mit dem Amulett überlassen hatte. Nachdem er das Zimmer des Arztes verlassen hatte, lief Atemu auf direktem Weg zu den Stallungen, um sich ein Pferd zu holen. Zu seiner Überraschung erwartete ihn im Hof bereits Seth, zwei Pferde am Zügel haltend. Wortlos nahm Atemu den Zügel entgegen, den ihm der Priester reichte und saß auf. Erst danach erklärte er in unnachgiebigem Tonfall an Seth gewandt, der ebenfalls aufsaß: „Ich brauche keine Hilfe von einem Verräter!“ „Sehr heroisch und noch viel dümmer“ lautete das mit solcher Herablassung vorgebrachte Urteil des Priesters, dass der König im ersten Moment nur wütend mit den Zähnen knirschte, bevor er erwiderte: „Ich habe dich bereits mehr als einmal gewarnt, deine Zunge zu zügeln. Treib es nicht zu weit!“ Wieder verzog einen Wimpernschlag lang ein zynisches Lächeln Seths Gesicht, ehe er ungerührt konterte: „Was willst du tun? Mich mehr als einmal hinrichten?“ Statt einer Antwort durchbohrte Atemu nur mit Zorn sprühendem Blick den gleichgültig kühlen Seths, gleich darauf abrupt sein Pferd antreibend, sich nicht länger darum kümmernd, was der ehrlose Priester tat. Ohne dass König und Priester darauf geachtet hatten, hatte sich die Form Isfets ein weiteres Mal verändert. Den Blättern einer herabhängenden Blüte ähnlich, hatte sich die Wolkendecke zu einer Art prallen Knospe geschlossen, groß genug um mit ihren Enden Himmel und Erde zugleich zu berühren. Reglos verharrte die dunkle Masse einige Zeit in dieser Form, als müsse sie etwas in ihrem Inneren erst verdauen. In vollem Galopp sprengte Atemu unterdessen durch die Straßen der Stadt, zufällig im Weg stehende Menschen zwingend ihr Heil in hastigen Seitensprüngen zu finden, ritt hinaus in die Wüste, auf den unheilvollen Dämon zu. Isfet schien bemerkt zu haben, dass sich jemand näherte, denn auf einmal fiel die konische Säule in sich zusammen, wallte über den Boden, zog sich zurück und nahm wieder die Gestalt einer Schildkröte an. Den beeindruckenden Schnabel öffnend, neigte Isfet den Kopf, dem so bereitwillig herbei reitenden Opfer zu. Atemu hatte Mühe sein Pferd unter Kontrolle zu halten, dessen Nervosität angesichts des riesigen, dunklen Schattens vor sich in helle Panik umgeschlagen war; bockend und an den Zügeln zerrend, versuchend seinen Reiter abzuwerfen und sich in Sicherheit zu bringen. Unaufhaltsam senkte sich der Schildkrötenkopf herab. Bockte das Pferd zu sehr, als das der König hätte das Kästchen öffnen und den ersten der drei Dämonen beschwören können. Kurz bevor der Schnabel der Schildkröte über Pferd und Reiter zuschnappen konnte, traf ein greller Lichtstrahl auf die Stirn des Dämons, drang in dessen Kopf und ließ diesen in unzählige winzigste Rauchwölkchen zerstieben, während sich das Licht schwächer werden im Hals Isfets verlor. Endlich gelang es Atemu das Pferd so weit zu beruhigen, dass er das Kästchen öffnen konnte. Der kopflose Rumpf der dunklen Schildkröte war in sich zusammen gefallen, im nächsten Moment als züngelnde Riesenschlange zu neuem Leben zu erwachend. Und wieder ließ Seth Kaiphas angreifen, die Schlange von ihrem eigentlichen Ziel ablenkend, dem Erben des Horus Zeit verschaffend, hastig das Amulett überzustreifen und nach dem obersten der drei Papyristücken zu greifen. Bemüht die Anwesenheit des Priesters ebenso auszublenden wie die Angriffe und Ausweichmanöver Kaiphas’, konzentrierte sich Atemu einzig auf Bild und Inschrift des Papyrusstückchens in seiner Hand. Er konnte sich keinen Fehler erlauben. Die Beschwörung musste beim ersten Mal gelingen oder Kemet war endgültig dem Untergang geweiht. Aber es war nicht eben einfach eine uralte, umständliche Beschwörung zu intonieren, wenn man in der akuten Gefahr schwebte jeden Augenblick umgebracht zu werden. Es war bei weitem nicht der beste Sprechgesang, den man sich vorstellen konnte, aber er genügte, seinen Zweck zu erfüllen. Mit einem bedrohlichen Brüllen erschien der erste der drei Dämon. Schlangenähnlich, rot wie die Wüste und wie der unablässig wandernde Sand, befand sich sein Leib in ständiger Bewegung, zog Schlingen und Achten, wand sind und erzeugte auf dies Weise das dauernde Geräusch aufeinander reibender Schuppen. Beruhigt sah und hörte Atemu diesen Erfolg, bereits die nächste Karte hervorholend, während nun auch der schlangenähnliche Dämon dazu beitrug Isfet in Schach zu halten. Gleich darauf erschien der zweite Dämon. Von der Farbe der Sonne, strahlte er in der Dunkelheit Helligkeit und Wärme aus. Erinnerte er in seiner Gestalt halb Vogel, halb Katze an Re und Horus zugleich. Erleichtert atmete der König aus, nur noch einer und Isfet würde besiegt werden. Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ihn unvorbereitet ein Schmerz durchfuhr, der ihn in seiner Intensität beinahe vom Pferd gerissen hätte, der das Kästchen seiner plötzlich kraftlosen Hand entgleiten ließ. Seine Umgebung verschwamm, wurde konturlos, schien sich aufzulösen. Zusammengekrümmt und hilflos saß er tief über den Hals seines Pferdes gebeugt da und nur der eine Gedanke hallte unverwandt klar durch seinen Kopf: Er durfte jetzt nicht aufgeben, es brauchte nur noch einen Dämon und Kemet war gerettet. Er bemerkte nicht, dass Seth von seinem Pferd gestiegen war und das Kästchen aufhob. Sah nicht, wie der Priester das letzte Stück Papyri in die Hand nahm. Hörte nicht wie Seth den dritten und letzten Dämon beschwor, der der Erde entstieg wie ein Skarabäus, von ebensolcher Farbe. Ein Wesen von kantig menschlichem Aussehen und beeindruckender Größe. Allmählich ließ der Schmerz nach, spürte der Erbe des Horus, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte und ihm etwas in die Hand gedrückt wurde, hörte er die ruhige Aufforderung: „Bring es zu Ende. Ruf die Boten.“ Die Boten? Atemu war verwirrt, richtete sich jedoch mühsam auf und erstarrte für einen Moment überrascht als er den blauen Riesen zu sehen bekam, sah dann jedoch wieder auf das Kästchen hinab, dass Seth ihm in die Hand gedrückt hatte und verstand. Auf dem Deckel war eine weitere Beschwörung eingraviert, die er bisher nicht beachtet hatte, in der Annahme sie wäre reine Zierde. Während jeder der vier Dämonen Isfet auf seine Art aus der Distanz angriff, wann immer sich eine Möglichkeit ergab, jeder für sich allein kämpfte, den Versuchen Isfets ausweichend, sich die Angreifer einzuverleiben, sprach Atemu die in den Deckel der Schatulle gravierte, letzte der Beschwörungen. Seine Stimme klang geschwächt, war teilweise kaum mehr als ein Flüstern, einzig getragen von einem unbeugsamen Willen. Es mocht dieser Wille sein, der die Angerufenen überzeugte, denn kaum war die letzte Silbe verklungen, wurden die Namen der Horussöhne zu deren Verkörperungen, wandelten sich die Namen der Schutzgöttinnen in deren Abbilder, errichteten sie ein Bannfeld um Isfet, das es diesem unmöglich machte sich hinauf in den Himmel zu heben oder sich über die Erde auszubreiten. Nahmen sie den Dämon gefangen in einem unsichtbaren Käfig, der jedes Entkommen verhinderte. Gereizt brüllte Isfet vor Wut. Selbst dieser Ausbruch war noch darauf ausgerichtet Existierendes in sich einzusaugen. Statt eines ohrenbetäubenden Schreis, war dieses Gebrüll wie ein tiefes, schreckliches Einatmen, das einem das Gefühl vermittelte, die Haut würde einem abgezogen und das Mark aus den Knochen gesaugt werden. Selbst den Dämonen bereitete es Mühe, sich gegen diesen Sog zur Wehr zu setzen und erst der gleichzeitige Angriff aller Vier brachte Isfet für einen Moment zum Verstummen. Reglos lag das formlose Schattenwesen am Boden, ein scheinbar harmloser Haufen schwarzen Qualms, der von einem starken Windstoß zerstoben und davon getrieben werden konnte. Reglos verharrten die vier Dämonen, ihre Köpfe noch immer Isfet zugewandt, wartend. Reglos standen auch die Horussöhne und Schutzgöttinnen und ein wenig ratlos sahen sich König und Priester an: War es geschafft? Sollte es das wirklich gewesen sein und Kemet gerettet? Plötzlich zuckten aus der schwarzen Masse gleichzeitig vier Tentakel hervor, schlangen sich um die vier Dämonen, die durch den Sog Isfets in das Innere des Bannfeldes geraten waren. Mit aller Kraft wehrten sich die Opfer Isfets dagegen in dessen ewige Dunkelheit gezogen zu werden, mit voller Wucht bekamen Atemu und Seth zu spüren, was es hieß in die Fänge Isfets zu geraten. Stürzten sie zu Boden, nicht einmal mehr in der Lage ihre Qual herauszuschreien. Es war die Schutzgöttin des östlichen Horussohnes, Neith, die mit Hilfe von Pfeil und Bogen Isfet in die Schranken wies, die vier Dämonen befreite, für ein weiteres Unentschieden in diesem Kampf sorgte. Geschwächt brachten sich die vier Dämonen jenseits des Bannfeldes in Sicherheit. Entkräftet richteten sich der Erbe des Horus und sein Begleiter auf, sahen sie das nun wieder schlangengestaltige Wesen, das zischend nach einem Ausweg aus seinem Gefängnis suchte. Besorgt musterte Atemu die an den Ecken des Bannfeldes stehenden Götter, was wenn es Isfet gelang sie zu verschlingen, wie sollten sie es dann noch aufhalten? Unvermittelt traf sein Blick auf den Imsetis, des südlichen Sterngottes, der ihn auffordernd anzusehen schien, als warte er auf etwas. Wie hypnotisiert erwiderte der Herr der beiden Länder diesen Blick. Dann war es, als würde etwas in seinem Kopf an die richtige Stelle verschoben werden, sodass er plötzlich wusste, was zu tun war. „Lass mich deinen Dämonen befehlen“, Atemu hatte sein Gesicht Seth zugewandt. Seine Stimme war zugleich Bitte und drängende Forderung. Er wusste, was er da verlangte und verstand nur zu gut, warum ihn der Priester einen Moment nur schweigend ansah, ohne zu reagieren. Wenn sein Plan fehlschlug, würde nicht nur er sterben, sondern auch Seth. Andererseits würde bei einem Fehlschlag ohnehin niemand überleben. Etwas Ähnliches schien wohl auch dem Priester durch den Kopf zu gehen, denn er nickte nur wortlos. Erst als er erleichtert aufatmete, bemerkte Atemu, dass er vor Anspannung unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Sobald er das Einverständnis Seths hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Isfet und dem Bannfeld zu und sandte die vier Boten aus, Nachricht zu bringen zu Osiris im Norden, Thot im Westen, Seth im Süden und Re im Osten, dass das Menschengeschlecht ohne sie verloren war und demütig um Hilfe bat, um zu besiegen, was das Leben aller, Menschen wie Götter bedrohte. Als nächstes erhielt Kaiphas Befehl seine Lichtattacken auf die Grenzen des Bannfeldes zu speien, sodass im nächsten Moment gleißend helle Lichtwände aus dem Boden emporwuchsen und Isfet blendeten, das gepeinigt blindlings angriff und ins Leere stieß, auf sich selbst zurückgeworfen durch die Macht der Göttinnen und das Licht des Echsendämons. Imseti kehrte aus dem Süden zurück, das Einverständnis des Herrn der Wüste mit sich bringend und Atemu befahl dem roten Schlangendämon, dem gelben Katzenfalken und dem blauen Riesen sich zu vereinigen, im Namen des Gottes Seth, dem Bezwinger Apepis. Kaum war das geschehen, befahl der Herr der beiden Länder dem auf diese Weise neuentstandenen Wesen Isfet erneut anzugreifen. Im gleichen Augenblick als der dreifach Eine auf Isfet traf, kehrten auch Hapi und Kebechsenuef aus dem Westen und Norden zurück, die Gabe Osiris’ und Thots mit sich bringend: Einen Kanopenkrug, dessen Außen- und Innenseiten dicht beschrieben waren und dessen Deckel fehlte. Den leeren Krug in den Bannkreis legend, kehrten sie an die Seiten ihrer Schutzgöttinnen zurück und überließen es dem Dämon Isfet in das Innere des Kruges zu drängen. Nun kehrte auch der letzte der vier Horussöhne zurück, auf seinem Weg von Osten her die noch immer herrschende Dunkelheit zerreißend, das Sonnenlicht mit sich bringend und das Siegel des Gottes Re, das Isfet im Inneren der Kanope verschloss. Den Dämon zurückzwingend in jene Welt, aus der er gekommen war. Die Kanope in ein Uschebti mit geschlossenen Augen wandelnd, über dessen Körper sich eingravierte Bänder von Hieroglyphen zogen, in den über der Brust gekreuzten Händen die Symbole der Göttinnen Hathor und Serqet haltend. Ebenso wie Isfet verschwunden war, hatte sich auch der Bannkreis zusammen mit den Horussöhnen und den Schutzgöttinnen aufgelöst. Waren der Schlangendämon, der Katzenfalke und der Riese in ihre Reiche zurückgekehrt und hatte sich Kaiphas in die Seele seines Wirtes zurückgezogen. Die einzigen, die übrig geblieben waren, waren der Herr der beiden Länder und der Priester des Amun. Mühsam erhoben sich die Beiden aus dem Sand, lehnten sich gegen ihre Pferde, sich nicht einmal mehr darüber wundernd, dass diese an ihrer Seite ausgeharrt hatten. Noch zu sehr im Bann des Kampfes gegen Isfet, sich in diesem Moment darauf konzentrierend die Uschebtifigur zu erreichen und in ihren Besitz zu bringen. Bei ihr angelangt, blieben sie stehen und sahen die im Sand liegende Figur einen Augenblick nur an, bemüht zu begreifen, dass es ihnen tatsächlich gelungen war, Isfet zu besiegen, Kemet zu retten. Dann entschied der Horuserbe: „Nimm du sie, bis wir wissen, was wir mit ihr machen.“ Überrascht sah Seth aus den Augenwinkeln kurz zu seinem Begleiter, ehe er wortlos die tönerne Figur aus dem Sand hob und sie sich abwandten, um langsam in die Stadt zurückzukehren, unsicher was sie dort erwarten würde. Auf halbem Weg kam ihnen bereits Shimon mit einigen Begleitern entgegen, der sie mit einer Mischung aus Freude und unverhohlener Überraschung betrachtete, ihnen bereitwillig positive Auskunft auf die Frage gebend, wie es in der Stadt aussähe. Anschließend bestand der alte Arzt energisch darauf, dass sich König und Priester in der mitgebrachten Sänfte zurückbringen ließen. Als Seth erwachte, konnte er sich nicht erinnern, wie er in den Palast und sein Bett gekommen war. Verwirrt sah er sich um, bis ihm klar wurde, wo er sich befand, als nächstes nach dem Uschebti suchend, befürchtend, dass es ihm abgenommen worden war, während er geschlafen hatte. Erleichtert entdeckte er, dass die Figur unangetastet neben seinen anderen Sachen lag und nahm sie wieder an sich, nachdem er sich angekleidet hatte. Sobald es ihm gelungen war, den bohrenden Hunger zu stillen, der ihn seit dem Aufwachen plagte, sah er nach Mukisanu. Der junge Hethiter schien friedlich zu schlafen, um den Kopf einen weißen Verband tragend und so machte sich der Priester auf die Suche nach Shimon. Er fand den alten Arzt neben dem Bett des Herrn der beiden Länder, der offenbar noch immer schlief. „Was ist mit ihm?“ fragte Seth, während er neben den Arzt trat, ohne sich mit irgendeiner Form der Begrüßung aufzuhalten. Shimon schüttelte in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Trauer den Kopf, „Ich weiß es nicht. Als ich euch beide zurückkommen sah, habe ich geglaubt, er würde es überleben…“, einen Moment betrachtete Shimon den jungen König in trauerndem Schweigen, dann musterte er fragend Seth. „Dir geht es gut?“ Bestätigend nickte der Priester nur, ehe er zu wissen verlangte, was es mit der Andeutung Shimons auf sich hatte. Der zögerte zunächst, erwiderte dann jedoch bedrückt: „Auf dem Boden des Kästchens, das ich ihm gab, steht eine Warnung. Wer die Hilfe der Götter in Anspruch nimmt, gibt sein Leben auf. Du bist nach einem halben Tag Schlaf wieder vollkommen hergestellt, aber sie dir ihn an, er scheint mit jedem Atemzug schwächer zu werden.“ „Du musst dich irren oder hast etwas übersehen“, stellte Seth überzeugt fest und fügte auf die Nachfrage Shimons erklärend hinzu: „Ich habe einen der drei Dämonen gerufen.“ „Du hast…?“ wiederholte Shimon ungläubig, schwieg nachdenklich und murmelte dann mehr für sich als an den Priester gewandt: „Dann bist du der Grund, warum er noch lebt?“ Seth kam nicht dazu, mehr zu tun als dem Arzt einen skeptischen Blick zu zuwerfen. Denn gleich darauf wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Bewegung Atemus in Anspruch genommen, der zumindest einen Teil des Gesprächs mit angehört zu haben schien und nun bestimmt, wenn auch sehr leise erklärte: „Deshalb wird er auch die Regierung übernehmen, bis ich es wieder kann.“ Verdutzt starrte der alte Arzt auf seinen Patienten, dessen Verhalten dem Priester gegenüber in so vollkommenem Gegensatz zu seinen letzten Anschuldigungen stand. Konnte ein einziger Kampf tatsächlich einen solchen Sinneswandel bewirken? Seth war nicht weniger überrascht, prüfte in Gedanken die Worte und den Gesichtsausdruck des Königs, ob sich irgendein geheimer Sinn hinter dessen Befehl verbarg, der ihm im ersten Moment entgangen sein mochte. Aber er konnte nichts dergleichen erkennen und so verneigte er sich schließlich nur knapp, mit einem bestätigenden „Majestät“ den Auftrag annehmend. Als Zeichen seiner neuen Autorität hatte Seth einen reichverzierten Binsenbehälter erhalten. Einst hatten die Schreiber in diesen schlanken Röhren verschiedene Binsenstengel bei sich getragen. Inzwischen waren sie jedoch aus der Mode gekommen und dienten nur noch einige wenige dieser stabförmigen Behälter als Statussymbol und Machtanspruch. Auf dem Weg durch den Palast, um als erstes mit Benteschina von Amurru zu reden und herauszufinden, ob von dieser Seite neue Gefahr für Kemet drohte, ließ Seth die Uschebtifigur in das leere Innere des Binsenbehälters gleiten, um sie nicht versehentlich zu zerbrechen oder zu verlieren. In Gedanken war er bereits bei der Zeit nach der Genesung des Königs. Er entschied zu reisen. So weit weg wie möglich. Vielleicht würde er auch eine Weile in Hatti leben oder es gab einen Ort, den Meren gern besuchen wollte. Merenseth. Abrupt blieb Seth stehen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Benu nicht neben seinem Kopf gehockt hatte, als er aufgewacht war. Dass er sie nicht mehr gesehen hatte, seit sie sich im Palasthof unnötig aufgeregt hatte und davon geflogen war. Wo mochte sie abgeblieben sein? Es sah ihr nicht ähnlich ohne Grund so lange fort zu bleiben. – Vielleicht war sie bereits auf dem Weg Kisara zurückzuholen. Das musste es sein, entschied Seth, bevor er sich wieder in Bewegung setzte, das mulmige Gefühl in seinem Magen ebenso ignorierend wie den kleinen schweigsamen Schatten mit traurigen Augen, der sich ihm an die Fersen geheftet hatte. Ihm still überall hin folgte wie ein kleiner Hund, der Angst hatte noch einmal verlassen zu werden. In den folgenden Tagen verbrachte Seth seine Zeit damit dafür Sorge zu tragen, dass die Aufräumarbeiten in Gang kamen, die Verhandlungen mit Benteschina begannen, Bitten, Gesuche und Forderungen überprüft und gebilligt, Berichte aus den Provinzen entgegengenommen und Audienzen abgehalten wurden. Die verbliebenen Generäle mussten versammelt werden und einen Nachfolger für Karim bestimmen, anschließend wies Seth sie an die noch lebenden Anhänger Ninetjers gefangen zu setzen, damit sie vor Gericht gestellt werden konnten. War der Priester anfangs nicht nur wegen seiner Jugend mit einiger Skepsis behandelt worden, sondern auch wegen dem kleinen Mädchen, das ständig an seinem Rockzipfel zu hängen schien, gelang es ihm doch innerhalb kürzester Zeit diese Zweifel zu beseitigen. Es gelang ihm allerdings nicht Mana erfolgreich los zu werden. Wenn Diener versuchten sie von dem beschäftigten Priester zu trennen, krallte sie sich mit aller Macht in dessen Kleidung und begann zu schreien. Erst wenn Seth den Dienern bedeutete sich zurückzuziehen und dem Mädchen befahl mit dem Geschrei aufzuhören, beruhigte Mana sich wieder. Seth bemühte sich die meiste Zeit Mana einfach zu ignorieren. Aber es war schwer jemanden nicht zu bemerken, der sich immer wieder verängstigt gegen die eigenen Beine presste und seine Triefnase in den eigenen Kleidern abwischte. Irgendwann hatte Seth genug davon, dass seine Kleidung beständig Manas Spuren aufwies und gab ihr ein Tuch mit der Anweisung Mana solle ihre Nase da hinein stecken, statt in seine Sachen. Das Mädchen starrte ihn aus großen Augen an und trug das Tuch fortan ständig mit sich herum, ihre Nase auch weiter an Seths Kleidern sauber reibend und fortan Schreikrämpfe bekommend, wenn es jemand wagte ihr das Tuch wegnehmen zu wollen, sei es auch nur, um es zu säubern. War Seth nicht damit beschäftigt Arbeiter und Beamte im Auftrag Atemus anzuweisen und zu kontrollieren oder Vertragsverhandlungen mit Benteschina zu führen, Petitionen, Protokolle, Zusammenfassungen und Verfügungen zu lesen, Boten zu empfangen und auszusenden, saß er im Zimmer des Herrn der beiden Länder und erstattete diesem Bericht oder beriet sich mit ihm, wenn es dessen Zustand zuließ und nicht gerade ein ständig wachsender Stab von Ärzten unter Federführung Shimons versuchte das Leben des Herrn der beiden Länder zu verlängern und ihn zu heilen. Erst gegen Abend, wenn die Arbeiter ihr Tagwerk für die Nacht niederlegten und die Ärzte darauf bestanden, dass der König der absoluten Ruhe bedurfte, blieb dem jungen Priester Zeit nach Merenseth Ausschau zu halten, ungeduldig darauf wartend, dass sie endlich zusammen mit Kisara zurückkehrte. Bisher hatte er jeden Abend vergeblich den dunkler werdenden Himmel gemustert, auf der Suche nach der vertrauten Silhouette des glutfarbenen Vogels. Auch an diesem Abend schien es, als würde er vergeblich auf die Rückkehr Merenseths warten, als er am Horizont schließlich doch noch einen schnell näherkommenden Punkt entdeckte. Der Punkt nahm bald schon die Gestalt eines großen, majestätischen Benu an, der in seinen Krallen die Enden eines beutelartigen Tuches trug. Im ersten Augenblick verspürte Seth bei diesem Anblick nichts als Erleichterung, ehe er bemerkte, dass das Gefieder des Vogels sehr viel heller war als bei Merenseth. Das Ziel des Benu schien dennoch der königliche Palast zu sein, dem er sich unbeirrt näherte, während er allmählich an Höhe verlor. Direkt vor Seth in der Luft schwebend verharrte der Vogel schließlich, das von seinen Krallen gehaltene Tuch auf dem Boden absetzend und dessen Enden loslassend. Aufmerksam hatte Seth das Geschehen verfolgt und entdeckte nun, dass sich Kisara im Inneren des Tuches befand. Beim Anblick des Priesters sprang das Mädchen hastig auf und lief zu ihm, erleichtert seinen Namen rufend, froh zu sehen, dass es ihm gut ging. Im Reflex schloss Seth die Arme schützend um das Mädchen, während er nur ein beschwichtigendes „Schon gut“ von sich gab, die Augen noch immer auf den unbekannten Benu gerichtet. Dieser schien seine Aufgabe als erfüllt zu betrachten und schlug mit den Flügeln, um wieder an Höhe zu gewinnen, gleichzeitig auf die Größe eines Graureihers schrumpfend, als der Priester ihn mit der Frage aufhielt: „Wo ist mit Merenseth?“ Für einen Moment schien der Vogel über eine Antwort nachzudenken, dann jedoch schlug er nur erneut mit den Flügeln und flog davon. Es war bereits nach Mitternacht, bald würde Re seine Fahrt durch das Jenseits vollendet haben, Cheper wiedergeboren werden und Kemet den Beginn eines neuen Tages erleben. Seth hatte in dieser Nacht nicht viel Schlaf gefunden und sich unruhig auf seinem Lager hin und her gewälzt, bis er schließlich kapitulierte und sich erhob. Er kehrte in den Garten zurück. Zu der Stelle, an der Kisara am Abend abgesetzt worden war, unwillkürlich erneut den Himmel nach einem Zeichen Merenseths absuchend. Als er schließlich enttäuscht den Blick abwandte, entdeckte er halb in den Schatten der mondhellen Nacht verborgen die hohe Gestalt eines hellhaarigen Mannes, der auf ihn zutrat, als er sah, dass er bemerkt worden war. Nicht nur die langen, glatten Haare von metallisch gelber Farbe waren an diesem Mann ungewöhnlich, sondern auch das lange, fließende Gewand mit weiten Ärmeln, die bis zu den Handgelenken reichten und der hohe Wuchs, mit dem er selbst noch Seth überragte. „Wer bist du?“, die in eisigem Ton gestellte Frage, schien den Mann nicht weiter zu beeindrucken, denn er erwiderte nur gelassen, mit einer Stimme, die bei seinem Zuhörer Bilder von schneebedeckten Berggipfeln und nebelgefüllten Schluchten wachrief: „Oreithys.“ Kurz verengten sich die Augen Seths. „Der Hüter der Zeit. Du verlässt deinen Turm für einen Menschen?“ Oreithys schien die unverhüllte Skepsis nicht zu bemerken, widersprach auch nicht der damit verbundenen Andeutung, dass er Menschen für unwichtig hielt, sondern erwiderte lediglich sachlich: „Eine Ausnahme.“ „Warum?“ Unwillkürlich spannte sich Seth in der Erwartung schlechter Nachrichten. Dass Merenseth bisher nicht zurückkehrt war und Oreithys die Aufgabe übernommen hatte Kisara zurück nach Kemet zu bringen, konnte nichts Gutes bedeuten. Als Antwort auf Seths Frage streckte Oreithys ihm eine geöffnete Hand entgegen, in der ein Lapislazuliring lag, der trotz der überstandenen Abenteuer noch immer unversehrt und vollkommen wirkte. „Sie wird nicht zurückkehren.“ In dumpfer Betäubung starrte Seth auf den Ring in Oreithys Hand, während er dessen Worte nur am Rande wahrnahm, abrupt den Kopf schüttelnd. „Sie ist ein Benu, kein Benu kann sterben.“ „Niemand der von Isfet verschlungen wurde, kann einfach wieder zurückkehren, selbst wenn es ein Benu ist.“ „Ohne sie wäre Kemet untergegangen, die Götter werden sie nicht Isfet überlassen.“ Wilder Trotz schwang in Seths Stimme mit, als wolle er die Götter selbst davor warnen, einen solchen Fehler zu begehen. „Sie hat gegen das Gesetz verstoßen. Hätten die Götter sie gerettet, statt sie Isfet zu überlassen, wäre Kemet am Ende dennoch untergegangen.“ „Welches Gesetz?“, verlangte Seth herrisch und noch immer ungläubig zu wissen und erhielt die Antwort: „Was von Menschen heraufbeschworen wurde, muss von Menschen bezwungen werden. Sie dagegen hat an deiner Seite gegen Isfet gekämpft. Missbrauchte das Lied, das allein der Wiedergeburt des Re vorbehalten ist, um Isfet zu schwächen.“ „Wenn sie das nicht getan hätte, wäre es uns nicht gelungen Isfet zu besiegen.“ „Dann wäre es das gewesen, was euch bestimmt war.“ „Wenn Kemet so oder so dem Untergang geweiht war, warum haben die Götter sich dann geweigert sie zu retten, es hätte für sie keinen Unterschied bedeutet.“ „Du irrst. Die Tatsache, dass Nimaat bereit war gegen die Gebote zu verstoßen, trotzdem sie wusste, welche Strafe darauf steht, hat den Untergang verhindert. Hätten die Götter sie gerettet, wäre ihr Opfer ebenso wie die Opfer des Königs und seiner Anhänger vollkommen sinnlos gewesen.“ Bemüht die Fassung zu wahren, starrte Seth in das mondbeschienene Dunkel des Gartens, unfähig die Worte des fremden Benu zu akzeptieren, sich schließlich auf ein nebensächliches Detail konzentrierend: „Warum nennst du sie Nimaat?“ „Es ist ihr Name. Bist du nie auf den Gedanken gekommen, dass sie längst einen Namen besaß, ehe ein Bauernjunge sie in den Bergen gefunden hat?“ Seths Kiefer spannten sich bei diesen Worten, nach kurzem Schweigen sehr bestimmt klarstellend: „Ihr Name ist Merenseth.“ Oreithys schwieg auf diese Feststellung nur, legte stattdessen den Ring auf dem steinernen Sockel einer Statue ab und schien der Ansicht zu sein, dass es für ihn an der Zeit war zu gehen. Ehe er dieses Vorhaben noch in die Tat umsetzen konnte, stellte Seth ihm die Frage: „Gibt es eine Möglichkeit sie zurückzuholen?“ Aufmerksam betrachtete Oreithys den Priester, als prüfe er dessen Entschlossenheit, erklärte dann jedoch nur ruhig: „Das liegt allein im Willen der Götter.“ „Die nicht einmal im Traum in Erwägung ziehen sie zu befreien“, Seths Stimme klang bitter, als er diese Feststellung traf. „Götter können nicht träumen“, erwiderte Oreithys milde und ergänzte: „Merenseth war ein schlechter Lehrer, wenn sie dir nicht einmal das Grundlegendste beigebracht hat.“ Der Blick mit dem Seth ihn bei diesen Worten bedachte, enthielt eine eindeutige Warnung: Er würde eine Beleidigung seines Benu in keinem Fall dulden. „Was sie war oder nicht, steht dir nicht zu zu beurteilen. Sie stand in meinem Dienst, nicht in deinem. - Sag, worauf du hinaus willst, statt dich in irgendwelchen Anspielungen zu versuchen.“ Ein winziges Zucken huschte bei diesen Worten über Oreithys Gesicht, bevor er gelassen erklärte: „Hoffnung. Der Grund warum Menschen existieren ist, dass sie in der Lage sind zu hoffen. Und weil sie hoffen können, sind sie auch diejenigen, die träumen können - und glauben. In mancher Hinsicht sind sie damit mächtiger als Götter. Götter wissen, das macht es für sie unmöglich zu hoffen und zu träumen. Sie bedürfen der Menschen, die ihnen mit ihren Wünschen, Sehnsüchten und Vorstellungen Grund geben zu sein. So lang du die Hoffnung nicht aufgibst, Merenseth eines Tages wiederzusehen, sei es nun in diesem oder einem anderen Leben, besteht die Möglichkeit, dass es wahr wird. Gibst du die Hoffnung auf, wird Merenseth Isfet niemals entkommen.“ Ein verächtliches Geräusch entfloh Seths Lippen als er das zu hören bekam, ehe er eisig entschied: „Leeres Geschwätz. Such dir einen Dümmeren für diesen Unsinn.“ „Du bist undankbar, Iripat“, erwiderte Oreithys ruhig. „Und du schlecht informiert“, schoss Seth bissig zurück. Es gab keine Worte um auszudrücken, wie sehr ihn dieser Benu erzürnte. „Besser als du glaubst, Nebtawej.“ „Schweig!“, wies der Priester den Benu mit scharfer Stimme zurecht. „Ich bin und werde nicht der Herr Kemets!“ „Das ist nicht mehr an dir zu entscheiden. Noch bevor Re seine Fahrt durch die Unterwelt erneut beginnt, wird der Sohn Akunemkanons seine Eltern wiedersehen.“ „Das werden sie nicht tun, er ist der rechtmäßige Erbe.“ „Gönnst du deinem König dieses Wiedersehen so wenig?“ Oreithys Stimme klang gleichmütig. „Nein. Die Menschen brauchen ihn. Er ist derjenige an den sie glauben, auf den sie vertrauen. Wenn er stirbt, wer soll ihnen dann deine gepriesene Hoffnung geben?“ „Du“, erklärte Oreithys vollkommen nüchtern und ohne das geringste Zögern. „Ich?“ echote Seth fassungslos und hätte den hellhaarigen Mann neben sich am liebsten niedergeschlagen. Er konnte spüren, wie der Dämon in seiner Seele gespannt das Haupt hob, begierig darauf diesem unzumutbaren Boten die Kehle zu zerfetzen. Ohne jede Neugier in der Stimme fragte Oreithys unterdessen: „Wovor hast du Angst? Du hast längst bewiesen, dass du die Fähigkeit zu herrschen besitzt. Glaubst du, ohne Merenseth bist du nicht in der Lage dazu?“ Für einen kurzen Moment schwieg der hellhaarige Benu, gab dem Priester Zeit das Gehörte zu verarbeiten und sprach dann gleichmütig das feststehende Urteil: „Du brauchst sie nicht. Du hast Kisara und Mukisanu an deiner Seite. Du wirst neue Träume haben und Menschen kennen lernen, die dir helfen diese Träume zu verwirklichen. Und Kemet wird der Benu sein, der für dich aus der Asche ersteht.“ Kaum hatte Oreithys ausgesprochen, verwandelte er sich wieder in seine Vogelgestalt und flog davon, einen Priester zurücklassend, der mit geballten Fäusten und finsterem Gesicht ins Leere sah, den Eindruck erweckend, jeden Moment die Uschebtifigur aus ihrem Binsenbehälter hervor zu holen und zu zertrümmern, in der Absicht den Göttern selbst eine Lehre zu erteilen. Stattdessen griff er schließlich nur nach dem zurückgelassenen Ring, wandte sich mit eckigen Bewegungen ab und kehrte in den Palast zurück, auf direktem Weg die Räume des Königs aufsuchend. Ohne auf den vorgebrachten Protest des Wache haltenden Dieners zu achten, betrat Seth den Raum und starrte eine Weile auf den schlafenden König herab, ehe er sich schließlich auf einen neben dem Bett stehenden Hocker niederließ und darauf wartete, dass Atemu erwachte. Sobald dieser die Augen aufgeschlagen und den Priester an seinem Bett entdeckt hatte, erklärte Seth sachlich: „Ich werde den Hof verlassen. Du musst jemand anderen ernennen, der dich vertritt.“ Schweigend erwiderte der König den entschlossenen Blick des Priesters, als warte er auf eine Erklärung, dann sagte er nur ein einziges Wort: „Nein.“ Aus zornhellen Augen durchbohrte Seths Blick den des Herrschers, während er erwiderte: „Das war keine Bitte um Erlaubnis. Ich habe dir eine Tatsache mitgeteilt.“ „Und ich habe sie abgelehnt“ konterte Atemu ruhig, „ich werde weder jemand anderen mit der Regierung beauftragen, noch dich gehen lassen. Du wirst meinen Platz einnehmen, wenn ich nicht mehr bin.“ Das konnte doch wohl kaum sein Ernst sein! Wahrscheinlich benebelten die Medikamente seinen Verstand, mutmaßte Seth, während er in provozierendem Tonfall fragte: „Du willst den Mörder Akunadins zu deinem Nachfolger machen? Einen dahergelaufenen Dieb und Bauernjungen, der dich hintergangen hat?“ „Ich weiß, dass du mich nicht verraten hast“, erwiderte der König, „selbst wenn Oreithys mir nicht berichtet hätte, was tatsächlich geschehen ist, hätte ich dich zu meinem Nachfolger bestimmt.“ Offenbar hatte die Kälte den Verstand des Benu eingefroren und die Einsamkeit ihn ungesund schwatzhaft gemacht. Wie kam er dazu Atemu Dinge zu erzählen, die diesen absolut nichts angingen?! „Ich kenne keinen Oreithys“, erklärte Seth bestimmt und fügte hinzu: „Bestimme Shimon als Nachfolger, er ist treu genug um dir auch diese letzte Bitte zu erfüllen. Ich werde es nicht tun.“ Wieder sah Atemu den Priester einen Moment schweigend an, bevor er schlicht feststellte: „Ich will, dass du mein Nachfolger wirst.“ Wortlos starrte Seth ihn an, während er nach einer Möglichkeit suchte, dieser Aufgabe doch noch zu entgehen. Er wollte kein willfähriges Werkzeug der Götter sein, wollte seine eigenen Entscheidungen treffen, wollte nicht länger in diesem Land leben, das ihn beinahe jede Person gekostet hatte, die ihm wichtig gewesen war. Als er Atemu schließlich antwortete, klang seine Stimme nicht mehr gereizt, sondern vollkommen ruhig, den letzten Trumpf ausspielend, den er hatte: „Wenn du mich zu deinem Nachfolger bestimmst, hat Akunadin doch noch erreicht, was er wollte. Wenn wir seinen Willen erfüllen, den Willen eines Verräters, welchen Sinn hatte es dann, das wir gekämpft haben? Welchen Sinn hatte dann der Tod von Mahaado, Isis, Karim und all den anderen?“ So schwer wie die Frage, wog das folgende Schweigen, in dem Atemu sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnte und Seth angespannt darauf wartete, dass der König seine bereits getroffene Entscheidung widerrief. „Es war nicht die Idee Akunadins, die schlecht war“, erwiderte Atemu schließlich ruhig, noch immer mit geschlossenen Augen, „es war der Weg, den er einschlug, um seine Idee zu verwirklichen. Nur weil du mein Nachfolger wirst, heißt das nicht, dass Akunadin gewonnen hat. Es heißt, dass er und ich der gleichen Überzeugung sind.“ Wieder schwieg der König einen Augenblick, öffnete die Augen und bohrte den unerbittlichen Blick seiner klaren Augen in den des Priesters. „Du wirst mein Nachfolger. Lass Kemet auferstehen und mach es zu einem besseren Ort, als er das bisher war.“ Einen kurzen Moment verzogen sich Seths Mundwinkel in einem zynischen Eingeständnis seiner Niederlage, während er Oreithys im Stillen dazu gratulierte ganze Arbeit bei der Überzeugung des Königs geleistet zu haben, dass dieser selbst die Benu-Metapher verwendete. Sich erhebend und eine Verneigung andeutend, erklärte er schließlich lediglich: „Ich werde über deine Worte nachdenken.“ Atemu nickte zustimmend, während er erwiderte: „Ich werde veranlassen, dass alle nötigen Vorbereitungen getroffen werden, damit es keine Zweifel an meiner Entscheidung gibt.“ Seth biss die Zähne zusammen, während er sich ein weiteres Mal verbeugte und gleich darauf das Zimmer verließ, ziellos durch die Gegend streifend, ohne sich um irgendwelche Regierungsaufgaben zu kümmern. Schließlich kehrte er in das kleine Zimmer zurück, das ihm drei Jahre lang als Schlafraum und Studierzimmer gedient hatte. Mana war er mit der Rückkehr Kisaras glücklich losgeworden, zumindest solange, bis es dem kleinen Mädchen gelang zu entwischen und wieder zum Schatten Seths zu werden. Für den Moment jedoch saß er allein auf dem kahlen Bett, das dienstbare Geister bereits ebenso von allen Spuren seiner Gegenwart befreit hatten, wie den Rest des Zimmers. Offenbar hatte Atemu seiner Drohung, ihn als seinen Erben bekannt zu machen, bereits Taten folgen lassen und angeordnet, dass seine Besitztümer in ein anderes Zimmer gebracht wurden. Nur die Vogelstange Merenseths stand noch verweist an ihrem Platz, anscheinend hatte niemand gewusst, was mit ihr geschehen sollte. Seth starrte auf den bevorzugten Sitzplatz seines Benu und versuchte zu entscheiden, ob er tatsächlich die Verantwortung für Kemet übernehmen sollte oder ob er sich nicht besser einfach davon schlich. Wie sehr vermisste er in diesem Moment seinen Benu. Ihre Art zuzuhören, das tröstende Kitzeln ihres Gefieders an seiner Wange, das leichte Gewicht auf und die Krallen, die sich Halt suchend in seine Schulter bohrten. Vermisste das irritierte Heben der Schopffedern, das aufmunternde Tschilpen, ja selbst ihre Unart ihn in die Nase zu kneifen, wenn sie mit etwas nicht einverstanden war und wollte, dass er sich anders verhielt. Vermisste die warmen, klugen Augen, die ihn ansahen, als könnten sie in die tiefsten und dunkelsten Ecken seiner Seele sehen, ohne davon angewidert zu sein. Vermisste die Tatsache, dass sie ihm eine Wahl ließ und selbst dann noch zu ihm hielt, wenn sie mit seiner Entscheidung nicht unbedingt einverstanden war. Vermisste den Freund, der seit Kindertagen sein Begleiter war und von dem er überzeugt gewesen war, dass er sich stets an seiner Seite befinden würde, selbst über den Tod hinaus. Vermisste sie… Ein leises Klopfen drang von der offenstehenden Tür her in seine Gedanken und ließ ihn desinteressiert aufsehen. Noch immer mit einem Verband um den Kopf, aber bereits wieder mit dem ersten Anflug seines ansteckenden Grinsens im Gesicht stand Mukisanu in der Tür und betrachtete ihn neugierig. „Was ist?“ Seths Stimme klang gleichgültig als er diese Frage stellte, während Mukisanu langsam näher kam, sich neben ihn setzte und berichtete: „Im Palast sagen sie, dass du der nächste König Kemets wirst.“ „Sagt man das“, war die nichtssagende Erwiderung Seths darauf, während er den Kopf abwandte und in Richtung des schmalen Fensters sah, durch das Merenseth so häufig ein- und ausgeflogen war. „Ja“, bestätigte Mukisanu unverdrossen die Aussage Seths, als wäre es eine Frage gewesen, und fuhr ohne sich von der abweisenden Haltung beeindrucken zu lassen fort: „Wirst du echt König?“ Statt zu antworten erhob sich Seth, um an das Fenster zu treten und nach draußen zu sehen, während Mukisanu laut überlegend weitersprach: „Es muss toll sein, König zu sein. Alle müssen sich vor dir verbeugen, du kannst jeden Tag die leckersten Sachen essen. - Du kannst einen ganzen Harem haben! Und alle müssen immer tun, was du sagst.“ Mukisanu klang begeistert, im nächsten Augenblick wurde seine Stimme nachdenklicher, als er ergänzte: „Andererseits darf man als König viele Sachen nicht mehr machen, oder?“ Seth wandte dem Jungen auf dem Bett leicht den Kopf zu, während er fragte: „Was für Sachen?“ „Na zum Beispiel kannst du nicht mehr in Schlossgärten steigen und Obst klauen. Auf Meren fliegen, geht vermutlich auch nicht mehr. Fehler machen darfst du auch nicht; ein König muss doch immer alles richtig machen und schrecklich würdevoll sein. Du dürftest den Anderen nicht mehr sagen, was du von ihnen hältst, weil man als König doch alle gleich behandeln muss... - Vielleicht solltest du doch nicht König werden. Komm doch mit nach Hatti, dann machen wir unsere eigene Bande auf und Urija wird auf Knien angekrochen kommen, um bei uns mitmachen zu dürfen.“ Mukisanu schien von dieser letzten Idee so begeistert, dass sie Seth ein kurzes Lächeln entlockte, bevor er den Blick wieder aus dem Fenster richtete, sich seinen eigenen Überlegungen zuwendend. Er wusste einfach nicht wie er sich entscheiden sollte. Die Tatsache, dass Akunadins Plan sich letztendlich doch noch erfüllt hätte, wenn er den Thron bestieg, spielte dabei nur eine sehr untergeordnete Rolle. Nur weil er dem Wunsch seines Vaters nachkam, hieß das nicht, dass er werden musste wie dieser. Er war immer noch Seth. Ein Mensch, der seine eigenen Entscheidungen traf und dabei nicht von einem machthungrigen Tjt gelenkt werden würde, wie es bei Akunemkanon der Fall gewesen war. Der Gedanke, das Werk Ninetjers fortzuführen und zu beenden, Kemet vollends auszulöschen und auf diese Weise seine Freiheit zu gewinnen, besaß noch immer einen gewissen Reiz. Nicht nur, um auf diese Weise die Götter zu bestrafen, sondern auch, um so allen Ballast, alle drohenden Verpflichtungen aus dem Weg zu räumen und Rache zu nehmen, für das, was ihm genommen worden war und vorenthalten bleiben würde. Er spürte, wie der Dämon in seiner Seele unruhig wurde und bei dem Gedanken an Rache ein zustimmendes Grollen von sich gab. Gleichzeitig führte dieses Grollen dazu, dass er an Kisara denken musste, an Mana, an alle, die nicht weniger verloren hatten als er selbst. Er hatte Mana versprochen, dass ihr nichts passieren würde, Kisara vertraute darauf, dass er sie beschützte. Mit welcher Ausrede hätte er sie im Stich lassen können? Mit welchem Argument hätte er rechtfertigen können, dass Mukisanu ein weiteres Mal verletzt wurde? Plötzlich hatte er das Gefühl Merenseth zu hören, die aufmunternd tschilpte, ihm mit einem weiteren Tschilpen zu verstehen gab, er solle aufhören das Königtum als Strafe zu betrachten, daran denken, welche Möglichkeiten mit diesem Amt und seiner Macht verbunden waren. Ungläubig blinzelnd starrte Seth auf die flirrende Vogelgestalt vor dem Fenster, während sein Nasenrücken plötzlich schmerzte, als hätte Merenseth wieder einmal energisch zugekniffen. Als er jedoch die Hand nach dem Benu vor dem Fenster ausstreckte, verschwand dieser ebenso plötzlich wie er erschienen war und das, was für Sekundenbruchteile ausgesehen hatte wie ein Vogel, war nun wieder nur warmes Sonnenlicht und in Hitze und Wind tanzende Staubkörner. Zurück blieben ein schaler Geschmack auf der Zunge, ein seltsames Gefühl im Bauch und die Erkenntnis, dass Hoffnung etwas sehr Grausames sein konnte. Sie schlug einem schmerzhaft die Klauen ins Fleisch und war nicht mehr dazu zu bringen los zu lassen. Sie weckte Sehnsucht, die nicht gestillt werden konnte; zwang einen dazu durchzuhalten, weiter zu machen und war es noch so aussichtslos. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Er würde König werden. Er würde Kemet in neuem Glanz auferstehen lassen - und er würde ändern, was nicht seinem Willen entsprach. Sie wollten, dass er die Macht übernahm und er würde sie nutzen. „Sag mal, wenn du König bist, darf ich dann überhaupt noch mit dir reden?“ drang die Stimme Mukisanus wieder in sein Bewusstsein und ein spöttisches Lächeln umspielte Seths Mundwinkel, als er sich herumdrehend statt einer Antwort die Frage stellte: „Wärst du denn in der Lage, es nicht zu tun?“ Mukisanu starrte ihn ein wenig nachdenklich an, „weiß nicht. Ich war bisher noch nie mit einem König befreundet.“ „Dann bleib und finde es heraus.“ „Ernsthaft?“ Mukisanu strahlte vor Begeisterung bei dieser Frage. Seth nickte nur. „Uhm… könntest du vielleicht mit Amurru reden? Ich glaub, wenn das ein König tut, macht das mehr Eindruck, als wenn ich frage“, druckste Mukisanu im nächsten Moment ein wenig verlegen herum und zappelte unter dem ausdruckslos durchdringenden Blick seines Gegenübers solange nervös herum, bis dieser schließlich erneut nickte und entschied: „Gehen wir.“ Letzte Erklärungen für Interessierte Hemneter (Hm-ntr) = Gottesdiener/Priester Iripat (jrj-pat) = Erbrinz; Kronprinz Nebtawej (nb-tA.wj) = Herr der beiden Länder Mukisanu = hethitisches alter Ego Mokubas Ninetjer = ägyptisches alter Ego Bakuras Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)