Feuervogel von abgemeldet (Ein Junge und sein Benu gegen den Rest der Welt) ================================================================================ Kapitel 3: Schein und Sein -------------------------- Während der Mittagshitze wirkte das Dorf stets wie ausgestorben, da jeder etwas Erholung in den kühlen Mauern der Häuser suchte. Einige Tage nach der Vorführung seiner Flugkunststückchen, hatte Merenseth sich genau zu dieser Zeit, unbemerkt von einem vor sich hindösenden Seth, auf und davon gemacht und war zu den Felsen geflogen, zwischen denen Seth ihn vor Monaten gefunden hatte. In dem Felsental angekommen, ließ der Vogel sich auf einem großen Felsbrocken nieder und schien auf etwas zu warten. Tatsächlich war es so, dass er weniger auf etwas wartete, als vielmehr über etwas nachdachte und sich anschließend mit geschlossenen Augen auf einen Punkt in seinem Inneren konzentrierte. Als er die Augen wieder öffnete und vorsichtig an sich hinunter schielte, stellte er fest, dass er sich nicht verändert hatte. Es war auch schon eine ganze Weile her, seit er es das letzte Mal getan hatte und eigentlich mochte er es überhaupt nicht. Aber auf Dauer ging es nicht anders, wollte er mit dem Jungen befriedigend kommunizieren und seit er den Ring trug, hatte er ohnehin keine andere Wahl. Also versuchte Merenseth erneut sich zu verwandeln, wieder ohne sichtbaren Erfolg. Über den zahl- und fruchtlosen Versuchen Merenseths eine Veränderung seiner selbst zu erzeugen, verging langsam und allmählich der Nachmittag, ohne dass der Vogel darauf oder seine Umgebung achtete. Seth war durch Meni geweckt worden, der ihn an der Schulter schüttelte und ihm erklärte es gäbe Arbeit für ihn. Benommen von der Hitze und noch leicht verschlafen sah Seth einen Moment zu ihm hoch, bevor er sich gähnend erhob und gewohnheitsmäßig nach Merenseth auf seiner Schulter tastete. Nur, da war nichts und auch ein suchender Blick in die Umgebung brachte keinen Aufschluss über den Verbleib des Benus. Für den Augenblick stellte Seth die Gedanken um den Vogel zurück, vermutlich flog er nur irgendwo herum oder hing kopfüber an einem Ast und beobachtete das Geschehen unter sich. Er würde schon wiederkommen und Seth hatte für den Moment andere Dinge zu erledigen. Als es jedoch Zeit wurde Menis Stand für den Tag zu schließen und Merenseth noch immer nicht zurückgekehrt war, begann sich der Junge doch ernsthafte Sorgen zu machen. Wo blieb der Kleine bloß? Nachdem die Waren Menis sicher in dessen Lager verstaut waren, machte Seth sich auf die Suche nach seinem Freund und fragte im Dorf herum, ob jemand seinen Vogel gesehen habe. Nach vielen enttäuschenden Verneinungen seiner Frage, erhielt er schließlich doch noch von einem alten Mann, der zufrieden auf einer Bank vor seinem Haus saß, eine ausführlichere Antwort. „Wenn mich meine Augen und die Mittagssonne nicht getäuscht haben, ist heute Mittag ein Vogel in Richtung der Felsen geflogen. Ich habe mich noch gewundert, was den Vogel wohl dazu veranlaßt hat, wenn sich doch sonst alles ausruht. Aber meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher. Dass es dein Benu war, kann ich nicht sicher sagen.“ Trotz dieser Antwort machte sich Seth mit neuer Hoffnung auf Richtung Felsen und kletterte flink und mit dem Geschick langer Übung, einer Vermutung folgend, zu dem Felskessel in dem er Merenseth gefunden hatte. Mit einer seltsamen Mischung aus Zufriedenheit und Unverständnis sah Merenseth an sich herab. Endlich hatte sie es geschafft. Aber warum Menschen an so einem unvollkommenen Körper hingen verstand sie nicht. Er hatte an den unmöglichsten Stellen störende Huckel und Dellen, statt ihren zweimal vier Krallen besaß sie nun nutzlose zweimal fünf Zehen und weder Flügel noch einen Schwanz. Die Körperproportionen und die Haltung sorgten dafür dass sie starke Schwierigkeiten hatte ihr Gleichgewicht zu halten, während sie sich gleichzeitig fragte, wie Menschen nur ohne Gefieder und mit so schlechten Augen überleben konnten. Nein, in Menschengestalt zu leben war wirklich kein Vergnügen und wenn es ihr möglich war, würde sie diesen Zustand so selten wie möglich herstellen. Mit einem kleinen Seufzen erhob sich Merenseth von dem Stein, an dem sie bis zu diesem Moment gelehnt hatte, um nicht gleich im Staub zu landen, und begann mit weit von sich gestreckten Armen, schwankend, torkelnd und immer wieder in die Knie gehend das Laufen zu üben. Als Seth sein Ziel in den Felsen erreichte, erblickte er ein nacktes, schmales Mädchen von etwa zwölf Jahren, mit dunkelbraunen Haaren und weit ausgebreiteten Armen, das verzweifelt versuchte sein Gleichgewicht zu halten, während es langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Das Seltsame an dem Mädchen war nicht nur, dass es offenbar Schwierigkeiten mit einer so einfachen Sache wie dem Gehen hatte, sondern auch, dass es bei diesem Versuch des Öfteren ruckartig den Kopf nach vorn bewegte, wie es Tauben und andere Vögel beim Laufen taten. Am rechten Knöchel des Mädchens entdeckte Seth einen schmalen, lapislazuliblauen Reifen, der so eng saß, dass es ein Rätsel war, wie das Mädchen diesen Reifen je anlegen konnte. Obwohl der Reifen um einiges größer war als der Ring, den Seth seinem Benu geschenkt hatte, erinnerte ihn der Reifen doch an diesen, zumal selbst die Schriftzeichen auf dem Reifen mit seinem Geschenk übereinstimmten. Währenddessen hatte das Mädchen entdeckt, dass es von Seth beobachtet wurde und kam langsam, mit hochkonzentriertem Gesichtsausdruck, noch immer ausgebreiteten Armen und bemüht nicht mit dem Kopf zu rucken auf ihn zugeschwankt. Als sie nur noch ein oder zwei Schritte von dem Jungen entfernt war, blieb sie stehen, ließ die Arme sinken und äußerte mit einer Stimme, die viel zu alt für ihre zwölf Jahre, dunkel und warm klang: „Ich wollte es dir eigentlich erst zeigen, wenn ich es richtig kann, so wie beim Fliegen, aber das lässt sich jetzt wohl nicht mehr bewerkstelligen.“ Seth sah sie nur aus großen, erstaunten Augen an, wer war dieses Mädchen und warum redete es mit ihm, als würden sie sich schon seit einer Weile kennen? Merenseth hatte währenddessen den Kopf leicht zur Seite geneigt und betrachtete ihn amüsiert. „Du hast keine Ahnung wer ich bin, stimmt’s?“ Seth runzelte verärgert die Stirn, „Natürlich nicht, woher auch?!“, entgegnete er ungehalten und wollte sich bereits wieder umdrehen, um zu gehen und weiter nach seinem Benu zu suchen, als er von der Stimme des Mädchens aufgehalten wurde, das plötzlich Dinge zu erzählen begann, von denen er geglaubt hatte, dass außer Merenseth niemand eine Ahnung davon hätte. „Vor sechs Monaten hat du hier ein Vogelküken gefunden und dich zusammen mit ihm vor zwei Männern versteckt, die es mitnehmen wollten. Später hast du es mit nach Hause genommen und in einer kleinen Kammer einquartiert. Deiner Mutter hast du eine Lüge erzählt wie du mich gefunden hast, weil du nicht wolltest, dass sie sich Sorgen darüber macht, wenn du einfach allein in den Felsen herum kletterst. Als du vier warst, hat dein Vater dir das Reiten beigebracht. Du hattest Angst vor dem Pferd, wolltest aber nicht, dass dein Vater es merkt, sondern dass er stolz auf dich ist, wie schnell du reiten lernst. Als er euch dann von einem Tag auf den anderen verlassen hat, hast du beschlossen so schnell wie möglich erwachsen zu werden, um deine Mutter versorgen zu können und heraus zu finden, warum dein Vater das getan hat. Am ersten Tag, als du begonnen hast, für Meni zu arbeiten, sind wir von einer Gruppe Trunkenbolde angegriffen worden. Du hast einem der Männer den Kopf in den Bauch gerammt und nie jemandem erzählt was passiert ist. Den Ring hast du mir geschenkt, damit ich dich nicht vergesse und du mich wieder erkennst, wenn ich davon geflogen bin und eines Tages wiederkommen sollte.“ Nachdem Merenseth geendet hatte, schwiegen Beide eine Weile, Merenseth auf eine Reaktion wartend, Seth viel zu geschockt um irgendetwas zu sagen. Sein Merenseth, sein Benu, sein Freund und Vertrauter hatte sich soeben als ein MÄDCHEN entpuppt. Das war so ziemlich das Schlimmste, was ihm passieren konnte. Mädchen waren dumm, nervig, kicherten ständig, tuschelten einander hinter vorgehaltener Hand irgendwelche Lügen zu und konnten kein Geheimnis auch nur fünf Minuten für sich behalten. Es war schlicht eine Katastrophe, er hatte einer dieser hinterhältigen und unzuverlässigen Gänse mehr erzählt als irgendwem sonst und er konnte sich die Schreckensbilder nur zu gut ausmalen, die das zur Folge haben würde. Seth fühlte sich betrogen, er hatte seinem Freund vertraut und jetzt stellte sich heraus, dass es gar kein Freund war, den er da all die Monate auf seiner Schulter herumgetragen hatte, das war einfach nicht gerecht. Den letzten Rest seines stark angeschlagenen Stolzes zusammenkratzend, richtete Seth sich kerzengerade auf, sah direkt in die freundlichen, braunen Augen seines Gegenübers und erwiderte so entschlossen wie irgend möglich: „Ich habe keine Ahnung wovon du redest.“ Anschließend dreht er sich schwungvoll herum und verließ mit schnellen Schritten den Felskessel. Merenseth sah ihm verblüfft hinterher, mit soviel Ablehnung hatte sie nicht gerechnet. Im Gegenteil, ihre letzte Besitzerin war hellauf begeistert gewesen, als sie sich in menschlicher Form präsentiert hatte und bestand darauf, dass Merenseth sich stets in dieser Gestalt in ihrer Nähe aufhielt – was eine reine Tortur für Merenseth gewesen war, aber die Wünsche des Besitzers waren Gesetz, bis der Benu aus dessen Diensten entlassen wurde. Wieder einmal den Kopf über menschliche Eigenarten schüttelnd, begann Merenseth dem Jungen, der nun ihr Besitzer war, hinterher zu laufen. Wobei schwanken und stolpern es wohl eher trafen, sodass sie schließlich abwechselnd leise vor sich hin jammerte, wenn sie sich wieder einmal an einer Felskante gestoßen hatte, was in etwa alle zwei Schritt vorkam, und Seth hinterher rief er solle stehen bleiben. Da der Junge jedoch nicht hörte und Merenseth schließlich die Nase davon voll hatte, sich beständig an irgendwelchen spitzen Steinen Schrammen und blaue Flecken zu holen, verwandelte sie sich wieder in die ihr angenehmere Gestalt eines Vogels zurück und holte mit wenigen kräftigen Flügelschlägen den flüchtenden Jungen ein. Kurzerhand versperrte sie ihm den weiteren Rückweg, verwandelte sich wieder in ihre menschliche Gestalt und fragte Seth: „Warum läufst du vor mir davon? Ich kann nichts dafür, dass ich diese hässliche Form annehmen muss, wenn ich mit dir reden will, anders würdest du mich nun einmal nicht verstehen.“ Noch immer wütend starrte Seth seinen ehemaligen Freund an und spuckte dann förmlich die Bemerkung heraus: „Du bist ein Mädchen!“, es klang wie die schlimmstmögliche Beleidigung in ganz Kemet. Erneut verwirrt runzelte Merenseth die Stirn, „ich verstehe nicht. Ich kann ebenso wenig dafür, dass ich ein Weibchen bin, wie du dafür, dass du ein Männchen bist. Also, warum bist du so wütend?“ Seth verschränkte die Arme vor der Brust und starrte das Mädchen mit gerunzelter Stirn ungehalten an, wie sollte er einem Vogel bitte erklären, dass er das Gefühl hatte belogen worden zu sein? Sie hätte ihm verdammt noch mal von Anfang an sagen müssen, dass sie kein Junge war, dann hätte er sie doch gar nicht erst mitgenommen. Währenddessen stand Merenseth geduldig abwartend vor dem Jungen, der noch immer stur vor sich hin schwieg. „Warum hast du mir nicht schon früher gesagt, dass du kein Junge bist?“, knurrte Seth schließlich missmutig, während er das Wesen aus verengten Augen wütend ansah. „Weil ich es nicht konnte. Wir müssen ausgewachsen sein, bevor wir die Gestalt von Menschen annehmen können. Ein Mensch zu werden, ist nämlich nicht gerade einfach“, erklärte Merenseth ihrem neuen Herren mit freundlichem Ernst, völlig unbeeindruckt von dessen schlechter Laune. „Und wann hattest du vor mir das zu sagen?“ „Sobald ich es richtig gekonnt hätte.“ „Schön. Da du es kannst und ich es gesehen habe, kannst du dich jetzt wieder in einen Vogel verwandeln und davon fliegen!“, erklärte Seth bestimmt und wollte sich an dem Vogelmädchen vorbeidrängen, als er durch die Frage „Wohin soll ich fliegen?“ kurz aufgehalten wurde. „Weg!“, erwiderte Seth kurz angebunden, warf ihr noch einen grimmigen Blick zu und machte sich anschließend auf den Weg nach Hause. Auf die ihm nachgerufene Frage Merenseths, wann sie denn zurückkehren solle, antwortete er nicht mehr. Zu Hause angekommen hüllte Seth sich in grimmiges Schweigen. Auch auf die wiederholten Nachfragen seiner Mutter, wo denn Merenseth und warum Seth so schlecht gelaunt sei, antwortete er nicht, sondern stocherte nur lustlos in seinem Abendessen herum. In der Nacht lag er wach, mit unter dem Kopf verschränkten Händen auf seiner Schilfmatte und starrte durch die Deckenöffnung der Feuerstelle hinaus in den Nachthimmel. Er konnte es immer noch nicht so recht fassen, dass sein bester Freund sich als eine üble Fälschung heraus gestellt hatte. Gleichzeitig dachte er über die Auseinandersetzung am Nachmittag nach und begann sich das erste Mal über die Fragen zu wundern, die ihm Merenseth zum Schluss gestellt hatte. Als Seth am nächsten Morgen aus dem Haus trat, um sich auf den Weg zu Menis Haus zu machen, nahm er aus dem Augenwinkel einen glutfarbenen Schimmer in einem der nahe stehenden Bäume wahr; ignorierte diesen jedoch und lief einfach weiter. Die Menschen im Dorf sahen Seth verwundert hinterher, als dieser das erste Mal seit langer Zeit ohne seinen Benu unterwegs war und so manch einer murmelte, dass das womöglich ein schlechtes Zeichen sei und Unglück für das Dorf verhieß. Wie bereits Seths Mutter, erkundigte sich auch Meni, wo denn Seths treuer Begleiter abgeblieben sei. Scheinbar völlig desinteressiert an dieser Frage zuckte Seth nur mürrisch mit den Achseln und erledigte die ihm aufgetragenen Arbeiten. Schweigend beobachtete Meni hin und wieder seinen jungen Gehilfen, während er hinter seinem Stand auf Kundschaft wartete und fragte ihn schließlich: „Ist Merenseth davon geflogen?“ Seth schüttelte nur missmutig den Kopf, während er murrte: „Obwohl sie es besser getan hätte.“ Erstaunt drehte sich Meni vollständig zu dem Jungen herum, der hinter ihm an einer Hauswand saß, und fragte ihn: „Wieso bist du denn auf einmal so schlecht auf deinen Freund zu sprechen?“ Wütend hob Seth den Blick zu Menis Gesicht und erwiderte: „Sie hat mich angelogen! Ich hab ihr vertraut und sie hat mich einfach hintergangen!“ Meni schmunzelte bei diesem Ausbruch amüsiert, „wie kann dich ein Vogel denn hintergehen? Hat sie sich nachts heimlich davon gestohlen, um sich bei euren Nachbarn ein paar Körner zu holen?“ Mürrisch runzelte Seth die Stirn, während er diese Frage verneinte. „Dann hat sie sich vielleicht bei einem Anderen auf die Schulter gesetzt?“ „Merenseth, lässt sich nur von mir tragen“, lautete die entschiedene Verneinung Seths auf Menis zweite Vermutung. Kopfschüttelnd erklärte Meni: „Also dann weiß ich wirklich nicht, warum du so schlecht auf deinen Benu zu sprechen bist.“ Mit auf den angezogenen Knien verschränkten Armen erklärte Seth: „Sie ist ein Weibchen!“ Belustigt erkundigte sich Meni: „Und das ist so schlimm?“ Seth seufzte und lehnte die Stirn auf die verschränkten Arme. So wie Meni fragte, kam er sich langsam wirklich lächerlich vor, dass er sich über die Tatsache, dass Merenseth kein Junge war, so ärgerte. Andererseits wusste Meni ja auch nicht, dass der Benu Menschengestalt annehmen konnte. Währenddessen fuhr Meni fort: „Bisher hast du dich doch auch nicht an der Tatsache gestört, warum also jetzt?“ „Weil ich es bis Gestern nicht wusste“, brummte Seth verärgert vor sich hin. „Du hast bis Gestern nicht gewusst, dass Merenseth ein Weibchen ist?“, wiederholte Meni verwundert. „Nein, woher denn auch?“, lautete die ungehaltene Antwort auf diese Nachfrage. „Hm, da hast du Recht, bei Vögeln ist das schwer zu erkennen“, stimmte Meni Seth nachdenklich zu und erkundigte sich dann: „Wie hast du es heraus gefunden? Hat sie Eier gelegt? Könnte ich dann eines ihrer Küken haben?“ Geschockt riss Seth den Kopf nach oben und starrte den Schmuckhändler einen Moment sprachlos an, bevor er ihm energisch antwortete: „Nein, sie hat keine Eier gelegt und wenn, könnte ich ihr doch nicht einfach ihre Kinder wegnehmen, das geht doch nicht.“ Lächelnd betrachtete sich Meni das entschlossene Gesicht des Sechsjährigen vor ihm und erkundigte sich schließlich: „Glaubst du, du wirst es deinem Freund eines Tages verzeihen können, kein Männchen zu sein, wenn sie weiterhin nicht bei Anderen Essen stibitzt und sich nur bei dir auf der Schulter niederlässt?“ Seths Gesicht hatte sich bei dieser Frage wieder verdüstert und er schwieg verbissen. Nachdem Meni eine Weile vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, wandte er sich von Seth ab und begrüßte freundlich einen an den Stand getretenen Passanten. Als Seth am Abend nach Hause zurückkehrte, hockte Merenseth scheinbar unverändert in einem nahestehenden Baum und wartete. Doch auch diesmal beachtete der Junge den Vogel nicht weiter, sondern ging ohne ein Wort oder eine Geste ins Haus. Später trat Seths Mutter ins Freie, stellte dem Benu Futter und Wasser hin, sah zu dem Vogel auf und murmelte leise vor sich hin: „Ich hatte gehofft, dass du ihm hilfst, aber es scheint, als würdest selbst du an dieser Aufgabe scheitern. Ist es denn zuviel verlangt, wenn ich mir wünsche, dass mein Sohn glücklich ist?“ Mit einem leisen Seufzen drehte sich Seths Mutter anschließend wieder um und kehrte ins Haus zurück. Ohne das hingestellte Futter zu beachten, saß der Benu weiter still in seinem Baum, rührte keinen Muskel und wartete, während Seth sich weiterhin bemühte den Vogel vor dem Haus zu ignorieren und sich doch hin und wieder vorsichtig zu Tür oder Fenster schlich und verstohlen beobachtete, ob Merenseth nicht vielleicht doch endlich davon geflogen war. Jedes Mal, wenn Seth feststellte, dass der Vogel noch immer ruhig auf ein und demselben Ast saß, spürte er ein seltsam erleichtertes Prickeln in seinem Bauch. Am nächsten Morgen saß Merenseth noch immer im Baum, das Futter nach wie vor unangerührt, als schließlich Seth mit einem kleinen Bündel Stoff in den Händen aus dem Häuschen, unter den Baum trat und dem Benu erklärte, dass er mit ihm reden wolle. Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sich Seth anschließend Richtung Fluss, während der Benu ihm fliegend mühelos folgte. Als Beide am Flussufer angekommen waren, sich zwischen den hoch aufragenden Papyrusstauden niedergelassen und Merenseth wieder die Gestalt eines Menschen angenommen hatte, drückte Seth ihr zunächst das Stoffbündel in die Hand, mit der Aufforderung: „Zieh das an!“ Widerspruchslos gehorchte Merenseth und schlüpfte in das alte, noch gut erhaltene Leinengewand, während sie fragte: „Woher hast du das?“ „Es gehört meiner Mutter, aber sie trägt es nicht mehr und wird es wohl auch nicht vermissen“, antwortete Seth leicht ungeduldig, bevor er fortfuhr: „Wieso bist du nicht weggeflogen, wie ich es dir gesagt habe?“ „Du hast nicht gesagt wohin und du hast mir den Ring nicht abgenommen“, erklärte Merenseth ruhig. „Was hat denn der Ring damit zu tun?“, fragte Seth mit einer Mischung aus Verärgerung und Erstaunen. „Solange ich deinen Ring trage, werde ich bei dir bleiben“, erwiderte Merenseth mit ruhiger Gelassenheit. Worauf Seth sie einen Moment in schweigender Verblüffung ansah, dann riss er sich zusammen und äußerte hoheitsvoll: „Also gut, ich bin einverstanden, dass du bei mir bleibst. Aber du darfst mich nie wieder anlügen oder hintergehen!“ Merenseth nickte daraufhin zustimmend und zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Nachdem die grundlegenden Regeln für ihre zukünftige Beziehung geklärt waren, schwiegen sie einen Moment und sahen auf das fließende, bräunlich grüne Wasser des Nils, der träge dahin floss. Schließlich begann Seth ein neues Gespräch, indem er die für ihn wichtige Frage stellte: „Legen Benu eigentlich Eier?“ Erstaunt über die Besorgnis in Seths Stimme, betrachtete Merenseth den Jungen einen Augenblick, bevor sie den Kopf schüttelte und erklärte: „Nein, wir sind unsere eigenen Nachkommen.“ „Dann kennt ihr auch nicht so etwas wie Familien, oder?“, erkundigte sich Seth neugierig geworden und Merenseth erwiderte: „Nicht so wie ihr. Wir wissen zum Beispiel nicht, was es heißt Kinder zu haben und sie groß zu ziehen. Aber man könnte sagen, dass die Götter so etwas wie unsere Eltern sind, denn nur auf Grund ihres Willens existieren wir und ihnen haben wir in erster Linie zu gehorchen. Außerdem sind die anderen Benu für jeden von uns so etwas wie seine Geschwister.“ „Verstehst du dich denn mit deinen Geschwistern?“, wollte Seth als nächstes wissen. „Benu sind meist Einzelgänger, sodass ich meine Geschwister nur selten sehe. Aber wie bei den Menschen, haben sie unterschiedliche Charaktere, sodass die einen sich besser, die anderen schlechter verstehen“, entgegnete Merenseth. „Hm“, lautete Seths Antwort darauf bevor er gleich die nächste Frage stellte: „Kannst du Wünsche erfüllen?“ Merenseth lächelte leicht bei dieser Frage und erklärte dann: „Das kommt auf die Art deines Wunsches an. Wenn du beispielsweise möchtest, dass ich dir Gesellschaft leiste oder irgendwo hinfliege, dann ja, diese Wünsche kann ich erfüllen. Wenn du aber möchtest, dass ich einen Toten in diese Welt zurückhole oder vor deinen Augen plötzlich ein köstliches Festmahl erstehen lasse, dann nein, das kann ich nicht.“ „Dann kannst du auch nicht dafür sorgen, dass Mutter wieder glücklich ist?“, erkundigte sich Seth etwas enttäuscht. „Nein, aber ich kann dir dabei helfen, es zu erreichen.“ Seths Reaktion auf Merenseths Äußerung bestand wiederum nur in einem nachdenklich gebrummten „hm.“ Anschließend sah er zum Himmel auf, prüfte den Stand der Sonne und erklärte, dass sie nach Hause gehen sollten, seine Mutter würde sicher bereits mit dem Essen auf sie warten. Wortlos nickend erhob sich Merenseth daraufhin, um ihren Besitzer zurück ins Dorf zu begleiten, wurde jedoch von Seth mit der Bemerkung aufgehalten, sie solle sich wieder in ihre gewohnte Gestalt verwandeln. Mit einem erleichterten und dankbaren Lächeln folgte Merenseth umgehend dieser Aufforderung, sodass einen Augenblick später ein ungebleichtes Leinengewand auf dem Boden lag, aus dem sich ein glutfarbener Vogel heraus arbeitete. Seth musste bei dem Anblick grinsen, hob anschließend das Gewand vom Boden auf und machte sich zusammen mit seinem Vogel auf den Heimweg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)