Tanz der Schneeflocken von Shin-no-Noir (Eine Oneshot, die sich mit Ichiru Kiryuu beschäftigt) ================================================================================ Kapitel 1: Tanz der Schneeflocken --------------------------------- Obwohl er nicht bewusst darauf achtete, wo er hinging, fand der Junge problemlos seinen Weg durch die verzweigten Korridore: Nicht ein einziges Mal musste er innehalten, um sich zu orientieren. Bei jedem Schritt, den er tat, gaben die Dielen unter seinen Füßen ein leises Knarren von sich, das so gut zu der kümmerlichen Beleuchtung passte, dass er sich manchmal fragte, ob seine Shizuka-sama das Haus vielleicht nicht, wie er zu Beginn angenommen hatte, in erster Linie aufgrund seiner Zweckmäßigkeit ausgewählt hatte, sondern viel mehr wegen der düsteren Atmosphäre, die von ihm ausging. Es war ein eindrucksvolles Bauwerk, das von außen betrachtet wirkte wie eine zu groß geratene Geisterhütte, deren geschmackvolle Inneneinrichtung allerdings mehr an eine Luxusvilla erinnerte und einen bemerkenswerten Kontrast zu den Rohstoffen darstellte, aus denen sie dereinst errichtet worden war. Das Material nämlich, das man damals für den Bau des großen Hauses verwendet hatte, war nicht besonders ansehnlich und erst recht nicht von nennenswerter Qualität Und so war es auch kein Wunder, dass die Wände aus altem Holz weder dick noch stabil genug waren, um zu verhindern, dass ununterbrochen Geräusche an das Ohr des Jungen drangen, die ihm verrieten, dass draußen noch immer ein heftiger Schneesturm tobte. Er hatte bereits am Vorabend eingesetzt und beabsichtigte ganz offensichtlich nicht, sich in absehbarer Zeit wieder zu legen. Ichiru wusste bereits, dass das Wetter in dieser Gegend selten Nachsicht zeigte. Dennoch wünschte er sich, es würde dieses eine Mal eine Ausnahme machen. Er wollte es nicht länger hören, das Tosen des Sturms, das begleitet wurde vom Klappern loser Holzbretter. Auch den Anblick des glitzernden Schnees hatte er satt, der sich ihm nun schon seit über drei Wochen jedes Mal bot, wenn er denn mal einen Blick aus dem Fenster warf. Und dann waren da noch die unangenehmen Temperaturen sowie der Himmel, der ab einer bestimmten Tageszeit nun schon seit einer ganzen Weile kaum noch eine andere Farbe als die eines hellen Graus annahm, das manchmal sogar so grell war, dass es in den Augen wehtat, wenn man es zu lange betrachtete. All diese Dinge waren Ichiru zutiefst zuwider - er wollte, dass sie einfach verschwanden und ihn in Frieden ließen. Die durch das Unwetter verursachten Geräusche wurden lauter und ließen den Jungen wissen, dass der Wind wieder einmal aufgebraust hatte. Er fragte sich, ob dieser verdammte Blizzard denn nie ein Ende nehmen würde, und beschleunigte seine Schritte. Bald darauf betrat er den langen Flur, an dessen Ende sein Zimmer lag; es befand sich im obersten Stockwerk des Gebäudes, was es zu einem besonders leichten Ziel für die Launen der Natur machte. Aber es hatte nur ein einziges Fenster, das fest verschlossen war, und außerdem einen Kamin, der es selbst zu dieser Jahreszeit ausreichend wärmte. Deshalb konnte Ichiru sich auch nicht erklären, weshalb er fröstelte, als er es betrat und der Wind für die Dauer weniger Sekunden besonders heftig an den Fensterläden rüttelte. Der Junge zog seinen Mantel enger um sich. Er war sich nicht sicher, warum er ihn überhaupt trug, wenn er doch gar nicht vorhatte, das Haus zu verlassen, aber offenbar war es eine gute Idee gewesen. Beinahe ein wenig zögerlich schloss er die Tür hinter sich und blieb anschließend noch eine Weile regungslos davor stehen, um den Blick umher schweifen zu lassen. Verglichen mit den meisten anderen Räumen im Haus war dieser hier eher bescheiden eingereichtet, doch das machte ihn nur umso gemütlicher. Auch war Ichirurs Zimmer nicht besonders groß, was den Jungen aber ebenfalls nicht störte; im Gegenteil, er mochte es so. Ichiru fühlte sich nicht wohl, wenn er zu viel Platz zur Verfügung hatte - so wie es in dem ersten Haus gewesen war, in dem sie vorübergehend untergetaucht waren, um sicherzugehen, dass sie ihre Verfolger auch tatsächlich losgeworden waren. Das geräumige Zimmer, das er dort bewohnt hatte, hatte Ichiru unruhig und rastlos gemacht, und genauso wie jetzt hatte er sich seltsam leer gefühlt, wann immer er alleine darin gewesen war. Damals hatte er diesen Umstand darauf geschoben, dass er gerade alles hinter sich gelassen hatte, was er jemals gekannt hatte. Doch das war nun schon ein ganzes Jahr her und Ichiru glaubte nicht, dass er jemals so lange brauchen würde, um über etwas hinweg zu kommen, das er so bereitwillig in Kauf genommen hatte wie den Bruch mit seiner Familie, so unkonventionell und blutig dieser auch gewesen sein mochte. Außerdem dachte Ichiru nicht gerne daran, dass er es schon früher nicht gemocht hatte, alleine im Dunkel seines Zimmers liegen zu müssen, denn dann fiel ihm unweigerlich auch immer wieder ein, wie er sich, um dem zu entgehen, so oft wie möglich in das Bett seines großen Bruder geschlichen hatte, und das wollte er nicht. Er wollte nicht an Zero denken. Also erstickte der Junge den unliebsamen Gedanken auch dieses Mal im Keim und machte entschlossen ein paar Schritte in den Raum hinein. Er war schon beinahe bei seinem Bett angelangt, da überlegte er es sich anders. Er machte kehrt und ging zum Kamin, wo die orangegelben Flammen fröhlich vor sich hin knisterten. Sie brauchten keine zwei Sekunden, um seinen Blick zu fesseln. Auch fiel es dem prasselnden Feuer nicht schwer, Ichirus Aufmerksamkeit anschließend so sehr gefangen zu halten, dass die wenigen Gedanken, die ihm von daraufhin noch kamen, nichts weiter waren als formlose, verschwommene Schattenrisse, die von seinem Bewusstsein abperlten wie Wasser von einer Ölschicht. Dieser Zustand hielt so lange an, bis der Wind plötzlich wieder heftiger blies und dem altersschwachen Holz überall um ihn herum, verzerrte, klagende Laute entlockte, die den Jungen jäh wieder in die Gegenwart zurück rissen. Kaum wahrnehmbar schüttelte er den Kopf und warf in kurzen Abständen drei weitere Holzscheite ins Feuer. Dann beobachtete er, wie die Flammen im Inneren des Kamis aufloderten, um das neue Brennmaterial herumzüngelten und sich seiner nach und nach bemächtigten, bis sie schließlich so groß waren, dass sie bis tief in den Schornstein hineinreichten. Doch obwohl Ichirus Augen von der Hitze brannten und er unter der dicken Kleidungsschicht bereits zu schwitzen begann, hatte er immer noch das Gefühl, dass er fror. Also trat er noch ein Stück nach vorne, bis er sich so nahe wie möglich an den Flammen befand, und wartete. Es brauchte seine Zeit, bis ihm schließlich klar wurde, dass die Kälte, die ihn erschaudern ließ, nichts mit der Zimmertemperatur zu tun hatte. Und selbst dann verharrte er noch eine ganze Weile regungslos vor dem nun allmählich wieder schrumpfenden Feuer, als hoffte er trotz besseren Wissens, dass die knisternden Flammen doch noch irgendwie dazu in der Lage wären, die Beklommenheit zu vertreiben, die seit Einbruch des Winters von ihm Besitz ergriffen hatte. Insgeheim aber hatte er keinen Zweifel daran, dass die Leere in seinem Inneren erst wieder verschwinden und sein Magen aufhören würde, sich plötzlich und scheinbar ganz ohne Grund schmerzhaft zu verkrampfen, wenn der Schnee geschmolzen war, der eines Tages ohne jede Vorwarnung gekommen war und all diese unliebsamen Emotionen mit sich gebracht hatte, wie ein Fuchs unweigerlich seinen Schweif hinter sich herzieht. Ein Umstand, der Ichiru vollkommen unverständlich war, denn er bereute seine Entscheidung nicht. Und erst recht vermisste er sie nicht - all die Leute, die ihm mitleidige Blicke zugeworfen hatten, wann immer sie zufällig in seine Richtung schauten, nur um sich dann gleich darauf wieder Zero zuzuwenden; seinen Meister, der niemals wirklich sein Meister gewesen war, sondern einzig und allein der seines Bruders; seine Eltern, die ihn immer nur am Rande wahrgenommen hatte, weil sie zu sehr damit beschäftigt gewesen waren, Zeros Fähigkeiten zu bewundern. Zero, Zero, Zero… Wer brauchte schon Zero? Er nicht - nicht mehr. Und Shizuka-sama hatte dafür gesorgt, dass auch der Rest der Welt das so sehen würde. Denn wer wollte schon einen Vampirjäger, der selbst ein Vampir war? Ichirus Lippen hoben sich zu einem kleinen, grausamen Lächeln, als er dem Kamin endlich den Rücken zukehrte und an das nur wenige Meter entfernte Fenster trat. Der Sturm machte immer noch keine Anstalten, sich zu legen, und für keinen Augenblick lockerte der Wind den festen Griff, mit dem er die tausenden und abertausenden Schneeflocken gefangen hielt. Dabei schleuderte er sie so unerbittlich umher, dass es schon wie ein kleines Wunder wirkte, wenn man ihrem wilden Tanz zusah und dann beobachtete, wie sie irgendwann tatsächlich den Boden erreichten und dort friedlich liegen blieben, um dort zu einem Teil der märchenhaften Landschaft zu werden, mit der sie so bereitwillig verschmolzen, als wären sie allein zu diesem Zweck erschaffen worden. Früher hatte Ichiru dieses Schauspiel faszinierend gefunden, aber nun beeindruckte es ihn nicht mehr sonderlich. Der Schnee mochte hübsch anzusehen sein, aber er war nicht halb so schön wie Shizuka-sama, und überhaupt fand Ichiru seinen Anblick eher ernüchternd. Müßig dachte er, dass es nicht genau wie in jener Nacht war, aber auch nicht viel anders. Vielleicht waren seine Eltern ja genau heute vor einem Jahr gestorben. Oder war ihr Todestag morgen? In einer Woche? Hatte er ihn möglicherweise bereits verpasst? Ichiru wusste es nicht, aber das war in Ordnung. Es interessierte ihn nämlich eigentlich gar nicht. Genauso wenig, wie seine Eltern sich für ihn interessiert hatten oder dafür, dass sie Shizuka-sama die Person genommen hatten, die ihr am wichtigsten auf der Welt gewesen war. O ja, sicher, er war ihnen nicht gleichgültig gewesen. Aber sie hatten ihn auch nicht geliebt – nicht so, wie sie Zero geliebt hatten oder wie der Vampir geliebt worden war, den zu vernichten ihren Untergang bedeutet hatte. Gewiss, sie hatten ihn bemitleidet, so wie alle ihn bemitleidet hatten. Aber geliebt hatten sie ihn nicht. Zero hingegen… Zero hatte ihn geliebt. Ichiru hatte keine Ahnung, woher dieser Gedanke so plötzlich kam, aber er ließ ihn erneut erschaudern. Und auf einmal war ihm wieder kalt…. so kalt, obwohl es doch eigentlich warm im Zimmer war. Hätte er es nicht besser gewusst, wäre er vielleicht davon ausgegangen, dass er sich eine Grippe eingefangen hatte. Aber Shizuka-sama hatte ihm von ihrem Blut zu trinken gegeben und zu sagen, dass er seither nicht mehr so anfällig für Krankheiten war wie zuvor, wäre eine maßlose Untertreibung gewesen. Früher hatte es kaum eine Woche im Jahr gegeben, in der man ihm nicht irgendwie hatte anmerken können, wie schwach sein Körper war. Jetzt waren bald zwölf Monate vergangen, in denen er sich nicht einmal eine klitzekleine Erkältung zugezogen hatte. Selbst wenn er Shizuka nicht beinahe blind vertraut hätte, wäre es ihm als ausgesprochen unwahrscheinlich erschienen, dass das nur vorübergehend gewesen sein sollte. Abgesehen davon hatte er in der Vergangenheit schon gut sechsmal so häufig Fieber gehabt wie andere Menschen in ihrem ganzen Leben, wenn nicht sogar noch öfter, und es hatte jedes Mal mit Halsschmerzen unterschiedlichen Grades begonnen, niemals damit, dass er sich derart merkwürdig gefühlt hätte, ohne dass ihm auch nur schwindelig war. Er hatte ja nicht einmal Kopfschmerzen. Andererseits wünschte er sich fast, dass er im Begriff war, krank zu werden. Denn sonst hatte er keine zufriedenstellende Erklärung dafür, weshalb er sich auf einmal fragte, was Zero wohl jetzt gerade machte - wie es ihm ging und ob er manchmal an ihn dachte. Vermisste er den kleinen Bruder, der ihm stets gefolgt war wie ein Hundewelpe seinem Herrn? Oder hasste er ihn dazu jetzt viel zu sehr? Ichiru hatte nie erwartet, dass Zero ihm vergeben würde, und das wollte er auch gar nicht. Dennoch zog sein Herz sich bei dem Gedanken, dass sein Bruder ihn jetzt mit Sicherheit verachtete, schmerzhaft zusammen. Er hätte sich gerne eingeredet, dass es ihm nichts ausmachte, dass er Zero ebenfalls hasste und dass er sich niemals in die Zeit zurücksehnte, in der sie beide unzertrennlich gewesen waren – wirklich unzertrennlich, bevor Ichiru klar geworden war, dass er niemals mit seinem Bruder würde Schritt halten können; das er nutzlos war und vollkommen überflüssig, weil seine Eltern glücklich sein würden, solange sie nur Zero hatten. Zero, der ihn liebte, Zero, der auf ihn acht gab, Zero, der in allem besser war, Zero, der alles hatte, wonach Ichiru sich so verzweifelt sehnte. Aber sich ernsthaft davon zu überzeugen, dass er seinen großen Bruder dafür hasste, hätte ein Maß an Selbsttäuschung erfordert, über das selbst er nicht verfügte. Und überhaupt war Ichiru es leid, sich selbst etwas vorzumachen. Er konnte Zero nicht verzeihen und vielleicht würde er das niemals können, aber im Grunde wusste er, dass es nicht seine Schuld gewesen war. Wären die Dinge auch nur ein kleines bisschen anders verlaufen, hätten sie vielleicht beide glücklich werden können. Sicherlich hätten sie es verdient, aber die Welt, das hatte Ichiru schon vor langer Zeit gelernt, scherte sich nun einmal nicht groß um ein derart abstraktes und zerbrechliches Konzept wie das der Fairness. Und Ichiru musste zugeben, dass er diesen Umstand gelegentlich bedauerte. Denn auch wenn er seinen großen Bruder nicht länger brauchte, so änderte das doch nichts an der Tatsache, dass Zero noch immer seine andere Hälfte war. Und manchmal – ganz selten, wenn es tiefe Nacht war und er allein in seinem dunklen Zimmer lag – fragte er sich, ob er nicht vielleicht einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Allerdings hielt dieser Zustand stets nur so lange an, bis ihm wieder einfiel, warum er seiner Familie auf diese Weise den Rücken gekehrt hatte, und, noch wichtiger, was Shizuka-samas Beweggründe gewesen waren. Und dann, wenn das Gesicht der Vampirin vor seinem geistigen Auge auftauchte - ihr sanftes, makelloses, trauriges Gesicht, das selbst dann noch wunderschön war, wenn es feucht von mehr Tränen war, als ein Mensch jemals innerhalb so kurzer Zeit vergießen könnte –, dann lösten sich all die Zweifel, die er bis dahin noch gehabt haben mochte, ebenso schnell wieder in Luft auf, wie sie gekommen waren. Ichiru Kiryuu hob die Hand zu den Vorhängen, die das Fenster flankierten, und ließ die weiße Winterlandschaft kurzerhand hinter weinrotem Stoff verschwinden. Nein, er bereute nichts. Hosted by Animexx e.V. 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