For The Ones Who Search For Love von absinthe (Bella und Edward helfen sich gegenseitig in Sachen Beziehungen, doch dann stellt sich heraus, das vieles mehr Schein als Sein ist und dass diese Entdeckung beide in eine unerwartete Richtung wirft.) ================================================================================ Kapitel 16: Alles hat seinen Grund... Oder? ------------------------------------------- Okay, endlich ist dieses Chap fertig. Es hat mich wirklich ein paar Nerven gekostet. Vor allem der Anfang. Ich hoffe, es gefällt euch trotzdem und kommt glaubhaft rüber...;) The Killers - For Reasons Unkown http://www.youtube.com/watch?v=fW2vE2WTJ3E ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Als ich ins Haus kam, war alles dunkel. Ich schaltete das Licht im Flur an und an der aufgehängten Dienstjacke erkannte ich, dass Charlie bereits da war und womöglich schon schlief. Mein Magen knurrte und erst jetzt viel mir ein, dass ich den ganzen Abend über nichts gegessen hatte. Schwerfällig schlenderte ich in die Küche. Charlie musste etwas beim Chinesen bestellt haben - statt beim Pizzaservice, wie ich es ihm vorgeschlagen hatte -, denn an der Metalltür des Kühlschranks hing ein Zettel mit seiner groben Handschrift darauf. Er hatte für mich mitbestellt. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Charlie machte sich immer so viele Gedanken um mich, auch wenn er mir das nie richtig zeigte. Ich holte den weißen Pappkarton heraus und wärmte das Essen in der Mikrowelle auf. Die Stille, die mich umgab, als ich das heiße Etwas hinunterschluckte, war fast erdrückend. Soviel war heute geschehen. Mit so vielem hatte ich nicht gerechnet. Weder mit den schönen, noch mit den weniger schönen Dingen. Tayk… Wie konnte ich jemals Interesse an ihm haben? An jemanden, der sich auf so schmutzige Intrigen einließ, um sein Geheimnis zu wahren. Er hatte seine Rolle perfekt gespielt. Nie wäre auch nur eine Person auf die Idee gekommen, er würde sich für das gleiche Geschlecht interessieren. Noch nicht einmal Edward hatte so etwas geahnt. Claire musste irgendetwas gegen ihn in der Hand haben, anders konnte ich mir seine Bereitschaft für ihren Plan nicht erklären. Etwas ziemlich gravierendes, das ihn seine menschliche Moral vergessen ließ. Wie auf Kommando kamen mir wieder die Bilder in den Sinn und die Erinnerung rief einen Würgereiz hervor. Ich hoffte nur, dass es nicht noch mehr davon gab. Allein schon bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Mein Magen zog sich schon unheilvoll zusammen. Noch so eine Bloßstellung würde ich vermutlich nicht verkraften. Claire war skrupellos. Das musste man ihr lassen. “Ha…” stieß ich leise und deprimiert hervor. Noch vor einem Tag hätte ich das Wort 'skrupellos' nie mit ihr in Verbindung gebracht. Unter keinen Umständen. Sie war immer nett gewesen, hatte nie mit irgendjemandem Streit gehabt, hat sich nichts aus den Meinungen anderer gemacht und war stets da, wenn ich sie brauchte. Ja, genau. Damit sie mich noch mehr zurecht stutzen; mein Selbstwertgefühl auf den Tiefpunkt bringen konnte. Ich musste so blind gewesen sein, dass ich das all die Jahre nicht gesehen hatte. Sie hatte nach außen hin immer so ein perfektes Bild abgegeben, das sich durch nichts erschüttern ließ. Und nun war dieses Bild in sich zusammengefallen und hatte das Wahre zum Vorschein gebracht. Lauren schien das geahnt zu haben. Vielleicht hatte sie sich auch deshalb nie mit Claire, die eine eindeutige Konkurrenz für sie darstellte, angelegt. So wie Mr. Stanfield als Richter über Mr. Mallory stand, so schien sich das auch auf die Töchter zu übertragen. Man konnte glatt sagen, Böses erkannte Böses. Nur das Lauren in dem Fall noch harmlos wirkte. Vielleicht hatte sie Claire durchschaut. Dass Jessica und Rebecca ebenfalls davon wussten, konnte ich mir nicht vorstellen. Claire war mit Sicherheit schlau genug, keine unnötigen Mitwisser um sich zu scharren. Denn schlau war sie, sonst hätte sie das nicht solange durchziehen können. Immer wieder dachte ich an vergangene Zeiten zurück. Dinge, die ich mit ihr verbunden hatte. Die mich glauben ließen, eine wahre Freundin gefunden zu haben. Einmal waren wir beide mit Charlie zum einem seiner monatlichen Angelausflüge außerhalb von San Francisco mitgefahren. Wir wohnten das Wochenende über am Ufer eines Sees in einem dieser kleinen Blockhütten, die einen Kamin hatten und vor dem ein einladendes Bärenfell lag. Abends hatten wir es uns gemütlich gemacht, lauschten dem Knistern der Flammen und schwärmten uns gegenseitig von den Jungs unserer Schule vor. Das war vor drei Jahren gewesen - kurz bevor ich angefangen hatte, mich mit meinem ersten Freund zu treffen. Claire und ich hatten uns in eine Decke gekuschelt, lehnten an der Couch hinter uns und die Köpfe aneinander. Charlie war immer noch draußen in einem Boot und hoffte auf einen guten Fang. Bei Nacht sollten die Fische wohl besser beißen. Während wir gedankenverloren ins Feuer starrten, bedienten wir uns immer wieder bei den neben jedem von uns stehenden, bis zum Rand gefüllten Schalen mit Popcorn. “Und?” meinte ich grinsend, während ich mir eine handvoll nahm. “Wie sieht’s aus in der Liebe?” “Wie kommst du jetzt darauf?” Irgendwie schien ihr das Thema unangenehm. “Nur so. Mir kam es so vor, als hättest du ein Auge auf Ben geworfen”, meinte ich schelmisch. “Ben Cheney? Nie im Leben. Außerdem rennt der doch ständig dieser Angela hinterher.” “Stimmt…” sagte ich nachdenklich. “Und Tyler?” “Ist ganz niedlich, aber nicht wirklich mein Fall.” “Mike?” “Nein.” “Eric?” “Niemals!” Bei ihrer Empörung musste ich kurz schmunzeln. “Riley?” “Keine Chance.” “Pete?” “Ich bitte dich.” “Ryan…?” seufzte ich jetzt schon. Entweder sie wollte mich nur abwimmeln, oder aber sie setzte zu hohe Ansprüche. “Hmmm… Vielleicht.” Ein verlegenes Grinsen huschte über ihr Gesicht und ich schöpfte wieder Hoffnung. “Ich hab ihn letztens in Sport gesehen… Ehrlich, wenn die diese durchgeschwitzten T-Shirts tragen, könnte man glatt dahin schmelzen…” Für einen kurzen Augenblick schwiegen wir und stellten uns das Ganze mit verträumten Blicken bildlich vor, ehe ich mit meiner Fragerei fortfuhr. “Hm… was ist mit Jasper Whitlock? Von den Haaren her würdet ihr gut zusammen passen”, gluckste ich. Claire kicherte. “Ja. Stimmt. Ehrlich gesagt hat er wirklich was. So was anziehendes…” schwärmte sie. “Dann frag ihn doch”, schlug ich vor. “Bist du verrückt? Das geht nicht. Das wäre viel zu peinlich. Stell dir vor, er lehnt ab, oder lacht mich sogar aus.” Sie klang ernsthaft besorgt deswegen, obwohl ich das überhaupt nicht verstehen konnte. “Jemand soll Claire Stanfield eine Abfuhr erteilen?… Nie im Leben. Du wirst wahrscheinlich bereits zehnmal einen Freund gehabt haben, bevor sich jemand für mich interessiert”, munterte ich sie auf. Claire lächelte zurück. “Was ist denn mit diesem Neuen? Der, der vor ein paar Monaten hierher gezogen ist”, machte ich schließlich weiter. “Redest du von dem, mit dem steinalten Namen?” Ich nickte. “’Edward‘, glaube ich, hieß er.” “Nicht ‘Edwin‘?” “Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es ‘Edward’ war”, grinste ich. “Ein bisschen tut er mir ja leid. Wer sein Kind mit so einem Namen bestraft…” sinnierte sie. “So schlimm finde ich den nun auch wieder nicht. Immer noch besser als meiner”, grummelte ich. ‘Isabella’ hätte ich mir niemals selbst ausgesucht. “Im Italienischen werden hübsche Mädchen aber ‘Bella’ genannt.” Versuchte sie mich jetzt aufzumuntern? Wenn ja, war ihr das definitiv gelungen. “Also, was ist nun mit ihm?” erinnerte ich sie an das eigentliche Thema. “Ja… schon irgendwie… niedlich”, druckste sie rum. “Ich hab noch nie jemanden mit solchen Haaren gesehen… Ich meine, es gibt schon einige Rothaarige hier, aber seine… Die schimmern so anders…” “Bronze”, half ich ihr auf die Sprünge und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. “Am liebsten würde man gerne mal mit den Fingern durchfahren, oder?” Claire kicherte. “Ja… Ist dir aufgefallen, dass er ab und an zu uns herüberschaut?” “Tut er?” Im Kopf holte ich alle Erinnerungen wieder hervor, in denen dieser Junge vorkam. Was sie ansprach, fand ich nicht darin, dafür aber etwas anderes. “Irgendwie ist er komisch. So abweisend. Er ist schon ein halbes Jahr hier und unterhält sich trotzdem mit keinem. Macht noch nicht einmal den Versuch, sich mit jemandem anzufreunden. Und sein Blick…” “Was ist damit?” “Ich schwöre, wenn man damit jemanden töten könnte, wäre die Schule schon halb leer.” Sie hob ihren Kopf und sah mich skeptisch an. “Vielleicht ist er nur schüchtern.” “Also unter schüchtern verstehe ich etwas anderes.” “Gut, ich geb zu, dass es mir manchmal eiskalt den Rücken herunter läuft, wenn ich ihn sehe”, seufzte sie und legte ihren Kopf wieder an meinen. “Aber vielleicht ändert er sich ja noch…” Ich verdrehte nur die Augen, was sie glücklicherweise nicht sah, da sie wieder auf das Feuer fixiert war. Zugegeben, es musste schwer sein, in unserem Alter in eine neue Schule zu kommen und das Thema Nummer eins zu sein, ständig Blicke auf sich zu spüren und Getuschel im Hintergrund zu hören. Wer wusste schon, wie ich in dem Fall reagieren würde. Dennoch hatte Edward Cullen etwas unheimliches, etwas bedrohliches… Etwas, das einem sagte, man sollte sich lieber fernhalten. Mit der Zeit schien er sich dann doch einzuleben und war irgendwann nur noch einer von vielen, die im Baseballteam spielten und von den Mädchen angegafft wurden. Ich wäre nie darauf gekommen, dass Claire einmal tatsächlich ernsthaftes Interesse an so jemanden zeigen würde. Ich hatte immer eine ganz andere Vorstellung von ihrem Traummann gehabt. Doch wahrscheinlich war das genau so eine fadenscheinige Lüge gewesen. Ich erinnerte mich auch noch, dass wir Lauren und den anderen beiden immer Streiche gespielt (schon da war Claire der Ideengeber) und uns über ihre Art, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren, lustig gemacht hatten. Wir hatten sie für so oberflächlich gehalten, weil ihnen ihre äußere Erscheinung am wichtigsten war und sie ständig auf denen herumgehackt hatten, die schwächer waren als sie und nicht in ihr Schema passten. Jetzt allerdings musste ich zugeben, dass Laurens Art doch auf eine gewisse Weise mehr Ehrlichkeit besaß, da sie wenigstens offen zeigte, wen sie nicht leiden konnte. Sie schien nicht so hinterhältig wie Claire. Ich hatte so viele schöne Erinnerungen, in denen wir Spaß gehabt und gelacht hatten, in denen wir uns gegenseitig halfen, uns trösteten. Und jetzt stellte sich heraus, dass das alles mehr Schein als Sein war. Nicht ein Wort von ihr in den letzten drei Jahren war ernst gemeint, nicht eine Geste oder Tat. Alles war geplant. Ein Spiel, bei dem es darum ging, mich fertig zu machen. Während ich ins Bad ging und mich im Spiegel betrachtete, bemerkte ich die Tränen, die an meinen Wangen herunter liefen. Hastig wischte ich sie mit dem Handrücken weg. Claire verdiente es nicht, dass ich den alten Zeiten nachtrauerte. Nicht jetzt und auch sonst nicht mehr. Ein kaltes Wesen wie sie war es nicht wert, bemitleidet zu werden, so plausibel die Gründe für sie auch zu sein schienen. Ich stieg in die Dusche und ließ das heiße Wasser über meinen Körper laufen. Es war angenehm und entspannte meine verhärteten Muskeln. Außerdem wischte es die Überreste der Tränen weg. Meine Hände strichen meine langen Haare nach hinten, sodass die heiße Flüssigkeit ungehindert über mein Gesicht fließen konnte, während ich meine Augen schloss und meinen Kopf gen Duschkopf hob. Wie gut, dass ich Alice und Edward hatte, fiel es mir plötzlich ein. Obwohl wir noch nicht allzu lange etwas miteinander zutun hatten, stellten sie sich doch als echte Freunde heraus. Das hoffte ich jedenfalls. Was wenn ich wieder hintergangen wurde? Was wenn mir wieder Lügen aufgetischt wurden? Vehement schüttelte ich meinen Kopf und spritzte somit ein paar Wassertropfen an die ohnehin nassen Fliesen. Ich wollte nicht glauben, dass sie so waren wie Claire. Alice hatte sich so sehr für mich eingesetzt in den letzten Tagen; hatte mir Halt gegeben, als ich ihn am meisten brauchte. Und ich hatte ein gutes Gefühl bei ihr. Mehr als das sogar. Sie schien auf eine verrückte Art die Freundschaft ehrlich zu meinen. Und Edward… Er war genauso an meiner Seite gewesen wie Alice. Sogar in der Zeit, in der wir noch unser eigentliches Ziel, den Grund, weshalb wir uns überhaupt zusammengetan hatten, verfolgten. Das mit der Scheinbeziehung hatte er mir überraschender Weise nicht allzu übel genommen und letztendlich sogar mit eingestimmt. Als sich herausstellte, was es mit meinen Verabredungen wirklich auf sich hatte, fing er nicht an zu lachen. Stattdessen tröstete er mich. Als ich ihm erzählte, dass ich überhaupt keine Ahnung von Baseball hatte, wollte er mich unbedingt von diesem Sport überzeugen. Und das mit Erfolg. Der Abend in dem Stadion war einer der schönsten, die ich hatte. Jetzt daran zu denken rief eine Menge Ereignisse von dem Tag hervor. Seine liebvolle Art, wie er mir all die Regeln und Spielzüge erklärte; wie er geschaut hatte, als er Tayks Annäherungsversuche sah… Ein leises Kichern entfuhr mir bei dem Gedanken. Vielleicht war er da ja wirklich schon eifersüchtig gewesen. Danach hatte er sich zu allem Überfluss auch noch wegen mir geprügelt. Mehr oder weniger. Eigentlich hatte nur er etwas abbekommen. Und als wir dann im Bad zusammen gehockt hatten und danach feststellen mussten, dass wir eingeschlossen wurden… Der Nachhilfeunterricht im Batten hatte wirklich Spaß gemacht. Bei Gelegenheit würde ich ihn fragen, ob er das noch mal machen würde. Die Erinnerung an das Tanzen, oder besser gesagt an das danach, ließ meine Finger automatisch sanft meine nassen Lippen berühren, während ich mich mit einer Hand an den Fliesen abstützte und die Temperatur des Wassers, das jetzt auf meinen Rücken sprudelte, gar nicht mehr wahrnahm. Er hatte mich geküsst. Mein erster Kuss… Das Empfinden, das ich dabei hatte, brachte mein Herz jetzt wieder zum rasen und ohne, dass ich es richtig mitbekam, hielt ich die Luft für einen kurzen Augenblick an. Es hatte sich so schön angefühlt. Ich hatte es genossen, seine Lippen auf meinen zu spüren. Und es gab mir die Bestätigung, dass Edward genauso empfand wie ich. Das tat er doch, oder? Wenn ich daran dachte, dass er mir von seiner Vergangenheit erzählt hatte, festigte das doch nur meine Hoffnung. Schließlich war ich womöglich die Erste, der er das alles anvertrauen konnte. Abgesehen davon, dass er mir nicht alles verraten wollte. Weder was passiert war, als sie hierher umgezogen waren, noch an wen ich ihn erinnerte. Vielleicht eine alte Bekannte? Oder sogar Freundin… Jemanden, den er geliebt hatte? Er hatte mir die Kette geschenkt, die jetzt um meinen Hals hing. Er hatte sich wahnsinnig über den Baseballhandschuh gefreut und er hatte mich danach weitere zwei Male geküsst. Außerdem hatte er mich so unglaublich viele Male in den Arm genommen, dass mir jetzt regelrecht etwas fehlte, wenn er nicht da war. Also deutete ich die Zeichen doch völlig richtig… Oder nicht? Alice hatte das auch gesagt. Sie hatte das mit Claire geahnt und das mit Edward ebenfalls schon vorher gesehen. Ich kaute auf meiner Unterlippe, als ich wieder anfing zu zweifeln. Obwohl ich doch überhaupt keinen Grund dazu hatte. Er meint es ernst und er wird morgen anrufen, rief ich mir ins Gedächtnis. Ja, er würde morgen anrufen und dann wäre ich mir wieder sicher. Und wenn er da war und ich ihn wieder spürbar neben mir wusste, wäre ich wieder komplett. Mittlerweile war ich in meinem Zimmer. Ich zog mir rasch meine Jogginghose und ein T-Shirt an und schlüpfte unter die Bettdecke, um mich darin einzukuscheln. Noch lange blieb ich wach und konnte nicht einschlafen. Ich war viel zu nervös wegen morgen. Fast krampfhaft umklammerte ich Edwards Anhänger, bis ich dann doch nach Stunden in einen traumlosen Schlaf fiel. Als ich am nächsten Morgen aufwachte und auf meinen Wecker schaute, blieb mir fast die Luft weg. Es war bereits zehn. Die Grübelei von übernacht war wie weggeblasen und neue Vorfreude durchströmte mich bei dem Gedanken, Edward bald wieder bei mir zu haben. Aber was wenn er schon angerufen hatte? Und ich lag in meinem Bett und schlief tief und fest. Hastig krabbelte ich unter der Decke hervor und huschte ins Bad, um mich fertig zu machen. Doch sobald ich mein Zimmer wieder betrat, blieb ich wie versteinert vor meinem Schrank stehen. Sollte er schon angerufen haben, würde ich ihn zurückrufen. Sollte er das noch nicht getan haben, würde ich warten. Auf jeden Fall würden wir uns aber verabreden und etwas unternehmen. Davon ging ich aus. Das einzige Problem, das sich mir jetzt bot, war die Kleiderfrage. Was sollte ich anziehen? Ich wollte nicht in irgendwelchen Alltagsklamotten mit ihm umherschlendern. Vielleicht achtete er nicht einmal sonderlich darauf, doch ich würde mich wohler fühlen, zu wissen, dass ich ihm gefiel. Mehr als sonst. Ich hatte seinen Blick noch in Erinnerung, als ich von Alice frisch gestylt aus dem Haus trat, kurz bevor wir zum Spiel gefahren waren. Alice! Sollte ich sie anrufen und sie fragen, ob sie mir helfen würde? Nein. Da musste ich jetzt alleine durch. Ich konnte mich ja nicht immer auf sie verlassen. Seufzend zog ich eine dunkle Hose aus dem Schrank. Jeans passte immer und wirkte nicht zu vornehm. Und was dazu? Etwas helles, soviel stand fest. Nur was? Ich schob Kleiderbügel um Kleiderbügel zur Seite, nur um immer wieder resigniert aufzustöhnen. Warum war ich damals nicht auf Alice’ Vorschlag eingegangen, einkaufen zu gehen? Dann würde ich jetzt nicht so hilflos hier stehen. Nach einer realen halben und gefühlten zwanzig Stunden, in denen ich immer unruhiger wurde, weil ich nicht das geringste Klingeln von Telefon oder Haustür hörte, hatte ich mich entschieden, ein weißes, schulterfreies Oberteil anzuziehen, das unterhalb der Brust mit einem dünnen Band gerafft war und dann nach unten hin weiter wurde, sodass es einen fließenden Fall hatte, während die Ärmel, die erst am Oberarm anfingen, bis zur Hälfte des Unterarms gingen. Ich wusste nicht einmal, dass ich so etwas besaß. Auf jeden Fall würde es für heute reichen. Es musste. Die Haare… Ich beschloss, sie offen zu lassen. Für kunstvolle Hochsteckfrisuren hatte ich nicht Alice’ Talent und ein einfacher Pferdeschwanz wirkte womöglich zu streng. Nachdem ich endlich fertig war, warf ich noch einen letzten, kritischen Blick in den Spiegel. Edwards Kette prangte auf meinem Dekolleté und durch das schulterfreie Oberteil kam sie noch viel besser zur Geltung. Eilig hastete ich in die Küche, um noch schnell etwas zu essen. Abrupt blieb ich stehen, als ich Charlie am Tisch sitzen sah, den Kopf tief in der Morgenzeitung vergraben und einen Becher Kaffee auf dem Tisch stehend. “Morgen, Dad… Musst du gar nicht arbeiten?” fragte ich ihn, während ich mir eine Schale Cornflakes und ein Glas Orangensaft holte. “Hab heute frei. Als Ersatz für gestern.” Er sah nicht auf, als er sprach und seine Stimme klang seltsam ernst. Ich setzte mich ihm gegenüber, murmelte ein “Aha…” und aß schweigend mein verspätetes Frühstück. Es vergingen ein paar Minuten, in denen nur das Rascheln der Zeitung, wenn Charlie eine Seite umblätterte, zu hören war. “Hattest du gestern einen schönen Abend?” fragte er auf einmal, ohne aufzusehen. Ich konnte mir diese plötzlich aufkommende Spannung, die zwischen uns herrschte, nicht erklären. Ich presste meine Lippen aufeinander. Die Bilder der Strandparty rauschten vor meinem inneren Auge wie die Lichter der Großstadt während einer Autofahrt bei Nacht. Immer wieder hielten sie an bestimmten Stellen an, die meinem Herzen entweder einen Stich versetzten oder mehr Blut pumpen ließen. “Er hatte seine Höhen und Tiefen”, antwortete ich knapp, ohne näher drauf eingehen zu wollen. “Hm-hm…” machte er nur und las immer noch ohne Unterbrechung. “Hat jemand angerufen, während ich geschlafen habe?” Ein Themenwechsel war jetzt bitter nötig. Innerlich hoffend, dass in seiner Antwort die Worte Ja und Edward lagen, hielt ich es kaum aus, als er sich ziemlich viel Zeit ließ, ehe er etwas sagte. Noch länger und ich würde das reinste Nervenbündel sein. Dann endlich seufzte er - und ich hielt die Luft an. “Ja…” Langsam atmete ich wieder aus und musste das aufkommende Grinsen unterdrücken. Zwar wusste Charlie, dass ich mit Edward zusammen war, doch jetzt hatte es ein ganz anderes Gewicht. Die Beziehung, die wir ihm vorgespielt hatten, war jetzt (hoffentlich) echt. Keine Vorführung mehr. Es fehlte nur noch ein Wort, ein Name. Sag es… Sag es! Charlie legte die Zeitung ab, hob seinen Kopf und musterte mich angestrengt für einen winzigen Moment. Er öffnete seinen Mund - und ich hielt abermals die Luft an. “Claire…” Ausatmen… Doch die erhoffte Freude wollte nicht kommen. Stattdessen sackte mein Herz in die Hose und mein Blick verfinsterte sich. Was wollte sie? Warum rief sie noch hier an? Er hatte seinen Kopf wieder hinter der Zeitung versteckt, doch ich wusste, dass er nicht mehr darin las. Was hatte sie ihm erzählt? Völlig entgeistert starrte ich in seine Augen, die jetzt über den Rand des Tagesblattes zu mir herüberschielten und mich wachsam musterten, während meine Finger sich immer fester um den Löffel wickelten und ihn so sehr in die Schale drückten, dass man denken könnte, ich wolle das Porzellan durchbohren. Ihm entging das natürlich nicht. “Sie macht sich nur Sorgen um dich, Bella.” Für einen kleinen Augenblick setzte mein Herz aus. “Sorgen!” wiederholte ich, wobei sich meine Stimme überschlug. “Du musst nicht gleich so wütend werden. Ich weiß, dass du in einer schwierigen Position steckst.” “Ha… schwierige Position”, schnaubte ich und wendete mich wieder meinem Essen zu. “Ich bin durch mit ihr. Wir sind nicht mehr befreundet. Sollte sie mir noch mal unter die Augen treten, dreh ich ihr persönlich den Hals um.” “Bella”, sagte er etwas lauter und drehte sich ganz zu mir, während er die Zeitung zusammenfaltete und sie auf den Tisch legte. “Ist dieser Junge es wert, dass die Freundschaft mit deiner besten Freundin daran zerbricht?” Für einen Moment blickte ich ihn fassungslos an, nicht ganz seine Worte glaubend. “Edward?… Was hat er denn damit zutun?” “Bella, red dich jetzt bitte nicht heraus. Ich find-” “Ich rede mich nicht raus”, fuhr ich unwirsch dazwischen. “Was immer sie gesagt hat, es ist gelogen und der einzige Grund, den sie hat, dir irgendwelche Lügenmärchen zu erzählen, ist, dass sie Edward und mich auseinander bringen will.” “Ich finde, eine Strafakte bei der Polizei ist nicht gerade unbedeutend.” Damit hatte ich nicht gerechnet und für eine Sekunde hatte er mir so den Wind aus den Segeln genommen. “Damals war mir eh alles egal und all der Mist, den wir gemacht haben, hat mir geholfen, meinen Frust abzubauen.” Ja, Edward hatte früher viel Blödsinn gemacht, doch das war Vergangenheit. Auch wenn ich nicht gleich mit einer Polizeiakte gerechnet hatte. Und woher wusste Claire das schon wieder? Am Lagerfeuer hatte sie ähnliche Andeutungen gemacht. Trotzdem änderte das nichts daran, dass Edward jetzt ein Anderer war. Davon war ich überzeugt. Ich wollte und würde nichts anderes glauben. Jemand wie er konnte einfach kein durch und durch schlechter Mensch sein. “Sieht so aus, als wäre das nichts neues für dich”, stellte Charlie aufmerksam fest. “Was immer Claire erzählt hat… Edward ist nicht mehr der, der er früher einmal war.” Obwohl ich mir vorkam wie bei einem Verhör, versuchte ich so überzeugend wie möglich zu antworten. “Und das kannst du jetzt schon sagen, ja? Wie lange seid ihr zusammen? Eine Woche? Ich bin beeindruckt von deiner Menschenkenntnis.” Ich hasste es, wenn er sarkastisch wurde. “Wem glaubst du eigentlich mehr, Dad? Claire oder deiner eigenen Tochter?” fragte ich ihn und mein Zorn, der kurzzeitig leicht abgeklungen war, stieg wieder hoch. “Bells…” seufzte er. “Das ändert doch nichts an den Fakten. Ich bin Polizist. Ich sehe jeden Tag solche Fälle und glaub mir, die meisten fallen immer wieder in ihr altes Schema zurück.” “Ja, Dad. Genau. Die meisten!” fuhr ich ihn an. Meine Stimme war schon hart an der Grenze zum Schreien. “Und Edward gehört nicht dazu.” “Ich will doch nur nicht, dass du dich zu sehr da hinein steigerst und verletzt wirst”, versuchte er mich zu besänftigen. “Weißt du, was mich jetzt gerade verletzt?” Meine Sicht verschwamm allmählich. “Dass mein Vater mir nicht vertraut und lieber den Worten einer Außenstehenden glaubt.” Für einen kurzen Augenblick weiteten sich seine Augen und er sah mich besorgt an. “Bella, natürlich vertraue ich dir”, meinte er und wollte meine Hand, die auf dem Tisch lag, berühren, doch ich zog sie weg, was ihn kurz inne halten ließ. Er musterte mich skeptisch. Es sah aus, als wöge er die nächsten Worte mit Bedacht ab. “Nur sind die Jugendlichen heutzutage etwas… naiv. Sie lassen sich viel zu schnell auf andere Dinge ein, weil sie ihren Träumen nachlaufen.” Ich schnaubte und konnte nur fassungslos meinen Kopf schütteln. “Wie sehr kannst du ihm denn schon vertrauen…?” meinte er und es war keine ernst gemeinte Frage. “Mehr als irgendjemandem sonst”, antwortete ich zähneknirschend. Mein Unterkiefer zitterte verräterisch und mein Gesicht tat schon weh, so sehr versuchte ich die Tränen zu unterdrücken. “Bis er dich zu irgendetwas überredet und ich dich am Ende noch aus dem Gefängnis abholen muss?” “Dad!” Just in diesem Moment klingelte es an der Tür und wir beide erstarrten zeitgleich. Es war auf einmal so still um uns, dass ich meinte, nur das schneller werdende Klopfen meines Herzens zu hören. “Erwartest du Besuch?” fragte Charlie überrascht. “Edward.” Ich funkelte ihn schadenfroh an, ehe ich mich erhob und schnurstracks zur Haustür ging. “Isabella Swan, bleib gefälligst stehen!” rief er aufgebracht hinterher, während er mir folgte. “E-”, setzte ich an, also ich die Tür aufriss, nur um im nächsten Augenblick in Alice’ bedrückt freundliches Gesicht zu sehen, das aber sofort in Sorge umschlug, als sie meines sah. Hinter mir tauchte mein Dad auf. Er schien genauso verwirrt wie ich. “Alice! Hallo…” begrüßte er sie höflich. Dafür, dass er sie erst einmal gesehen hatte, konnte er sich ihren Namen verdammt schnell merken. “Guten Tag, Mr. Swan”, lächelte sie. “Was führt dich zu uns?” Charlie klang, als wäre er nie wütend gewesen. Ihre Augen huschten kurz zu mir. “Ich wollte Bella fragen, ob sie Lust hat, etwas mit mir zu unternehmen.” “Ich… Tut mir leid, aber ich kann nicht. Ich warte noch auf einen Anruf von Edward”, meinte ich entschuldigend. Ihre Miene, die eben noch freundlich war, bekam wieder diesen betrübten Ausdruck. “Ich denke nicht, dass er das wird.” Ich wollte eigentlich etwas erwidern, doch dann drängelte ich mich lieber schweigend an Charlie vorbei, um meine Tasche zu holen. “Wo willst du hin?” fragte er mich, als ich aus dem Haus trat. “Mit Alice einkaufen.” Ich wartete gar nicht auf seine Antwort, sondern zog das kleine, schwarzhaarige Mädchen mit zu ihrem gelben VW Beetle Cabriolet, der am Straßenrand parkte. Ich ließ mich auf den Beifahrersitz sinken und verschränkte die Arme vor der Brust, während ich darauf wartete, dass sie endlich losfuhr. “Er sieht ziemlich wütend aus.” Ich hob meinen Kopf und sah kurz zu ihr, dann zum Eingang unseres Hauses. Mein Dad stand immer noch da und fixierte mich argwöhnisch. Dann endlich schloss er die Tür. Ich sackte in meinem Sitz zusammen und legte eine Hand über meine Augen. “Alles in Ordnung?” wollte Alice wissen und ich konnte spüren, wie ihre kleinen, dünnen Finger sanft über meinen Rücken strichen. Ich nickte nur und atmete tief durch. “Was meintest du vorhin?” fragte ich nach ein paar Sekunden in die Stille hinein. “Na ja, er hat mich angerufen und gefragt, ob ich vor hatte, dich heute zu besuchen. Er meinte, er wollte das eigentlich selbst, nur hat er unerwarteten Besuch bekommen. Außerdem hat er mich gebeten, dich morgen zur Schule zu fahren.” Ich hob meinen Kopf und sah sie verwirrt an. “Wie bitte? Warum sagt er mir das denn nicht selbst?” Sie zuckte nur mit den Schultern. “Er klang irgendwie kurz angebunden und ziemlich nervös am Telefon.” Was war denn mit ihm los? Bereute er den gestrigen Abend auf einmal? Dabei hatte er doch so glücklich ausgesehen. So glücklich, wie ich mich fühlte. “Ich bin sicher, er hat seine Gründe, Bella. Und morgen in der Schule kannst du ihn persönlich fragen. Du musst keine voreiligen Schlüsse ziehen”, versuchte sie mich zu beruhigen, als sie die Panik in meinem Gesicht sah. Meine Mundwinkel zuckten nur für eine Sekunde nach oben. Länger konnte ich das Lächeln nicht aufrecht erhalten. “Leichter gesagt als getan.” “Hey, du hast die beste Wahrsagerin der Welt vor dir”, grinste sie. Unweigerlich musste ich es erwidern, wenn auch nur halbherzig. “Also, was machen wir jetzt?” Alice tippte sich mit dem Finger ans Kinn. “Hm… Deine Idee von vorhin war eigentlich gar nicht so übel. Außerdem ist so was ideal, um wieder bessere Laune zu bekommen.” Irritiert hob ich meine Augenbrauen. “Shoppen”, half sie mir fröhlich auf die Sprünge. Schnell zauberte ich ein kleines Lächeln auf meine Lippen, um ihr zu zeigen, dass ihre Aufmunterungsversuche nicht umsonst waren. Das Kaufhaus, in das sie mich geführt hatte, kannte ich bis dato noch gar nicht. Jedenfalls war ich noch nie hier gewesen. Wir schlenderten eine immens breite Passage im Erdegeschoss entlang, die in der Mitte in regelmäßigen Abständen von länglichen Holzblumenkästen, die uns bis zur Brust gingen, geteilt wurde. Über uns in ein paar Metern Höhe erstreckte sich die verglaste Decke, durch die jetzt die volle Intensität der Sonne schien. Zu beiden Seiten konnte man die fünf Stockwerke, auf denen sich die verschiedensten Läden befanden, einsehen. An den Geländern standen immer wieder ein paar Menschen, die auf das Treiben hier unten in der Passage schauten. Links und rechts von uns erstreckte sich ein Restaurant oder Café nach dem anderen, McDonald’s, Burger King, Bäckereien und Fastfood-Läden. Überall waren kleine Tische vor jedem Geschäft aufgestellt, ab und zu durch kleine Sonnenschirme aufgeteilt. Es wurde Eis gegessen, Pizza oder einfach nur ein Kaffee oder etwas erfrischendes getrunken. Wir verbrachten hier jetzt bestimmt schon zwei oder drei Stunden. Bei Alice’ regelrechter Verfolgungsjagd auf Schnäppchen verlor ich jegliches Zeitgefühl. Es war erstaunlich, dass wir die ganzen Tüten, von denen mittlerweile sechs an jeder Hand hingen und nur eine davon mir gehörte, überhaupt noch tragen konnten. Sie hatte einen vollkommen zufriedenen Ausdruck auf ihrem Gesicht, während die Sonnenstrahlen sie wie eine kleine Elfe wirken ließen. “Das hat wirklich gut getan, findest du nicht?” seufzte sie und wanderte mit geschlossenen Augen neben mir her, ihr Gesicht gen Sonne gestreckt. Ein Wunder, dass sie noch nicht gestolpert war. Statt zu antworten, kicherte ich nur. Auch wenn sie in gewisser Weise recht hatte, so konnte ich dem ganzen einfach nichts abgewinnen. Sich die schönsten und teuersten Kleider heraussuchen und die Verkäuferin so lange bereden, bis sie diese nur noch für den halben Preis herausgab, überstieg meinen Horizont. Alice nannte es ’Handeln’, ich nannte es ’Bedrohen’. Denn das tat sie, wenn auch auf eine Weise, die von weitem aussah wie ein harmloser Hang zum Reden ohne Luft holen. Alice war scheinbar geübt darin und wenn dann noch die Sätze ’woanders hab ich das aber billiger gesehen’ und ’ist das überhaupt echt’ vorkamen, hatte man einfach keine Chance mehr. Das schlimmste jedoch war, dass sie mir unbedingt ein Oberteil kaufen wollte. Sie hatte es zufällig zwischen all den eng aneinander gepressten Kleiderhaken entdeckt und war sofort überzeugt davon, dass es wie für mich gemacht wäre. Mal davon abgesehen, dass sie wundersamerweise immer noch in Erinnerung hatte, wie mein Kleiderschrank von innen aussah. Ich hatte bestimmt eine halbe Stunde lang protestiert, doch irgendwann wandte sie diesen überfreundlichen Blick an: Nimm es an, oder du wirst den Tag nicht überleben. Als ich nachgab, umarmte sie mich stürmisch und meinte, ich würde es noch brauchen. Ihre Worte in Gottes Ohr… “Wollen wir uns irgendwo hinsetzen? Das wird langsam schwer.” Ich hob die Tüten leicht an. Alice blinzelte kurz und als ihr klar wurde, was ich meinte, nickte sie. “Ich hab Hunger. Du auch?” “Hm-hm.” “Okay, italienisch, chinesisch oder Fastfood”, überlegte sie. “Chinesisch. Wenn du nichts dagegen hast.” Gemeinsam steuerten wir einen kleinen, hübsch dekorierten Laden rechts von uns an. An beiden Seiten der Theke standen lebensgroße, goldene Drachenstatuen, die ihr Maul gefährlich weit aufgerissen hatten. Direkt im Laden an der Decke hingen diese roten, runden Lichtballons aus Stoff, auf denen schwarze Schriftzeichen zu erkennen waren. Hier waren ebenfalls kleine Tische vor dem Geschäft aufgestellt und durch kleine Blumenkästen von den anderen Läden abgegrenzt. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch, der am Rand des Laufwegs der Passage stand. Erleichtert, endlich all die Taschen abstellen zu können, ließ ich mich in den Stuhl fallen. Alice tat es mir gleich. Es dauerte nicht lange, bis wir unsere Bestellung aufgeben konnten. “Was darf es sein?” fragte die Bedienung. “Eine Cola und gebratenes Hähnchenbrustfilet in Currysauce”, sagte ich. “Für mich einen grünen Tee und Bami Goreng.” Die Kellnerin nickte und verschwand, ehe sie kurze Zeit später mit unseren Getränken kam. Ich nippte daran und genoss das erfrischende Gefühl, als die gekühlte Flüssigkeit meine Kehle hinunterlief. Es war bereits nach Mittag und die Sonne hatte ihre volle Kraft bereits erreicht. Ich verschränkte meine Arme auf dem Tisch und schweifte mit meinem Blick durch die Menschenmassen, die entweder umherwanderten oder saßen. Überall Pärchen, wohin ich auch sah. Händchenhaltend, kuschelnd, küssend. So sehr ich Alice’ Anwesenheit auch genoss, so sehr wünschte ich mir jetzt, dass Edward hier wäre und ich mich an ihn lehnen könnte. Ich würde ihm nicht gegenübersitzen, so wie ich es jetzt bei ihr tat, sondern daneben. Ich würde meinen Kopf an seiner Schulterbeuge vergraben, während er seinen Arm um meine Taille geschlungen hätte. Ich würde die Wärme seiner Brust auf meiner Wange spüren und seinem Herzschlag lauschen. Und er würde sanft an meiner Seite entlang streicheln, mir ab und zu einen Kuss auf die Haare hauchen und wenn ich meinen Kopf dann hob, seine Lippen auf meinen spüren und alles um uns herum vergessen. Nur seinen süßlichen Duft einatmen, nur ihn fühlen, nur mit ihm die Zweisamkeit genießen. “Bella, aufwachen!” Ich zuckte zusammen, als ich eine Hand auf meinem Arm spürte und blinzelte verwirrt in Alice’ Gesicht. “Das Essen ist da”, meinte sie und deutete zwischen uns. Tatsächlich standen dort jetzt zwei längliche Wärmeplatten, auf denen sich zwei Teller mit unserem Essen befanden. Zusätzlich gab es eine große Schüssel mit Reis und vor jedem von uns stand eine kleine Schale mit der dazugehörigen Packung Stäbchen. Alice packte sie begeistert aus und murmelte “Man man qi”, während sie sich bereits Reis auflud. “Was?” fragte ich. “Das heißt ’Guten Appetit’”, erklärte sie fröhlich, ohne aufzusehen. Eine Weile aßen wir schweigend. Wenn Edward da wäre, könnte ich jetzt so tun, als hätte ich keine Ahnung, wie ich die Stäbchen halten sollte und er könnte es mir beibringen. Und wenn ich danach immer noch keinen einzigen Happen zu meinem Mund führen könnte, müsste er mich wohl oder übel füttern. Ich bezweifelte, dass er mich verhungern ließe. Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich mir das Ganze deutlicher vorstellte - mit all den Tücken, die diese Szene wohl bringen könnte. “Du denkst die ganze Zeit an ihn”, stellte Alice fest und riss mich aus meiner Träumerei. Schlagartig verdunkelte sich meine Miene. Als hätte der Himmel meine Stimmung gespürt, zogen ebenfalls ein paar dünne Wolken auf. Mein kleiner Schutzengel musterte mich besorgt. “Ich kann mir sein Verhalten einfach nicht erklären”, erklärte ich betrübt und starrte auf das Essen, die Stäbchen nur noch locker in der Hand haltend. “Gestern Abend wirkte er noch so gutgelaunt, so zufrieden und glücklich. Er hat mir versprochen, anzurufen und jetzt hat er sich stattdessen bei dir gemeldet, ohne auch nur ein einziges Wort zu mir zu sagen.” “Bella?” Ich hob meinen Kopf, um sie direkt ansehen zu können. “Vielleicht ist irgendetwas passiert und er hat einfach Angst gehabt, dich zu beunruhigen”, meinte sie. “Vielleicht ist ihm heute aber auch nur klar geworden, auf was er sich da eingelassen hat und macht jetzt einen Rückzieher”, erwiderte ich mit einem aufgesetzten Lächeln. “Das glaubst du doch selber nicht. Das wäre das Dümmste, das er machen kann, zumal ich diesen Schwachsinn keine Sekunde glaube.” Ihre Augenbrauen waren gefährlich tief zusammengezogen. “Ich hab euch beide gestern beobachtet und glaub mir, er sah ganz und gar nicht danach aus, als bereue er es. Eher im Gegenteil. So happy hab ich noch nie jemanden gesehen.” Ich musste zugeben, was sie sagte, erleichterte mein Herz ungemein und ich ertappte mich dabei, wie ich sie anlächelte, was sie natürlich erwiderte. “Siehst du? Und morgen redest du mit ihm und schaffst endlich dieses Missverständnis aus der Welt”, entschied sie triumphierend und schob sich ein Stück Fleisch in den Mund. Ich fing ebenfalls wieder an zu essen, obwohl es derweil nicht mehr so heiß war wie zu Anfang. “Sag mal, wie sieht es eigentlich mit dir und Jasper aus?” “Was genau meinst du?” So unschuldig sie jetzt auch klingen wollte, ich wusste, dass da mehr war. “Na ja, ihr habt gestern so vertraut gewirkt. Ist da was im Busch?” “Er ist ganz nett, das ist alles.” Wollte sie mich abwimmeln? “Ganz nett? Das sah nicht nach ganz nett aus. Eher nach küss mich, oder ich werde noch wahnsinnig.” Für einen Moment starrte sie mich erschrocken an und ich konnte deutlich erkennen, wie ihre Wangen Nuance um Nuance dunkler wurden, ehe sie ihrem Reis wieder die volle Aufmerksamkeit schenkte. “So ein Quatsch”, nuschelte sie zwischen zwei Happen, nur um sich gleich danach den nächsten hinein zu schieben. “Alice… Du bist immer so zuversichtlich, was Edward und mich betrifft, doch wenn es darum geht, deine eigene Gefühlswelt zu beurteilen, scheinst du irgendwie das Ziel zu verfehlen.” Abermals hob sie ihren Kopf und starrte mich an. “Wow…” sagte sie bewundernd. “Was?” “Du… …Ach, nicht so wichtig.” Und wieder war das Essen interessanter als unsere Unterhaltung. “Ist gestern etwas bedeutendes passiert?” hakte ich misstrauisch nach, woraufhin sie schnell ihren Kopf schüttelte. “Du weißt, dass das gemein ist, wenn du mir nichts erzählst, obwohl vielleicht doch was war.” Alice seufzte. “Als ihr losgefahren seid, standen wir noch kurz auf dem Parkplatz und da… hat er mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm am Donnerstag etwas zu unternehmen. Er möchte mir irgendwas zeigen.” “Das hört sich doch gut an.” “Ja, oder?” grinste sie verlegen. “Aber vielleicht interpretiere ich auch zuviel hinein. Es ist schließlich nur ein Treffen.” Ich seufzte schmunzelnd. “Du erzählst mir aber hinterher, was ihr gemacht habt, okay?” “Nur wenn du mit deinen Selbstzweifeln aufhörst”, lenkte sie lächelnd ein. “Apropos… Was war das heute Vormittag eigentlich mit deinem Dad?” Meine Augenbrauen hoben sich kurz bei dem plötzlichen Themenwechsel, nur um sich dann zusammenzuziehen, als ich meinen Blick abwandte. “Weißt du, wer heute bei uns angerufen hat?” Eine rein rhetorische Frage. “Claire”, schnaubte ich abfällig. Alice’ Blick verfinsterte sich genauso wie meiner, als Charlie davon anfing. “Sie hat meinem Vater erzählt, Edward wäre nicht gut für mich. Er wäre gefährlich, weil er früher soviel Unsinn angestellt hat. Du weißt ja bestimmt schon, dass mein Dad Polizist ist. Er war alles andere als begeistert.” “Aber du hast ihn doch aufgeklärt, oder? Auch wegen Claire, meine ich”, warf sie ein. “Er mag Claire sehr. Ich hab ihm zwar gesagt, dass ich nichts mehr mit ihr zutun haben will, aber nicht, was sie alles angestellt hat. Ich kann ihm das nicht erzählen. Nur das schlimme ist, dass sie ihm vorgegaukelt hat, wir hätten uns gestritten, weil sie mich angeblich warnen wollte.” Ich sah, dass das Stäbchen in Alice’ Hand bedrohlich gebogen war und kurz davor stand, auseinander zu brechen. “Falsche Schlange!” presste sie wütend hervor. “Ich versteh nur nicht, wieso dein Dad ihr die Lügen abkauft.” “Na ja…” fing ich vorsichtig an. “Weil womöglich außer dieser angeblichen Warnung alle anderen wahr sind und mein Dad hat das an meinem Verhalten auch mitbekommen. Deshalb konnte ich es nicht mehr abstreiten.” Ihre Augen weiteten sich, doch sie sagte nichts. Sie wusste ja gar nichts von Edwards Vergangenheit. “Edward hat mir erzählt, dass er früher nicht gerade brav war”, erklärte ich langsam, während ich angestrengt ihr Gesicht musterte. “Ich gehe davon aus, dass die Betonung auf ‘früher’ liegt, oder?” überlegte sie. Ich nickte. “Genau. Nur Charlie denkt jetzt, Edward könnte immer noch so sein und würde mich wahrscheinlich in irgendwelche kriminellen Kreise ziehen.” Alice’ Miene wurde plötzlich wieder weich und verständnisvoll. “Er hat nur Angst. Das ist alles. Das haben… fast alle Eltern.” Ich sah kurz in ihre Augen und wusste, dass sie jetzt gerade an ihre eigenen dachte. Trotzdem lächelte ich dankbar und sie erwiderte es. “Vielleicht muss er ihn einfach nur etwas besser kennen lernen.” “Charlie und Edward?” fragte ich skeptisch. “Ich hätte viel zu viel Angst, dass er ihn erschießt.” “Ich bin sicher, das legt sich wieder. Glaub mir”, meinte sie optimistisch und ich fragte mich, woher sie jetzt wieder diese Zuversicht hatte. Ich wollte das Thema nicht weiter vertiefen, also lächelte ich höflich und aß den Rest meines Gerichts weiter. Wir verbrachten noch eine Weile in den Einkaufsläden - zu den vierundzwanzig Tüten kamen tatsächlich noch mehr dazu -, als wir bemerkten, dass sich die Sonne langsam gen Horizont neigte. Wir beschlossen, dass es Zeit war, wieder nach Hause zu fahren und so machten wir uns auf den Weg zum Parkhaus, wo Alice’ Auto stand. Obwohl ihr Beetle recht klein wirkte, war es erstaunlich, wie schnell wir den gesamten Einkauf untergebracht bekamen. Es war immer noch warm draußen und der Fahrtwind blies meine Haare nach hinten. Ich vermisste Edwards Volvo. Das Leder der Sitze, sein Geruch auf dem Fahrersitz, er selbst am Steuer. Wenn er meine Hand in seine nahm und sie leicht drückte… Wenn seine strahlend grünen Augen alle paar Minuten die meinen suchten und ich unter seinem Blick rot wurde… Wenn er mich auf seine ganz eigene Art weckte, falls ich mal wieder eingeschlafen war… “Wir sind da”, informierte mich Alice und das Grinsen, das ich eben noch auf den Lippen hatte, erlosch sofort. Von weitem konnte ich schon unser Haus sehen. Je dichter wir kamen, desto unwohler fühlte ich mich. Auf eine erneute Konfrontation mit meinem Dad hatte ich so absolut gar keine Lust. Nur schwer schaffte ich es, aus dem Auto zu steigen, nachdem Alice angehalten hatte. “Bis morgen”, verabschiedete ich mich, während ich meine eine Tüte vom Rücksitz holte. “Ja, bis dann.” Ich winkte ihr noch kurz, dann ging ich schweren Schrittes ins Haus. Überall war das Licht aus. Nur aus dem Wohnzimmer kam ein schwaches Flackern, das - zusammen mit den gedämpften Geräuschen - eindeutig zum Fernseher gehörte. Ohne auch nur einmal hineinzusehen, ging ich direkt auf mein Zimmer zu und glücklicherweise hielt Charlie mich nicht auf. Entweder hatte er mein Kommen nicht bemerkt - was ich für ziemlich unwahrscheinlich hielt -, oder aber er ging ebenso wie ich einer erneuten Diskussion aus dem Weg. Sie würde zu nichts führen. Das wussten wir beide. Diese Sturheit hatte ich schließlich von ihm. Geschafft von diesem anstrengenden Tag schleuderte ich meine Einkaufstasche in die Ecke und ließ mich aufs Bett fallen. Ich beschloss, noch schnell meine Tasche für morgen zu packen und mich dann fürs Schlafen fertig zu machen. Ich war hundemüde. Als ich dann endlich im Bett lag und meine Finger wieder mit dem Kristall um meinen Hals spielten, schweiften meine Gedanken wie nicht anders zu erwarten, zu Edward. Nur dieses Mal war die Aufregung unangenehm, weniger freudig. Der morgige Tag würde anstrengend werden. Soviel stand fest. Ich versuchte, mir Alice’ Worte in Erinnerung zu rufen und hoffte, dass sie sich bewahrheiten würden. Dass ich alles einfach zu pessimistisch darstellte und es am Ende nur halb so schlimm war. Morgen würde ich Gewissheit haben. Morgen würde alles klarer erscheinen. Morgen… Viel zu früh öffnete ich am nächsten Tag die Augen, als sich die ersten Sonnenstrahlen durch meine Gardine den Weg ins Zimmer bahnten. Ich blieb noch ein paar Minuten liegen, um richtig wach zu werden. Innerlich hoffte ich, dass Dad schon zur Arbeit war, wenn ich in die Küche gehen würde und ich hatte Glück. Als ich fertig angezogen war und frühstücken wollte, war niemand mehr im Haus. Ich nahm mir ein Brötchen und ein Glas Milch und setzte mich an den Küchentisch. Die Stille, die herrschte, war angenehm. Keiner, der versuchte, auf mich einzureden. Nicht so wie gestern. Wenn ich an heute dachte, bekam ich sofort ein mulmiges Gefühl im Bauch. Heute würde sich entscheiden, ob ich am Nachmittag glücklich nach Hause fahren würde oder nicht. Es stand fest, dass ich mit Edward reden musste. Kurzzeitig hatte ich auch überlegt, ob ich ihn auf die Sache mit der Strafakte ansprechen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Nicht dass ihn meine Neugierde am Ende noch verärgern würde. Draußen ertönte ein lautes Hupen. Das musste Alice sein. Ich trank noch den letzten Schluck Milch aus, ehe ich in den Flur hastete, meine Sachen nahm und nach draußen lief. Während der gesamten Fahrt, in der Alice mich besorgt musterte, und auch während der ersten Stunden konnte ich einfach nicht meine Nervosität ablegen. Zwar versuchte sie mich immer wieder zu beruhigen, doch es half alles nichts. Zu allem Übel traf ich Edward auch auf keinem der Gänge und da ich heute keinen einzigen Kurs mit ihm hatte, war er auch nicht in der Klasse. Anwesend war er, denn ich hatte sein Auto auf dem Parkplatz gesehen. Als würde er mich absichtlich meiden. Nur warum? Ich setzte all meine Hoffnung in die Mittagspause, doch selbst da hatte ich Pech. Kein Edward. Zusammen mit Alice und Jasper - der höflich gefragt hatte, ob er uns Gesellschaft leisten durfte - saß ich an unserem Stammtisch, doch nirgends eine Spur von ihm. Dem Gespräch der Beiden hörte ich nur halbherzig zu und dass Claire heute anscheinend nicht in der Schule war, bekam ich nur am Rande mit. Ein einziges Mal wandte ich mich an Alice’ Freund, um ihn zu fragen, ob er Edward denn heute schon gesehen hatte und ob er sich anders verhielt als sonst. “Er wirkt etwas angeschlagen. Ich hab ihn zwar darauf angesprochen, doch er meinte, es sei nichts”, erklärte er mir mit einem Schulterzucken. Ich schenkte ihm ein gezwungenes Lächeln für seine Auskunft, das so schnell wieder verschwand wie es gekommen war. Jasper schien meine Gefühlslage mitzubekommen, denn er betrachtete mich immer noch aufmerksam. “Wir haben heute Training. Ich bin sicher, dass du ihn dort antreffen wirst.” Als ich das hörte, schöpfte ich wieder neuen Mut und mein Herz schlug wieder etwas schneller. “Danke, Jasper.” “Du kannst mich Jazz nennen”, meinte er mit hochgezogenen Mundwinkeln. Die letzten beiden Stunden versuchte ich so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, auch wenn mir das nicht so recht gelang. Und je mehr Zeit verging und mein hoffentliches Treffen mit Edward näher rückte, stieg auch meine Aufregung. Zumal ich das ungute Gefühl bekam, dass doch nicht alles in Ordnung war. Außerdem wurde meine Sportstunde, die ich normalerweise zusammen mit seinem Training hatte, durch Englisch ersetzt, da unsere Lehrerin krank war. Edwards Unterricht fing demnach gleichzeitig mit meinem an. Ich hoffte, dass sie lange genug spielen würden, damit ich ihn nicht verpasste. Als dann endlich die Klingel das Ende der letzten Stunde verkündete, packte ich in Windeseile meine Sachen und hastete aus dem Raum Richtung Baseballplatz. Und tatsächlich. Jasper hatte recht behalten. Sie trainierten und ich konnte einen bronzenen Wuschelkopf im Sonnenlicht schimmern sehen. Für einen kurzen Moment verlor ich mich in dem Anblick und sah nur noch ihn. Seine blasse Haut, die so gar nicht zu unserem Klima hier passte - und ich war noch nicht mal besser dran als er in dieser Hinsicht -, seine entspannten Gesichtszüge, während er den Schläger über seiner Schulter schwang und auf den kleinen, weißen Ball wartete, nur um ihn ein paar Meter in die Luft zu schlagen, seine graziöse Haltung auf dem Spielfeld… Ein Engel… Ich setzte mich auf die Zuschauerreihen, stützte meine Ellenbogen auf meine Knie und meinen Kopf auf meine Hände, während ich ihm zusah - genauso wie jede Menge andere Mädchen hier, die scheinbar nicht genug davon bekommen konnten. Eine verträumter als die Andere. “Ist er nicht wunderbar?… Der Kühle mit den roten Haaren…” hörte ich jemanden seufzen, der nicht weit weg von mir ein paar Reihen weiter oben saß und ich war schon kurz davor, mich umzudrehen und ‘bronze‘ zu rufen. “Was würde ich nicht dafür geben, einmal in seinen starken Armen zu liegen…” Automatisch dachte ich an die Male zurück, in denen ich das durfte und ein kleines, kaum sichtbares, schadenfrohes Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. “Oh, mir würden noch jede Menge andere Dinge einfallen”, hörte ich eine zweite Person kichern. “Ich weiß, wo die Umkleiden sind”, meinte die Erste verschlagen, woraufhin die Zweite kurz lachte. “Aber ist er nicht vergeben?” “Wen stört das? So was hält bei solchen Leuten eh nicht lange.” “Soweit ich weiß, soll es diese Swan sein.” “Die sich drei Jahre lang von Claire auf der Nase herumtanzen hat lassen? Haha, dann ist ihre Beziehung ja noch schneller vorbei als ich es erwartet hab.” Ungewollt versteifte sich mein Körper und ich widerstand dem Drang, mich zu ihnen umzudrehen. “Wieso? Was hat Claire denn gemacht?” “Weißt du das nicht?… Also ich war am Wochenende auf dieser Strandparty und na ja,… es sind einige Dinge ans Licht gekommen. Zum Beispiel dass unsere beliebte Ms. Stanfield noch listiger ist als diese Lauren Mallory. Sie hat allen nur vorgespielt, brav und anständig zu sein, dabei hat sie in Wahrheit über Jahre hinweg ihre eigene Freundin hintergangen…” “Nicht wahr…” staunte die Andere. “Doch, doch. Aber wenn du mich fragst, ist die Swan selbst schuld. Wer sich so hinters Licht führen lässt, verdient es nicht besser.” In meinen Augen sammelte sich Wasser, doch ich wollte stark bleiben. Mit so etwas würde ich wahrscheinlich noch öfter konfrontiert werden. “…So wie es aussah, waren sie ja ziemlich eng miteinander befreundet. Ich wäre wahrscheinlich auch nicht gleich auf so was gekommen”, seufzte die Eine. “Hey, ich glaube, sie sind jetzt fertig”, grinste ihre Freundin. “Ab in die Umkleide?” Sie kicherten einstimmig. Jetzt sah auch ich, dass das Team auf die Bank, die vor den Zuschauerreihen stand, zuging, um ihre Sachen zu packen. So schnell ich konnte, stand ich auf, schlängelte mich durch die Reihen zum Tribünenmittelgang, um zum Spielfeld zu laufen. Zu dumm, dass ich nicht an meine Tollpatschigkeit gedacht hatte, denn schon im nächsten Augenblick war ich kurz davor, Bekanntschaft mit dem Boden zu machen. Wenn mich nicht jemand aufgefangen hätte. Die starken Arme umschlangen meinen Oberkörper und drückten mein Gesicht in eine mir allzu bekannte Brust, dessen Geruch mir sofort in die Nase stieg. Schlagartig fühlte ich mich wohler, als ich ihn “Bella” kichern hörte. Jedoch erstarb es für meinen Geschmack viel zu schnell wieder. “Alles in Ordnung?” fragte er mich, als ich mich wieder vollends aufrappelte, ohne mich jedoch von ihm zu lösen. Ich nickte. “Danke.” “Was machst du hier?” Seine Stimme klang verhalten. Ich sah ihn irritiert an. Hatte er mich das gerade wirklich gefragt? Als wäre ihm bewusst geworden, was ich meinte, formten sich seine Lippen plötzlich zu einer schmalen Linie. “Du… hast gestern nicht angerufen”, half ich ihm auf die Sprünge. “Ja… Tut mir leid deswegen. Ich hab einen sehr unerwarteten Besuch bekommen.” Bei dem Wort ‘Besuch’ klang seine Stimme abweisend. Ich konnte mich aber auch irren. “Alice hat es mir erzählt”, stimmte ich zu. “Trotzdem hättest du es mir selbst sagen können.” “Ja, ich weiß…” meinte er und strich mir über den Kopf, was ich für ein paar Sekunden genoss. Bis mir wieder einfiel, wo ich mich gerade befand. “Sag mal”, fing ich an und musterte vorsichtig seine Miene, um mir auch keinen einzigen Gesichtszug bei meiner nächsten Frage entgehen zu lassen. “Kann es sein, dass du mir aus dem Weg gehst?” Für einen winzigen Bruchteil einer Sekunde weiteten sich seine Augen, nur um im nächsten Augenblick die meinen förmlich zu durchbohren, während er nervös auf der Unterlippe kaute. “Nein… Wie kommst du darauf?” war seine viel zu ruhige Antwort, die mich kurz inne halten ließ. “Wir haben uns heute noch kein einziges Mal gesehen und es sah auch nicht so aus, als ob du mich gesucht hättest.” “Weißt du, Bella…” meinte er plötzlich. “Ich finde, wir sollten das Ganze nicht so schnell angehen und uns mehr Zeit damit lassen. Wir überstürzen sonst vielleicht alles.” Meine Augen weiteten sich schlagartig und ein unangenehmer Kloß bildete sich in meiner Kehle, doch der Schock legte sich schnell wieder und ich zwang mich zu lächeln. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Ich sah zu Boden und schluckte. “Du willst dich nicht mehr mit mir sehen lassen, oder? Ich bin peinlich und jetzt hast du Angst, dein Ansehen könnte darunter leiden…” Ich konnte hören, wie er die Luft anhielt und dann schnaubte. “Bella, das ist absurd. Mir ist es völlig egal, was die anderen denken. Es ist nur… Ich will wirklich nicht so schnell an die Sache herangehen, okay? Ich will keinen Fehler machen.” Er legte seinen Finger unter mein Kinn und drehte meinen Kopf wieder zu sich. “Hast du das verstanden?” fragte er sanft. Ich zögerte kurz, ehe ich nickte. Auch wenn das nicht erklärte, warum er sich den ganzen Vormittag nicht bei mir hatte sehen lassen. Er zog mich wieder fest in die Umarmung und strich langsam über meine Haare, vom Ansatz bis zur Spitze, bevor er seine weichen Lippen auf meinen Kopf drückte. Ich gab mich diesem Moment vollkommen hin und bettete mein Wohlempfinden in diese zärtliche Geste. Ich hatte es so sehr vermisst. Es gab nur ihn und mich. Sonst niemanden. Und doch wirkte es auf mich plötzlich wie eine Farce - eine Hülle. Es war so unnatürlich. “Edward?” hörte ich jemanden, doch ich kannte die Stimme nicht. Edwards gesamter Körper versteifte sich ruckartig und langsam drückte er mich von sich, ohne mich auch nur ein einziges Mal anzusehen, bis wir uns überhaupt nicht mehr berührten. Sein Gesicht war die reinste Steinmaske, als er sich zu der fremden Person umdrehte. Ich folgte seinem Blick und sah jetzt einen ziemlich großen Jungen mit verwuschelten, schwarzen Haaren auf uns zukommen. Seine Haut war rostbraun und selbst für permanente Strandgänger war das zuviel. Es musste von Natur aus so sein. Ein freundliches Lächeln umspielte seine Lippen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich auf einmal Tayk, der in unserer Nähe stand. Er hatte sich eine Wasserflasche genommen und hielt jetzt in seiner Bewegung inne, als er misstrauisch den Neuankömmling beobachtete. “Was machst du denn hier?” fragte Edward ihn kalt, was den fremden Jungen nicht zu stören schien. “Ich war neugierig auf dein neues Leben. Das ist alles”, antwortete er schulterzuckend und blieb nur wenige Meter vor uns stehen. Sein Blick huschte kurz zu mir. Ich war noch immer halb hinter Edward versteckt. “Stellst du uns gar nicht vor?” fragte er. Edward zögerte. “Das ist Seth. Ein alter… Bekannter”, erklärte er schließlich, ohne mich anzusehen. “Und das hier ist Bella. Eine Freundin.” Meine Brust zog sich zusammen. Hatte er gerade ‘eine Freundin’ gesagt? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)