Huans von Nagisa_Tsubaragi ================================================================================ Kapitel 3: Offenbarung ---------------------- Auch die nächsten Tage wurden nicht besser. Zwar hatte sie das Kaugummi unbeschadet aus ihren Haaren entfernen können, aber sie fühlte sich immer noch mies und leer. Obwohl sie erst 15 war, ging sie jetzt schon neun Jahre auf diese Schule – ein Internat. Ihre Mutter war kurz nach ihrer Einschulung gestorben – eine Tatsache, die sie erst drei Jahre später erfahren hatte, weil sie damals noch zu „klein“ war und es womöglich nicht „verkraftet“ hätte. Sie hatte sich nie auf einer Beerdigung oder so von ihrer Mutter richtig verabschieden können. Ihr Vater überwies immer so viel Geld, dass sie ununterbrochen und ohne eine einzige Fahrt nach Hause auf die Schule gehen konnte. Die Schule wurde als eine der Besten und besondersten gepriesen, aber viel davon hatte Nia noch nicht gespürt. Sie hatten Spiel- und Sportplatz, eine Mensa, Kiosk, Schreibwarenladen, Internetcafé, Bibliothek und Aufenthaltsraum. Das Schwimmbad war im Bau und eine Sonnenterasse war auch in Planung. Eigentlich sehr nobel – aber sie konnte sich nicht darüber freuen, nicht dafür begeistern, weil sie einfach ... IMMER da war. Ein Kino fände sie toll – dann würde sie wenigstens mitbekommen, was für Filme in der „Außenwelt“ gespielt wurden – anders konnte man sich nicht über die reale Welt informieren. Der Kiosk verdiente sein Geld mit Groschenromanen, Mädchenmagazinen, Autozeitschriften und natürlich der „Gerüchteküche“, der erfolgreichsten „Zeitung“ der Schulgeschichte. Früher hatte Nia sich mit Katja zahllose Mädchenmagazine gekauft und viel ausprobiert. Oder davon geträumt, eines Tages schön und berühmt zu sein und welchen Mann sie dann heiraten würden. Aber jetzt ... Katja war mit dem Abschlussball aus ihrem Leben verschwunden. Und sie hatte sich nicht einmal verabschieden können! Allerdings hatte Katja auch nichts drangesetzt, ihr eine Nachricht oder so zu hinterlassen ... Jetzt war sie ganz allein. Nias beste und einzige Freundin war fort. Sie fühlte sich schwach und hilflos, fast so, als hätte man ihr mit Katja alle Lebensenergie entzogen. Salvatore wurde jetzt noch strenger bewacht denn je – was nach dem Vorfall mit ihr auch nicht weiter verwunderlich war. Aber nun war er für Nia noch ein Stück weiter in die Ferne gerückt – wobei er schon immer unerreichbar gewesen war. Und dann war da auch noch Cedric – ihr Sitznachbar, der sich letztens wie ein wahrer Held benommen hatte. Seitdem war er nicht mehr zum Unterricht erschienen und Nia machte sich langsam ernsthafte Sorgen, dass sie ihn beim Sturz schwerer verletzt haben könnte. Wie gern würde sie ihm Blumen als Zeichen der Dankbarkeit schenken – hätte sie nur genügend Geld! Mit mageren 3,20 € kommt man in einem Blumenladen, der sich bei ihnen „Blumenzauber“ nannte, nun wirklich nicht weit. Nia wusste auch nicht, von was sie das kaputte Buch und ihr ramponiertes Federmäppchen zahlen sollte. Das Buch kostete bestimmt um die zwanzig Euro, ein neues Federmäppchen mindestens zehn! Zwar überwies ihr Vater regelmäßig und gewissenhaft das Schul- und Büchergeld, aber mehr als fünfzig Cent blieben nie übrig. Zu ihrem Geburtstag bekam sie magere fünf Euro – was für sie natürlich viel war, aber von vorn bis hinten nicht reichte. Ihre Lieblingszeitschrift kostete 1,20€, eine Tasse heiße Schokolade 1,80€! Kaugummi 1.-€ und Haarspangen 80 Cent! Außerdem brauchte sie ein neues Geodreieck, Zirkelminen und einen Killer – für sie geradezu unbezahlbar! Seufzend schüttelte sie ihr Sparschwein in Form eines Baumstumpfs mit Geier und Schild „Pleitegeier“. Aber das war ihr egal – sie würde diesem behinderten Idioten eine Blume kaufen. Nia hatte eine Schwäche für die Blumensprache und kannte alle Blumen mit ihrer einzigartigen Bedeutung in und auswendig, wobei die Anzahl der Blumen jeweils noch eine eigene Bedeutung hatte. Sie fand es einfach nur romantisch und spannend, dass man sich früher einmal nur durch Blumen unterhalten konnte, ohne Worte dazu zu benutzen. Spontan dachte sie an die Osterglocke, die in der Blumensprache für Respekt stand. Ja, das war eine gute Idee. Natürlich mussten es vier Osterglocken sein, denn die vier stand für Bewunderung – perfekt! Sie bewunderte und respektierte ihn, weil er ihr trotz dem, dass sie ihn am Vorabend beleidigt hatte, geholfen hat. „Eine ausgezeichnete Idee!“, lobte sie sich im Geiste selbst und schwang sich vom Bett. Melancholisch schüttelte sie den Inhalt ihres „Sparschweins“ in ihre Hand dun verstaute alles in die Hosentasche ihrer einzigen, ausgewaschenen Jeans. Zielstrebig begab sie sich auf direktem Weg zum „Blumenzauber“. Kaum war eingetreten, erspähte sie die Osterglocken und schnappte sich zwei Paar. „Die hier, bitte!“, sagte sie mit einem Lächeln angesichts des verwirrten Gesichtsausdrucks von Bob, dem Blumenverkäufer. Hatte noch nie jemand so schnell bei ihm seine Ware ausgesucht? Egal. „Das macht 3,20€.“ Heulend vor Glück, dass sie es passend HATTE und unglücklich darüber, ihr ganzes Geld auf den Kopf gehauen zu haben, ging sie ins Krankenzimmer. Nia mochte diesen Raum irgendwie, denn alles war weiß und sauber. Licht flutete durch die bodentiefen Fenster und überall standen frische Blumen. Um die Betten herum waren hohe Vorhänge, durch die man nicht hindurch schauen konnte. Langsam näherte sie sich dem einzigen Bett, wo der Vorhang zugezogen war. „Cedric?“, fragte sie schüchtern. Keine Antwort. „Bestimmt wieder einer seiner doofen Spielchen!“, dachte sie grimmig und riss den Vorhang auf, nachdem er beim dritten Mal nicht antwortete. Und da lag er: Seine Hand bandagiert und er in einen Pyjama gekleidet. Cedric schlief tief und fest. Beschämt und verlegen durch ihr rücksichtsloses Verhalten und schuldbewusst, von wem die Verletzung stammte, stammelte sie eine leise Entschuldigung und stopfte unbeholfen die Blumen in eine Vase auf dem Nachtschrank. Nicht wissend, was sie noch machen sollte, wuselte sie aus dem Zimmer. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, öffnete Cedric die Augen, erblickte die Blumen und nuschelte „Danke.“ Vor dem Krankenzimmer angekommen, kam sich Nia echt hohl vor. Warum hatte sie diesem behinderten Idioten Blumen gekauft? Eine einfache Entschuldigung hätte es auch getan! Reuig bog sie schleunigst um die Ecke, wo sie prompt mit jemanden zusammenstieß. Sich die Nase vor Schmerz reiben schaute sie auf – und es verschlug ihr die Sprache, sodass sie rückwärts taumelte. Salvatore in einem lässigen Pulli (ein heller, der einen sexy Kontrast zu seiner dunklen Haut bildete) und einer Blue-Jeans. „E ... Entschulige!“, stotterte sie und Schamesröte stieg ihr ins Gesicht. „Kein Problem.“, meinte er und lächelte sie auf seine Knie-erweichende Weise an. Plötzlich schein ihm ein Licht aufzugehen. „Bist du nicht das Mädchen, das am Ballabend geweint hat? Nia war dein Name, oder?“, fragte ihr Schwarm sie interessiert. Nia schluckte hart. „J... ja, das war ich. U... und ich bin auch Nia, Salvatore. I... ich wollte dir danken, dass du an jenem Abend – wenn auch nur kurz – bei mir warst.“, sprudelte es aus dem verlegenen Mädchen heraus – er kannte ihren Namen und er ERINNERTE sich an sie! Milde erstaunt darüber, dass sie seinen Namen kannte, erwiderte er: „Ach was, das hab ich doch gern gemacht. Man kann doch so ein hübsches Mädchen wie dich nicht mit seiner Verzweiflung allein lassen, oder?“ Noch ehe diese wundervollen Worte gänzlich zu ihr durchgesickert waren, klingelte die Schulglocke. „Tut mir leid, aber ich muss zum anderen Ende des Schulgebäudes – man sieht sich!“, sagte er und ging von dannen. Nia hielt sich mit einer Hand an der Türklinke fest, damit sie vor lauter Glück nicht umkippte, mit der anderen hielt sie den Mund zu, damit sie keinen lauten Freudenschrei ausstoßen konnte. Oh Gott! Das konnte doch eben nur ein Traum gewesen sein, oder?! Plötzlich fiel ihr aber ein, dass sie jetzt Klassenleiterstunde (KS) hatte und das ihre Lehrerin, Frau Wood gar nicht erfreut wäre, wenn sie zu spät käme. So schnell wie sie konnte hechelte sie die langen, leeren Korridore entlang und kam – zu ihrem Glück – gerade noch rechtzeitig an. Frau Wood verstand überhaupt keinen Spaß – zu spät kommen, den Unterricht stören (sei es schnarchen, lachen, husten, schnupfen, niesen, plaudern, aus dem Fenster schauen oder Schluckauf) sowie Unwissen (Grundwissen, etc.) konnte zu einem Vulkanausbruch übelster Art bei ihr führen, der sich in Strafarbeiten, gebrüllten Strafpredigten oder stundenlangen Nachsitzen manifestierte. Abgesehen davon war sie eine ausgezeichnete Lehrerin, die den Stoff immer so darlegte, dass ihn selbst der Dümmste verstand. „Gerade noch rechtzeitig gekommen!“, zischte sie zwischen den Zähnen zu einer atemlosen Nia, die sich erschöpft auf ihren Stuhl fallen ließ. „Wir haben KS!“, fauchte Frau Wood erklärend, als ob das keiner wüsste. „Wie ihr vielleicht noch nicht wisst, ist das hier kein normales Internat.“, begann sie, woraufhin ein aufgeregtes Gemurmel und Geschnatter erstand, das sie mit einem heftigen Schlag auf den Tisch augenblicklich abebben ließ. „Diese Schule hat keine 10 Jahrgangsstufen, sondern insgesamt 14.“ Ein entsetztes Schweigen trat ein. NOCH LÄNGER zur Schule gehen?! Nia musste sich vor lauter Fassungslosigkeit anlehnen. Keiner sprach ein Wort, was Frau Wood für weitere Erklärungen nutzte, bevor der – gewohnte – große Krawall über diese Informationen ausbrach. „Nächstes Schuljahr werdet ihr einige neue, ungewöhnliche Fächer bekommen. Eines davon – das ich unterrichte – ist „Schönschrift“, was aber etwas ganz anderes ist, als ihr es euch vorstellt.“ Nach einem weiteren verdutzten Schweigen musste die Klasse laut losprusten. „Schönschrift!“, rief jemand, „Wir sind doch nicht mehr in der Grundschule!“ Kaum hatte sich die Klasse etwas beruhigt, wurden alle ärgerlich. „Wie konnte man uns das verheimlichen?“, fragte jemand berechtigterweise. „Eure Eltern wussten davon, als ihr hierher geschickt wurdet. Sie mussten ein Formular unterschreiben, das sie dazu verpflichtet, Stillschweigen zu bewahren. Die 10. Klassen werden – wie die oberen Klassen auch – von den unteren neun Klassen isoliert, sodass Kontaktaufnahme praktisch unmöglich ist.“, erklärte Frau Wood in einem sachlichen Ton, als wäre die Offenbarung, die Schule geht vier Jahre länger als geplant oder bisher angenommen, das normalste auf der Welt. Wie vom Donner gerührt saßen Nia und ihre Klassenkameraden da. Das musste erst mal verdaut werden. „Neben Schönschrift gibt es noch andere Fächer.“, fuhr die unbekümmerte Lehrerin fort, „Es gibt „Dimension“, „Tiere“, „Kunst“, „Lesen“, „Gabe“, „Wissenschaft“ in den verschiedenen Bereichen: Natur, Politik, Geschichte und jetzt eines der wichtigsten Fächer: „Huan“ von „Human“ und „Animal“. Das wird eines der bedeutensten Hauptfächer überhaupt sein. Natürlich gibt es noch andere, aber das ist das, was mir spontan einfällt.“ Inzwischen war die Klasse zu geschockt, um irgendetwas zu fragen oder sich aufzuregen oder gar zu wundern. „Teilweise werden die Stunden auch gekoppelt sein. Besonders Geschichtswissenschaft und Dimension, um nur ein Beispiel zu nennen. „Sport“ wird auch eine völlig neue Bedeutung erhalten, glaubt mir. Ihr werdet erstaunt sein, wie viele Dinge es doch gibt, von denen ihr noch nie gehört und nicht die leiseste Ahnung habt!“ Mit Ende diesem Satzes läutete die Glocke, doch es dauerte einige Augenblicke, bis dies zu den Schülern der 9c durchsickerte. Verwirrt und benommen torkelten sie aus dem Klassenzimmer hinaus. -------------------------------------------------------------- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)