Denn am Ende steht... von Leira ================================================================================ Kapitel 22: Der Deal -------------------- So, meine lieben, verehrten, hochgeschätzten Leser- Heute also erscheint das Kapitel mit einem Tag Verspätung (oder zwei...). Entschuldigt, aber anders gings leider nicht. Ab nächster Woche wieder wie gewohnt mittwochs :D Merci beaucoup für die vielen Kommentare :) Liebe Grüße, viel Vergnügen beim Lesen (okay so, Shi-Ran_chan? :D), eure Leira :) _____________________________________________________________________________ Die Tür wurde aufgeschlossen und ein äußerst unsanfter Stoß in den Rücken ließ ihn in den Raum dahinter taumeln. Shinichi verlor das Gleichgewicht, fiel nach vorne und landete auf dem Boden seiner Zelle. Er drehte sich um, sah Vodka gerade noch hämisch lachen und ein spöttisches Lächeln auf Gins Lippen - dann fiel die Tür zu. Dunkelheit. Shinichi blinzelte. Es war stockfinster. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Schwärze, begannen, aus den spärlichen Lichtstrahlen, die sich vom Gang draußen durch ein kleines, vergittertes Fenster ihren Weg nach drinnen kämpften, das Beste zu machen. Shinichi rappelte sich ächzend auf, drehte sich einmal um die eigene Achse, zog und zerrte an den Klamotten, die man ihm netterweise überlassen hatte. Schwarz. Schwarz wie die Nacht, pechschwarz, rabenschwarz… Fahrig wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn - ihm war immer noch heiß, seine Finger zitterten, weil sein Kreislauf immer noch im Keller war, seine Knie waren etwas wacklig - kurzum, er fühlte sich, als ob er gerade den Marathon gelaufen wäre. Dann sah er sich um, nahm seine neue Behausung in genaueren Augenschein. Seine Kinnlade klappte ihm unwillkürlich nach unten. Das hier war so absurd, dass er sich ein hohles Lachen nicht verkneifen konnte. Das hier war das krasse Gegenteil zu dem hellen Zimmer, das er vor einer Stunde kennen gelernt hatte - das hier war der dunkle Zwilling des Büros vom Boss. Er befand sich in einem Kerker. Einem waschechten Kerkerloch. Einer Zelle, die wohl geradewegs aus einem mittelalterlichen Schloss in Europa ausgebaut und hier wieder eingesetzt worden war. Anscheinend war das hier der Keller - und der war ziemlich weit unten, offensichtlich. Shinichi hob seine Hände vor die Augen, rieb die Finger aneinander und schüttelte sich. Er war keinesfalls ein Weichei, oder etepetete, aber das hier war widerlich. Er streifte sich die Hände an den Hosenbeinen ab und rümpfte die Nase. Es roch modrig hier drin. Es war wirklich sehr stilecht hier drinnen, stellte er fünf Minuten später fest. Durch Abschreiten der Wände war er auf circa drei mal drei Meter gekommen - also neun Quadratmeter, in denen er sich ausbreiten konnte. Der Boden und die Wände waren aus grob behauenen Steinen gemauert, und an einer Seite hing sogar ein Brett an Ketten von der Wand, eine Sitzgelegenheit. Shinichi seufzte, ließ sich auf das Brett sinken. Das hier sieht aus wie aus einem schlechten Fantasyfilm entsprungen. Oder wie die Verließe in so einem mittelalterlichen, Low-buget Mantel- und Degenepos. Wo sind verdammt noch mal diese weißen Räume, von denen man in den modernen Krimis immer liest? Diese steril anmutenden, großen, weiß gefliesten Räume, in denen sich der Gefangene so klein vorkommen soll, so ausgeliefert… wo bleiben diese Psychotricks? Diese mentale Folter? Stattdessen sitz ich hier in diesem ungezieferverpesteten Loch… es fehlen nur noch die Ratten… Wie um das klischeehafte Bild, das diese Räumlichkeit vermittelte, zu vervollständigen, drang ein hohes Quieken an seine Ohren, dann ein Rascheln. Das Geräusch von kleinen trippelnden Pfoten war zu hören, dann ein leises Fiepen. Und dann sah er sie. Zwei leuchtende Punkte in der Finsternis, ein Paar rötlich glühende Augen in einem spitzen Gesicht, aus dessen Mitte eine zitternde Nase hervorragte. Die Ratte. Wenn man vom Teufel spricht… Shinichi stöhnte sarkastisch auf, zog die Beine auf die Holzplanke. Er hatte keine Angst vor Ratten - aber er konnte sie nicht ausstehen. Bakterienverseuchte, verlauste Flohkutschen… „Dann wären wir ja jetzt komplett, nicht wahr? Der Gefangene, das Kerkerloch und die Ratte…“ Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu. „Was willst du? Willst du mir einen deiner Flöhe vermachen, der mir die Pest anhängt? Oder willst du mich fressen? Dafür musst du dich aber noch ein wenig gedulden, meine Liebe. Noch bin ich nicht tot. Und jetzt sie zu, dass du Land gewinnst!“ Er stampfte mit einem Fuß auf den Boden. Die Ratte quietschte auf, machte einen Satz - dann hörte er sie davonhuschen, sah ihren nackten Schwanz in der Dunkelheit verschwinden, verzog angeekelt das Gesicht. Er seufzte auf, zog sein Bein wieder an, schlang die Hände um seine Knie. Langsam ließ er seinen Kopf in den Nacken fallen. Das konnte ja heiter werden. Sie war gerade bei den Môris aufgekreuzt - und jetzt brach der ungehemmte Zorn einer besorgten, liebenden jungen Frau über sie herein. Eine besorgte, liebende junge Frau im Miniformat zwar, aber das tat dem Ganzen keinen Abbruch. Sharon seufzte, beschloss, Ran zuerst einmal ihren Anfall ausleben zu lassen. Sie hatte ja schließlich jedes Recht dazu. Ran war, nachdem sie aus ihrer zwanzigminütigen Zwangssendepause wieder erwacht war, beängstigend still gewesen. Im Grunde genommen hatte sie gar nichts gemacht. Sie war nur dagesessen, hatte das Medaillon um ihren Hals mit beiden Händen umklammert und unablässig ein und denselben Punkt auf dem Teppich angestarrt. Dieser Zustand allerdings war radikal umgeschlagen, als Sharon das Zimmer betreten hatte. „WARUM HABEN SIE IHM NICHT GEHOLFEN?!“ Sie schrie, ihre Stimme überschlug sich. Da war sie, Sharon, Vermouth - und hatte nichts getan. Nichts. Dabei schien es doch, die Frau wäre auf ihrer Seite? Schließlich hatte sie ihr geholfen, warum also nicht auch ihm? „Angel…“, begann die Schauspielerin sanft. „Nennen Sie mich verdammt noch mal nicht so! Sie wissen doch, was sie mit ihm anstellen werden, sie werden… Sie hätten etwas tun müssen… mphf!“ Vermouth hielt dem aufgebrachten Mädchen den Mund zu. „Ich konnte ihm nicht helfen. Gin und Vodka waren schon da - wäre ich hingegangen, und hätte ihn mit mir genommen, ihn hinterher laufen lassen - dann hätte mich das verdächtig gemacht. Ich hätte unter Umständen als Verräterin…“ Ran riss die Hand der Frau mit beiden Händen von ihrem Mund. „NA UND?!?!“ Sharon starrte sie an - dann lachte sie belustigt auf. „Ach Süße, muss Liebe schön sein. Der Kerl muss ja was ganz Besonderes sein, dass dir alles andere egal ist.“ Ran schnaubte, wandte ihren Kopf ab. Dann atmete sie einmal tief durch, sammelte sich, und schaute der blonden Frau doch wieder ins Gesicht. Stellte die Frage, die ihr schon seit sie aufgewacht war, auf der Zunge brannte, aber deren Antwort sie gleichzeitig so fürchtete, dass sie es nicht gewagt hatte, auch nur darüber nachzudenken. „Lebt - lebt er? Lebt Shinichi? Und ist er - haben sie… ist er wieder - er?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber in ihr schwang eine Angst, die Sharon Schaudern machte. „Ja. Und ja.“ Mehr sagte sie nicht, wartete auf Rans Reaktion. Ran begann zu zittern, merkte, wie ihre Knie weich wurden, ihr Gewicht nicht mehr trugen. Sie sank zu Boden, eine einzelne Träne rollte ihr über die Wange. „Danke…“, wisperte sie. Sharon schaute sie fragend an. „Wem dankst du? Gott? Also glaubst du an ihn?“ Ran hob den Kopf, strich sich die Träne von der Wange. „Was geht Sie das an?“ Sharon schluckte. Ran presste die Lippen aufeinander. In ihrem Kopf formte sich eine weitere Frage… deren Antwort sie eigentlich wusste. Eigentlich konnte sie es sich denken, aber sie wollte es dennoch aus dem Mund dieser Frau hören. Sie wollte es wissen und gleichzeitig nicht. „Hat es ihm… war es… war es schlimm?“ Ihre Stimme bebte, hörte sich brüchig an. „Ja.“ Sharon fuhr sich über die Augen. „Ich dachte er stirbt. Er lag da, vor meinen Füßen - ich dachte wirklich… ich dachte wirklich, es wäre vorbei. Aber er hat durchgehalten, er hat gekämpft… aber nun… Nun denke ich, es wäre vielleicht besser gewesen für ihn, hätte er aufgegeben.“ Rans Augen waren starr vor Entsetzen. „A… aber… was… was könnte schlimmer…?“ Sharon schaute sie nachdenklich an, schüttelte den Kopf. „Frag nicht. Du willst es nicht wissen, glaub mir.“ Du willst unsere Methoden nicht erfahren… dir geht es doch jetzt schon schlecht, weil du weißt, dass er leiden musste. Du hast ihn nicht gesehen, warst nicht dabei, aber du leidest mit ihm… Ran wandte den Kopf ab. „Was passiert jetzt? Wie geht es ihm? Wo ist er?“ Diesmal war es Heiji, der die Fragen stellte. Er war immer noch sehr blass um die Nase, sein schlechtes Gewissen, diese Schuldigkeit, die er verspürte, machten ihm zu schaffen. Sharon verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Er befindet sich in einer Zelle. Als er wieder aufgewacht ist, was… lange genug gedauert hat, wurde er eingesperrt. Man will ihn zermürben. Ihn brechen. Sie werden diese Taktik verfolgen bis er um Gnade bettelt. Und wenn es soweit ist, wenn er sich den Tod wünscht - dann wird man ihm diesen Wunsch erfüllen. Vielleicht auch schon vorher, weil ich mir nicht denken kann, dass er sich je soweit herablässt. Er war schon immer sturer als ihm gut tat.“ Ein melancholisches Lächeln zierte ihre Lippen. Heiji war bleich. Kazuha griff unwillkürlich nach seiner Hand. Ran starrte die Frau voller Hass in ihren Augen an. Kaum zu glauben, dass sie sie einmal so vergöttert hatte. Dass diese Frau einmal ihr Idol gewesen war. „Warum nehmen Sie sie nicht fest?“, brauste sie nun auf, wandte sich mit zornigem Gesicht an die Leute vom FBI. Jodie seufzte, warf ihrem Vorgesetztem einen bitteren Blick zu. „Weil wir einen Deal haben. Er gilt, solange Kudô in Gefangenschaft ist.“ „Welcher Deal?!“ Ran glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. „Mrs. Vineyard hilft uns, ihn lebend wieder rauszukriegen, und wir lassen sie dafür einstweilen in Ruhe. Und sollten wir sie hinterher fassen, wird sie eine gnädigere Strafe zu erwarten haben, als die, die ihr momentan blüht. Sollte sie scheitern, sollte Kudô sterben, dann gilt der Deal als geplatzt. Solange kann sie schalten und walten wie sie will.“ James Black nickte der blonden Frau zu. „Wie könnt ihr euch auf sie verlassen?“ Ran fragte das sehr, sehr leise. Ihr Misstrauen war deutlich zu spüren, und Jodie konnte es ihr nicht verübeln. Auch sie war mit dem Deal alles andere als glücklich - aber um Shinichi zu retten, hatte sie ihre Rachegedanken fürs erste verdrängt. Allerdings - allein mit dieser Frau, mit der Mörderin ihres Vaters, in einem Raum zu stehen, die gleiche Luft zu atmen wie sie, brachte sie an den Rand dessen, was sie ertragen konnte. Es kostete sie ein gewaltiges Maß an Selbstbeherrschung, nicht einfach auf sie loszugehen. „Wir vertrauen ihr. Weil wir ihr vertrauen müssen. Viele andere Möglichkeiten haben wir nicht, und ihr Plan ist die beste Option, die uns momentan zur Verfügung steht.“ Ran erbleichte. Dann warf sie Sharon einen wütenden Blick zu, biss sich auf die Lippen - und sagte nichts mehr. „Hat eigentlich schon jemand Yukiko und Yusaku angerufen?“ Die Stimme des Professors durchbrach die Stille. „Nein.“ Erst jetzt meldete sich Ai, die sich bislang hinter Agasa außer Sichtweite gehalten hatte, zu Wort. „Nein. Keiner hat sie bis jetzt angerufen. Oder?“ Das kleine Mädchen warf einen fragenden Blick in die Runde. Alle schüttelten den Kopf. Ran stand auf. „Dann mache ich das jetzt.“ Kogorô wollte etwas sagen, verstummte aber bei dem Blick auf seine Tochter, die ihn mit ihren großen, kindlichen Augen ausdruckslos anstarrte und sachte den Kopf schüttelte. Ai sah ihr nach - dann ging sie, verließ das Haus der Môris. Sie musste in ihr Labor. Jetzt. Unbedingt. Wie hinter ihrem Rücken drei kleine Kinder in genau das Gebäude gingen, aus dem sie gerade gekommen war, merkte sie nicht. Yukiko eilte ins Wohnzimmer, als das Telefon klingelte. Sie war etwas nervös, schließlich war sein Anruf schon längst überfällig gewesen. Aber jetzt rief er ja an. Bestimmt war er das. Jetzt konnte sie endlich durchatmen. „Kudô?“ Ran schwieg, biss sich die Lippen blutig. Sie wusste nicht, wie sie seiner Mutter beibringen sollte, ihr sagen sollte, dass ihr Sohn in höchster Lebensgefahr schwebte. Es klingelte an der Haustür, aber sie hörte es nicht. Hörte auch nicht, wie ihr Vater öffnete, drei fröhlich plaudernde Kinder in den Flur der Wohnung strömten, plötzlich innehielten, als sie sie mit besorgtem, verzweifeltem Gesicht am Telefon hängen sahen. „Hallo, wer ist dran? Shinichi, bist du es? Warum sagst du nichts?“ „Hallo, Frau Kudô…“ Ihre Stimme verlor sich. „Ran?“ Die Frau klang erstaunt. „Ja… ich bin’s.“ Yukiko blinzelte. Ran hörte sich nicht gut an. Unwillkürlich krallten sich ihre Hände fester um den Hörer. Irgendetwas in der Stimme des Mädchens ließ sie aufhorchen, ließ sie zittern… „Ran, was ist denn los?“ Sie hörte sich beunruhigt an. Ran schluckte. Und Yukiko Kudô hörte sich nicht nur beunruhigt an - sie war es auch. Yusaku, der aus seinem Arbeitszimmer in den Wohnraum gekommen war, schaute sie fragend an. Sie warf ihm einen sorgenvollen Blick zu. „Ran.“ Sie bemühte sich um eine ruhige Stimme. „Ran, ist etwas mit Shinichi?“ Rans Lippen begannen zu zittern, Tränen sammelten sich von neuem in ihren Augen. Die Detective Boys schauten sie irritiert an. „Ja…“ Ihre Stimme klang weinerlich. Um Yukikos Fassung war es geschehen. „Ran? Ran! Ran, was ist passiert, wo ist er, was ist los mit ihm?!“ Yusaku trat näher, legte seiner bebenden Frau einen Arm auf die Schulter. Aus dem Hörer war nur leises Schluchzen zu hören. Dann… „Sie - sie hahahahaaben ihn. Sie haben ihn. Sie werden…“ Weiter kam sie nicht. Und weiter hörte Yukiko auch nicht zu. Sie ließ den Hörer fallen, hatte die Hände vor den Mund gepresst als wolle sie den Schrei, der auf ihren Lippen lag, zurückdrängen - als würde ihre verdrängte Reaktion das Gehörte zu einer Lüge werden lassen. Das war nicht wahr, Shinichi ging es sicher gut… Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet, starrten ins Leere. Ihm geht es sicher gut. Sicher. Ran regte sich bestimmt völlig umsonst auf… Ihm geht es gut… Ein leises Wimmern entrang sich ihrer Kehle. Und mit diesem leisen Laut wurde es wirklich. Wurde es wahr. „Nein!“ Sie schrie, dann sackte sie zu Boden, fing an zu weinen. Yusaku starrte sie mitgenommen an, griff nach dem Hörer. „Ran?“ Doch es war nicht Ran, der antwortete. „Hallo Yusaku.“ Kogorô. Er klang ernst. Sehr ernst. Im Hintergrund hörte er das kleine Mädchen schluchzen, hörte besorgte Kinderstimmen, die versuchten, es zu beruhigen. „Was… was ist passiert?“ Er versuchte ruhig zu bleiben. Er musste ruhig bleiben. Unbedingt. Yusaku Kudô umklammerte mit seiner Hand die Tischkante. „Nun“, begann Kogorô mit leiser Stimme, „soweit ich das mitbekommen habe, passierte Folgendes…“ Langsam glitt Yusaku zu Boden, den Hörer fest an seine Ohrmuschel gepresst, als er hörte, was geschehen war. Hörte, dass der Fall, das Ereignis, vor dem er sich am meisten gefürchtet hatte, real geworden war. Wirklichkeit. Sein Sohn war in den Händen dieser Verbrecher. Er war so gut wie tot. Yusaku wurde immer bleicher, hörte schweigend zu, als ihm Kogorô von den Plänen seines Sohnes und des FBIs erzählte, von Rans und Shinichis Ausflug in den Park, von seiner Entführung - und wurde bleich, als er aus Kogorôs Mund hörte, was Sharon erzählt hatte. Als der Mann geendet hatte, legte er einfach auf. Ohne ein weiteres Wort setzte er den Hörer auf die Gabel. Dann zog er seine Frau in seine Arme, versuchte sie zu beruhigen. Sie mussten nach Tokio. Sofort. Sie hätten nie - er hätte nie! – gehen dürfen. Niemals. Ai stand in ihrem Labor, hinter ihr stand der Professor, vor ihr im Käfig saß eine kleine Babymaus und sah sie aus wachen Knopfäuglein aufmerksam an. Sie war eine der Geschrumpften. Die letzte. Drei von Sieben waren draufgegangen, ihre drei Mitstreiter, die wieder gewachsen waren, saßen in einem anderen Käfig. Sie war die letzte, die über Sieg oder Niederlage entschied. Nachdem sie das Gift nach den drei Toten jedes Mal modifiziert hatte, schien sie nun das Richtige gefunden zu haben. Die letzten beiden hatten überlebt. Sie träufelte ein wenig von der Flüssigkeit mit Hilfe einer Pipette auf ein Zuckerstück und hielt es der Maus entgegen. Die knabberte neugierig an dem süßen Zeug - bevor sie sich Sekunden später fiepend auf dem Käfigboden wälzte. Ai stand da, starrte sie an ohne sie zu sehen, versuchte krampfhaft das Bild von Shinichi vor ihrem inneren Auge zu verscheuchen. Es gelang ihr nicht. Sie stöhnte auf, wischte sich mit zittrigen Fingern fahrig über die Stirn. Shinichi… Minuten später stand eine sehr schwache, sehr erschöpfte aber erwachsene, Maus auf. Ai griff in den Käfig holte sie heraus, streichelte ihr übers weiche Fell und drückte ihr einen Kuss auf den kleinen Kopf. „Du warst sehr tapfer. Sehr, sehr tapfer. Vergib, was ich dir angetan habe - oder nein, vergib mir nicht; denn es ist unverzeihlich. Aber es war unvermeidbar. Ich möchte aber, dass du weißt, dass ich dir über alle Maßen danke. Ich danke dir…“ Sie setzte die Maus in ihren Käfig zurück, gab ihr frisches Wasser aus einer Flasche, die daneben stand, und legte ihr ein Stück Karotte hinein, auf das sich das Tierchen gierig stürzte. Dann wandte sie sich zum Professor um, der mittlerweile nachgekommen und hinter sie getreten war. Der nickte nur. „Du hast es geschafft.“ Er lächelte sie stolz an. Sie lächelte nicht. Sie sah nach draußen, zu Shinichis Haus - sah die blonde Frau, die gerade vor das Gartentor trat. Sharon. Dann sah sie sie gehen - einsteigen in ein schwarzes Auto und davonfahren. Ai lief es eiskalt den Rücken runter. Sharon alias Vermouth saß am Steuer ihres nachtschwarzen BMW Z4 und dachte nach. Der Motor lief ruhig, fast lautlos - schnurrte wie ein Kätzchen, während unter ihr die Straße dahinfloss wie ein stiller, grauer Strom. Es dämmerte bereits, also schaltete sie die Scheinwerfer an. Sie dachte an Shinichi - und Yukiko. Sie fragte sich, ob aus ihr jemals das hätte werden können, was sie geworden war, hätte sie einen Mann gehabt wie Yusaku – einen Mann, wegen dem Yukiko ihre Karriere, die doch noch so viel versprechend war, an den Nagel gehängt hatte; Yukiko Fujimine hatte das Zeug zum Weltstar gehabt, soviel war klar gewesen. Sie hatte ihn geheiratet - lebte mit ihm, hatte mit ihm eine eigene Familie gegründet und war glücklich mit ihm. Yukiko war glücklich, weil sie einen Mann hatte, der sie liebte, den sie liebte - und weil sie einen Sohn hatte, in den sie abgöttisch vernarrt war. Auf den sie stolz war. Ihren Shinichi. Sie erinnerte sich daran, als er noch ein Baby war. Wie Yukiko gestrahlt hatte, jedes Mal wenn sie ihn ihr zeigte, oder auch nur von ihm erzählte. Shinichi. Sie dachte daran, als er ihr einst, zusammen mit Ran, das Leben gerettet hatte - und das, obwohl sie kurz davor ohne mit der Wimper zu zucken seine Freundin erschossen hätte. Ihm den Menschen geraubt hätte, der ihm am meisten auf dieser Welt bedeutete. Die beiden waren ein Paar, sie gehörten zusammen. Und nun stand das alles auf der Kippe, weil er zu gut war. Er war zu gut, in dem was er tat - er war ein brillanter Detektiv, er würde es noch weit bringen, sehr weit. Sie hatte gewusst, wovon sie sprach, als sie ihn zum silver bullet erklärt hatte. Kudô würde der Sargnagel der Organisation sein, sofern er nicht an sich selbst scheiterte. Er war intelligent, schlau - und mutig. Unbestechlich, ehrgeizig, willensstark. Und er war dem Tod geweiht, wenn sie nichts tat. Sharon seufzte. Sie beneidete Yukiko. Beneidete sie um ihre Familie. Und sie litt mit ihr - litt mit ihr, die Angst hatte um ihren einzigen Sohn. Und dann war da noch Ran… Angel. Sie war sich sicher, würden sie eine Chance bekommen, dann würden auch sie glücklich werden. Selten hatte sie zwei Menschen gesehen, die so füreinander einstanden, sich so bedingungslos liebten, wie Ran und Shinichi. Und sie schämte sich - ihr war der Ausdruck von Misstrauen und Enttäuschung, von kaum unterdrückter Wut in den Augen des kleinen Mädchens - der jungen Frau? – nicht entgangen. Ran hatte sie verehrt, sie zu ihrem Idol, ihrem Vorbild erklärt, das wusste sie, Yukiko hatte es ihr mal erzählt - und sie hatte sie bitter, sehr bitter enttäuscht. Sie hatte ihr vertraut, und sie, Sharon, hatte dieses Vertrauen ohne Skrupel mit Füßen getreten, damals. Erst jetzt sah sie ihre Fehler ein, erst jetzt tat es ihr Leid, erst jetzt verspürte sie Reue - erst jetzt… viel zu spät. Sharon gab Gas, beschleunigte ihren Wagen auf 200 km/h, fuhr mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf der Tokioter Stadtautobahn zum Hauptquartier der Organisation. Sie würde Wiedergutmachung leisten. Sie würde nicht zulassen, dass man ihn umbrachte. Sie würde ihm helfen, das zu tun, was er plante - die Organisation hochnehmen. Diesen verfaulenden Apfel endlich zu entsorgen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)