If I don't live today von abgemeldet (then I might be here tomorrow) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Projekt: Weihnachtskalender-Wichteln inkl. Challenge des KaRe-FF-Zirkels http://animexx.onlinewelten.com/community.php/KaiXRay_FFZirkel/beschreibung/ Kalendertag: 17.12.2007 Wichtelopfer: Katanori_Tanaka Wörter, die verwendet werden müssen: Nacht, weigern Genre/Warnung: SA (KaRe), eine Mischung aus Humor, Drama, einem GANZ kleinen bisschen Romantik und ganz viel „WTF?“. Disclaimer: Beyblade gehört nicht mir, sondern Takao Aoki und TV Tokyo, oder so ähnlich. Könnte ich also mit Fanfiction Geld verdienen, würde ich sie sicherlich nicht ins Internet stellen. Autorenkommentar: Beim Titel habe ich mich von einem Lied von Mando Diao inspirieren lassen, kommt aber weiter nicht mehr vor. Ich für meinen Teil bin sehr zufrieden mit der FF, hoffe ihr – vor allem, du, Kata :) - mögt sie genauso. R & R? Gestern – 18.09.1997 Sie sitzen am runden Küchentisch, spielen Scrabble. Takao ist an der Reihe, verzieht wie immer nachdenklich das Gesicht. Minutenlang huscht sein Blick von den Buchstaben zum Feld, zurück zu seinen Buchstaben und so fort. Seine Freunde unterhalten sich mittlerweile angeregt über etwas völlig anderes. Was es ist, spielt keine Rolle, es hat auf jeden Fall rein gar nichts mit dem Spiel zu tun. Ab und zu überprüft jemand, ob Takaos Mimik sich verändert hat, aber meistens teilt dieser seinen Erfolg lautstark mit. Wie dieses Mal, als er triumphierend „Ich hab’s!“ ruft und eilig ein Wort legt. Die Aufmerksamkeit wendet sich dieser Kreation zu. Kai ist der Erste, der die Augenbrauen hebt und sagt: „Das ist doch kein Wort.“ Rei seufzt erleichtert und stimmt ihm zu. „Ich bin froh, dass du es als Erster gesagt hast.“ Max fängt an zu lachen und zieht den Japaner auf – wie er es immer tut, wenn Takao am Zug ist. Takao legt nie ein reales Wort. Dieses Mal ist es „Stickli“. „Kyoujyu, sieh mal im Internet nach, ob’s das irgendwo gibt“, verlangt Takao hochmütig. Immer lässt er den Jungen nach einer Sprache suchen, die eventuell irgendjemand irgendwann einmal gesprochen hat (oder auch nicht), und in den seltensten Fällen ist er erfolgreich damit. Noch seltener wird es dann auch anerkannt. Kichernd nimmt Max einige Teilchen weg und schiebt die restlichen um, so dass Takao nun nicht mehr „Stickli“, sondern „Stil“ liegen hat. Kopfschüttelnd notiert Rei die Punktzahl, und Takao ist für die nächsten zweieinhalb Minuten tödlich beleidigt. Dann vergisst er alle Gram und überlegt sich tiefsinnig einen neuen Unfug. Später an diesem Abend liegt Rei auf dem Rücken in seinem Bett und starrt die Decke über sich an. Es ist einer der seltenen Momente, in denen er darüber nachdenkt, wie es später einmal sein wird. Er ist jung, noch nicht einmal erwachsen, er hat sein Leben noch vor sich – aber bestimmt nicht mit den Anderen. Obgleich sie in diesem Moment einen Traum teilen – die besten Beyblader der Welt zu werden –, so müssen sich ihre Wege doch früher oder später unweigerlich trennen. Es fällt Rei immer schwer, über diese Zeit danach nachzudenken, obwohl er sich doch auch ein bisschen freut und aufgeregt ist, wer und was ihm noch alles begegnen wird. Aber vermissen wird er diese Zeit schon. Oder? Er klopft ganz leise an die Tür zu Kais Zimmer. Als er ein gleichgültiges Murren hört, drückt er die Türklinke vorsichtig nach unten und schleicht herein. Nicht, dass es nötig wäre, Kai sitzt aufrecht im Bett, hat ein Buch in der Hand und sieht ihn überrascht an. „Was gibt’s?“ Rei schließt die Tür hinter sich, starrt auf den Boden. „Nichts besonderes.“ Kai schnaubt amüsiert und klappt sein Buch laut zu. „Wie hätte ich auch annehmen können, du würdest mich mitten in der Nacht besuchen, wenn du einen Grund dazu hast.“ Auf das verlegene Hüsteln Reis hin rutscht er ein wenig zur Seite und deutet auf sein Bett. „Setz dich.“ Der Chinese setzt sich langsam in Gang. Unangenehm ist ihm das schon. Eine gute Idee herzukommen war es auch nicht gerade. Aber jetzt ist er eben da, wegrennen kann er nicht mehr. Was muss er auch immer so viel nachdenken? Und dann nicht mal eine Antwort auf seine eigenen Fragen finden. Verdient hat er diese peinliche Situation bei so viel Ungeschick allemal. Was bleibt ihm anderes übrig, als sich seinem Schicksal zu fügen und sich neben Kai zu setzen? Eben. Rei setzt sich auf die Bettkante und sieht seinen Freund an. „Ich hab vorhin nachgedacht“, informiert er diesen. Kai hört schweigend zu. „Als wir heute Abend wieder Scrabble gespielt haben, alle zusammen, und Takao mit seinem Blödsinn... Das – ich weiß nicht so recht, es hat mich wieder an den Punkt gebracht, wo ich über meine Zukunft nachdenke.“ Wissend lächelt Kai. Nicht das erste Mal, dass Rei das tut, nicht das erste Mal, dass er ihm es erzählt. Ausgerechnet ihm. „Dieses Mal... dieses Mal hab ich – Kai, wirst du das alles vermissen?“ Der Russe sieht ihn irritiert an. „Was?“ Rei verbirgt seine Unsicherheit mit wilder Gestik. Auch eine Methode, Sicherheit im Leben zu finden, denkt Kai manchmal, aber da ist er der Richtige, über dieses Thema urteilen zu wollen. Als ob. „Na ja, solche Abende. Die Turniere und das Training. Alles, irgendwie. Uns.“ Er kann ihm nicht länger ins Gesicht blicken. Jedes Mal, wenn er zu Kai kommt und mit ihm redet, bereut er es nach diesem Moment – dem Moment, der sagt: „Ich will etwas von dir wissen, damit ich mir selbst unbewusst versichern kann, das Richtige zu denken, denn mir selbst will ich es nicht eingestehen – aber wenn du der gleichen Meinung bist wie ich, fühle ich mich sofort besser.“ Meistens hat er Erfolg mit dieser Taktik. Nicht, dass Kai das nicht wüsste; er ist nur zu nobel, Rei direkt darauf anzusprechen, welche persönlichen Schwierigkeiten er eigentlich hat (und dass er endlich seinen Hintern hochbekommen sollte, um das alles zu verändern, weil Kai nicht ewig zu so etwas da sein wird). Dieses Mal ist die Meinung des Anderen wenig hilfreich. Zumindest auf den ersten Blick. „Du fragst mich das? Mich, von allen Personen? Selbstverständlich werde ich es vermissen. Jede einzelne Minute davon. Immer werde ich an diese Zeit zurückdenken und dabei traurig seufzen, weil sie vorbei ist und nicht mehr wiederkommt. Aber doch nicht, weil sie ach so schön ist.“ Verwirrt sieht Rei in die dunklen Augen seines Gegenübers. Er versteht nicht ganz, was dieser ihm damit sagen will: Er wird sie vermissen, aber nicht, weil es so schön ist? Was ist das denn für eine Aussage? Kai sieht das Unverständnis Reis. Ungewollt schleicht sich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen. „Wir kennen uns gut. Nicht nur im Team. Du und ich, wir beide. Du weißt viel über mich, kannst oft schon voraussagen, was ich in welcher Situation tun werde. Manchmal weißt du das sogar schon vor mir selbst.“ Nicht, dass das Rei aufgefallen wäre, aber er nimmt es als ein Kompliment. „Aber wenn es etwas gibt, das du nicht von mir weißt, dann ist es diese eine Sache. Der Grund, wieso ich mich an diese Zeit erinnern werde – weil ich es nie geschafft habe, weil es mir nicht gelungen ist. Das schaffe ich jetzt nicht mehr, und das gefällt mir nicht. Wenn ich Glück habe, schaffe ich es eines Tages in Zukunft, irgendwann. Hoffe ich zumindest, sonst muss ich ewig da sein.“ Vollkommen durcheinander starrt Rei Kai an, blinzelt und holt tief Luft. Er versteht kein Wort. Er kommt nicht einmal ansatzweise nach. „Was denn?“, fragt er dann, hofft, ein bisschen mehr Auskunft zu erhalten. Kai lächelt. „Leben“, sagt er simpel. Heute – 07.01.2008 Rei steht am Bahnhof. Sein fransiges schwarzes Haar, viel kürzer als noch vor zehn Jahren, weht ihm brutal ins Gesicht, als der Zug vor seiner Nase durch den Bahnhof rast, Staub auf dem Bahnsteig aufwirbelt. Er kneift die Augen zusammen. Schon durch die Fenster kann er erahnen, was hinter dem Zug liegt. Als er endlich weg ist, hat Rei freie Sicht auf den Anderen, der drei oder vier Bahnsteige weiter steht. Er steht ihm direkt gegenüber, auf einer Linie, die man mit dem Lineal hätte ziehen können, und blickt ihn an. Auf diese Entfernung kann Rei nicht sehen, welchen Gesichtsausdruck er hat, aber die aufrechte Körperhaltung, die erwartungsvoll zitternden Hände sprechen eine deutliche Sprache. Zeitgleich bewegen sie sich auf die Treppen zu, betreten die Unterführung, und begegnen sich in der Mitte. An ihnen vorbei eilen Mütter mit Kinderwägen, Studenten, die nach Hause zu ihrer Familie wollen, um Weihnachten zu feiern, Geschäftsmänner mit Aktentaschen, die verreisen und Kunden treffen, Einkaufende, Reisende, Obdachlose und Mitarbeiter der Bahn. Rastlos ist die Atmosphäre um sie herum, angespannt und hektisch, gedrückt von einer unsichtbaren, laut tickenden Uhr, die aus- und einfahrende Züge ankündigt, die wie ein Damoklesschwert über jenen hängt, die ihren Anschluss verpassen, wenn sie nur eine Sekunde zu lange brauchen. Rei stellt seinen Koffer neben sich ab und atmet tief ein. Nach einem kurzen Moment, in dem er die Augen geschlossen hat, sich selbst sammelt und die Umgebung völlig ausblendet, lächelt er das glückliche Lächeln eines Mannes, der einen alten Freund aus der Vergangenheit nach fast zehn Jahren wiedersieht. „Kai“, sagt er endlich. „Kai.“ Der Angesprochene schluckt einmal. Er bleibt regungslos stehen, erwidert das Lächeln des Schwarzhaarigen jedoch. „Willkommen in Russland, Rei.“ Zögerlich streckt er seine Hand aus. Sie zittert immer noch, mehr als vorher, eingepackt in einen dicken, schwarzen Handschuh aus Kaschmir. Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis Rei die Hand endlich ergreift, kurz, bevor Kai sie zurückgezogen hätte. Der warme, feste Händedruck des Chinesen schafft wenigstens eine kleine Erleichterung. Sein Lächeln ist herzlich, freundlich, liebevoll. Es trifft Kai mitten ins Herz, und unweigerlich stellt er sich die Frage, die er sich schon immer gestellt hat, schon seit er denken kann. Vielleicht ist es ja endlich so weit. „Komm, Rei“, sagt er, löst den Händedruck und nimmt Reis Koffer, ohne auf dessen Proteste zu achten. „Mein Wagen steht in der Tiefgarage.“ Er sieht ihn kurz an, um sich zu vergewissern, dass es immer noch Rei ist, der vor ihm steht, dann wendet er sich ab und bahnt sich einen Weg durch die unzähligen Fahrgäste, die fieberhaft nach dem Gleis suchen, auf dem ihr Zug fährt. Rei bleibt dicht hinter ihm, obwohl er bezweifelt, dass er, sollte er einmal zurückfallen, Kai nicht wiederfinden würde. Das Haar des Russen ist noch immer grau, wild und lang, genau so, wie es vor zehn Jahren war. Er würde ihn leicht entdecken können. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln legen sie den Weg hinter sich, erreichen irgendwann die Tiefgarage, schließlich Kais Wagen. Nicht sonderlich überrascht betrachtet Rei den schwarzen Mercedes, in dessen Kofferraum Kai das Gepäck verstaut. Er weiß von dem Erbe, das Kai nach dem Tod seines Großvaters bekommen hat. Jetzt braucht er es noch, muss hauptsächlich sein Jurastudium davon finanzieren, aber später wird er unabhängig genug sein, dass er sich einen Luxus wie dieses Auto auch ohne die Überreste des Vermögens leisten können wird. Dankbar für die bequeme Innenausstattung ist Rei dennoch. Gemütlich lehnt er sich zurück, noch ein bisschen müde von der langen Fahrt, die er hinter sich hat. Vorsichtig betastet er die Lederbezüge des Sitzes, spürt den warmen Luftzug der Heizung an seinen kühlen Beinen und schließt seufzend die Augen. Er hört Kai neben sich, der die Tür zuschlägt, den Zündschlüssel dreht und dann aus der Tiefgarage auf die breite Straße fährt. Die Fahrt dauert eine Weile. Kai erkundigt sich nach der Reise, möchte wissen, ob Rei Hunger hat oder ob er erst schlafen will. Rei ist erschöpft; sicher würde ihm ein Nickerchen gut tun, aber eigentlich will er jetzt lieber mit Kai zusammen sein, etwas essen und mit ihm reden. Sie haben sich so lange nicht mehr richtig unterhalten, das Bett kann warten. Besonders, da sie heute noch gemeinsam Weihnachten feiern werden.* Der Wohnungsschlüssel wird gedreht, die Tür aufgestoßen und das Gepäck unter den Kleiderhaken gestellt; Kai überlässt Rei den Vortritt durch den Flur in das angrenzende Wohnzimmer, nimmt ihm Mantel, Schal und Schuhe ab und verschwindet dann kurz in der Küche, um den Wasserkocher anzuschalten. Rei blickt sich in diesem großen, geschmackvoll eingerichteten Zimmer um, versucht, sich alle Details auf einmal einzuprägen. Es gefällt ihm, wie das Sofa steht, wie die Bücher im Regal geordnet sind und wie die Ecke, in der die Musikanlage steht, durch gestalterische Elemente zum Thema passt. Er fühlt sich hier richtig wohl. „Kaffee, Tee, heiße Schokolade?“, fragt Kai, während er seine Stiefel im Gehen abstreift und sie neben die Tür stellt. „Einen Tee. Schwarzen, wenn du hast.“ „Sicher.“ Wieder verschwindet der Russe in der Küche, kurz darauf folgt ihm sein Gast. „Deine Küche ist grün“, stellt er anerkennend fest, lässt seinen Blick über Herdplatte, Arbeitsfläche und Mülleimer wandern. „Das hätte ich nicht erwartet.“ Kai sieht auf, als er eine Teekanne vorbereitet. „Ich fand es eigentlich ganz angenehm. Grün lässt hoffen. Das musste ich anfangs auch, als ich zum ersten Mal gekocht habe. Ich hätte mich fast selbst vergiftet.“ Rei lacht und setzt sich auf einen der schwarzen Stühle, über dessen Lehne ein säuberlich gefaltetes Geschirrtuch hängt. „Mich überrascht, dass du überhaupt kochen kannst.“ Bei diesem Satz muss der Russe grinsen. Er gießt das kochende Wasser durch das Sieb und lehnt sich dann gegen das Spülbecken, das Rei direkt gegenüber liegt, um diesen anzublicken. „Du wirst dich wundern, wie gut ich kochen kann. Bei meinem Talent hätte ich Koch werden können.“ „Das hoffe ich doch“, lacht Rei, „schließlich muss ich die nächsten zwei Wochen das essen, was du mir servierst!“ Kai lächelt. Er nimmt das Sieb von der Kanne und gießt zwei Tassen ein; die eine stellt er vor Rei, die andere daneben. Er öffnet den Kühlschrank, um eine Schüssel mit Salat herauszuholen und beginnt dann, das Kutja* zuzubereiten, das er Rei versprochen hat. Später am Abend liegen sie Kopf an Kopf auf dem Sofa. Im Hintergrund rauschen leise Weihnachtslieder vor sich hin, berieseln die beiden mit ihrer Festlichkeit. Rei, die Hände über dem Bauch gefaltet, starrt an die Decke. „Du kochst ausgezeichnet.“ Kai hat die Augen geschlossen; er gähnt zufrieden. „Ich weiß. Das habe ich dir doch gesagt.“ Ein paar Minuten schweigen sie sich an. Rei hat die Befürchtung, Kai sei eingeschlafen, so ruhig, wie er atmet. Er dreht seinen Kopf leicht nach oben, sodass er sehen kann, dass die Augen des Russen zwar geschlossen sind, seine Finger jedoch ein komplexes Muster auf dem Bauch zeichnen. Ein Glück, denkt sich Rei. Seit Stunden drängt ihn eine Frage. Er glaubt, es sei der richtige Zeitpunkt, endlich zu fragen. Es ist wieder so ein Moment wie vor zehn Jahren. Rei weiß, dass Kais Antwort ihn zufrieden stellen wird. „Kai?“ „Hmm?“ „Kai, hast du – hast du inzwischen gelebt?“ Stille folgt. Keine unangenehme Stille, aber eine angespannte. Jetzt überkommen den Chinesen Zweifel, ob der Moment wirklich so gut gewählt ist, oder ob er sich geirrt hat. Vielleicht hält Kai ihn für sentimental, nach so langer Zeit noch daran zu denken, worüber sie sich vor zehn Jahren unterhalten haben. Oder, was wahrscheinlicher ist, Kai erinnert sich selbst nicht mehr daran, weil er damals nur ein Teenager mit Launen und Schnapsideen war, weil er sein Leben jetzt im Griff hat und ein erwachsener, unabhängiger, reifer Mann ist, der ganz genau weiß, was er will. Rei hätte diese Frage nicht stellen sollen, das wird ihm klar; er will sie zurückziehen. Was ist er auch immer in Kais Gegenwart so leichtsinnig? Sogar nach zehn Jahren! Nach zehn Jahren ist Rei immer noch der gleiche kleine Junge mit den Selbstzweifeln und dem Bedürfnis nach Bestätigung. Deshalb setzt er jetzt zu einer Entschuldigung an, um zu retten, was noch zu retten ist. Der Abend sicherlich, Kais Achtung vor ihm wohl weniger. Er erwartet nicht, mitten im Wort unterbrochen zu werden, aber genau das ist der Fall. „Selbstverständlich nicht. Sonst wäre ich nicht mehr hier.“ Vielleicht glaubt Rei, er könne Kai jetzt ein bisschen besser verstehen. Er entscheidet sich für eine weitere Frage. „Willst du dich denn ewig weigern, zu leben?“ Was Kai dann sagt, stimmt ihn nachdenklich. „Will das Schicksal sich ewig weigern, mich leben zu lassen?“ Morgen – 24.12.2018 Wie es ist, alleine zu sein, weiß Rei. Wie es ist, einsam zu sein, hat er kennen gelernt – er war es eigentlich immer, doch es ist ihm nie bewusst gewesen; jetzt hat er endlich begriffen, dass Alleinsein und Einsamkeit zwei zwar grundverschiedene Dinge sind, gleichzeitig aber auch enge Verwandte, die ohne einander nur den Hauch von Bewusstsein erregen könnten. Rei fragt sich, wie er hierher kommen konnte. Er ist irgendwo in Deutschland; südlich, das weiß er noch, mehr aber auch nicht. Das Straßenschild, an dem er vor ein paar Minuten vorbeigegangen ist, sagte ihm nichts. Er geht langsam eine Straße entlang, bleibt dicht am Wald, dessen hohe, dürre Bäume neben ihm in den schwarzen Himmel ragen. Ihre Äste erstrecken sich über seinen Kopf und geben den unterbrochenen Blick auf das sternenübersäte Firmament frei. Diese klare Nacht mitten im Nirgendwo zu verbringen hat etwas Reizvolles an sich – hier umfängt ihn die eiskalte Einsamkeit, die er, wenn er zuhause ist, so hasst, so verabscheut, dass er am liebsten begänne, laut zu weinen und zu schreien. Hier also ist er, setzt einen Fuß vor den anderen und genießt diese Stille, die ihn sonst fast wahnsinnig macht. Hier atmet er tief ein und wieder aus, schließt die Augen für einen Moment; er kommt vom Asphalt ab und geht auf dem feuchten Gras, bis er schließlich eine Biegung erreicht – ein Feldweg, der mitten in den Wald führt. Rei denkt nicht lange nach. Er hat keine Angst; hat zu viel verloren, als dass er jetzt noch um sein Leben fürchten müsste. Immerhin, denkt er sich, würde er am schönsten Ort der ganzen Welt sterben, in dem Moment, in dem er sich endlich ein ganz kleines bisschen lebendig fühlt. Lebendig fühlen. Bei diesem Gedanken lächelt Rei ein wenig. Kai. Ob Kai gelebt hat? Ob Kai in all den Jahren endlich die Gelegenheit bekommen hat, sein Leben zu leben, wie er es sich immer wünschte? Kai hat ihm damals zu dieser Erkenntnis verholfen: dass er nicht lebte. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass es ihm einmal so gehen würde wie dem Russen, aber nach all den Schicksalsschlägen, die er durchstehen musste, hat er endlich begriffen, dass Kai das Geheimnis das Lebens kannte. Nein, leben war das alles nicht. Jetzt erst kommt er diesem ihm unbekannten, wunderbaren Gefühl näher, je weiter er in den Wald eindringt. Immer wieder schießen ihm Gedanken durch den Kopf. Erinnerungen an die vergangene Zeit. An das letzte Weihnachten, das er mit Kai zusammen gefeiert hat: das schönste Weihnachten, das er jemals erlebt hat, aber das endgültigste. Nie hat er Kai danach wieder gesehen. So viel, das sie in nur zwei Wochen erlebt haben, so viele Gedanken, die sie ausgetauscht haben, so viel, das sie in dieser kurzen Zeit in Russland verbunden hat – so wenig, das diese zwei Wochen überstanden hat: bloße Erinnerungen. Über zehn Jahre ist es her, und in über zehn Jahren ist einiges geschehen. Rei hat sein Studium wegen akuter Krankheit abbrechen müssen, was ihm in beinahe jedem Beruf, den er ergriff, früher oder später zum Verhängnis wurde. Rei hat seinen ehemaligen Freunden dabei zusehen müssen, wie sie erfolgreich Karriere machten und eine Familie gründeten, während die Frau, die er heiraten wollte, bei einem Überfall auf einen Supermarkt getötet wurde, noch ehe die Gravur im Verlobungsring abgekühlt war. Reis Wohnung wurde ausgeraubt, aber statt den Tätern wurde er angezeigt; Versicherungsbetrug. Rei musste zusehen, wie sein Leben in Scherben zerbrach. Er sah die Leere zwischen sich und seinen Freunden kontinuierlich wachsen, sah sich am Ende verlassen, alleine – einsam. Und während all dem hat er nicht ein einziges Mal gelebt. Seiner Gedanken wegen merkt Rei gar nicht, wie er sich immer weiter im Wald verläuft. Längst ist er vom Weg abgekommen, stolpert über Zweige, Wurzeln und vertrocknetes Laub. Ziellos geht er weiter, bis er schließlich eine Lichtung erreicht, auf die das fahle Licht des Mondes scheint. Benommen sieht er nach oben, sucht den nächtlichen Himmel nach einer Antwort ab; das Glitzern eines großen, weißen Sternes deutet ihm die Lösung. Rei wendet seinen Blick zurück zur Erde. Für den Bruchteil einer Sekunde schließt er die Augen. Er sammelt sich, blendet alles um sich herum aus und findet zu sich selbst, dann sieht er auf, geradeaus, und blickt in die strahlend roten Augen Kais. Kai, der unendlich müde und erschöpft wirkt, viel älter, als er eigentlich ist; Kai, der nach langem Suchen endlich gefunden hat. Er steht ihm zum Greifen nahe. Ob es nur eine Illusion ist? Ob Rei nun endlich die Schwelle zum Wahnsinn übertreten hat? Würde er seinen Arm ausstrecken, würde Kai sich dann in Luft auflösen? Oder ist er tatsächlich da, so dicht vor ihm, in einem Moment höchster Unwahrscheinlichkeit, ein Geniestreich des Zufalls oder des Glückes oder des – Oder des Schicksals. Rei kann den warmen Atem Kais auf seiner Haut schon spüren. Er weiß, wie nahe er ihm ist. Er weiß, dass Kai noch nicht gelebt hat, sonst wäre er nicht hier. Und auch er selbst ist hier: Heiligabend in einem tiefschwarzen, düsteren Wald in Deutschland, zu Mitternacht unter einem sternenklaren Himmel. Real kann es nicht sein. Es ist eine Illusion oder ein Traum, oder eine von seinen Medikamenten verursachte Halluzination, die ihn diesen Moment erleben lässt. So hat er nichts zu verlieren. Das gleiche Gefühl erkennt er in Kais Augen, die ihn aufmerksam mustern. „Ich will leben“, sagt Rei. „Dann lass uns zusammen leben“, antwortet ihm Kai und überbrückt die minimale Distanz zwischen ihnen beiden. Was folgt, ist ein Kuss, der keiner Fantasie entsprungen sein kann, so beeinträchtigt sie auch sein mag. Was Rei fühlt, ist Leben. Kais heißer Atem kitzelt seine Nase, als sie sich endlich voneinander lösen. „Offensichtlich hatte das Schicksal doch noch ein Einsehen“, lächelt der Schwarzhaarige. Die Müdigkeit, die er noch vorhin bei Kai gesehen hat, ist verschwunden, neue Frische erfüllt dessen Gesicht, sein erleichtertes Lachen. „Lass uns hoffen, dass die Zeit ebenso gnädig ist und uns noch ein bisschen länger leben lässt“, flüstert Kai und überrascht Rei mit einem neuen Kuss, der noch viel intensiver, viel leidenschaftlicher und lebendiger ist. Das Finden ist offenbar nicht das Ende der Suche. ~ * Anm.: In Russland feiert man Weihnachten am 7. Januar. Kutja ist ein breiähnliches Gericht, das (zusammen mit einigen russischen Salaten) traditionell an Weihnachten gegessen wird. Wer mehr darüber wissen will... Google? XD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)