Das Blut der Lasair von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Alle begegnen irgendwann ihrem Schicksal --------------------------------------------------- Alle begegnen irgendwann ihrem Schicksal Sie fuhr sich langsam mit den Fingern durch das Haar, so wie sie es immer tat, wenn sie ihren Gedanken nachhing. Lucien betrachtete sie und stellte fest, dass er sie nie durchschaut hatte, obwohl sie sich unglaublich nahe standen. So war das immer gewesen und vielleicht war es das, was er an ihr, seiner kleinen Schwester, so faszinierend fand. Der Schein der Flammen tanzte auf ihrem rotbraunen, langen Haar und ihrer zarten, blassen Haut und tauchte ihre gesamte Erscheinung in warmes Licht. Ihre Augen schienen abwesend aus dem Fenster zu starren, doch in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken ebenso umher wie die Schneeflocken draußen. Ob sie sich Sorgen machte? Catherine blickte in seine Richtung und schüttelte den Kopf. „Es wird schon alles gut gehen.“ meinte sie, worauf er sie überrascht anblickte. „Was?“ fragte er. „Es wird schon alles gut gehen.“ wiederholte sie. Ohne ein weiteres Wort legte sie das Buch beiseite, in dem sie schon lange nicht mehr gelesen hatte, erhob sich und ging zum Fenster hinüber. Lucien schauderte. Er hatte doch überhaupt nichts gesagt. Seit einer Stunde warteten sie auf die gemeinsamen Eltern und er hatte nichts gesagt. Catherine fuhr mit ihren schlanken Fingern am Fensterrahmen nach oben und sah den Schneeflocken zu, die durch die kalte Nachtluft wirbelten und sich hier und da am Fenster niederließen, um sofort an der erwärmten Glasscheibe zu schmelzen. ‚Alle begegnen irgendwann ihrem Schicksal. Und alle begegnen irgendwann dem Tod.’ Catherine erinnerte sich noch gut an diese Worte, denn damals hatte sie Angst gehabt. Angst vor den Männern in schwarzen, eleganten Anzügen, aus deren Mündern sie kamen. Angst vor ihrem Vater Jacques, zu dem sie immer aufgeblickt hatte. Und Angst vor ihrer Mutter Clarisse, die sie in diesem Moment nicht liebevoll und beruhigend in ihre Arme genommen hatte, sondern mit derselben starren Miene dem Gespräch beiwohnte wie auch ihr angetrauter Ehemann. Es war keine Nacht wie diese gewesen, in der Catherines Horizont erweitert wurde – wie sie selbst zu sagen pflegte, um die Tatsache möglichst neutral zu halten -, sondern ein strahlender Frühlingstag, an dem im Garten der alten Villa, die die Familie du Ravin schon seit Jahrhunderten bewohnte, die ersten Blüten am Flieder aufgegangen waren. Draußen heulte der Wind und rüttelte an den Klappläden. Die Männer waren von der Bruderschaft gesandt worden und erfüllten nur einen Auftrag: Catherine sollte die Wahrheit erfahren und begreifen. Ob sie sie verkraften würde – als sechsjähriges Mädchen – war Sache der Eltern … oder interessierte es überhaupt jemanden? Catherine hatte daran schon oft gezweifelt und tat es auch jetzt noch, denn es war fast unmöglich, aus dieser Erkenntnis keinen Schaden davonzutragen. ‚Ohne uns würde die Welt in Finsternis versinken. Regierungen und Imperien kommen und gehen, aber wir haben der Menschheit von Anbeginn Sicherheit gegeben. Wir sind das letzte Bollwerk gegen das Böse. Das Böse, von dessen Existenz der Rest der Menschheit gar nichts weiß.’ Obwohl sie diese Worte nur an diesem einen Tag gehört hatte, hatten sie sich in ihr Gedächtnis eingebrannt und sie nie wieder losgelassen. Die Bruderschaft existierte. Die societas sancta. Der heilige Orden. Das war die Wahrheit, die Catherine die letzten vierzehn Jahre ihres Lebens begleitet hatte. Plötzlich erblickte sie draußen einen Schatten und schreckte zurück. „Was?“ Catherine reagierte nicht, sondern sah starrr in den Garten hinaus, um zu sehen, ob dort wirklich etwas war. „Was?“ fragte Lucien noch einmal. Sie schüttelte nur stumm den Kopf. „Man sollte meinen, du erschrickst nicht mehr so leicht. Hast du etwas gesehen?“ „Ich bin mir nicht sicher.“ entgegnete sie und spürte, wie sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Noch einmal huschte ein Schatten vorbei und Catherine zuckte zusammen. „Was?“ „Hast du das nicht gesehen?“ „Was?“ „Da war etwas. Ein Schatten.“ Lucien erhob sich und blickte ebenfalls hinaus. Dann schüttelte er den Kopf. „Da ist nichts.“ Catherine blickte immer noch nach draußen, während er sich wieder setzte. „Ich glaube, du solltest dich ausruhen. Die letzten Nächte warst du durchgehend wach und du hast es dir ja nicht nehmen lassen, in die Universität zu gehen.“ „Ich kann doch wohl nicht sagen, dass ich wegen nächtlicher Jagdzüge auf Zombies & Co. meine Klausuren nicht schreiben kann.“ meinte sie nüchtern. „Nein, das kannst du nicht.“ stimmte Lucien ihr zu. Catherine hatte sich halb zu ihm umgedreht und wandte dem dunklen Garten den Rücken zu. „Du hast Recht. Ich sollte mich wirklich ein bisschen ausruhen.“ Lucien nickte. „Weckst du mich, wenn sie zurück sind?“ „Sicher.“ Catherine blickte noch einmal in den Garten, doch sie erblickte nur ihr Spiegelbild in der Fensterschreibe und verwarf den Gedanken an das, was dort draußen lauern konnte. Obwohl sie kaum Schlaf brauchte, war es durchaus möglich, dass ihr ihre Sinne Streiche spielten. „Soll ich dich nach oben begleiten?“ fragte Lucien, da er fand, dass sie ziemlich unschlüssig herumstand. „Blödsinn! Ich werde wohl in meinem Elternhaus allein in mein Zimmer gehen können!“ „Ich dachte nur. Immerhin haben wir keinen Strom, draußen stürmt es, wir sind allein…“ „Und ich habe nur den Schein der Petroleumlampe, der mich über die dunkle Treppe und durch die noch dunkleren Gänge begleitet?“ „Entdeckst du wieder deine poetische Ader?“ Catherine winkte ab. „Nein, aber im Ernst: ich habe keine Angst vor der Dunkelheit.“ meinte sie und nahm die Lampe. „Brauchst du dein Buch nicht?“ „Nein.“ „Was ist das eigentlich?“ „Internationale Klassifikation psychischer Störungen.“ Lucien schüttelte den Kopf. Er hatte ihren Entschluss, an der Sorbonne Psychologie zu studieren nicht verstanden und tat es auch jetzt nicht. „Ich weiß, dass du das nicht verstehst.“ meinte sie sanft und lächelte. „Im Grunde ist es doch egal, was wir tun.“ fügte sie hinzu. „Wie meinst du das?“ „Seien wir ehrlich: was spielt es schon für eine Rolle, welchen Beruf wir lernen, wo wir doch eh nie ein normales Leben führen werden?“ erklärte sie matt. Ihre Augen forderten ihn dazu auf, etwas zu sagen, doch er blieb stumm. Vielleicht wusste er, dass sie Recht hatte. Und selbst wenn er das nicht wusste, so wusste er, dass der Schein nach außen gewahrt werden musste. Und wie sah es aus, wenn die Kinder von Jacques du Ravin nicht studierten? Was würde man davon halten? Nichts. Oder zumindest wenig. Und noch dazu war das eines der Risiken, die vermieden werden mussten, damit die gutbürgerliche Fasssade der Familie nicht zu bröckeln begann. Für die Welt dort draußen war Catherine Valérie du Ravin Studentin der Psychologie im dritten Semester und eine junge Frau mit Zielen. Dass sich diese Ziele manchmal darauf beschränkten, die Nacht zu überleben, wusste niemand. Sie war nun einmal, wer sie war. Oder was sie war. Catherine verließ den Salon und ihren Bruder und trat in die Halle hinaus, wandte sich schnell der breiten Treppe zu und stieg diese nach oben. Ihre Schritte hallten auf der Steintreppe, da sie ihre Stiefel noch nicht ausgezogen hatte. „Langsam sollte ich mir Gedanken darüber machen, welche psychischen Schäden ich eigentlich habe, wenn ich schon Gespenster sehe.“ murmelte sie und ging oben an der Treppe angekommen nach links in den dunklen Gang hinein, der zu ihrem Zimmer führte. Sie biss sich auf die Lippen und atmete tief durch. Der Schein der Lampe warf einen flackernden Schatten auf die großen Ölgemälde, die ihre Vorfahren zeigten. Catherine hatte schon bei Tag das Gefühl, dass sie ihr nachblickten, doch nun jagte ihr die Vorstellung wieder eine Gänsehaut über den Rücken. „Jetzt stell’ dich nicht so an!“ schalt sie sich selbst und es wirkte. Ruhig ging sie den restlichen Weg zu ihrer Tür und öffnete sie. Eisige Kälte schlug ihr entgegen. Catherine kämpfte sich mit klappernden Zähnen und halb gefrorenen Gliedern zum Fenster durch, stellte die Lampe auf einem kleinen Tisch daneben ab und drückte das Fenster zu. Es war doch nicht möglich, dass der Sturm ein gut verschlossenes Fenster aufdrückte. Unsicher sah sie sich um, doch in ihrem Zimmer war alles, wie sie es verlassen hatte – bis auf den Schnee oder besser gesagt: das Wasser, das der Schnee auf ihrem Fußboden hinterlassen hatte. Zitternd rieb sie ihre Hände aneinander. Sie meinte, der Sturm habe an Gewalt verloren, doch vielleicht hörte sie das Heulen auch nur nicht mehr so laut, da sie sich daran gewöhnt hatte. Catherine ging noch einmal zum Fenster und blickte prüfend hinunter in den Garten. Sie konnte nicht einmal bis auf den Boden sehen, so dicht war das Schneetreiben draußen, doch dort unten sah sie eine Gestalt. Catherine erschrak und blickte noch einmal genauer hin, doch da war nichts mehr. Leicht irritiert schüttelte sie den Kopf und hob ihren Blick in den Himmel. Weder der Mond noch ein einziger Stern waren zu sehen, doch das hatte sie in solch einer Nacht auch nicht erwartet. _________________________________________ Hallo! Es freut mich, dass du dich für meine Geschichte interessierst. Kommentare sind willkommen, auch wenn ich nicht immer auf sie antworten werde können. Die Mission der Bruderschaft ist aus dem Film 'Van Helsing' entnommen, weil ich sie einfach so fesselnd finde. Ich hoffe, das stört dich nicht. Weitere Ähnlichkeiten gibt es - meines Wissens nach - aber nicht, sonst hätte ich die Kategorie 'Crossover' gewählt. Liebe Grüße. Elena. Kapitel 2: Begegnung im Schneesturm ----------------------------------- Begegnung im Schneesturm Jacques und Clarisse waren Mitglieder des Hohen Rates der Bruderschaft und somit mussten sie bei allen wichtigen Entscheidungen anwesend sein und durften kein Wort über diese verlieren. Catherine wusste nur, dass ihre Eltern in Rom waren – irgendwo in den Katakomben und geheimen Räumen unterhalb des Vatikans – und mit all den anderen zusammen saßen, denen Catherine kein Gesicht geben konnte. Und Lucien konnte es auch nicht. Inzwischen war es unwahrscheinlich, dass sie noch in dieser Nacht zurückkehrten, da draußen einfach nur Chaos herrschte. Lucien trat ins Zimmer seiner geliebten Schwester und sah sie am Fenster stehen. „Ich dachte, du wolltest dich hinlegen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann doch nicht einschlafen.“ „Sie kommen bestimmt nicht mehr heute Nacht.“ „Ja, das habe ich mir auch schon überlegt.“ Lucien trat zu ihr und blickte ebenfalls hinaus. „Ist etwas?“ Sie schüttelte den Kopf. Er schien nervös zu sein, doch vielleicht bildete sie sich das ein. „Was ist da passiert?“ fragte er und deutete auf die Wasserlache auf dem Boden.“ „Nichts. Das Fenster war offen.“ „Das Fenster war offen? Ist dir sonst etwas aufgefallen? Fehlt etwas?“ „Nein. Es ist alles in Ordnung. Wahrscheinlich habe ich es nicht richtig geschlossen. Das ist alles.“ Lucien nickte und blickte sie prüfend an. „Musst du morgen in die Universität?“ Sie schüttelte stumm den Kopf und blickte ununterbrochen in den Garten hinunter. Die schwarzen Schatten der Bäume zeichneten sich deutlich vom weißen Schnee ab. Lucien verließ den Raum und sie drehte den Kopf zur Tür, bis auch seine Schritte auf dem Flur verhallt waren. Das Schneetreiben hatte noch nicht nachgelassen. Nicht, wie sie angenommen hatte. Der Sturm wütete draußen noch so stark wie den ganzen Abend. Sie blickte sich in ihrem Zimmer um und verschwand dann vom Fenster, um das Wasser aufzuwischen. Dann legte sie sich auf die Tagesdecke ihres Bettes. Gelangweilt und wach trommelte sie mit ihren Fingerkuppen neben sich auf das Bett und starrte zur Decke nach oben… Langeweile kannte sie sonst nicht – zumindest in den Nächten nicht, da sie da meistens draußen war. Frische Luft! Sie brauchte auch jetzt frische Luft! Catherine richtete sich auf, erhob sich vom Bett, warf ihr Haar über die Schultern zurück, schlüpfte in ihren Mantel und nahm zwei Dolche an sich. So leise wie möglich schlich Catherine die Treppe hinunter und leise aus der Tür hinaus. Sie rannte durch den Vorgarten, um nicht an den Fenstern zum Salon vorbei zu müssen und trat auf die leere Straße hinaus. Lucien hätte sie nie gehen lassen, das wusste sie. Er machte sich schon immer große Sorgen um sie, obwohl beide Dinge gesehen hatten und in Situationen geraten waren, die nach menschlichem Verstand nicht möglich waren. Und obwohl sie genau dafür ausgebildet waren. Sie stiefelte durch den Schnee, der sich in den letzten Stunden aufgetürmt hatte. Die Räumfahrzeuge hatten schon lange kapituliert. Catherine wusste nicht, wie es im Inneren von Paris aussah, doch hier, außerhalb, versank alles im Schnee. Der Wind zerrte an ihr, doch sie störte sich nicht daran. Die Schneeflocken durchnässten ihr Haar und ihren Mantel, doch noch fror sie nicht und zu Hause konnte sie eh nur herumsitzen, da sie ja auch nicht schlafen konnte. Und herumzusitzen war für sie unvorstellbar und äußerst verhasst. Plötzlich tauchte aus dem Schneegestöber vor ihr eine Gestalt auf und kam auf sie zu. Catherine blieb nicht stehen, doch sie verlangsamte ihren Schritt. „Sie sollten vielleicht nicht allein unterwegs sein.“ meinte der Mann und blieb in einigem Abstand stehen. „Schon möglich.“ „Sie sollten vorsichtig sein.“ „Haben Sie sonst noch ein paar gute Ratschläge für mich?“ Er sah nicht ungewöhnlich aus. Er trug dunkle Kleidung, hatte kurzes Haar, aber er war nicht ungewöhnlich. „Te cognosco, Catherine. Sum unus ex viribus societatis sanctae. Te cognosco.“ „Das ist schön für Sie. Lassen Sie mich meine Arbeit machen.“ „Quoque autem tu sodalis huius societatis es!“ „Itaque facio, quod expectatum est!“ entgegnete sie und ließ ihn stehen. Sie bahnte sich ihren Weg durch den hohen Schnee und stiefelte über den Friedhof zurück zur Villa ihrer Eltern. Er war ihr nicht gefolgt, das hätte sie bemerkt. Trotzdem erwartete er sie mit ihrem Bruder im Salon der Villa. „Was…?“ Catherine sprach nicht weiter, als sie das Notizbuch ihres Vaters auf dem Tisch liegen sah. „Catherine, das ist Signore Daniele, ein Gesandter der Bruderschaft.“ meinte Lucien. „Was ist mit unseren Eltern?“ „Sie sind wohlauf. Verschiedene Gründe halten sie in Rom auf, doch unsere Gegner ruhen nicht. Ihr Vater gab mir sein Notizbuch, da er wichtige Informationen gesammelt hat, die Sie mit Sicherheit nötig haben werden.“ Catherine nickte, doch sie glaubte ihm nicht. Unschlüssig blickte sie zu Lucien, der ebenfalls etwas skeptisch in seinem Sessel saß. „Gibt es einen neuen Auftrag?“ „Ja. Wir haben Informationen, dass beim Fest Imbolc eine alte Macht entfesselt werden soll. Das müssen Sie verhindern. Sie müssen die Hexen unschädlich machen und den Altar zerstören.“ „Imbolc ist meines Wissend nach ein friedliches Fest.“ widersprach Catherine und wartete auf eine Antwort, doch er ging darauf nicht ein. „Sie haben Ihren Auftrag. Nehmen Sie ihn an und führen Sie ihn aus. Wie Sie sagten: Sie gehen ihrer Arbeit nach, weil es von Ihnen erwartet wird.“ Lucien blickte Catherine fragend an, worauf sie nickte. „Ich verabschiede mich.“ Der unangekündigte Besuch verschwand zu Fuß, während Catherine ihm von der Haustür nachsah. Das alles gefiel ihr nicht. Als er aus ihrer Sicht verschwunden war, kehrte sie in den Salon zurück. „Was denkst du?“ fragte sie. „Dass unser Vater sein Notizbuch nie jemandem anvertrauen würde.“ Catherine nickte. „Wieso warst du draußen?“ „Ich brauchte frische Luft. Ich war nicht weit weg.“ „Dein Haar ist ganz nass.“ „Das macht nichts.“ entgegnete Catherine und setzte sich an den Kamin. Lucien hielt das schwarze, kleine Buch in der Hand und wendete es von einer auf die andere Seite. „Ist es wirklich seines?“ fragte Catherine, die immer noch zweifelte. „Ja, es ist seine Schrift. Es ist eindeutig seines.“ meinte er, ohne es noch einmal aufzuschlagen. Das hatte er schon gemacht, bevor Catherine zurückgekommen war. „Ich vertraue ihm nicht. Imbolc ist ein friedliches Lichterfest, mehr nicht.“ Lucien nickte. „Was sollen wir jetzt tun?“ „Vielleicht finden wir doch irgendetwas hier drin.“ meinte er und schlug das Buch nun noch einmal auf. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Solche Informationen hat Papa noch nie in sein Notizbuch geschrieben. Das wäre viel zu gefährlich.“ Lucien nickte und meinte nach einer Weile blättern: „Nein, hier stehen wirklich nur Termine mit seinen hiesigen Geschäftspartnern.“ Catherine blickte ihn an. „Er war nicht von der Bruderschaft.“ „Wie kommst du darauf?“ „Erstens passt seine Geschichte nicht zusammen und zweitens… habe ich ein ungutes Gefühl bei der Sache.“ „Wir können und nicht auf dein Gefühl verlassen.“ Catherine nickte. „Richtig. Ich denke trotzdem, dass wir ihm nicht trauen sollten.“ „Wir… Er kannte und schon vorher. Er kennt uns…“ „Mich hat er gerade auch auf der Straße angesprochen. Er weiß, wer wir sind… Das spricht eher für ihn, ich weiß, aber…“ „Wir haben keine Wahl, als seine Geschichte für wahr zu halten. Wenn er nicht vertrauenswürdig wäre, warum sollte er dann von uns wissen?“ Catherine schüttelte energisch den Kopf. „Wir können ihm nicht trauen.“ beharrte sie murmelnd und nachdenklich, während Lucien sie beobachtete. Er schüttlte den Kopf. „Ich denke nicht, dass wir eine Wahl haben. Wir haben außer deinem unguten Gefühl nicht, das gegen ihn spricht. Und dein Gefühl ist mir in dieser Sache nicht genug.“ Catherine sah ihn sprachlos an. Wir oft hatte er sich schon auf ihr Gefühl verlassen? Wie oft hatte er sie um Rat gebeten und um ihre ehrliche Meinung? „Wir sollten schlafen gehen.“ meinte er. „Sobald es morgen möglich ist, sollten wir versuchen, Papa in Rom zu erreichen. Heute bekommen wir eh keinen Strom mehr.“ fuhr er fort, da sie ihm vehement widersprechen wollte. Catherine nickte leicht und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Ja, das wir das Beste sein.“ schloss sie sich ihm dann an. Insgeheim fragte sie sich schon lange, ob Daniele – oder wie er auch hieß – draußen vor dem Haus herumgeschlichen war, und sie sich doch nicht getäuscht hatte. Catherine sah Lucien zu, wie er das Feuer im Kamin löschte und begegnete dann seinem Blick. „Kommst du?“ Catherine nickte, erhob sich und folgte ihm hinaus, die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer. Luciens Zimmer lag am anderen Ende des Korridors. Sie hörte noch seine Schritte, dann verstummten auch die. Catherine zog die Vorhänge zu und ging in das Badezimmer über den Flur. Als sie zurückkam, kroch sie unter die Decke und löschte die Lampe, doch an Schlaf war nicht zu denken. Sie lag bis zum Morgengrauen wach. Catherine wurde das Gefühl nicht los, das sie seit ihrem Spaziergang durch den Schnee schon begleitete. Ein Gefühl in der Magengegend – ziehend, mulmig, tief drinnen – unerklärlich. Und nun war sie sich nicht mehr sicher, ob mit ihren Eltern wirklich alles in Ordnung war, wie Daniele gesagt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob alles gut gehen würde, wie sie gesagt hatte. Unruhig warf sie sich auf die andere Seite und starrte an die durch die Nacht gräuliche Wand, an der sich die Schatten ihres Bettes noch schwarz abzeichneten. Draußen heulte immer noch der Sturm und stieß ab und zu die Klappläden gegen die Hauswand, was Catherine ab und zu zusammenzucken ließ. Catherine liebte das alte Anwesen, in dem sie aufgewachsen war. Es lag außerhalb von Paris und hatte früher zu den schönsten Landvillen gezählt, zu denen Mitglieder des Königshauses – Der König selbst hatte natürlich immer seine Schlösser an der Loire bevorzugt – in den Sommern gereist waren, um dem Gestank der Hauptstadt zu entgehen. Inzwischen führte zwar eine Straße am Anwesen vorbei, doch die Familie konnte in den Park ausweichen, in dem hohe Bäume und Hecken, Sträucher und Blumenbeete gepflanzt waren. Catherine schloss die Augen und seufzte. Wenn doch nur endlich der Schnee aufhören würde, die Erde zu bedecken. Seit Anfang November war alles unter einer weißen Schneedecke verschwunden und nun konnte sie ihn einfach nicht mehr sehen. Dabei war es erst Ende Dezember und wärmer sollte es nicht so schnell werden. Als der Sturm endlich nachließ und das Morgengrau langsam die Schatten aus ihrem Zimmer vertrieb, fiel sie in einen leichten Schlaf. Kapitel 3: Die Ruhe 'nach' dem Sturm ------------------------------------ Hallo! Ich habe gesehen, dass sich doch jemand gefunden hat, der die Geschichte liest, also kommt hier nun das dritte! Freue mich, so ein feedback zu erhalten. Viel Spaß beim Lesen. Liebe Grüße! Elena ___________________________________________________________________________ Die Ruhe ‚nach’ dem Sturm Sie erwachte noch vor dem Mittag, obwohl sie erst beim Morgengrauen eingeschlafen war, doch sie verspürte keine Müdigkeit. Im Gegenteil: beschwingt setzte sie ihre nackten Füße auf das Parkett und tapste mit ihren Kleidern unter dem Arm ins Badezimmer, um sich zu richten. Dann spazierte sie über den Flur und klopfte an Luciens Zimmertür. Sie klopfte zweimal, doch er antwortete nicht. Leise öffnete sie die Tür einen Spalt und sah, was sie erwartet hatte: er schlief noch fest. Catherine schloss die Tür wieder, ging hinunter in die Küche, in der normalerweise das Personal die Familie bekochte, und frühstückte eine Kleinigkeit. Dann ging sie in den Salon, griff nach dem Telefon und wählte die Nummer, unter der man ihren Vater in Rom erreichen konnte. Es dauerte lange, da sich niemand für das Klingeln zu interessieren schien, doch schließlich hatte sie jemanden am anderen Ende der Leitung. „Hallo?“ „Hallo. Ich muss mit Jacques du Ravin sprechen.“ „Wem?“ „Jacques du Ravin.“ wiederholte Catherine. „Er ist nicht hier.“ „Wann kommt er wieder?“ „Es tut mir leid, Sie müssen sich irren. Jacques du Ravin war seit mehreren Wochen nicht mehr in Rom.“ „Das kann nicht sein. Er ist jetzt gerade in Rom.“ beharrte Catherine. „Nein…“ „Und Clarisse du Ravin?“ „Sie ist ebenfalls nicht hier! Darf ich fragen, wer Sie sind?“ Catherine antwortete nicht. „Hallo?“ „Ähm.. Was ist mit Kardinal Salieri?“ „Mit ihm kann ich Sie nicht verbinden.“ „Wieso nicht, verdammt noch mal?!“ „Er ist krank.“ „Es ist aber wichtig.“ „Es tut mir leid. Ohne einen Namen kann ich sowieso nichts für Sie tun.“ „Jacques du Ravin ist mein Vater.“ Die Frau am anderen Ende sog scharf die Luft ein. „Catherine?“ „Ja.“ „Sie sind…“ „Seine Tochter, ihre Tochter, ja.. Und?“ „Nichts.“ „Was können Sie mir über Daniele sagen?“ „Wen?“ „Signore Daniele.“ Catherine wurde langsam wirklich ungeduldig. Wie hatte es die Bruderschaft so lange geschafft, sich im Geheimen zu halten, wenn so unfähige Leute am Werk waren? „Signore Daniele… wurde Ihnen vom Rat geschickt.“ „Er ist also von der Bruderschaft?“ „Ja, vertrauen Sie ihm.“ Catherine hätte die Aussage ohne den Nachsatz ‚vertrauen Sie ihm’ als vertrauenswürdiger empfunden. „Was können Sie mir über ihn sagen?“ „Er ist von der Bruderschaft. Der Rat hat ihn geschickt.“ „Ja, das weiß ich nun ja schon. Was noch?“ „Führen Sie den Auftrag aus, den Sie bestimmt schon bekommen haben…“ „Hören Sie, sind Danieles Arbeitsweisen in der Bruderschaft bekannt? Können Sie mir dazu etwas sagen?“ „Nein, das tut mir Leid. Er genießt nur das volle Vertrauen des Rates.“ Catherine schüttelte nur den Kopf und gab ein murrendes Geräusch von sich. „Sie wissen doch, dass eine Verweigerung der Aufträge innerhalb der Bruderschaft nicht möglich ist?“ „Ja, das ist aber auch das einzige, das ich weiß.“ entgegnete Catherine und wartete auf eine Reaktion, die sie auch bekam: Die Frau legte auf. Sie hatte stets gewusst, dass die Bruderschaft ihre Ziele strikt verfolgte, doch bisher hatte sie immer auch etwas über den Zweck erfahren. Welchen Zweck sollte aber die Verwüstung des Imbolc-Altars erfüllen? War das nötig, dass die alte Macht nicht entfesselt wurde oder steckte mehr dahinter? „Hast du Papa erreicht?“ Catherine blickte auf und erblickte ihren Bruder, der sich nun angezogen hatte, aber immer noch verschlafen aussah. „Eine Frau…“ Catherine brach ab, als sie bemerkte, dass sie nicht einmal ihren Namen wusste. „Und?“ Catherine stellte das Telefon zurück in die Station und ließ sich in dem Sessel nieder. „Cathe…“ „Mama und Papa sind nicht in Rom.“ meinte sie leise. „Was? Das kann doch nicht sein!“ Catherine schüttelte den Kopf. „Wir sollen den Auftrag ausführen.“ Lucien sagte nichts mehr, sondern wählte noch einmal dieselbe Nummer. „Immerhin kannte sie Daniele.“ Lucien nickte nur. Catherine rollte die Augen. Warum musste er jetzt noch einmal dort anrufen? „Das bringt doch nichts.“ meinte sie genervt. Lucien reagierte nicht und wartete, während Catherine das Zimmer verließ. Das hatte doch alles keinen Sinn. Das machte alles keinen Sinn. Er würde auch nichts anderes erfahren als sie. Catherine stieg langsam die Treppe nach oben und hörte, dass ihr Handy klingelte, weshalb sie sich auch nicht mehr beeilte. „Hallo?“ fragte sie schließlich. „Hallo, Catherine!“ „Nathalie, was gibt es?“ „Das wollte ich dich fragen. Wieso kommst du nicht?“ „Wohin? Was? Ich versteh…“ „Oh, sag’ mir nicht, dass du es vergessen hast! Catherine, das ist so wichtig für mich!“ Catherine überlegte scharf, dann rief sie: „Der Neujahrsball! Verdammt! Ja, ich… nein, ich habe es nicht vergessen… Es war mir nur entfallen!“ „Das ist dasselbe.“ „Temporär entfallen!“ fügte Catherine hinzu, was es allerdings auch nicht besser machte. „Du weißt doch, wie wichtig mir der Kostümball ist! Ich gehe da jedes Jahr hin! Meine Eltern organisieren das Ganze jedes Jahr... Ich muss da hin! Und zwar in einem… genialen, überzeugenden und unglaublichen Kleid! Und mit meinem Bruder kann ich nicht zu der Anprobe gehen, weil der immer nur ‚Hm’ und ‚Ja’ sagt... Oh, du bist die einzige, die wirklich ihre Meinung sagt!“ Catherine schloss die Augen. Danach war ihr nun wirklich nicht, aber sie durfte… konnte… wollte ihre Freundin nicht enttäuschen. „Wir haben den 31. Dezember. Hat der Laden überhaupt auf?“ fragte Catherine in der Hoffnung, dass es nicht so war. „Der Besitzer macht wegen mir eine Ausnahme, weil ich ja immer dort mein Kostüm hole.“ „Stimmt ja…“ „Na, ich werde ihm absagen. Da ich mich auf meine beste Freundin Catherine einfach nicht verlassen kann, werde ich ihm absagen müssen. Das ist einfach zu schade!“ Nathalie meinte das nicht sehr ernst. Catherine war immer da – auch wenn sie sagte, dass sie wahrscheinlich keine Zeit hatte, war sie immer doch noch wenigstens für kurze Zeit zu Parties, Treffen und Stadtbummeln gekommen. Sie konnte sich auf sie verlassen, auch wenn sie oft plötzlich gehen musste und man sie dann oft stundenlang nicht erreichen konnte. Sie war schon ein bisschen… „Nein, du musst nicht absagen. Wann treffen wir uns?“ riss Catherine sie aus ihren Gedanken. „Wie wäre es mit sofort?“ Catherine war nicht begeistert, doch sagte nichts dagegen. Lucien kam ihr entgegen, als sie im Mantel die Treppe herunter kam. Sie erklärte ihm auf seinen fragenden Blick schnell, was sie vorhatte. Er war nicht begeistert, doch das hatte sie sich schon ausgemalt. „Hältst du das für besonders klug?“ „In gewisser Weise.“ Catherine ärgerte sich langsam wirklich. „Du kannst doch nicht…“ „Ich muss. Und das liegt auch in deinem Interesse!“ „Es liegt vor allem in deinem Interesse!“ „Schön, gut! Es liegt in meinem Interesse, dass ich mich nicht nur mit Dämonen und sonstigen Was-weiß-ich-was herumschlage, sondern nebenbei auch einmal gerne einfach neunzehn Jahre alt bin!“ rief sie wütend und funkelte ihn an. Lucien starrte sie an. Solche Ausbrüche kannte er nicht von seiner Schwester. Sie war immer vernünftig und zuverlässig gewesen. „Morgen bist du zwanzig.“ entgegnete er, nachdem er sich gefasst hatte. Catherine schnaubte verächtlich und blickte ihn ebenso verächtlich an. „Wie kann man in dieser Aufgabe nur so aufgehen?!“ fragte sie verständnislos, worauf er nur den Kopf schüttelte. „Was?“ Er zögerte noch einen Augenblick, dann antwortete er: „Es ist noch gar nicht so lange her, da waren wir uns einig, dass es irgendjemand machen muss. Und wir wurden eben dazu auserwählt. Im Übrigen haben wir jetzt einen Auftrag.“ Catherine schüttelte energisch den Kopf. „Ich traue Daniele immer noch nicht! Er hat das Notizbuch von unserem Vater, der, wie er sagt: ‚noch länger in Rom gebraucht wird’ und wir rufen an und erfahren, dass weder Papa noch Mama in Rom sind… Was soll ich davon bitte halten?“ „Der Auftrag…!“ „Jetzt hör schon damit auf! Selbst wenn wir wirklich diesen Auftrag von der Bruderschaft haben, dann haben wir noch Zeit, ihn auszuführen. Imbolc ist Anfang Februar! Und im Moment ist mir ein Leben nur für die Bruderschaft einfach zu wenig. Ich will auch mein eigenes haben. Ich weiß nicht, wann mir das klar geworden ist – vielleicht gestern Nacht, aber jetzt ist es mir klar! Und mein normales Leben…“ „Das hattest du bisher auch.“ unterbrach er sie. „Aber nicht so! Immer musste ich darauf gefasst sein, dass ich plötzlich von irgendeiner Party verschwinden muss, dass ich Vorlesungen schwänzen muss, dass ich… Meine Güte, du musst doch wissen, wie ätzend es ist, immer auf Abruf zu stehen!“ „Das ist unsere Pflicht.“ „Ja, dann versteh’ mich eben nicht!“ Catherine machte auf dem Absatz kehrt und rauschte zur Haustür. Lucien packte sie am Arm. „Es ist unsere Bestimmung. Das Schicksal…“ „Hör mich auf mit Schicksal! Ich bestimme mein Leben selbst!“ „Nein, das kannst du nicht. Und das weißt du auch.“ Lucien war ruhig und scheinbar gelassen, doch innerlich verzweifelte er fast. Was war los mit ihr? „Dann scheitere ich eben an dem Versuch, aber ich werde mich damit nicht zufrieden geben, dass es kein normales Leben für mich nicht geben sollte! Das kann ich nicht. Und jetzt lass’ mich endlich los!“ forderte sie und er ließ sie tatsächlich gehen. Kapitel 4: Der Schwur der Bruderschaft -------------------------------------- Der Schwur der Bruderschaft Catherine kam kurz nach Nathalie im Laden an und begrüßte die Freundin mit den Küsschen auf die Wangen. Nathalie informierte sie, dass der Besitzer sich in den hinteren Teil zurückgezogen hatte und sie somit den Ausstellungsraum für sich hatten. „Was denkst du? Rot? Blau? Gelb?“ fragte sie und ging die Reihen durch. „Schwarz.“ meinte Catherine. Nathalie zog ein Gesicht und schüttelte den Kopf. „Das kommt überhaupt nicht in Frage. Das ist keine Beerdigung.“ „Ist ja schon gut.“ lachte Catherine und ging hinter ihr her. Nathalie hatte unempfindliche Haut, dunkelblondes Haar und war etwas kräftiger, doch trotzdem hübsch. Catherine fand ja, dass ihr Fliedertöne am besten standen, aber davon wollte Nathalie nichts wissen. „Oh, sieh’ mal!“ Catherine zog einmal mehr ein Kleid aus der Reihe und hielt es ihrer Freundin hin. „Hübsch.“ meinte sie nur und ging weiter. „Was ist daran auszusetzen?“ „Zu … viel … Stickerei.“ Catherine schnaubte. „Also, fassen wir zusammen: es soll nicht schlicht sein, darf aber keine Rüschen und auch nicht allzu viel Stickereiornamente haben… Dann möchtest du einen weichen Stoff, der sich nicht wie Krepppapier anfühlt, aber auch keinen Samt, weil das selbst für Winter viel zu warm ist. Habe ich etwas vergessen?“ fragte Catherine und blickte sie an. Nachdenklich schüttelte Nathalie den Kopf und stöberte weiter herum, bis sie plötzlich verzückt nach Catherine rief, die sich gerade die großen Hüte mit den noch größeren Federn, unechten Blumen und unidentifizierbarem Schmuck ansah. „Hast du was?“ „Ja. Ja! Das ist einfach perfekt!“ Nathalie drehte den Bügel in ihrer Hand um und ließ Catherine das Kleid inspizieren. Es war blau und an Ärmeln und Kragen mit Rüschen gesäumt, während der Rock gebauscht und gerafft war. „Ich dachte, du wolltest keine Rüschen.“ bemerkte Catherine, aber ansonsten fand sie das Kleid auch annehmbar. „Ja, egal. Das ist mir jetzt egal! Ich probier es gleich einmal an!“ „Bitte!“ seufzte Catherine und ließ sich auf das Sofa vor den Kabinen fallen. „Ich verstehe nicht, dass du nicht mitkommen willst! Du hattest doch vor zwei Jahren auch deinen Spaß, oder?“ rief sie Catherine zu, die bei sich nickte. „Ja, stimmt schon, aber ich bin doch keine feine Dame!“ „Hör schon auf! Was denn sonst? Du könntest doch alles sein!“ „Das vielleicht, aber dann wäre ich nichts richtig. Nein, die feine Dame passt einfach nicht zu mir.“ „Und was dann?“ Catherine überlegte kurz. ‚Das Mädchen, das nachts über den Friedhof und durch dunkle Gassen rennt, damit Mädchen wie du ein unbeschwerteres Leben haben und auf Kostümbälle gehen können’. „Ich weiß es nicht! Vielleicht etwas Sportlicheres… Findest du nicht?“ Nathalie gab nur ein Murmeln von sich und Catherine fragte nicht noch einmal nach. Nein, diese feinen Gewänder passten wirklich nicht zu ihr. Immerhin lernte sie seit ihrem siebten Lebensjahr den Umgang mit Waffen. „Du warst lange weg.“ bemerkte Lucien etwas vorwurfsvoll, als Catherine gegen Abend in den Salon trat. „Wir waren noch etwas trinken.“ „Ah.“ Catherine nickte. „Heute ist immerhin Silvester und ich feiere nicht mit meinen Freunden.“ fügte sie hinzu. „Würde eine Party stattfinden?“ „Nein, natürlich nicht! Ganz Paris feiert, aber es findet keine Party statt!“ „Wo ist eigentlich dein Problem?“ Catherine winkte ab. Grundsatzdiskussionen wollte sie an diesem Abend wirklich nicht führen, aber es gab noch so viel zu klären. Sie hängte ihren Mantel und ihren Schal über die Sessellehne. „Ich habe in Rom noch jemanden erreicht.“ meinte er beiläufig. Catherine war überrascht. „Und?“ „Wir sollen unseren Auftrag ausführen.“ Catherine schüttelte den Kopf. „Hast du etwas über Mama oder Papa herausgefunden?“ „Nur, dass sie momentan nicht in Rom sind.“ „Wo sind sie dann? Lucien, das kann doch nicht sein!“ „Dafür gibt es sicherlich eine logische Erklärung. Vielleicht eine Art geheime Sache, über die sie nicht hätte sprechen drüfen…“ „Eine logische Erklärung? Unsere Eltern reisen ab, sagen, sie würde in Rom gebraucht und sollen nie dort angekommen sein? Erstens: das ist äußerst seltsam. Zweitens: wieso lügen sie uns an, sollten sie wirklich nicht nach Rom geflogen sein?“ Lucien erwiderte nicht gleich etwas, dann meinte er: „Ich werde den Auftrag ausführen – auch ohne dich.“ Catherine starrte ihren älteren Bruder wie gebannt an. Nur langsam verstand sie, was er gesagt hatte. „Du… Das kannst du nicht tun!“ „Du wirst sehen, dass ich es kann.“ „Wieso tust du es?“ „Es ist der Befehl der Bruderschaft.“ „Und deshalb brauchst du nicht mehr selbst überlegen?!“ „Auch du solltest dich an den Schwur erinnern, den du geleistet hast! Hast du ihn vergessen?“ „Ich war gerade sieben Jahre alt! Ich habe ihn auswendig gelernt, aber seinen Sinn nicht verstanden! Hätte ich den Sinn verstanden, hätte ich den Schwur nie geleistet!“ „Darin unterscheiden wir uns wohl.“ Catherine blickte ihn unverständig an und erhob sich wieder. Lucien konnte das nicht … doch, er meinte es in vollem Ernst. „Ich, Catherine du Ravin, werde jetzt - in der Gegenwart des allmächtigen Gottes und des Hohen Rates und meines geistlichen Vaters, Kardinal Salieri, erklären und schwören, dass die Bruderschaft die einzige und wahre Unterstützung der heiligen katholischen und universellen Kirche über die ganze Erde ist und die Berechtigung und Macht hat, alle diese zu vernichten, die vom rechten Weg abgekommen sind. Weiter erkläre ich, dass ich allen oder irgendwelchen Vertretern der Bruderschaft an jedem Platz, wo immer ich sein werde, helfen und beistehen und sie beraten und mein Äußerstes tun will, um die Mächte der Finsternis und der Ketzerei auf rechtmäßige Art und Weise oder auch anders auszurotten, und alle von ihnen beanspruchte Macht zu zerstören. Ich verspreche und erkläre, dass ich nichtsdestoweniger darauf verzichte, irgendeine ketzerische Religion anzunehmen, um die Interessen der Bruderschaft auszubreiten und alle Pläne ihrer Vertreter geheim und vertraulich zu halten, wenn sie mir von Zeit zu Zeit Instruktionen geben mögen, sie nicht direkt oder indirekt bekannt zu geben durch Wort oder Schrift oder welche Umstände auch immer, sondern alles auszuführen, was der Hohe Rat mit vorschlägt, aufträgt oder offenbart. Weiter verspreche ich, dass ich meine eigene Meinung und meinen eigenen Willen nicht über die Interessen der Bruderschaft stellen werde und keinen Vorbehalt gegen die vom Hohen Rat getroffenen Entscheidung hegen werde, sondern bereitwillig jedem einzelnen Befehl gehorche, den ich von meinem Obersten empfangen mag, dass ich zu jedem Teil der Erde gehen werde, wo auch immer dieser sein mag, und in allen Dingen unterwürfig sein will.“ Sie hatte diese Worte damals einfach auswendig gelernt und hatte darauf vertraut, dass ihre Eltern sie vor Schlimmem bewahren würden – doch sie hatten zugelassen, dass sie die Worte gelobte. Und sie hatte den Schwur geleistet, da hatte Lucien Recht, doch … „Du stellst deine eigenen Interessen über die der Bruderschaft!“ „Ich verstehe die Bruderschaft nicht mehr! Ich will wissen, wo unsere Eltern abgeblieben sind, aber anstatt zu sagen, dass sie sich darum kümmern werden, haben sie nur einen Auftrag für uns, in dem ich wirklich keinen Sinn erkennen kann! Sollen wir wirklich blind vor Eifer Hexen erstechen und Altäre vernichten? Ist das das Vorgehen der Bruderschaft? Ist das rechtschaffen? Ist das…“ „Du stellst zu viele Fragen.“ „Nein, im Gegensatz zu dir denke ich nur! Du tust das nicht! Dich interessiert nicht, warum du etwas tust. Dich interessiert nur, dass du deine Befehle ausführst.“ „Wir sind Soldaten.“ „Soldaten?! Im Kampf gegen Hexen, die wahrscheinlich so und so keine richtigen sind?“ „Das wissen wir nicht.“ „Genau! Das ist der Punkt! Du nimmst in Kauf, dass du Unschuldige abschlachtest… Wegen was? Nur um deinen Befehl auszuführen?“ „Man hat uns das Kämpfen beigebracht. Dazu sind wir bestimmt.“ Lucien war inzwischen genauso wütend wie Catherine selbst. „Ja, man hat uns beigebracht zu kämpfen, aber nicht warum wir kämpfen!“ „Das liegt nicht in unserem Ermessen….“ „Wir sind erwachsen! Wir sind Menschen! Wir haben einen Verstand und ein Gewissen! Wie kannst du dich nur über deines hinwegsetzen?“ „Wie kannst du nur unsere Bestimmung so mit den Füßen treten? Du hast geschworen, deine eigenen Interessen zurück zu stellen! Du hast geschworen, deine Aufträge auszuführen! Du hast Gehorsam gelobt!“ Catherine nickte. „Vergisst du das jetzt? Vergisst du es, weil es unangenehm werden könnte? Oder weil du Angst hast?“ „Ich habe keine Angst! Und ich scheue keine unangenehmen Situationen! Und du solltest mich so gut kennen!“ „Ich dachte, ich kenne dich! Du hättest vor wenigen Wochen noch jeden Auftrag ausgeführt…“ „Vielleicht, aber bisher sollte ich auch Dämonen töten und keine Menschen ermorden!“ Plötzlich ertönte hinter ihr eine Stimme, die sie kannte: „Wo ist der Unterschied zwischen einem Dämon und einem vom rechten Weg abgekommenen Menschen?“ Kapitel 5: Getrennte Wege ------------------------- Getrennte Wege Catherine blieb die Antwort im Hals stecken, als sie Daniele erblickte, der langsam in den Salon trat. „Für Ihren Ungehorsam müsste ich Sie zu einer Untersuchung nach Rom schicken, Mademoiselle.“ „Aber?“ „Ich denke, wir werden uns auch so einig.“ Daniele kam auf sie zu und blieb dicht vor ihr stehen. Sie musste nicht nach oben blicken – sie waren ungefähr gleich groß. „Sie helfen Ihrem Bruder und wir vergessen den Vorfall.“ schlug er vor. „Niemals.“ widersprach sie hasserfüllt. „Woher kommt Ihre Sympathie für Hexen nur?“ meinte er und ging zum Fenster. „Aus meiner Sympathie für meine Mitmenschen, aber so etwas ist jemandem wie Ihnen sicher fremd.“ „Werden Sie nicht unverschämt. Ich repräsentiere den Hohen Rat.“ „Ah, den Hohen Rat… Dann sagen Sie mir doch, wo meine Eltern sind. In Rom sind sie allem Anschein nach nämlich nicht. Woher hatten Sie noch gleich das Notizbuch? Gab Ihnen das mein Vater nicht in Rom?“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ „Dass irgendjemand der Beteiligten nicht ist, was er vorgibt zu sein. Es kann ja wohl nicht beides richtig sein.“ „Ihr Vater ist in Rom. Genau wie Ihre Mutter.“ „Hören Sie auf, mich für dumm zu verkaufen!“ rief Catherine und fuhr wütend herum. „Sie glauben, Sie können sich einfach so in Leben einmischen und Schicksal spielen?! Falsch! Das können Sie nicht! Leute wie Sie…“ Catherine brach ab, als er grinste. „Das ist nicht lustig!“ „Der Rat warnte mich vor Ihnen. Sie sind ihm bekannt, Catherine. Und ich warne Sie: Der Rat sieht sich das nicht mehr allzu lange an.“ drohte er. „Was meinen Sie damit?“ mischte sich Lucien ein. „Ihre Schwester ist eine Gefahr für die Bruderschaft. Sie hält sich nicht an ihren Schwur und sie …“ Catherine hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr anwesend zu sein. Was war sie hier? Objekt? Eine Sache? Sie folgte kaum noch der Unterhaltung der beiden anderen. „Was soll das heißen? Sie hat bisher jeden Auftrag ausgeführt!“ versuchte Lucien, doch Daniele hob seine Hand. „Ja, sie hat oft Schlimmeres verhindert, aber dem Rat ist nicht entgangen, dass sie den Auftrag nicht in allen Details ausführt. Das tut sie schon lange nicht mehr. Sie vernichtet einen Dämon, aber nicht seine menschlichen Anhänger. Sie tötet einen Magier, vernichtet aber nicht seine Familie… Das geht nicht länger.“ Catherine wandte sich ab. „Und nun… Sagten Sie nicht, sie sei bereit, die Macht zu töten, die entstehen soll, nicht aber die Hexen oder den Altar zu vernichten?“ Lucien nickte. So hatte es sie gesagt. Nicht wörtlich, aber so in der Art. Catherine wusste, dass er Recht hatte. Sie führte ihre Aufträge schon lange nicht mehr so aus, wie von der Bruderschaft gewünscht. „Ich sehe nun einmal keinen Sinn darin, Kinder zu töten.“ „Sobald diese Kinder Nachkommen eines Magiers sind, sind sie nicht mehr unschuldig, sondern genauso ketzerisch wie ihr Vater oder ihre Mutter selbst! Sie müssen den Anweisungen des Rates Folge leisten. Sie müssen. Ob Ihnen das nun passt oder nicht. Sie haben es geschworen.“ „Ich breche diesen Schwur. Ich kann ihn nicht länger einhalten.“ „Das ist … Sind Sie wahnsinnig? Nicht nur, dass Sie sich selbst in höchste Gefahr begeben… Nein, Sie ziehen auch noch Ihre Familie mit ins Verderben.“ „Ich kann nicht gegen mein Gewissen und mein Mitgefühl handeln.“ Daniele schnaufte verächtlich. „Gewissen und Mitgefühl. Diesen Luxus sollten Sie sich nicht leisten.“ „Warum nicht? Dass Sie und die Bruderschaft auch weiterhin die Kontrolle ausüben? Die Bruderschaft wurde gegründet, um Menschenleben zu retten… So hieß es zu uns, oder nicht, Lucien?“ fragte Catherine. Lucien reagierte nicht. „Ich kann mich mit den Methoden dieser Gemeinschaft nicht länger identifizieren.“ fuhr Catherine fort und hielt Danieles Blick stand. Daniele schüttete den Kopf. „Ich gebe Ihnen noch etwas Zeit, sich zu besinnen. Treffen Sie Ihre Entscheidung – und treffen Sie sie weise. Auch die Zukunft Ihrer Familie hängt davon ab.“ Catherine nickte. „Ich habe mich entschieden. Mein Bruder hat sich für die Bruderschaft entschieden. Meine Eltern werden sich ebenso für die Bruderschaft entscheiden. Und somit gegen mich.“ Daniele blickte sie wütend an und zuckte dann die Schultern. „Das wird Konsequenzen haben, Mademoiselle.“ „Davon gehe ich aus.“ entgegnete sie ruhig. Es war ihr schlicht und ergreifend egal – alles, was er nun noch sagte. Luciens Blick ruhte auf ihr und wirkte fast mitleidig. Warum hatte er nicht kommen sehen, dass sie mit der Bruderschaft brechen würde? Und warum wusste er, dass sie es keine Sekunde bereuen würde? Lucien stand in seinem Zimmer und packte schnell einige seiner Sachen zusammen. Warum? Er warf wütend seine letzten Hemden in die Reisetasche. Warum verriet sie ihn? Warum stellte sie sich gegen ihn? Warum war sie nur so… wie sie eben war? „Sind sie soweit?“ Daniele lehnte am Türrahmen. „Ich hatte Sie gebeten, unten zu warten.“ stelle Lucien fest und zog den Reißverschluss seines Gepäckstücks zu. „Sie haben doch nichts zu verbergen?“ Lucien reagierte nicht. „Ihre Schwester handelt nicht sehr klug.“ meinte Daniele plötzlich. Lucien blickte ihn an. „Handeln Sie klug und bleiben Sie der Bruderschaft treu.“ „Haben Sie daran etwa Zweifel?“ „Sie lassen Ihre Schwester also hier?“ „Ich begleite Sie.“ Daniele nickte nur, verließ das Zimmer und ging dann wieder die Treppe hinunter, wie Lucien hörte. Wenig später folgte er ihm, nachdem er einen letzten Blick in sein Zimmer geworfen hatte. Catherine stand unten an der Treppe und blickte ihm entgegen. „Daniele, könnten Sie bitte draußen warten?“ fragte Lucien, doch Daniele rührte sich nicht vom Fleck. Lucien nahm Catherine beiseite und meinte: „Was tust du?“ „Ich höre auf mein Gefühl, Lucien.“ „Und um welchem Preis?“ Catherine antwortete nicht. „Die Bruderschaft wird dich … Catherine, du bist in Gefahr und das weißt du. Ist dir das wirklich so egal?“ Wieder sagte sie nichts. Lucien schüttelte den Kopf und wandte sich von ihr ab. Catherine sah ihm nach und folgte ihm langsam zur Tür. Seine Tasche trug er über der rechten Schulter. Daniele wartete schon ungeduldig. „Warte!“ kam plötzlich aus ihrem Mund. Beide Männer wandten sich um und sahen sie erwartungsvoll an. Auf Danieles Gesicht breitete sich ein flüchtiges, hämisch anmutendes Lächeln aus, das Catherine ignorierte und an den beiden vorbei zur Tür ging. Sie legte ihre Hand auf den Türgriff und öffnete. „Bitte.“ meinte sie kühl. „Was..? Daniele starrte sie an. Lucien ließ ihr keinen Blick mehr zukommen. Ruhig lehnte sie an der Haustür und sah ihm ebenso ruhig zu, wie er an ihr vorbei über die Schwelle trat. Sie sagte kein Wort mehr. Nicht eines. Daniele musterte sie, doch er entdeckte nichts in ihrem Gesicht, das ihm weitergeholfen hätte. Warum hielt sie ihren Bruder nicht zurück? Warum nahm sie in Kauf, dass sie alleine gegen den Rest stand? Wusste sie in Wahrheit mehr, als sie zugab? Er begegnete dem Blick ihrer grünen Augen, in denen ein kaltes Feuer zu lodern schien. Er schreckte merklich zurück. „Ihr schlechtes Gewissen plagt sie schon jetzt.“ bemerkte sie. „Sie täuschen sich.“ Daniele errang seine Fassung so schnell wie er sie verloren hatte und trat ebenfalls an ihr vorbei. Catherine lächelte überlegen und ruhig. „Vielleicht jetzt noch nicht, aber der Tag wird kommen. Sie wissen es.“ entgegnete sie und nickte noch einmal. „Der Tag wird kommen.“ murmelte sie noch einmal. Catherine schloss die Tür hinter den beiden Männern, sobald sie draußen waren. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Daniele starrte auf die Tür vor ihm. Eine unerklärliche Gänsehaut war ihm über den Rücken geschnellt und verflog nur sehr langsam wieder. „Der Tag wird kommen.“ murmelte er. „Was?“ „Nichts. Gehen wir!“ entgegnete er und ging mit Lucien zum Wagen, den er in einer Querstraße geparkt hatte. „Haben Sie die Antwort erhalten, die sie hören wollten?“ fragte Lucien, als er sein Gepäck im Kofferraum verstaute. Daniele antwortete nicht, sondern meinte: „Ich muss mit der Bruderschaft unser weiteres Vorgehen besprechen.“ Lucien mochte ihn nicht, das konnte er ohne die geringste Einschränkung sagen, doch er hatte einen Auftrag. „Wo setzen Sie mich ab?“ „Sie werden mich nach Rom begleiten.“ „Der Auftrag… Sollte das Imbolc-Fest nicht…“ „Bis zum Imbolc-Fest sind es noch vier Wochen. Bis dahin sind Sie wieder aus Rom zurück. Und wenn Sie doch länger in Rom brauchen werden, wird die Bruderschaft den Auftrag weitergeben. Irgendjemand wird sich schon um die Hexen kümmern.“ „Ja, so wird es wohl sein.“ „So ist es.“ bekräftigte Daniele und fuhr Richtung Flughafen. Lucien blickte aus dem Fenster. Er konnte gerade noch die Baumwipfel sehen, die sich aus dem Park der Villa erhoben. „Ihren Eltern hilft es sicher sehr, dass sie wenigstens der Bruderschaft die Treue halten. Es wird sie trösten. Nicht auszudenken, was für ein Verlust es für sie wäre, wenn sie beide Kinder verlieren würden.“ ergriff Daniele wieder das Wort. Lucien sagte wieder nichts. ___________________________________ So, das war's mit dem 5. Kapitel. Das sechste kommt nächsten Freitag (25.01.08) Liebe Grüße. Elena. Kapitel 6: Neujahr ------------------ Neujahr In Catherine machte sie eine unglaubliche Wut breit. Wie konnte ihr Bruder sie so verraten? Und wieso hatte sie es nicht früher bemerkt, dass sie sich auf ihn nicht verlassen konnte? All die Jahre, die sie zusammen aufgewachsen waren, hatte sie sich also in ihm getäuscht. Er, ihr großer Bruder, hatte offenbar kein Problem damit, sie zurückzulassen. Catherine ging in ihrem Zimmer auf und ab und schüttelte immer wieder bei sich den Kopf. Es war wirklich zum verzweifeln: da bildete man sie jahrelang aus, sodass sie alle möglichen Dämonen furchtlos bekämpfte, und wenn wirklich Entscheidungen von ihr gefordert waren, wünschte sie sich, ihre Eltern wären hier. Oder wünschte sie sich die beiden nur zurück, weil sie keine Ahnung hatte, was mit ihnen war? Waren sie tot? Nein, das hätte sie gespürt, oder nicht? Allerdings war das ungute Gefühl… Catherine griff sich an die Stirn und setzte sich an den Schreibtisch. Sie musste jetzt vor allem eines: Ruhe bewahren. Lucien blickte aus dem Fenster des Flugzeugs und dachte an sie. Daniele saß neben ihm und beobachtete ihn unbemerkt. Ob er schon bereute, dass er sie sich selbst überlassen hatte? Er konnte es unmöglich sagen. Er konnte es nicht aus Luciens verschlossener Miene lesen, in der ein Fremder nur Müdigkeit erkennen konnte. Auch er war müde und langsam schweiften seine Gedanken ab. Zumindest hatte er erreicht, was er wollte. Die Familie hatte er von Catherine getrennt. Alles andere konnte ihm im Moment egal sein. Daniele schreckte aus seinen Gedanken auf, als Lucien ihn direkt anblickte. „Was?“ „Nichts.“ meinte Lucien und blickte wieder hinaus. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm und der ganzen Geschichte, da gab er Catherines Gefühl Recht, doch er konnte nicht mehr zurück – und nur so war es möglich, Näheres zu erfahren. Sie verstand das sicher. Hoffentlich. Das Klingeln des Telefons riss Catherine aus ihrer mehr oder weniger unbequemen Position am Schreibtisch. Sie schwang ihre Beine, die sie im Schneidersitz gegen die Tischkante gelehnt hatte, auf den Boden und richtete ihren Oberkörper nicht ganz mühelos auf, rannte dann die Treppe hinunter und beantwortete den Anruf. „Hallo?“ „Hallo. Hier ist Adrien.“ „Adrien.. Hallo. Was… Seit wann telefonierst du?“ Adrien war mit Catherine in die letzten drei Klassen des Lycées gegangen und vermied es, in einem Haushalt anzurufen, von dem er nicht alle Bewohner kannte… das war schon fast sein Markenzeichen. Catherine musste darüber nur immer fast lachen und war jedes Mal froh, dass dieser junge Mann keine Psychologie studierte, da er sich dann eigentlich sofort selbst behandeln musste, sondern Maschinenbau. Das passte auch besser. „Ja, ähm.. Ich habe gehofft, dass du ans Telefon gehst.“ „Aha. Okay, was willst du?“ „Ich wollte dich fragen, ob du zu meiner Party kommst.“ „Hat die Anaïs nicht gesagt, dass ich nicht kann?“ „Doch, aber ich wollte es noch einmal von dir hören! Hallo! Wir haben Silvester und Neujahr und das feiert der normale Franzose schon!“ Catherine lachte gezwungen. „Ich kann nicht. Wirklich nicht. Mein Bruder...“ „Was ist mit dem? Musst du auf ihn aufpassen? Der ist doch älter als du!“ „Nichts ist mit ihm. Er ist nur… krank. Ich will einfach da sein.“ „Das heißt, du kommst wirklich nicht.“ „Richtig.“ „Na, schade ist es auf jeden Fall. ich hätte dir gern meinen Cousin vorgestellt. Der ist extra wegen dir aus Lyon gekommen.“ „Ja, sicher!“ lachte Catherine. „Ja, gut, nicht nur!“ lenkte Adrien ein und Catherine meinte: „Feiert schön!“ „Du auch… mit deinem kranken Bruder!“ „Das werde ich.“ versicherte Catherine. „Guten Rutsch!“ „Euch auch allen. Sag’ den anderen noch einmal Grüße von mir!“ „In Ordnung. Tschüß.“ „Tschüß.“ Catherine wollte schon auflegen, als er meinte: „Ach, Catherine… Noch was!“ „Was?“ „Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du dich viel zu sehr für andere aufopferst?“ „Das stimmt überhaupt nicht. Tschüß!“ lachte sie und legte auf. Wenn er wüsste, wie Recht er damit hatte. Jedes Mal, wenn sie sich die Nächte um die Ohren schlug. Jedes Mal, wenn sie auf etwas verzichtete und verzichtet hatte. Jedes Mal geschah das für andere – meistens für Menschen, die sie nicht einmal kannte. Und ihr eigenes Leben hatte darunter gelitten. Und es würde weiterhin leiden, da sie wirklich ihre Aufgabe hatte, die sie erfüllen musste. Das war ihr jetzt völlig klar geworden. Sie hatte die Aufgabe. Es war ihre. Und sie musste es tun. Niemand konnte ihr das abnehmen. Sie konnte nur einigermaßen versuchen, einen Mittelweg zu finden und darin vielleicht ein bisschen Zufriedenheit finden, denn das Abschlachten von Dämonen bereitete ihr keine. Sie würde weiterhin ihre Aufgabe erfüllen, doch nicht auf den Befehl der Bruderschaft, wenn sich die Angelegenheit mit Imbolc und ihren Eltern nicht klärte. Sie würde allein kämpfen und insofern würde sich nichts für sie ändern, denn bisher hatte sich auch allein gestanden. Lucien trat in die dunklen Gänge der Bruderschaft, während Daniele ihm folgte. Ihre Schritte hallten und ihre Schatten tanzten an den Wänden. „Ihre Eltern erwarten Sie.“ „Sie sind also doch hier.“ „Sicher.“ „Wozu dient das, Daniele?“ fragte er scharf. „Ihr Vater wird es Ihnen erklären. Ich habe Sie auf seinen Wunsch kontaktiert. Er wurde auf seinen eigenen Wunsch verleugnet.“ „Wieso das alles?“ „Weil er seine Kinder kennt. Er wusste, dass Sie hierher kommen würden und der Bruderschaft gehorchen. Und er wusste, dass Ihre Schwester Catherine es nicht tun würde. Und genau das sollte so sein.“ Lucien verstand noch immer nicht, was für ein Spiel gespielt wurde, aber er fragte nicht weiter. Bald würde er seine Antworten bekommen, denn Jacques und Clarisse waren hier. Und sie würden alles erklären. Daniele folgte ihm und ergriff wieder das Wort: „Es war unter anderem eine Art Test für Sie.“ „Die Bruderschaft wollte also testen, ob sie mir vertrauen kann?“ „Ja.“ „Und Catherines Weigerung… bedeutet dann, dass sie ihr nicht trauen kann.“ „In gewisser Weise. Vor allem bestätigt ihre Weigerung aber etwas, was wir schon lange vermutet hatten. Wir haben ihr nie getraut.“ „Und mein Vater?“ „Ihr Vater ist als Mitglied des Rates dazu verpflichtet, die Bruderschaft zu schützen. Zur Not auch gegen die eigene Tochter, aber das wird er Ihnen genauer erklären als ich. Sie entschuldigen mich?“ Damit verschwand Daniele und Lucien klopfte an die Tür, die zu einem der Versammlungsräume führte. Catherine hatte noch mit Nathalie und ihrer anderen Freundin Anaïs telefoniert und ihnen versichert, dass sie heute Abend gerne zu Hause bleiben würde. Nun saß sie im Salon und sah aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Ihre Gedanken kreisten immer noch um Lucien, der die Treue zur Bruderschaft hielt – auch gegen sie. Hatte sie wirklich etwas anderes erwartet? Ihre Eltern und er waren immer ergebener gewesen und hatten im Handeln der Bruderschaft stets das richtige Handeln gesehen. Als Kind schon hatte Catherine nicht alle Regeln befolgt und dabei konnte sie nicht immer die Gründe nennen. Sie hatte nie gewollt, dass die Bruderschaft zu ihrem einzigen Lebensinhalt wurde, doch von allen Seiten hatte sie immer nur gehört, dass es anders nicht ginge. Anders. Alles ging anders. Alles. Seufzend stützte sie das Kinn auf und schloss die Augen für einen Moment. Ihre Eltern wussten bestimmt schon davon… ja, mit großer Wahrscheinlichkeit, auch wenn sie nicht in Rom waren, was Catherine immer noch bezweifelte. Wo sollten sie sonst sein? Auch wenn es in ihrem Leben nicht logisch zuging, so war das einfach der Logik zu entgegen gesetzt – so sehr, dass es nicht sein konnte. Die Finger ihrer freien Hand fuhren gedankenverloren über das Buch, das auf ihrem Schoß lag. Sie hatte es nicht einmal geöffnet, seit sie sich gesetzt hatte. Neben ihr stand ein Glas und eine Schale mit Obst, aus der sie immer wieder ein Apfelstück genommen hatte. Das Feuer im Kamin knisterte und sie hatte die schwachen Wandleuchten, deren Glühbirnen wie Kerzenflammen aussahen, angeschaltet, jedoch das Licht ziemlich gedimmt. Plötzlich erhellte das Feuerwerk den Himmel und durchzog die klare Luft mit rötlichem Rauch. Langsam erhob sie sich und trat zum Fenster. 2007. Aus einem unerklärlichen Grund schlug ihr Herz mehrere Male unregelmäßig und stark gegen ihre Brust. Schwer atmend taumelte sie zum Tisch neben dem Sessel und griff nach ihrem Glas. Die Schwärze vor ihren Augen nahm zu und ihr Körper gehorchte ihr kaum noch. Klirrend zerschellte das Glas am Boden und sein Inhalt ergoss sich über ihn. Eine Schwere drückte Catherines Körper zusammen und ihr Kreislauf versagte. Ohnmächtig stürzte sie zu Boden und in die Scherben. Dunkelrotes Blut quoll aus ihrem Handgelenk und vermischte sich mit dem Mineralwasser, weshalb es dünnflüssig auf die Holzscheite und das Feuer im Kamin zufloss. __________________________________________________________________ Das war's mal wieder. Hoffe, es hat euch beiden (Jeannine und Mangamieze. Ich weiß ja nicht, wer sonst liest) gefallen. Kommis: gerne, aber wenn euch nichts einfällt, dann denke ich, es war alles in Ordnung. Das nächste Kapitel kommt am Do/Fr. 31.1./1.2. (ungefähr) Gaaaanz liebe Grüße! Elena-Laurea. Kapitel 7: Kardinal Salieri --------------------------- Kardinal Salieri Große Bäume tauchten die Gegend in erdrückende Dunkelheit. Der Wind wehte durch ihr offenes Haar und trug leise geflüsterte Worte zu ihr. ‚héo naefre wacode dædréd tó bisig mid dægeweorcum’ Unsicher drehte sie sich um, da sie Stimme hinter ihr zu sein schien, doch sie blickte ins Leere. Hinter ihr lag nur Dunkelheit und Stille. ‚ac oft héo wacode sunnanawanung thonne nihtciele créap móras’ Sie wandte sich der Stimme zu, doch erblickte wieder niemanden. Langsam ging sie weiter. Ihre Füße sanken in dem von Nässe aufgeweichten Weg ein und hinterließen tiefe Spuren. Regentropfen berührten sanft ihre Haut und perlten zuerst zaghaft an ihrem Haar nach unten, doch bald zitterte sie vor Kälte. Sie zog ihren schwarzen Umhang dichter um sich und stiefelte weiter. Sie musste weg von hier. Sie war hier in Gefahr – ihre gesamte Familie war es. Sie fror und gleichzeitig loderte die Wut in ihr. Wie hatte sie ihnen je Glauben schenken können? Wieso?! Sie konnte nicht mehr. Zu lange schon bahnte sie sich ihren Weg durch die schlammige, kalte Erde, doch ihre Todesangst trieb sie weiter. Sie spürte nichts mehr – keinen Schmerz, keine Wut, kein Leben. Erschöpft sank sie zu Boden und schloss die Augen. Plötzlich drang ein gleißendes Licht durch ihre geschlossenen Lieder und eine undeutliche Stimme erklang. Sie spürte, dass man sie bewegte, doch sie konnte sich nicht dagegen erwehren. Langsam kehrte das Bewusstsein zurück und langsam fühlte sie, dass ihr Handgelenk pochend schmerzte. Finger machten sich an ihm zu schaffen und zogen die Glassplitter heraus. Catherine öffnete kraftlos ihre Augen einen Spalt und versuchte, einzuordnen, was sie sah: ein Mann war über ihr Handgelenk gebeugt und säuberte sie Wunde. Emmanuel – ein guter Freund ihres Vaters. „Wie geht es dir?“ fragte er, als er bemerkte, dass sie zu sich kam. Sie schüttelte nur den Kopf und blickte sich weiter um. Ihr Blick fiel auf einen zweiten Mann. Kardinal Salieri. Catherine schloss die Augen. „Catherine, machen Sie die Augen auf.“ meinte der Geistliche und blickte aus dem Fenster. Sie öffnete tatsächlich wieder die Augen und blickte sich weiter um. Was war geschehen? Wieso erinnerte sie sich kaum an etwas? Auf dem Boden lagen Scherben – einige davon waren blutig – und sonst befand sich auch Blut auf dem Boden. „Keine Sorge, so viel Blut hast du nicht verloren. Es hat sich mit dem Inhalt deines Glases vermischt.“ meinte Emmanuel und legte den Verband an. Catherine zuckte aus Schmerz zusammen und er bemühte sich, vorsichtiger zu sein. Emmanuel Bruyard war ein älterer Herr und ein fähiger Arzt. Außerdem war er in das Geheimnis der Familie eingeweiht. Er war es auch, der sich meistens um die Verletzungen kümmerte, die sie davongetragen hatte. Langsam kehrte ihre Kraft zurück. „Was ist geschehen?“ fragte Salieri, während Emmanuel seine Behandlung beendete. „Ich weiß es nicht genau. Ich bin ohnmächtig geworden. Das ist alles, was ich weiß.“ Salieri sagte nichts, sondern nickte nur. „Das sieht dir nicht ähnlich.“ meinte Emmanuel. Catherine nickte und ergriff seine Hand, die er ihr zum Aufstehen anbot. „Wieso bist du hier?“ „Kardinal Salieri hat mich vom Flughafen aus angerufen.“ „Seit wann sind Sie… Wieso sind Sie überhaupt hier?“ fragte Catherine und setzte sich in den Sessel. „Sonst wissen Sie wirklich nichts mehr?“ Sie schüttelte ehrlich den Kopf. „Wo ist Ihr Bruder?“ „Nicht da. Unterwegs. Weg.“ entgegnete sie geistesabwesend und betrachtete den Verband um ihr Handgelenk. „Monsieur Bruyard, vielen Dank für Ihre Unterstützung.“ meinte der Kardinal, worauf Emmanuel nickte und nach einem kurzen Abschiedsgruß den Raum verließ. Catherine sammelte sich. Sie hatte Fragen. Und er war hier. „Wo sind meine Eltern?“ fragte sie und blickte ihn direkt an. „Sie waren in Rom, doch was weiter geschah, entzieht sich meiner Kenntnis.“ „Sind sie tot?“ „Das wäre zumindest möglich.“ „Möglich. Nicht sogar wahrscheinlich?“ Sie senkte ihren Blick nicht, doch er tat es. „Es ist sicher… Es tut mir Leid.“ Catherine nickte. Sie hatte es unbewusst schon geahnt, doch die Tatsache, dass es nun ausgesprochen wurde, verursachte ein Schwindelgefühl in ihrem Kopf. Plötzlich rauschte es in ihren Ohren, die Wände schienen sich zu nähern und alles drehte sich. Salieri sagte nichts, sondern ließ ihr Zeit. „Ich habe versucht, Sie zu erreichen, Salieri.“ stellte sie fest, nachdem sie sich gefangen hatte. „Ich hatte das vermutet.“ „Es hieß, sie seien krank und deshalb nicht zu sprechen. Nun sind sie hier. Klären Sie mich endlich darüber auf, was hier vor sich geht!“ „Ich wünschte, ich könnte es, Catherine.“ „Wieso können Sie das nicht? Sie wussten immer alles!“ „Ich bin nicht allwissend… Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, was hier…“ Catherine unterbrach ihn mit einer forschen Handbewegung. „Was können Sie mir über Signore Daniele sagen?“ „Er übernahm die Führung über die Bruderschaft.“ „Was ist mit Ramirez?“ „Ramirez ist verschwunden.“ „Soll das heißen, dass das Oberhaupt der Bruderschaft, Ramirez, verschwindet und einfach so ein neues bestimmt wird, was in diesem Fall Daniele ist?“ fragte Catherine. „Es konnte ihm nicht schnell genug gehen. Wegen der Wahl waren auch Ihre Eltern in Rom.“ „Weiß er, dass Sie hier sind?“ „Nein, wobei er es vermuten wird.“ „Wieso?“ „Ich bin mit seinen Methoden nicht einverstanden und habe der Bruderschaft entsagt.“ „Sie haben was?!“ „Nun, ich verstehe Ihre Reaktion nicht. Sie sind diejenige, die die Vorschriften schon einige Male mit Füßen getreten hat.“ „Wenn ich gegen die Bruderschaft gehandelt habe, dann geschah das aus…“ „In Ordnung! Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu diskutieren!“ „Wozu sind Sie dann hier?“ „Was wollte Daniele?“ „Die Zerstörung des Imbolc-Altars und die Vernichtung der anwesenden Hexen.“ „Und das haben Sie geglaubt?“ Catherine blickte ihn verwirrt an. „Sie waren nicht dafür, nehme ich an. Ihr Bruder anscheinend schon, sonst wäre er noch hier. Habe ich Recht?“ Catherine nickte. „Sie meinen also, dass der Auftrag nur einen Zweck hatte…“ „Lucien und Sie zu entzweien. Und es muss sehr leicht gewesen sein.“ „Ihre Vorwürfe können Sie sich sparen.“ „Das sind keine Vorwürfe, sondern Feststellungen.“ entgegnete der Kardinal. „Sie haben der Bruderschaft also den Rücken gekehrt… Müssen Sie sich da nicht vor einer Racheaktion in Acht nehmen?“ „Ich werde … auf mich Acht geben. Sie, Catherine, sollten allerdings genauso auf sich Acht geben.“ „Daniele hat die Bruderschaft also hinter sich und hat seine Drohung ernst gemeint.“ entgegnete Catherine und erhob sich. „Falls es Sie beruhigt: er weiß auch noch nicht genau, womit er es zu tun hat.“ „Sind Sie sich sicher?“ „Die Anzeichen auf etwas, das passieren wird, sind äußerst schwierig und die Schriftstücke dazu verworren. Die Macht, die auferstehen soll, ist uns und unseren Büchern völlig unbekannt. Daniele hat Ahnungen und will schnell handeln, doch er versteht die Zusammenhänge noch nicht. “ Catherine fragte sich zwar, wie er da so sicher sein konnte, doch erwiderte nichts. „Wie fühlen Sie sich?“ fragte er unvermittelt. Catherine nickte. „Ich denke, dass es mir morgen bereits wieder so geht wie immer.“ Salieri nickte, doch das tat er eher, weil er ihr nichts mehr zu sagen hatte. „Dann werde ich Sie nun allein lassen. Sie sollten sich noch ausruhen und es ist ja schon spät.“ Catherine nickte. „In welchem Hotel sind Sie…“ „Ich bin bei Freunden untergekommen.“ antwortete er, sagte aber weiter nichts zu seiner Unterkunft. Catherine begleitete ihn zur Tür und verabschiedete sich von ihm. „Es tut mir wirklich Leid um ihre Eltern.“ meinte er noch einmal, worauf Catherine nickte. „Ich weiß.“ meinte sie und sah ihm nach, wie er durch den Schnee die Auffahrt hinunter ging. Catherine ging noch einmal mit Lappen und Wasser in den Salon, um das Feuer im Kamin zu löschen und auch das Blut vom Boden aufzuwischen. Es war immer noch nicht getrocknet, woraus sie schloss, dass sie nicht lange ohne Hilfe dort gelegen haben konnte. Sie bückte sich, und berührte es mit den Fingern. Noch immer verstand sie das alles nicht. Seufzend machte sie sich daran, das Blut so trocken wie möglich aufzuwischen und rieb dann den Parkettboden ganz trocken. Dann löschte sie das Feuer und das Licht und ging nach oben in ihr Zimmer, wo sie sich auf die Fensterbank setzte und in den Garten hinausblickte. Catherine saß lange dort auf der Fensterbank. Das volle rotbraune Haar hing ihr lang hinunter, ihr blasses, ebenmäßiges Gesicht spiegelte sich in der Glasscheibe und zeichnete sich stark ab. Ihre Augen spiegelten große Traurigkeit. Sie seufzte und betrachtete nachdenklich den weißen Verband um ihr schmales Handgelenk. Und irgendwie war ihr bewusst, dass sie Antworten erhalten würde, auch wenn sie keine Fragen stellte. Sie senkte das Handgelenk wieder zurück auf ihren Schoß und blickte hinaus. Dunkelheit lag immer noch wie in der letzten Nacht über den Baumwipfeln – doch heute war es nicht nur klirrend kalt, sondern auch totenstill. Totenstill. Tausend Gedanken pochten wie wild gegen ihre Schläfen, die sich ohnehin schon zerschmettert anfühlten, und langsam und unter diesen Schmerzen füllten sich ihre Augen mit heißen Tränen. Jacques und Clarisse waren tot. Ihre Eltern waren tot und nun war sie allein. Ganz allein. ____________________________________________________________________ So, da waren's schon drei! Ich danke euch für euer Interesse und hoffe, dass euch dieses Kapitel gefallen hat! Bis zum nächsten Mal: wahrscheinlich wieder so in einer Woche. Liebe Grüße. Elena-Laurea. Kapitel 8: Die Talamasca ------------------------ Die Talamasca Salieri suchte am nächsten Tag noch einmal Catherine auf. „Wie geht es Ihnen heute?“ Sie war blass und wirkte zerbrechlich, wie er fand. „Gut.“ meinte sie und führte ihn in den Salon. Nachdem sie ihm Tee eingeschenkt hatte, setzte sie sich zu ihm und blickte ihn an. „Wie werden Sie weiter vorgehen? Können Sie mit irgendeinen Rat geben?“ Salieri schüttelte den Kopf. „Das wollte ich Sie fragen. Was werden Sie tun?“ Catherine lehnte sich zurück und meinte: „Ich werde wohl weiterhin meine Pflicht erfüllen, auch wenn ich nicht mehr auf der Seite der Bruderschaft stehe.“ „Das heißt, Sie werden auch weiterhin Dämonen jagen?“ „Ich werde – hoffentlich – in erster Linie Menschen schützen können.“ entgegnete sie und widersprach ihm so ein wenig. Salieri nickte. „Wissen Sie, was mit Jacques und Clarisse geschehen ist?“ fragte sie nach einer kleinen Pause. „Ich möchte Ihnen das gerne ersparen.“ „Ich möchte es wissen, Kardinal Salieri. Sie sind doch immerhin so etwas wie mein Mentor gewesen – früher.“ „Eben deshalb möchte ich Ihnen das nicht zumuten.“ „Bitte.“ Catherine blickte ihn lange an, ehe er zögerlich nickte. „Daniele fühlte sich durch Ihre Eltern als Oberhaupt der Bruderschaft gefährdet, da beide innerhalb der Organisation Sympathisanten haben. Viele denken ähnlich wie Ihre Eltern und deshalb … hat Daniele an ihnen ein Exempel statuiert.“ Catherine nickte. „Und dadurch sind alle Stimmen gegen ihn verstummt.“ vermutete sie. „So gut wie. Widersacher können in diesen Zeiten nur eines tun: fliehen und untertauchen. Allerdings sind die Erfolgschancen wegen der elektronischen Vernetzung unserer gesamten Gesellschaft gering, wie Sie sich denken können.“ „Was tun sie dann?“ „Sie flüchten.“ „Ja, das sagten Sie bereits.“ „Und diejenigen, die nicht flüchten können, die sich das nicht zutrauen, die schweigen und bleiben der Bruderschaft treu.“ „Haben Sie keine Angst?“ „Nein, um mich nicht…“ Catherine blickte auf ihren Schoß und schüttelte den Kopf. „Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich komme gut alleine zurecht.“ „Ich bin alt, Catherine. Mein Leben liegt hinter mir. Der Tod ist bei mir nur noch eine Frage von kurzer Zeit - vielleicht zwei, drei Jahre. Ich bin krank. Aber Sie…“ Catherine starrte ihn erschrocken an. „Sie sind krank?“ Salieri ging nicht darauf ein. „Sie sind noch jung. Sie haben Ihr Leben noch vor sich.“ Catherine lächelte gutmütig, schüttelte aber den Kopf. „Nein, seit ich sieben Jahre alt bin, habe ich kein Leben mehr vor mir.“ fügte sie hinzu, erwartete aber keine Antwort darauf. „Ich werde so weitermachen, denn das ist das einzige, was ich wirklich kann.“ „Hören Sie auf! Lassen Sie es bleiben!“ „Erwarten Sie das wirklich von mir? Ich soll mit Scheuklappen durch eine Welt wandeln, obwohl ich weiß, welche Geschöpfe sie beherbergt? Ich soll die Augen davor verschließen, dass Nacht für Nacht diese Geschöpfe Menschen töten? Nein, erwarten Sie das nicht von mir! Sagen Sie mir, dass Sie meine Entscheidung für richtig halten.“ Salieri musterte sie und nickte schließlich. „Ja. Ich halte sie für richtig. Ich habe die Protokolle über Sie gelesen, Catherine, und ich muss sagen, dass ich Ihr Verhalten immer respektiert habe. Sie haben Prinzipien, die Sie auch gegen Ihre Aufträge verteidigt haben. Wäre die Bruderschaft klug, hätte sie schon lange ihre Fehde mit der Tala…“ Er brach ab. „Mit der Tala-was?“ fragte Catherine. Salieri seufzte und erhob sich. „Die Talamasca.“ meinte er, während Catherine ihn noch immer gespannt anblickte. Sie erinnerte sich, dass sie einmal dieses Wort gehört hatte, wie ihr Vater es in einem Gespräch mit Clarisse in den Mund genommen hatte, doch damals war sie noch klein gewesen. Er hatte sofort das Thema gewechselt, als er sie gesehen hatte. Catherine wunderte sich, dass ihr all die Jahre dieses Wort nicht mehr in den Sinn gekommen war, und dass sie selbst vorhin nicht auf es gekommen war. Erst als er es ausgesprochen hatte, erinnerte sie sich daran. Talamasca. „Die Bruderschaft, wie Sie wissen, existierte schon vor der Etablierung des Christentums, doch als der Vatikan immer mehr Macht für sich beanspruchte, empfanden es mehrere Mitglieder des Hohen Rates als ratsam, sich in den Vatikan eingliedern zu lassen. Zwei Generationen war dies ohne Probleme möglich, doch dann gewann die Kirche – und nicht der freie Verstand des Menschen – die Oberhand und schreckliche Aufträge wurden erteilt und ausgeführt. Einige Mitglieder der Bruderschaft aber, die sich mit diesen Methoden nicht einverstanden erklärten, stellten sich gegen die Aufsicht der Kirche und mussten fliehen…“ „Das ist heute wieder so.“ murmelte Catherine, worauf Salieri nickte. „Ja, doch damals – im Jahr 758 nach Christi Geburt – gründeten sie eine zweite Organisation. Die Talamasca, die zuerst in Amsterdam, dann in London und schließlich auch wieder in Rom ihre Stützpunkte hatte. Seit der Gründung der Talamasca beobachtet sie Leute, die übersinnliche Fähigkeiten haben – Hexen, Magier, Medien, Geister und derartige Erscheinungen.“ „Was ist mit Dämonen?“ Salieri schüttelte den Kopf und meinte: „Dazu komme ich schon noch.“ Catherine nickte und ließ ihn fortfahren. „Im Mittelalter, vor allem während der Hexenverfolgungen, machte der Orden es sich zur Aufgabe, die Leute, die meist zu Unrecht als Hexen beschuldigt wurden, vor dem Scheiterhaufen zu retten. Nicht immer war er erfolgreich, was man leider zugeben muss, aber viele der Beschuldigten nahm der Orden im Mutterhaus in Amsterdam auf. Heute ist der Orden in der ganzen Welt vertreten und sehr reich – vor allem durch ihre Mitglieder, die ihr Vermögen, weil die meisten von ihnen keine Familie mehr haben, dem Orden vererben. Viele der Aufgenommenen sind heute Mitglieder und machen Aufzeichnungen über paranormale Aktivitäten von Poltergeistern bis zur Reinkarnation.“ Salieri machte eine kleine Pause und betrachtete Catherine. Sie saß da und hatte ihm konzentriert zugehört. „Das klingt alles ziemlich positiv.“ meinte sie skeptisch. „Zu positiv, um wahr zu sein?“ Catherine lächelte und nickte. „Erzählen Sie weiter!“ „Im Laufe der Jahre hat sich unglaubliches Wissen in den Kellergewölben der Talamasca angesammelt – man kann die Archive mit Sicherheit mit denen der Bruderschaft vergleichen, wenn sie nicht sogar umfangreicher sind. Vollwertige Mitglieder haben das Recht, diese Aufzeichnungen zu sichten.“ „Was ist die eigentliche Aufgabe der Talamasca? Die Bruderschaft bekämpft das Böse…“ „Catherine, inzwischen bekämpft die Bruderschaft alles, was keiner Norm entspricht. In Zeiten wie dieser, in der niemand mehr einer allgemeingültigen Norm entspricht, ein überaus vermessenes Vorhaben.“ „In Ordnung, aber was tut die Talamasca? Leute retten, wenn ich das richtig verstanden habe, oder?“ „Das ursprüngliche Ziel des Ordens waren die Aufzeichnungen.“ Salieri sah ihr fragendes Gesicht und meinte: „Bei diesen Aufzeichnungen handelt es sich um Informationen über Geschöpfe praeter naturam und auch über Bluttrinker, die heute allgemein als Vampire bekannt sind.“ „Bluttrinker?“ Catherine zog die Augenbrauen hoch. Diese Bezeichnung hatte sie von einem Mitglied der Bruderschaft noch nie gehört. „Sie hatten bisher kaum mit wirklichen Vampiren zu tun, nicht wahr?“ „Äh, doch… sicher.“ Salieri schüttelte den Kopf. „Es gibt nur noch wenige, die diese Bezeichnung wirklich verdienen.“ „So etwas muss man sich verdienen?“ Salieri ging nicht darauf ein, sondern erzählte weiter von den Archiven, von denen Catherine – so fand er – überhaupt nicht genug wissen konnte. „Durch die Tatsache, dass diese Aufzeichnungen sehr zerstreut und schwer zu überprüfen sind, werden sie ständig erneuert. Vor allem in den Kriegen wurde leider viel zerstört, doch trotzdem werden die Verluste ständig aufgearbeitet…“ „Wie organisiert sich die Talamasca?“ unterbrach ihn Catherine, weil sie das mehr interessierte. „Die Talamasca hat immer ein Oberhaupt und so etwas wie einen Rat der Ältesten, von denen aber niemand weiß, wer sie wirklich sind.“ „Ähnlich wie die Bruderschaft also.“ Salieri nickte. „Ähnlich, allerdings kommen bei der Bruderschaft diejenigen in den Rat, die am lautesten schreien, nicht die, die am weisesten sind.“ meinte er, worauf Catherine ihn amüsiert anblickte. „Über die Jahre…“ „Wie auch immer. Ohne das Wissen und die Zustimmung dieser Instanz geschieht nichts.“ „Wie kommt es, dass Sie so viel wissen?“ „Ich habe mich für die Bruderschaft lange Zeit mit der Talamasca beschäftigt.“ „Sie waren ein Spion?“ „Nein, natürlich nicht! Ich bin Geistlicher!“ „Entschuldigen Sie.“ entgegnete sie und schenkte ihm noch Tee nach, obwohl die Tasse noch fast voll war. „Ich war lange Zeit in einer Kommission eingebunden, die sich mit der Talamasca beschäftigte.“ Für Catherine war das zwar irgendwie dasselbe, doch sie nickte. „Warum gibt es für die Talamasca eine Kommission?“ „Die Bruderschaft würde keinen Moment zögern, die Talamasca auszurotten.“ Kapitel 9: Ungebetene Gäste --------------------------- Ungebetene Gäste Catherine saß noch mit Salieri im Salon, und redete über die Fehde zwischen der Bruderschaft und der Talamasca. „Die Bruderschaft unterscheidet nicht mehr zwischen unheil - und heilbringender Andersartigkeit, sondern nur noch zwischen Norm und Abweichung davon.“ stellte Catherine zusammenfassend fest. Salieri nickte. „Ich weiß nicht, wie viele unschuldige Opfer inzwischen auf das Konto der Bruderschaft gehen, aber es können nicht wenige sein.“ „Ist es möglich, die Talamasca…“ Plötzlich ertönte ein dumpfes Geräusch aus der Bibliothek. Salieri blickte zur Tür, während Catherine schon aufgestanden war und auf diese zuging. „Sie können doch nicht...“ „Bleiben Sie hier!“ meinte sie, griff nach den zwei unter einem Wappen gekreuzten Degen, die über dem Kamin als Dekoration hingen, und zog einen heraus. „Sie haben doch keine Ahnung, was…“ „Das werde ich wohl jetzt herausfinden.“ entgegnete sie und ging leise aus dem Salon. Die Bibliothek lag jenseits der Eingangshalle direkt gegenüber des Salons. Catherine war selten dort, da es schlicht nicht zu ihren Aufgaben gehört hatte, sich umfassend über ihre Gegner zu informieren. Ihr Vater hatte oft stundenlang dort an seinem Schreibtisch gesessen. Sie atmete tief durch und tastete mit ihrer linken Hand nach der Türklinke. Langsam öffnete sie lautlos die Tür und trat mit erhobener Waffe hindurch. Sie erblickte zunächst den Schreibtisch ihres Vaters, der in der Mitte des Raumes stand. Plötzlich näherte sich ihr von der Seite ein Schatten, den sie mit ihrem Degen abwehrte und von sich stieß. Schnell drehte sie sich zu ihrem Angreifer um und richtete ihre Waffe gegen ihn. Er trug einen schwarzen Umhang und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, doch er war auch mit zwei langen, spitzen Dolchen bewaffnet. Dolche, die normalerweise auch Catherine bevorzugte. Jeder in der Familie hatte bestimmte Waffen, die er bevorzugte – auch wenn man im Keller jede Art von Waffe fand, die man sich nur vorstellen konnte. Jacques hatte meistens ein zweischneidiges Schwert benutzt, Clarisse hatte elegante, orientalische Säbel bevorzugt, während Lucien auf Degen zurückgriff, wie sie nun einen in der Hand hielt. Sonst waren ihr die kleinen Waffen lieber – Dolche, Messer, Sai-Gabeln, wobei sie auch zum japanischen Schwert griff, wenn es nötig war. Alles in allem hatten es ihr die eleganten Waffen mehr angetan als grobe Hieb- und Stichwaffen. Wieso hatte sie eigentlich nur einen der beiden Degen mit sich genommen? Ihr Gegner rührte sich nicht und betrachtete sie scheinbar endlos lange, bis Catherine sich zum Angriff entschloss. Sie traf ihren Gegner zwar, doch er schien unbeeindruckt. Die Angriffe ihres Widersachers waren stark und er drängte sie schnell zurück gegen eine Bücherwand, weshalb sie sich nach unten gleiten ließ, um ihm so zu entkommen und ihn von hinten angreifen zu können, was mehr Wirkung zeigte. Schnell hatte Catherine ihn durchschaut – er hatte Kraft, doch war nicht wendig genug für sie. Und außerdem war er kein Mensch, denn wenn sie seinen Körper verletzte, so schien er keine Schmerzen zu haben. „Catherine, was…“ „Gehen Sie in den Salon zurück! Sofort!“ schrie Catherine und hinderte den Fremden daran, zur Tür zu hetzen, durch die der Kardinal den Kopf streckte. „Los! Gehen Sie!“ rief sie und der Kardinal schloss die Tür ein wenig, doch blieb so stehen, dass er noch immer der Geschehen beobachten konnten. Plötzlich tauchten weitere dunkel gekleidete Gestalten in Umhängen und Kapuzen auf und umringten Catherine, die sich abwechselnd gegen die verschiedenen Angriffe verteidigen musste und fieberhaft überlegte, wie sie sich ihrer entledigen konnte, wenn sie die Gestalten nicht verwundern konnte. Der Anführer stellte seine Angriffe ein. Seine Begleiter hingegen, forderten Catherine noch stark und hielten sie auch in ihrer Mitte fest. Der Anführer der fremden Gruppe begann, langsam und bedächtig um seine Anhänger herumzuspazieren und murmelte: „In deinen unschuldigen Augen funkelt die Glut des Unheils. Dein Leib und deine Seele gehören schon längst nicht mehr dir. Heillos ist die Botschaft vom Tag deiner Geburt, dem verfluchten, an dem es Besitz von dir ergriff.“ Catherine hielt plötzlich inne und auch sie wurde nicht mehr angegriffen. Ruhig und bewegungslos stand sie umringt von den Gestalten, deren Blicke auf ihr hafteten, in der Bibliothek. Dann verschwanden sie. Catherine stand noch immer auf der Stelle, an der sie gestanden hatte. Salieri eilte auf sie zu und betrachtete sie. „Was hat er gesagt?“ Catherine wiederholte die Worte. „Ich hatte es befürchtet.“ „Was hatten Sie befürchtet?“ fragte Catherine und folgte Salieri, der zum Telefon hetzte. „Sie müssen nach Großbritannien. Rufen Sie Ihr Personal an und sagen Sie ihm Bescheid, dass Sie die nächsten Tage nicht da sind.“ „Moment, bitte! Sie wissen wohl doch, was hier vor sich geht. Wer waren die?“ Salieri wählte eine Nummer und hielt Catherine das Telefon hin. „Sagen Sie Bescheid!“ meinte er, doch Catherine nahm ihm das Telefon ab und stellte es zurück. „Wer waren die?“ „Sie waren… Wesen, die… mehr wissen.“ Catherine legte den Kopf schief und blickte ihn an. „Aha. Und wieso kommen diese Wesen, die mehr wissen, hierher und greifen mich an?“ „Das weiß ich nicht. Sie sollten nach Großbritannien.“ „Wieso soll ich nach Großbritannien?“ „Catherine, vertrauen Sie mir?“ Sie nickte etwas zögerlich, doch Salieri genügte das. „Dann folgen Sie bitte meinen…“ „Anweisungen?“ „Ratschlägen.“ verbesserte er sie und blickte sie eindringlich an. „Sie schreiben mir die Reise nach Großbritannien also nicht vor. Sie empfehlen Sie mir?“ Er nickte und nahm wieder das Telefon. Catherine nahm es ihm aus der Hand und meinte: „Können Sie mir das später noch genauer erklären?“ Er nickte und Catherine wählte die Nummer des Butlers, der dann alle anderen Bediensteten informieren würde. „Hallo?“ „Guten Tag, Guillaume. Catherine du Ravin.“ „Guten Tag, Mademoiselle.“ „Wie geht es Ihnen? Sind Sie und Ihre Familie gut in das neue Jahr gekommen?“ „Ja, natürlich. Und Sie? Ach, wo bin ich nur mit meinen Gedanken: herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag, Mademoiselle!“ Catherine zuckte zusammen. „Danke. Vielen Dank, Guillaume. Ja, hier ist auch alles in Ordnung. Weshalb ich Sie anrufe: meine Eltern, mein Bruder und ich werden einige Tage verreisen.“ „Oh, wohin geht es denn?“ „In den Norden. Deshalb sind Ihre Dienste in der nächsten Zeit auch nicht von Nöten.“ „Selbstverständlich.“ „Geben Sie bitte den restlichen Angestellten Bescheid.“ „Selbstverständlich. Das werde ich umgehen tun.“ „Ich danke Ihnen. Ihr Lohn wird natürlich trotz des Urlaubs weiterhin gezahlt werden. Auf Wiedersehen.“ „Auf Wiedersehen, Mademoiselle.“ Catherine legte das Telefon zurück und suchte Salieris Blick. Der alte Mann betrachtete die Bilder an der Wand. „Ihre Familie existiert schon sehr lange.“ stellte er fest. „Seit dem siebzehnten Jahrhundert, soweit ich weiß.“ entgegnete Catherine schlicht. „Haben Sie einen Stammbaum zur Hand?“ „Wozu brauchen Sie jetzt einen Stammbaum meiner Familie? Sollten Sie mich nicht lieber darüber aufklären, was ich in Großbritannien soll?“ „Richtig. Ich werde mich mit einer guten Freundin in Verbindung setzen und Sie ihr ankündigen. In Schottland werden Sie wenigstens eine Weile sicher sein.“ „Eine Weile? Und danach?“ Catherine fragte nicht einmal, vor was er sie beschützen wollte, da er das wahrscheinlich ohnehin nicht wusste. „Nach dieser Weile sind Sie vielleicht in der Lage, sich selbst zu schützen. Entschuldigen Sie mich, bitte. Ich würde gern telefonieren.“ Catherine wies auf das Telefon und verließ den Salon. Sie ging zurück in die Bibliothek und setzte sich an den Schreibtisch ihres Vaters, auf dem ein Bild von ihren Eltern und ihrem Bruder stand. Wieso hatte sie sich eigentlich noch nicht gefragt, ob auch Lucien zum Exempel ermordet worden war? Vielleicht, weil er bereitwillig Daniele gefolgt war? Ja, wahrscheinlich deshalb. Das Notizbuch lag neben den gerahmten Bildern. Catherine griff danach und schlug den heutigen Tag auf. Es war nichts eingetragen. Nachdenklich blätterte sie weiter und stutzte: ‚2. Januar 2007. 3:30 morgens. Irvine, Schottland.’ Catherine las immer wieder diesen Eintrag und fragte sich, was Jacques in Schottland gewollt hatte. Sollte er in Schottland einen Auftrag ausführen oder war er selbst… „Es ist alles geregelt.“ meinte Salieri und trat vor den Schreibtisch. „Mein Vater hat einen Termin vermerkt. Er wollte nach Schottland.“ Salieri streckte die Hand aus und Catherine reichte ihm das Notizbuch. Er zog die Augenbrauen hoch und legte das kleine Buch zur Seite. „Was sagen Sie dazu?“ Kapitel 10: Thirlestane Castle ------------------------------ Thirlestane Castle „Ich hatte keine Ahnung, dass Jacques und Clarisse sich bereits auf so dünnes Eis begeben hatten.“ „Wie meinen Sie das?“ „Ihr Vater hat nach Antworten gesucht.“ „Antworten? Auf welche Fragen?“ „Ich weiß nicht, welche Fragen er sich gestellt hat. So nahe standen wir uns nicht.“ „Das bedeutet, dass ich nach Fragen und Antworten suche? Toll, das nenne ich…“ „Sie werden in Schottland von selbst auf die Fragen stoßen.“ „Wieso wissen Sie das, wo Sie doch sonst nicht wissen, womit wir es zu tun haben?“ Kardinal Salieri reagierte nicht, sondern meinte: „Ihr Flug geht heute noch. “ „Dann werde ich meine Sachen packen.“ meinte Catherine, worauf Salieri nickte. „Was werden Sie tun, solange ich weg bin?“ „Ich werde mich im Hintergrund beziehungsweise Untergrund halten.“ entgegnete er und Catherine verließ den Salon. Wenige Stunden später kam sie in Glasgow am Flughafen an und fuhr mit dem Taxi zur Adresse, die Salieri ihr gegeben hatte. Die Fahrt dauerte eine gute halbe Stunde, doch dann fuhr das Taxi eine Auffahrt hinauf, die zu einem großen Anwesen führte. Der Fahrer händigte ihr das Gepäck aus und sie bezahlte ihn. „Du sicher sein, dass du erwartet werden? Sehen ziemlich verlassen aus für mich.“ „Danke. Ja, ich werde erwartet!“ Sie lächelte gezwungen. Woher kam nur das weit verbreitete Vorurteil, dass Franzosen kein Englisch sprachen oder verstanden? Der Fahrer stieg zurück in den Wagen und fuhr davon. Catherine sah ihm nach und blickte dann wieder zu dem Anwesen. Eine längere Treppe führte zum Eingang hinauf, während über die gesamte Fassade achsensymmetrisch zu ihr angelegt war. Catherine ging langsam die verschneite Stufen hinauf und klopfte oben an die Holztür. „Hallo.“ Catherine fuhr herum und erblickte ein Mädchen im Teenager-Alter. „Entschuldige.“ „Schon in Ordnung. Hallo. Wohnst du hier?“ „In gewisser Weise, ja. Wie heißt du?“ „Catherine du Ravin.“ „Cässerin dou Ravinn.“ „Fast. Catherine du Ravin.“ „Schön. Bist du Französin?“ „Ja.“ „Ich nenne dich Cate.“ Catherine war zwar nicht begeistert, aber nickte. „Und wer bist du?“ „Lea. Lea Reynolds.“ „Okay, dann … ich bin hier mit Elizabeth Abbotsford verabredet…“ „Ich bringe dich zu ihr. Komm!“ Catherine folgte Lea vom Haupteingang zu einem der Nebeneingänge und durch eine große Halle, die mit Teppichen ausgelegt war. Lea blieb vor einer Tür stehen, klopfte und öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten. Elizabeth saß an einem kleinen runden Tisch und goss Tee ein. „Catherine, kommen Sie! Setzen Sie sich!“ meinte sie und machte eine einladende Bewegung mit ihrer rechten Hand, an der sie vier große Ringe trug. Catherine stellte ihre Tasche auf den Boden und folgte ihrer Einladung. „Danke, Lea.“ „Kann ich nicht bleiben?“ „Hast du nicht noch etwas vor?“ „Papa…“ „Sieht dich nur alle zwei Wochen. Er wäre wirklich enttäuscht, wenn du nicht kommst.“ Lea nickte und wandte sich zum Gehen. „Danke, dass du mich gebracht hast!“ rief Catherine ihr noch zu, worauf sie lächelte und nickte. „Kein Problem.“ Lea zog die Tür hinter sich zu und Catherine blickte Elizabeth an. „Wie war Ihr Flug?“ „In Ordnung.“ entgegnete Catherine und setzte sich. „Das freut mich. Ich bin Elizabeth Abbotsford… Kardinal Salieri hat ihnen bestimmt schon Genaueres über ihre Reise hierher gesagt…“ Catherine schüttelte den Kopf. „Na, das hatte ich befürchtet! Die schwierigen Aufgaben überlässt er mir!“ Elizabeth trank einen Schluck und fuhr dann fort: „Sie sind hier auf Thirlestane Castle sicher, da die Bruderschaft Sie hier nicht belangen kann. Auch vor anderen Wesen sind Sie hier sicher…“ „Warum?“ „Das ist nicht so wichtig. Sie sollten hier bleiben, bis es eine Lösung gibt.“ „Danke. Das ist wirklich freundlich von Ihnen.“ „Das tue ich gern.“ Catherine lächelte und trank ebenfalls etwas. Es wurde schnell dunkel, wie Elizabeth mit Schrecken feststellte, da sie Catherine so lange aufgehalten hatte. „Sie müssen ja noch auspacken und dann wollen Sie sicher noch alles sehen! Wie unachtsam von mir.“ „Ich habe auch nicht bemerkt, wie die Zeit vergeht.“ gab Catherine zu und folgte Elizabeth hinaus in den Gang und dann eine breite Treppe nach oben. Sie führte Catherine an mehreren Türen vorbei und blieb schließlich vor einer stehen. „Hier ist Ihr Zimmer. Es ist nicht sehr…“ „Es ist sehr schön.“ meinte Catherine und trat ein. Es war groß, etwas spärlich beleuchtet und in der Mitte stand ein breites Bett. „Gut, dann schlage ich vor, dass Sie auspacken und dann zum Abendessen in die Halle kommen. Lea soll dort auf Sie warten.“ „In Ordnung.“ Elizabeth verließ Catherine und sie machte sich ans Auspacken. Sie warf ihre Kleidungsstücke mehr oder weniger achtsam in den Schrank und räumte ihre Waschsachen in das kleine Bad, dann ging sie zum Fenster und blickte in den dunklen Innenhof hinab, in dem nur wenige Fackeln entzündet worden waren. Gespenstisch sah es schon aus, wie sie fand. Ganz in der Nähe schlug eine Turmglocke, sonst war nichts vom angrenzenden kleinen Städtchen zu hören. Sie atmete tief durch und blickte auf die Uhr: sie musste gehen, Lea wartete. Lea saß in der Sitzgruppe und schrieb eine sms. „Hallo.“ „Oh, hallo. Wir können gleich gehen. Der Speisesaal ist gleich da drüben.“ Catherine nickte und folgte Lea, die die schwere Tür aufdrückte. Catherine staunte, als sie dort im Speisesaal mindestens fünfzig Personen an mehreren Tischen sitzen sah, die natürlich alle in ihre Richtung blickten. Mädchen. Sie waren alle Mädchen. „Esst nur weiter, Mädchen!“ hörte sie Elizabeth sagen und sah, dass sie Lea und sie selbst zu sich winkte. Lea ging voran, Catherine folgte ihr bis zum Tisch. „Hast du schon ausgepackt?“ fragte Lea. „Ja, ich hatte nicht so viele Sachen dabei. Es ging schnell.“ antwortete Catherine geistesabwesend. „Wir sind eine Zufluchtsstätte für Mädchen, die …“ „Lea, reichst du mir bitte die Kartoffeln?“ unterbrach Elizabeth. „Die Mädchen stammen meistens aus ärmeren Verhältnissen. Sie können hier ihre Zeit verbringen. Die meisten kommen nach der Schule hierher, um sich hier mit anderen zu treffen. Und ein Abendessen bekommen sie auch. “ Catherine nickte und blickte noch einmal in die Runde. Nach dem Abendessen entschloss Catherine sich zu einem kleinen Spaziergang durch die nähere Umgebung und verließ wenig später das Anwesen. Die Straßen waren ruhig. Nur hin und wieder kamen Catherine Menschen entgegen, die schnell weiter eilten, um wieder ins Warme zu kommen. Sie vernahm das eigentümliche Geräusch, das aufkam, wenn man mit Gummisohlen in Schnee spazieren ging, doch ihre Schuhe hatten Sohlen aus Leder. Sie verlangsamte ihren Schritt und schielte unauffällig über ihre Schultern. Es schien ein Mann zu sein, der näher kam und sie schließlich am Arm festhalten wollte. Catherine hatte sich jedoch schneller umgedreht, also hatte er ins Leere gegriffen. „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ „Sei nicht so scheinheilig!“ „Wie bitte?“ „Ich habe dich durchschaut und bin dir gefolgt!“ „Ja, dass Sie mir gefolgt sind, weiß ich, aber dass Sie mich durchschaut haben, wage ich zu bezweifeln.“ Der Mann trug einen Mantel und einen Hut, der ihm schräg auf dem Kopf saß. „Ihr seid eine Gefahr, Wesen wie du. Und deshalb werde ich dich vom Angesicht der Erde tilgen!“ rief er und zog einen langen Dolch aus seinem Mantel hervor. Catherine wich wendig zurück und drehte sich zur Seite, dass der Mann mit Anlauf an ihr vorbeilief und ins Leere stach. „Man muss deine gesamte Art vernichten!“ „Sie wollen die Menschheit ausrotten?“ „Mensch?! Du bist kein Mensch!“ „Was denn sonst?“ Langsam wurde sie ungeduldig. Sie musste noch einmal der Stichwaffe ausweichen und als sie wieder dort hinblickte, wo der Mann jetzt stehen musste, war er verschwunden. Sie blickte sich noch einmal um, doch er war wirklich nicht mehr da. Nur sein Hut lag noch im Schnee. „Kannten Sie den Mann näher?“ Catherine fuhr herum und erblickte eine Gestalt, die lässig an der Mauer lehnte. „Von welchem Mann sprechen Sie?“ antwortete sie mit einer Gegenfrage. „Dann war das wohl ein Missverständnis von meiner Seite. Ich dachte, Sie würden mit einem Messer bedroht.“ „Menschen, die mich kennen, bedrohen mich eigentlich nicht mit Messern.“ Catherine konnte unmöglich das Gesicht des Fremden erkennen, doch er strahlte etwas Geheimnisvolles aus. „Menschen vielleicht nicht.“ „Sind denn heute nur…“ Catherine bückte sich nach etwas Blankem im Schnee und hob es auf. „…Idioten unterwegs?“ beendete sie ihren Satz, doch da war niemand mehr. Das fing alles viel versprechend an hier - in Schottland, das musste man wirklich sagen. Sie blickte hinunter. In ihrer Hand hielt sie die Stichwaffe. Kapitel 11: Geheimnisvolle Träume --------------------------------- Geheimnisvolle Träume Catherine versteckte den Dolch in ihrer Tasche, die sie unter ihr Bett schob. Sie hatte sich entschlossen, nichts über den Vorfall zu sagen. Was hatte sie denn auch sagen sollen? Und es war ja auch nichts passiert, also schwieg sie besser. Nachdenklich saß sie noch immer vor ihrem Bett und trommelte mit den Fingern gegen ihre Schläfe. „Was machst du da?“ Catherine blickte erschrocken auf und erblickte Lea. „Entschuldige, ich habe geklopft, aber du…“ Catherine nickte. „Was ist?“ „Ich habe mich gefragt, ob du nicht mit uns etwas spielen möchtest… Wir sind unten und du bist hier oben… Warst du weg?“ fragte Lea, als sie den Mantel auf dem Bett liegen sah. „Ich war spazieren. Elizabeth wusste davon.“ Lea nickte. „Was ist jetzt? Hast du Lust?“ „Ich kann nicht. Ich habe noch einiges für die Uni zu tun.“ „Ah, okay. Das geht natürlich vor… Wenn du doch noch Lust hast… ach, dann komm einfach herunter. Wir sind da irgendwo.“ Catherine nickte und Lea verließ das Zimmer. Etwas für die Universität tun, obwohl sie nicht einmal wusste, wie lange sie hier bleiben würde? Ob sie Elizabeth jemals zurück nach Paris lassen würde? Catherine wusste es nicht, doch hoffte es. Das war ein seltsamer Ort – Thirlestane Castle. Catherine setzte sich an den Schreibtisch und starrte an die Wand vor sich. Alle waren freundlich zueinander. Lea und ihre Freundinnen baten sie immer, mit ihnen etwas zu machen, doch trotzdem wurde Catherine nicht im eigentlichen Sinne integriert. Vielleicht lag das aber auch nur am Altersunterschied. Nichts erregte besondere Aufmerksamkeit. Und doch: Catherine wurde das Gefühl nicht los, dass niemand hier normal im eigentlichen Sinne war. Aber konnte es wirklich sein, dass nicht nur Elizabeth eingeweiht war? Waren diese Kinder … um es zusammen zu fassen… wirklich nur Kinder sozial schlechter gestellter Familien, wie Elizabeth sie glauben machen wollte? Und wenn sie es waren, wie passte dann sie selbst hierher? Und wann würde sie…Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, erhob sich vom Schreibtisch und setzte sich auf den Boden. Sie zog erneut ihre Tasche hervor und zog den Dolch hervor. Ihre Finger glitten über die polierte Schneide und den Griff, der mit schwarzem Leder überzogen war. Alles in allem hatte sie einen normalen Dolch vor sich, doch das schien ihr nicht logisch. Wenn der Mann es auf ihr Leben abgesehen hatte, dann hätte er sicher gehen können und einfach eine größere Waffe benutzen können. Das sah anders aus. Das sah nach einer Tötung aus, bei der die Vorgehensweise mindestens genauso wichtig wie das Resultat war. Das sah eher nach einer Art Ritualmord aus, doch diese Theorie entbahr wieder jeglicher Logik. Warum sollte ein Mensch einen anderen Menschen aus einem Ritual heraus töten? Andererseits. Catherine schüttelte den Kopf. Es geschah genug Seltsames in der Welt, in das sich dieses Geschehnis gut und gerne einreihen konnte. Ihre Gedanken kehrten zu dem anderen Fremden zurück. Eine unerklärliche Gänsehaut erfasste sie und sie spürte, wie ein kalter Schauer sie erfasste. Mit zitternden Händen legte den Dolch zurück in ihre Tasche und schob sie weit von sich weg wieder unter das Bett. Waren das die Fragen, auf die sie stoßen sollte? Sie hörte Geräusch vor ihrer Tür, doch als sie hinaus trat, konnte sie niemanden erblicken. Langsam ging sie den Gang entlang und dann nach unten, wo sie Lea und ihre Freundinnen traf. „Hallo! Du kommst ja doch noch! Lilly kennst du ja. Das hier ist Jessy. Sie war in den letzten Tagen krank. Deshalb war sie nicht hier. Sandy ist gerade in der Küche und holt sich – wie sollte es auch anders sein – Schokolade!“ meinte Lea und machte Catherine Platz auf dem Sofa. „Ihr spielt Siedler.“ bemerkte Catherine und Lea nickte. „Wir haben noch nicht angefangen. Eigentlich wollten wir einen Film ansehen, aber die DVD habe ich bei meinem Vater vergessen.“ meinte Lilly und Lea nickte. „Das ist typisch, wenn ich das mal so sagen darf.“ Jessy angelte nach den Salzstangen und fragte: „Und du bist aus Paris?“ „Ja.“ „Wie ist es da?“ „Ganz anders als hier. Laut, voll, im Sommer stickig, im Winter düster.“ „Das hört sich nicht gerade toll an.“ „Man gewöhnt sich daran, aber so schlimm ist es auch nicht.“ lachte Catherine und nickte noch einmal zur Bestätigung. „Hast du viele Freunde?“ „Nein, aber drei, vier gute Freunde sind auch viel wichtiger und wertvoller als hunderte oberflächliche.“ Lea nickte. „Und hast du einen Freund?“ fragte Sandy, die gerade zurückkam. Catherine lächelte und antwortete nicht gleich. „So etwas fragt man nicht!“ meinte Lea und äugte zu Catherine hinüber. „Schon in Ordnung. Nein, bisher nicht. Es hat sich nicht ergeben.“ „Ah.“ „Können wir jetzt anfangen?“ Es herrschte allgemeine Zustimmung. „Spielst du mit?“ „Nein, weiß du, wo Elizabeth ist? Ich müsste noch einmal mit ihr sprechen.“ „In ihrem Büro. Derselbe Weg wie immer!“ „Danke. Viel Spaß noch.“ „Können Sie nicht schlafen?“ „Ich habe es noch nicht versucht.“ gestand Catherine. „Mir geht so vieles im Kopf herum. Es ist so viel geschehen in den letzten Tagen.“ „Wollen Sie darüber sprechen?“ „Hat Kardinal Salieri nicht…“ „Kardinal Salieri und ich sprechen nur das Nötigste über andere Menschen. Ich wollte alles von Ihnen selbst hören. Kommen Sie, setzen Sie sich!“ Catherine setzte sich auf den Platz, auf dem sie an ihrem ersten Nachmittag auf Thirlestane Castle ebenfalls gesessen hatte und schwieg eine Weile, bevor sie begann, die Ereignisse der letzten Tage zusammen zu fassen. „Meine Eltern sind verschwunden und jetzt weiß ich, dass sie tot sind. Bei der Bruderschaft haben wir gelernt, mit solchen Verlusten umzugehen. Ich weiß nicht, wieso es mir so leicht fällt, damit klar zu kommen.“ Catherine schwieg eine Weile. „Dass mein Bruder und ich und gestritten haben, dass er mich im Stich gelassen hat, ist schlimmer.“ „Wie meinen Sie das?“ „Hm, am Tod meiner Eltern kann ich nichts mehr ändern. Ich frage mich nur, ob es für Lucien und mich einen anderen Weg gegeben hätte… Ich denke einfach oft an das, was zwischen uns geschehen ist.“ „Das ist doch normal.“ Catherine nickte. „Das ist zwar normal, aber es macht mich schwach.“ Elizabeth lächelte. „Sie brauchen sich hier nicht zu verteidigen. Sie sind nun in Sicherheit. Spannen Sie aus und überlassen Sie mir alles andere.“ Catherine betrachtete die ältere Dame. „Vor ein paar Tagen bin ich in Paris angegriffen worden und seit ein paar Tagen bin ich jetzt hier. Meine gesamte Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Dinge, die ich zu wissen glaubte, sind einfach nur falsch und ich weiß nicht, wo ich stehe.“ meinte sie und wartete auf Elizabeths Reaktion. „Es ist viel passiert. Sie brauchen vielleicht Zeit, um das alles zu verarbeiten.“ „Wahrscheinlich.“ „Vertrauen Sie sich?“ „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich glaube, es wäre schlecht, mir in diesem Moment zu vertrauen. Ich vertraue niemandem mehr.“ Elizabeth nickte. „Vertrauen Sie in Ihr Gefühl. Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann.“ Catherine nickte. „Danke.“ „Vieles wird leichter, wenn man eine Nacht darüber schläft. Viele Dinge erscheinen nicht mehr so undurchsichtig, nicht mehr so komplex. Manchmal erhalten wir Anstöße zum Weiterdenken, wenn sich Informationen erst einmal gesetzt haben und der Geist zur Ruhe kam.“ „Diesen Moment kann ich kaum noch erwarten. Mein Hirn fühlt sich ziemlich matschig an.“ Elizabeth nickte lächelnd. „Gehen Sie schlafen, Catherine. Morgen sieht die Welt schon wieder ein bisschen anders aus.“ „Besser?“ „Das werden wir sehen. Gute Nacht.“ Catherine erhob sich. „Gute Nacht. Und: Danke.“ Große Bäume tauchten die Gegend in erdrückende Dunkelheit. Der Wind wehte durch ihr offenes Haar und trug leise geflüsterte Worte zu ihr. ‚héo naefre wacode dægréd tó bisig mid dægeweorcum’ Unsicher drehte sie sich um, da sie Stimme hinter ihr zu sein schien, doch sie blickte ins Leere. Hinter ihr lag nur Dunkelheit und Stille. ‚ac oft héo wacode sunnanawanung thonne nihtciele créap móras’ Sie wandte sich der Stimme zu, doch erblickte wieder niemanden. Langsam ging sie weiter. Ihre Füße sanken in dem von Nässe aufgeweichten Weg ein und hinterließen tiefe Spuren. Regentropfen berührten sanft ihre Haut und perlten zuerst zaghaft an ihrem Haar nach unten, doch bald zitterte sie vor Kälte. Sie zog ihren schwarzen Umhang dichter um sich und stiefelte weiter. Sie musste weg von hier. Sie war hier in Gefahr – ihre gesamte Familie war es. Sie fror und gleichzeitig loderte die Wut in ihr. Wie hatte sie ihren je Glauben schenken können? Wieso?! Sie konnte nicht mehr. Zu lange schon bahnte sie sich ihren Weg durch die schlammige, kalte Erde, doch ihre Todesangst trieb sie weiter. Sie spürte nichts mehr – keinen Schmerz, keine Wut, kein Leben. Erschöpft sank sie zu Boden und schloss die Augen. „Da ist sie! Fasst sie!“ Hände. Überall Hände. Ein dumpfer Schlag und dann nichts mehr. Erst später wieder Dunkelheit und Nässe. Und pochender Schmerz. „Es ist Zeit, dich schuldig zu bekennen!“ Stimmen. Scharfe Stimmen und Schläge. Folter. „Gestehe! Sag’ jetzt und hier die Wahrheit!“ Folter. Schmerzen und erstickte Tränen, die ihre Unschuld beteuerten. Doch dann brachen die Männer sie. „Ich gestehe! Ich bekenne mich schuldig!“ Alles, nur die Schmerzen... die sollten aufhören. Lange kam keine Antwort, doch dann durchbrach sie die Dunkelheit. „Wer mit dem Feuer spielt, wird brennen…“ Sie schloss die Augen nicht. Sie behielt sie offen und blickte den Mann an. Sie blickte von einem Mann zum anderen. „Möchtest du Gott um Vergebung bitten?“ Sie blieb stumm und man brachte sie fort. Geschrei. Lautes Geschrei und immer wieder Schläge gegen ihre Beine, sodass sie strauchelte. „Des Teufels Ausgeburt!“ „Brennen soll sie!“ Die Leute waren aufgebracht, bespuckten und bewarfen sie, doch kein Laut kam über ihre Lippen. „Verdammt bis in die Ewigkeit!“ schrie ihr einer wütend entgegen. Angst. Tiefe, entsetzliche Angst erfasste ihre Seele, als sie den Scheiterhafen hinaufgeführt wurde. Kapitel 12: Die innere Stimme ----------------------------- Die innere Stimme Catherine schreckte aus ihrem Traum hoch und legte ihre Hand an die trockene Kehle. Das Schlucken war ihr kaum möglich. Sie hustete einige Male und richtete sich auf. Das Zimmer war düster und wurde nur durch einige wenige Kerzen erleuchtet. „Auf Ihrem Nachttisch steht ein Glas Wasser.“ drang eine Stimme aus der Dunkelheit. Catherine fuhr zusammen und blickte zum Fenster, wo sich ein schwarzer Schatten abzeichnete. „Wer sind Sie? Was machen Sie hier?“ fragte Catherine und wandte sich ab, um die Lampe auf dem Nachttisch anzuknipsen. Als sie sich wieder zum Fenster drehte, war er verschwunden. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die Stimme vom Abend ihres Spaziergangs kannte. Und er hatte Französisch gesprochen. Vorsichtig griff sie nach dem Wasserglas, das wirklich neben ihr stand, und nahm einen Schluck. Müde versuchte sie sich zu erinnern, was sie geträumt hatte, doch es gelang ihr nicht, obwohl sie sich noch so sehr konzentrierte. Sie starrte auf das Glas in ihrer Hand. Plötzlich begann das Wasser zu gefrieren, was Catherine dazu verleitete, das Glas von sich weg zu schleudern. Es zerbrach in hunderte Scherben und das Wasser floss über das Parkett. ‚Du solltest vorsichtiger mit deinen Fähigkeiten umgehen.’ Catherine erschrak und blickte sich um. Wer war da? Was war da? ‚Du solltest vorsichtiger mit deinen Fähigkeiten umgehen.’ Catherine starrte auf das Wasser auf dem Boden. „Fähigkeiten?“ ‚Hexenkräfte!’ Catherine starrte verwirrt vor sich hin. Sie wurde wahnsinnig! Das war die einzige Erklärung, die es gab. Sie zog die Decke über sich und presste die Augen zusammen. Das konnte alles nicht wahr sein! Elizabeth sorgte sich um Catherine, als sie auch am Tag darauf nicht aufstehen wollte, und war schon dicht daran, nach einem Arzt zu schicken, doch Catherine versicherte, dass das nicht nötig sei und stand auf. „Es war nur alles ein bisschen viel in der letzten Zeit.“ fügte sie hinzu und zwang sich zu einem Lächeln. „Na, dann. Wir machen heute einen Ausflug mit den Mädchen. Es wird sicher Abend, bis wir wieder da sind.“ Catherine nickte und blickte sie an. Elizabeth erhob sich und musterte Catherine noch einmal, ehe sie das Zimmer verließ. Sie lächelte noch, als sie den Gang entlang ging und Catherine längst allein in ihrem Zimmer zurückgelassen hatte, doch wusste, dass irgendetwas passiert war. Sie verschwieg ihr etwas, das konnte sie deutlich spüren. Doch jetzt musste sie ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge richten. Sie hatte noch viel zu tun. Das Schloss lag seit mehreren Stunden schon in völliger Stille inmitten der schneebedeckten Landschaft. Stille. Catherine saß am Fenster und blickte hinaus. Frieden. ‚So friedlich wie du glaubst ist es überhaupt nicht.’ Catherine verdrehte die Augen. Konnte diese Stimme in ihrem Kopf nicht einmal den Mund halten? ‚Wenn man es so sieht, dann habe ich überhaupt keinen Mund.’ „Du nervst mich trotzdem.“ meinte Catherine und wandte sich vom Fenster ab. ‚Ja, ja. Die Menschen gehen gerne den einfachsten Weg, weil sich dieser vor ihre Füße hinlegt und sie selbst nichts mehr tun müssen.’ „Soll das eine Anspielung sein?“ Nichts. „Hallo? Bist du noch da?“ ‚Ich denke, ich nerve dich? Dann bin ich eben still!’ „Oh, danke! Das ist wirklich sehr großzügig!“ Gegen Abend wanderte Catherine ohne besonderen Grund durch das Schloss und suchte die Bibliothek auf. Sie war wahnsinnig geworden – sie redete mich sich selbst. Aber wusste man auch, dass man wahnsinnig war, wenn man es war? ‚Du bist nicht wahnsinnig. Zumindest in dieser Hinsicht nicht.’ „Oh, sie spricht wieder!“ bemerkte Catherine. Es war einfach lächerlich, sich mit einer Stimme im Kopf zu streiten. ‚Dann streite nicht mit mir!’ „Was willst du eigentlich? Seit zwei Tagen gehst du mir auf den Geist und tust sonst nichts.“ ‚Um etwas zu tun fehlen mir leider Arme und Beine.’ Catherine stöhnte auf und versuchte, diesen Ausspruch zu ignorieren. ‚Du, die du dies hörst, bist noch am Leben, aber ich bin schon im Reich der Unsichtbaren. Ein Bleigewicht lastet auf mir, ein Gefühl wie das Ersticken in Macht. Nichts hält es zurück, bis die Aufgabe vollbracht’ „Wie wäre es, wenn du mir mal sagst, was du willst?“ Wieder erhielt Catherine keine Antwort. Wieder einmal meldete sich die Stimme nicht mehr, sondern hatte nur einen Vers, Spruch oder sonst etwas zurückgelassen. Catherine sog den Duft alter, lediger Einbände und trockener, staubiger Seiten in sich ein und schloss die Augen. Im Weitergehen fuhren ihre Fingern über die Buchrücken des Regals. Plötzlich blieb sie stehen und öffnete die Augen. Sie hatte ein Geräusch gehört und wandte sich um. Ihr Blick fiel auf den leeren Gang hinter ihr. Catherine zuckte die Schultern und sah auf das Buch, auf dem immer noch ihre Finger ruhten. Corpus juris canonici. Langsam las sie die Titel der nächsten Bücher. Corpus juris civilis … Creiddylad … Cruces Anticas … Crux Nera … Crux Sancta … Crysis christiana … Cuchulain … Cyboread … Cruces Anticas … Dagon … Dana … Diktynnae … Disen … Djinismus … Druides … Dryaden … Du Bois-Reymond … Ducerceau … Dún Dealgan … Dún Laoghaire … Dún Luce … Du Ravin … Duumvirn …. – Du Ravin? War das hier etwa die Familienchronik, die nicht mehr existieren sollte? Catherine zog das dicke Buch vorsichtig aus dem Regal. Sie strich mit der flachen Hand über die Prägungen auf dem Ledereinband. Das Familienwappen und Blätterornamente, die das Wappen mit anderen Wappen verbanden. Links glaubte Catherine, das französische Königswappen zu erkennen und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie sehr sie sich glichen. Die bourbonischen Lilien säumten das Bild und … „Die bourbonischen Lilien sind nur noch auf vier Familienwappen Frankreichs erhalten.“ erinnerte sie sich an die Worte einer früheren Geschichtslehrerin. Sie hatte sich darüber nie wirklich Gedanken gemacht, doch nun war ihr dieses Buch nun schon einmal in die Hände gefallen, da musste man doch einfach … „Cate? Bist du hier?“ Catherine fuhr herum, stellte das Buch zurück in das Regal und stellte sich an die andere Seite, als würde sie etwas suchen. „Ah, da bist du ja. Wir sind wieder da.“ „Lea. Hallo.“ „Habe ich dich erschreckt?“ „Nein, schon in Ordnung.“ „Was suchst du denn?“ „Nichts Bestimmtes. Mir ist nur aufgefallen, dass die Bücher, die hier stehen… hm…“ „Etwas Besonderes sind?“ beendete Lea den Satz. „Was ist das hier?“ fragte Catherine, nachdem sie ihr zugestimmt hatte. „Ein Zufluchtsort.“ „Zufluchtsort? Für wen? Wovor?“ Lea zuckte die Schultern. „Das musst du schon meine Großmutter fragen.“ „Deine Großmutter?“ „Elizabeth.“ Catherine starrte Lea an. „Sie ist die Mutter meiner Mutter.“ erklärte sie. Catherine nickte langsam. „Dann werde ich sie fragen.“ „Ja, tu’ das. Was machst du heute noch?“ „Ich weiß es nicht. Wieso?“ „Wir wollten uns einen Film ansehen. Falls du Lust hast…“ Catherine nickte. „In Ordnung.“ „Cool!“ Lea grinste und ging dann wieder aus der Bibliothek. Catherine folgte ihr und bemerkte, dass manche Mädchen direkt nach dem Ausflug wieder in die Bibliothek gekommen waren, um zu lesen. Lasen sie etwa diese Art von Büchern? Catherine schüttelte den Kopf. Jetzt wollte sie tatsächlich Erklärungen für das alles. ‚Le Lion jeune le vieux surmontera en champ bellique par singulier…’ Jetzt redete die Stimme auch noch Französisch! Catherine zog die Augenbrauen zusammen und ging aus der Bibliothek. Lange machte sie das nicht mehr mit! Catherine erinnerte sich an die Bücher, die sie einmal zufällig in der heimischen Bibliothek gefunden hatte – die verbotenen Bücher, da sie sich mit Magie und Zauberei befassten. Darin hätte sie vielleicht irgendeinen Spruch gefunden, die Stimme in sich zum Schweigen zu bringen. ‚Zufallsglaube ist für die, die zu schwach für den Schicksalsglauben sind.’ Dann schwieg die Stimme wieder. Catherine massierte sich kurz ihre Schläfen - sie hatte Kopfschmerzen, atmete tief durch und klopfte dann an Elizabeth’ Bürotür. „Herein!“ Sie öffnete die Tür und erblickte Elizabeth hinter ihrem Schreibtisch. „Wie war der Ausflug?“ „Sehr schön. Das Wetter hat gehalten.“ Catherine nickte und Elizabeth erzählte vom Ausflug. Glaubte Elizabeth wirklich, dass sie deshalb hierher gekommen war. „Ich habe Fragen.“ meinte Catherine unvermittelt. „Ich weiß nicht, ob ich Antworten habe.“ entgegnete Elizabeth, nahm ihre Brille ab und wies auf die Sofagruppe, auf der beide schon am Tag ihrer Ankunft gesessen hatten. Elizabeth schenkte Tee ein und stellte Gebäck auf den Tisch, während Catherine von ihrem Traum und der Stimme zu erzählen begann. Kapitel 13: Verbündete ---------------------- Verbündete Elizabeth hörte ruhig zu, bis Catherine ihre Ausführungen beendet hatte. Sie sammelte sich noch eine Weile und meinte dann: „Es hat begonnen.“ „Was?“ „Der Schneesturm… Ihr Blut in den Flammen… Der Angriff in Paris… Der Angriff hier… Es hat begonnen, doch es ist nicht, wie es sein sollte.“ „Könnten Sie bitte aufhören, in Rätseln zu sprechen?“ „Ich kann Ihnen darüber kaum etwas sagen, aber…“ „Wer kann mir dann darüber Auskunft geben?“ fragte Catherine forsch. Elizabeth zuckte die Schultern, worauf Catherine seufzte. „Gut, dann sagen Sie mir, was Sie wissen.“ „Nach allem, was ich bisher Vergleichbares gelesen habe, sollte die Stimme von ihnen Besitz ergriffen haben. Sie sollten sie nicht nur hören.“ „Wem gehört die Stimme?“ „Wahrscheinlich einer Hexe.“ „Was will sie?“ „Ich weiß es nicht.“ Catherine nickte. „Sie müssten…“ „Nein, ich weiß überhaupt nichts. Ich weiß nur von einer Aufgabe, die ich erfüllen soll. Mehr nicht.“ „Sie erinnern sich nicht mehr genau an den Traum, nicht wahr?“ „Nein, ich kann mich nicht mehr an jedes Wort erinnern. Ich weiß, dass ich mich gefühlt hatte, als stünde ich selbst da oben im Feuer. Und es wurden Worte gerufen, aber die…“ Catherine versuchte, sich zu erinnern, doch schüttelte dann den Kopf. „Nein, ich kann es nicht.“ Elizabeth nickte. „Schade. Das könnte uns jetzt sicher weiterhelfen.“ Catherine lehnte sich zurück und entgegnete: „Dann muss ich wieder träumen, wenn die Stimme mir das nicht sagt.“ Elizabeth nickte. Catherine träumte nicht mehr – zumindest nicht diesen Traum, allerdings hörte sie die Stimme noch, durch deren kluge Sprüche weder sie noch Elizabeth eine Lösung in diesem großen Rätsel fanden. Am Anfang hatte sich Catherine so sehr auf die wirren Worte konzentriert, damit ihr auch wirklich nichts entging, irgendwann gab sie aber resignierend auf: Sie hörte nicht mehr genau zu, denn was brachte es schon? Keine weiteren Erkenntnisse, sondern nur ununterbrochene Kopfschmerzen und eine hohe Geräuschempfindlichkeit, sodass sie menschliche Gesellschaft mied, weshalb sie auch mit Lea und ihren Freundinnen kaum etwas unternahm. Sie beließ es bei langen Spaziergängen durch die kleine Stadt und saß allein in der Bibliothek. Und schließlich verstummte die Stimme wieder und war aus Catherines Kopf verschwunden. Eine Neuigkeit erfuhr sie: Thirlestane Castle war ein Zufluchtsort für die Kinder von magisch befähigten Leuten. Leas Mutter war Hexe – genau wie deren Mutter Elizabeth. Die meisten der Mädchen waren Halbwaisen und lernten unter dem Deckmantel einer sozialen Einrichtung, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren. Auch Catherine las viel und bildete sich, machte Konzentrationsübungen und trainierte wieder, was ihr gut tat. Das Klingeln ihres Handys ignorierte sie und bald riefen ihre Freundinnen und Freunde nicht mehr an. Sie konnte nicht antworten und erklären, wo sie war und was sie tat. Vielleicht dachten sie, dass ihr etwas passiert war, dass sie verschollen war. Vielleicht sogar tot. Catherine wusste, dass es nicht anders ging. Irgendwann würden sie vergessen, nach ihr zu fragen. Und irgendwann würden ihre Freunde auch vergessen, dass es sie – Catherine – gegeben hatte, denn das Leben ging weiter. Nur in der Universität hatte sie sich gemeldet und sich aus familiären Gründen auf unbefristete Zeit von den Lehrveranstaltungen abgemeldet. Elizabeth hatte darauf bestanden, da sie nicht so einfach verschwinden konnte und da sie vielleicht doch einmal nach Paris zurückkehren würde. Catherine schlug mehrmals seitlich gegen die mit Leder bespannte Stange und setzte einige Fußtritte nach. „Tut dir das nicht weh?“ „Wenn ich mich nicht konzentriere schon.“ antwortete Catherine Lea und drehte sich um. „Freust du dich auf Imbolc?“ Catherine gab ein undefinierbares Geräusch von sich und zog ihre schwarzen Handgelenkschoner aus. „Ich habe noch nie Imbolc gefeiert.“ „Es ist schön. Wir schmücken das Haus und essen gut… Und du bekommst deinen Namen.“ „Meinen Namen?“ „Deinen Hexennamen. Du willst doch dazugehören, oder nicht?“ Catherine reagierte nicht auf die Frage, sondern meinte: „Hast du denn einen Namen?“ „Ich habe einen, ja, aber das Ritual meiner Namensgebung ist noch nicht vollzogen.“ „Wieso nicht?“ „Dazu bin ich noch zu jung. Das geschieht offiziell erst, wenn ich zwanzig werde. Du bist ja schon zwanzig.“ Lea sah sich die Waffen an und fragte: „Woher hast du die?“ „Die habe ich mir hier besorgt. Meine gewohnten sind leider in Paris. Diese hier liegen nicht so gut in der Hand… Wie lautet dein Name?“ „Nyah. Das ist gälisch und bedeutet ‚heller Schein’.“ „Das ist schön.“ „So sind sie – unsere Namen. Wie lautet dein Name?“ „Ich habe noch keinen.“ entgegnete Catherine und schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht, dass ich jemals hierhin gehören werde, Lea. Das ist alles fremd für mich. Und Elizabeth…“ „..wollte dich sehen. Deshalb bin ich überhaupt hier. Wahrscheinlich will sie mit dir über deinen Namen und Imbolc sprechen. Es wird ja höchste Zeit dafür.“ unterbrach Lea sie und ging schon voraus wieder nach oben. Catherine folgte ihr und klopfte an die Tür zum Büro. Als sie die Tür öffnete, erblickte sie Salieri, der sich angeregt mit Elizabeth unterhielt. „Catherine, setzen Sie sich!“ meinte Elizabeth und Catherine setzte sich. Salieri nickte ihr nur kurz zu, dann richtete er das Wort an sie: „Sie sind nun seit mehreren Wochen hier und machen hoffentlich Fortschritte, was ihre Fähigkeiten angeht. Ich hörte, Sie können inzwischen mit ihren Gedanken die Form von Wasser kontrollieren? Gefrieren und wieder schmelzen lassen?“ Catherine nickte kurz. „Das ist gut, doch das reicht bei weitem nicht aus.“ „Weshalb sind Sie hier?“ „Die Bruderschaft hat die Villa ihrer Familie verwüstet und sucht nach Ihnen. Ich weiß nicht genau, was sie von Ihnen will, doch Sie sind wichtig für ihre Pläne.“ „Welche Pläne?“ „Imbolc.“ „Daniele meinte, es erstehe eine alte Macht an Imbolc auf. Ist da nun wirklich etwas dran?“ Salieri zögerte einen Augenblick, dann entgegnete er: „Ich habe nichts Genaues darüber. Elizabeth…“ Elizabeth schüttelte den Kopf. „Wir haben Schwingungen und außergewöhnliche Ereignisse festgestellt, doch aus ihnen können wir uns nicht viel ableiten.“ Catherine fragte sich langsam, was die beiden überhaupt wussten, doch sagte nichts. „Wir wissen nur eines: es muss etwas mit Ihnen zu tun haben.“ fuhr Salieri fort. „Mehr nicht?“ „Nein, mehr nicht.“ Catherine nickte und sagte nichts darauf. Das war nicht gerade viel. Das Imbolc-Fest rückte näher und Catherine bemerkte, dass Elizabeth unruhig war, seit Salieri weitergereist war. Er wollte nach New Orleans und sehen, was er dort in Erfahrung bringen konnte. Elizabeth blieb selten noch in ihrem Büro, sondern spazierte durch die Gänge und die Umgebung. Nachts saß sie lange in der Bibliothek und wälzte dicke Bücher, in denen sie hoffte, die Antworten zu finden, die sie Catherine nicht geben konnte. „In diesem Buch habe ich nichts gefunden.“ meinte Catherine und lehnte sich an den Türrahmen an. Elizabeth blickte auf und schlug das Buch zu. „Sie schlafen noch nicht?“ „Nein.“ gab Catherine die überflüssige Antwort und setzte sich gegenüber von Elizabeth in die leere Bibliothek. Catherine blickte umher und entdeckte eine Lücke in der sich anschließenden Bücherreihe. „Haben Sie die Familienchronik weggenommen?“ „Welche Familienchronik?“ fragte Elizabeth. „Meine… Also, die meiner Familie.“ „Nein, Salieri hat sie mitgenommen.“ „Haben Sie vorher einen Blick hineingeworfen?“ Elizabeth nickte, doch meinte auch, dass sie das nicht weitergebracht hatte. „Ja, mich auch nicht.“ gab Catherine zu. „Ich kann mir nur einen Reim auf die Sache machen.“ „Und welchen?“ „Jemand wollte alles auslöschen, das uns auf die richtige Spur geführt hätte.“ „Die richtige Spur… das ist ja ganz schön, aber wir wissen nicht einmal, nach was wir suchen müssen.“ überlegte Catherine und Elizabeth nickte. Sie hing ihren Gedanken nach. „Welchen Sinn hat das überhaupt noch?“ „Was meinen Sie?“ „Ich könnte gehen. Wenn das alles mit mir zu tun hat, was ich durchaus nicht gerade einleuchtend finde…“ „Sie wollen mir doch nicht mit normal-bürgerlicher Logik kommen. Darüber müssten Sie seit ihrer Kindheit hinweg sein!“ Elizabeth lächelte flüchtig, als Catherine nickte. „Natürlich. Gehen wir also davon aus, dass es wirklich mit mir zu tun hat, dann bringe ich Sie und die Mädchen nur in Gefahr. Und dann sollte ich gehen.“ Elizabeth winkte ab. „Wir sind Gefahr gewohnt. Sie gehört zu unserem Leben. Viele Leute denken, dass es Hexen nicht mehr gibt, und liegen damit falsch. Noch mehr denken, dass es Hexenverfolgungen nicht mehr gibt und liegen damit noch mehr daneben, als Sie annehmen würden. Wir müssen vorsichtig sein und das ist es, was ich versuche, meinen Mädchen beizubringen. Es laufen viele Irre auf der Straße herum. Wenn ich mich nicht täusche, haben Sie das auch schon feststellen können.“ Catherine nickte. Sie hatte tatsächlich eine Begegnung mit einem Irren gehabt. „Viele dieser selbsternannten Jäger greifen sogar mit Atamen an – mit unseren Ritualmessern. Das ist beinahe… Nein, es ist eine unglaubliche Beleidigung und eine Befleckung unserer heiligen Kulte.“ Das war es also gewesen. Der Dolch war eine Atame „Catherine, Sie werden nicht gehen.“ „Wie?“ „Zu Imbolc erwarten wir viele Freunde. Verbündete sozusagen. Bis dahin werde ich Sie schützen. Und dann sehen wir weiter.“ __________________________________________________________________ Hallo! Ich hoffe, es hat euch gefallen. Das nächste Kapitel muss etwas auf sich warten lassen, da ich ab morgen im Urlaub bin. Bis dahin: Liebe Grüße. Elena. Kapitel 14: Vorbereitungen für Imbolc ------------------------------------- Vorbereitungen für Imbolc Elizabeth erwartete also Gäste zum Imbolc-Fest, was Catherine das rege Treiben erklärte. Die Mädchen bastelten und flochten Kränze, verteilten Kerzen im Haus und fertigten Girlanden aus Zweigen, Blättern und den ersten Blüten. „Was genau wird eigentlich an Imbolc gefeiert?“ fragte Catherine, worauf Lea sie einen Moment verständnislos anblickte. „Du warst stundenlang in der Bibliothek und hast dich nicht einmal über unsere grundlegenden Bräuche informiert?“ „Wozu? Dafür habe ich doch dich.“ entgegnete Catherine und Lea nickte versöhnlich. „Wir feiern die Erholung der Göttin von der Geburt des Gottes. Die Tage werden wieder länger, da ihre Kräfte zurückkehren…“ Catherine nickte. „Es ist ein keltisches Fest, nicht wahr?“ „Ja, wieso?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Die Hexen haben sich die keltischen Bräuche bewahrt, die vor der Christianisierung alle Menschen ausgeübt haben. Sie wandern noch auf dem alten Weg, wie meine Oma immer so schön sagt. Die Christen… sind nicht gerade sehr schlau. Viele verabscheuen unsere Bräuche und wundern sich nicht einmal, warum sie zu bestimmten Zeiten bestimmte Feste feiern. Ostern war früher Ostara. Weihnachten liegt auf der Wintersonnwende. An Imbolc feiern sie Lichtmess. Und das wissen sie nicht einmal.“ Lea klang nachdenklich. Catherine sagte nichts. „Hast du mit Elizabeth über deinen Namen gesprochen?“ fragte Lea nach einer kurzen Pause. „Nein. Ich habe mit ihr nicht einmal über das Ritual gesprochen… Du kannst mir darüber ja auch nichts sagen, da du es noch nicht hinter dich gebracht hast. Oder kennst du es trotzdem?“ Lea schüttelte den Kopf. „Das Ritual ist nach dem eigentlichen Fest. Da sind wir jungen nicht mehr dabei. Die Zeremonie wird in keinem Buch beschrieben – sie ist geheim. Hexen erfahren erst Näheres, wenn sie selbst ihren Namen offiziell bekommen.“ entgegnete Lea etwas missmutig und zog das Band um das eine Ende der Girlande zu. „Wer sind die Gäste, die kommen werden? Weißt du etwas über die?“ „Meine Mutter wird mit ihnen kommen.“ „Deine Mutter?“ Lea nickte. „Sie kann nicht bei mir sein, da sie viel arbeitet, aber…“ „Was arbeitet sie?“ „Irgendetwas mit Studien über paranormale Beobachtungen. Genau weiß ich das nicht.“ Catherine nickte. „Also wie gesagt: meine Mutter wird kommen und noch einige andere Hexen. Wir leben über die Erde verstreut, aber zu Imbolc kommen wir immer zusammen.“ „Ist das immer hier?“ „Ja, zumindest alle Hexen, die hier als Kinder waren, kommen an diesen Ort zurück. Es ist ein magischer Ort. Hier fließen unglaublich viele Energien. Ich glaube, hier ist vor langer Zeit etwas geschehen.“ „Glaubst du das, oder weißt du das?“ „Ich glaube es. Und ich habe etwas in die Richtung gelesen. Ein starker Einfluss und starke übernatürliche Kräfte… manchmal kann ich sie sogar spüren, glaube ich.“ Catherine hatte genug gesehen, um das nicht unheimlich zu finden, doch sie wusste nicht genau, wie es bei Lea aussah, wenn sie etwas spürte. Hatte sie Visionen? Oder Ahnungen? Träume? „Na, Elizabeth sagt, meine Sinne seien noch nicht so ausgeprägt, aber ich habe das Gefühl, dass sie mir trotzdem glaubt.“ Catherine nickte. „Warum auch nicht? Vielleicht spürt sie es ja selbst auch.“ Jessy kam herein und legte mehrere Blätter vor die beiden hin. „Verdammt… Jetzt habe ich die Erikablüten vergessen!“ meinte sie mehr zu sich als zu Catherine und Lea und wollte wieder aus dem Zimmer. „Nein, bleib hier! Ich geh schon!“ bot Catherine an und verließ den Raum. Sie musste sich nicht beeilen, denn die beiden konnten auch mit etwas anderem weitermachen, das wusste Catherine. Langsam streifte sie durch den Park und zog das kleine Messer aus ihrer Tasche, als sie beim Beet mit den Erikapflanzen ankam. In regelmäßigen Abständen trennte sie mehrere Halme ab, bis sie einen mittelgroßen Strauß in der linken Hand hielt und klappte das Messer wieder zu. Catherine wollte sich gerade auf den Rückweg machen, als sie in der Ferne unter einer noch kahlen Baumgruppe mehrere Steinblöcke erblickte. Neugierig näherte sie sich und blickte zurück zum Schloss. Die Fenster ihrer Zimmer konnte sie sehen, doch warum waren ihr diese großen Steine nie aufgefallen? Vielleicht hatte sie sie wegen des Schnees nicht gesehen, aber vor zwei Wochen hatte der doch begonnen zu schmelzen. Kopfschüttelnd ging sie weiter und blieb bei den ersten Bäumen stehen. Ihre Finger fuhren den nassen Baumstamm entlang. Catherine ging vorsichtig weiter. Der Boden war aufgeweicht und rutschig. Der Nebel hing schwer und tief. Kälte und Nässe krochen langsam an Catherine hoch. Das waren Grabmäler – alte, gälische Grabsteine. Catherine blieb stehen und blickte sich um. Sie reihten sich aneinander – krumm und verwittert, immer wieder unterbrochen von Bäumen und Sträuchern. Plötzlich erblickte Catherine zwischen den Bäumen, Steinen und dem Nebel eine Gestalt. Catherine stieß einen erschreckten Schrei aus und wich einige Schritte zurück. Die Frauengestalt hielt ihren Blick gesenkt. Sie lehnte an einem keltischen Kreuz aus Stein und grub ihre Finger seitlich in das Monument. Ihr Atem ging schwer. Catherine konnte ihn hören. Nein, nicht hören – in sich spüren. Das rote Haar der Frau wehte im Wind und plötzlich blickte sie auf. Catherine sah in ihr eigenes Gesicht. „Cate! Wo bleibst du? Ist etwas passiert?“ Lea kam auf das Rasenstück und blieb stehen. „Nein, es ist alles in Ordnung!“ rief Catherine zurück und wandte den Blick wieder dem Grabstein zu. Die Frau… Das Abbild einer Frau war verschwunden. Dort hatte sie gestanden. Sie hatte sich nicht getäuscht. Oder? Es war neblig und man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Es war durchaus auch möglich, dass sie sich getäuscht hatte. Catherine erreichte das steinerne Kreuz und betrachtete es. Ein normales keltisches Kreuz mit den Knotenmustern. „Cate! Komm jetzt!“ „Ja!“ Catherine ging ein paar Schritte auf Lea zu und wandte sich noch einmal um, doch sie war tatsächlich verschwunden. Catherine stellte mit Lea noch die restlichen die Kerzen auf. Lea redete und Catherine nickte. „Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken?“ „Bei den Gräbern.“ „Dieser unheimliche Ort hat bisher alle eine gewisse Zeit lang fasziniert. Das gibt sich meistens schnell wieder.“ „Seit wann lebst du hier?“ „Seit meinem siebten Lebensjahr.“ „Und dein Vater?“ „Mein Vater ist viel unterwegs und auch ganz froh, dass seine abnormale Tochter nicht bei ihm ist.“ „Ist das so?“ Lea zuckte die Schultern. „Mein Vater ist okay. Ja, doch. Das ist er. Allerdings kann ich nicht ständig um ihn sein.“ „Wieso nicht?“ „Ich ertrage seinen Blick nicht. Ich bereite ihm Schmerzen, wenn ich da bin.“ Catherine sah Lea an. „Er denkt dann immer an Mama. Sie hat ihn verlassen. Und er gibt der Magie die Schuld daran.“ Lea seufzte. „Ja, es ist nie leicht.“ Am nächsten Morgen fuhren mehrere Wagen vor, aus denen nur Frauen ausstiegen. Catherine wartete mit Elizabeth in deren Büro und blickte aus dem Fenster. „Sind das alles Hexen?“ „Ja.“ meinte Elizabeth schlicht. „Ich werde sie Ihnen nur mit ihren wahren Namen vorstellen, da wir uns während Imbolc nur mit diesen ansprechen. Und ich bin übrigens Saerlaith.“ fügte Elizabeth hinzu und wartete, bis einige der Frauen eintraten. Sie begrüßte sie und wurde begrüßt. Dann stellte Elizabeth die Frauen Catherine vor. Elatha, Keena und Blaithin. Catherine nickte ihnen zu und sie nickten etwas reserviert zurück. „Saerlaith, wer ist sie?“ „Sie ist… wird eine von uns sein.“ „Sie hat noch keinen Namen? Saerlaith, was soll das Kind ohne Namen?“ „Du hättest ihr einen geben müssen, wenn sie schon keinen hat.“ Catherine fühlte sich nicht, als sei sie anwesend und meinte deshalb: „Ich habe einen Namen. Catherine.“ Die Hexen lächelten gezwungen, doch dann nickten sie. „Der wird es tun – bis heute Abend.“ meinte Elatha und Elizabeth ergriff wieder das Wort: „Was gibt es Neues von der Bruderschaft?“ Elatha blickte Catherine fragend an, doch sie schüttelte den Kopf. „Wir hatten seit einiger Zeit keinen Kontakt zu Marius.“ „Wer ist Marius?“ fragte Catherine, doch Elizabeth antwortete nicht. „Blaithin, was hast du erfahren?“ fragte sie stattdessen. „Wir müssen vorsichtig sein. Am besten, wir halten die Mädchen dazu an, drinnen zu bleiben. Etwas Konkretes habe ich zwar nicht, aber…“ „In Ordnung.“ Elizabeth nickte. „Sie bleiben drinnen. Catherine, sagen Sie es ihnen bitte!“ Catherine nickte und verließ das Büro. Den Rest des Tages verbrachte auch Catherine drinnen, obwohl es sie nach draußen zog. Sie wollte noch einmal zu den Gräbern, sobald nicht alle paar Minuten jemand etwas von ihr wollte, doch daraus wurde nichts. Es dämmerte bereits, als sie sich in ihr Zimmer zurückzog, um ihre Robe anzulegen. Sie betrachtete sich noch kurz im Spiegel: das lange Gewand besaß nur an den Säumen und am Ausschnitt eine orangefarbene Bordüre und einen orangefarbenen Gürtel, ansonsten war der Stoff weiß und fließend. Weiß und Orange waren die Farben von Imbolc. Sobald die Nacht ganz hereingebrochen war, würde das Fest beginnen. Kapitel 15: Das Lichterfest --------------------------- Das Lichterfest Catherine versammelte sich mit den anderen um den Altar, der mit einem großen hölzernen Rad, Blumen, Kerzen und Girlanden geschmückt war. Elizabeth bereitete mit Elatha das Opfer vor, indem sie verschiedene Kräuter in flache Tonschalen legten und diese nacheinander und zwischen verschiedenen ritualisierten Worten entzündeten. Catherine stand nahe bei ihnen und bald erfüllte der Duft von Weihrauch, Zimt, Myrrhe und Rosmarin ihre Lungen. Die schwere Luft breitete sich langsam aus und gelangte auch zu den jüngeren, die in einem größeren Halbkreis um den Altar standen. Neben Catherine standen nur noch Blaithin und Keena, die nach einer Weile hervortraten und eine Schale Milch und ein Brett mit Käse und Brot auf dem Altar abstellten. Diese Speisen standen stellvertretend für das, was die Versammelten bald essen würden und waren der Anteil für die Göttin. Elatha stellte sich neben Catherine und blickte sie prüfend an, während Elizabeth die abschließenden Worte aussprach. Catherine bemerkte es nicht, sondern hörte zu. Dann gingen sie gemeinsam in den Speisesaal und begannen mit dem Festessen. Plötzlich erhob sich Elizabeth und eilte nach draußen. „Was ist?“ fragte Catherine, doch Elatha erhob sie ebenfalls nur. Catherine warf Lea einen fragenden Blick zu, doch diese konnte ebenfalls keine Antwort geben und zuckte nur die Schultern. Elizabeth und Elatha kamen lange nicht zurück und das Festessen löste sich allmählich in kleine Grüppchen auf. Catherine setzte sich zu Lea und ihren Freundinnen und unterhielt sich fröhlich mit ihnen. Jessy und Sandy wurden müde und auch Lea gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Das gibt es nicht! Warum bin ich so müde? Ich habe heute extra ausgeschlafen!“ meinte Lilly und blickte auf ihre Uhr. „Es ist noch vor Mitternacht!“ rief sie ungläubig. Catherine nickte. „Was geschieht jetzt noch außer diesem Namensritual?“ fragte sie. „Nichts weiter.“ entgegnete sie, worauf Sandy nickte und auch Jessy sich anschloss. „Und wir dürfen nie dabei sein, obwohl wir jedes Jahr betteln.“ fügte Jessy hinzu. „Ja, so ist das eben.“ Elatha war hinter die Mädchen getreten und schickte sie in ihre Zimmer. Catherine sah, dass auch die anderen jüngeren nach oben geschickt wurden. Etwas misstrauisch erhob sie sich ebenfalls und blieb bei Elatha stehen. Lea streckte die Hand nach ihrem Glas aus, um es leer zu trinken und dann ebenfalls zu gehen. Elatha blickte Leas Freundinnen hinterher und meinte: „Du bleibst heute.“ Lea blickte ihrer Mutter hinterher und blickte dann zu Catherine. „Was… Hat sie das gerade wirklich gesagt?“ „Zumindest habe ich es auch gehört.“ „Cool! Ich darf bleiben!“ Lea lachte und sagte ihren Freundinnen Bescheid, die daraufhin etwas gekränkt auf ihre Zimmer gingen. Nachdem der Saal geräumt war, kamen mehrere Frauen hinzu, die Catherine noch nie gesehen hatte. „Wir sind sehr froh, dass ihr gekommen seid.“ hörte sie Elizabeth noch sagen und kam dann auf Catherine zu. „Wir sind komplett.“ „Komplett?“ Catherine blickte etwas unschlüssig in die Runde, worauf Elatha sie an der Hand ergriff und sie in die Mitte des Raumes führte. Catherine sah den Altar, auf dem noch immer die Speisen lagen. Elizabeth nickte ihnen zu und entzündete dann noch zwei rote Kerzen auf dem Altar. Die anderen Hexen stellten sich in einem Kreis um sie herum und fassten sich an den Händen. Ein leises Murmeln erfüllte den Raum. Ein Murmeln, das Catherine unmöglich verstehen konnte. „Was ist das?“ „Gälisch. Und jetzt seien Sie still.“ gab Elatha zurück, blickte kurz zur Tür, legte dann Catherine einen Blumenkranz auf den Kopf und verflocht ihn mit einigen Haarstränen. „Bleiben Sie ruhig.“ Catherine folgte ihren Anweisungen. Sie hatte keine Angst. Elizabeth reichte ihr einen Becher mit einer Kräutermixtur und Catherine trank. Während sie die bittere Flüssigkeit zu sich nahm, begannen die Hexen, ihre Namen zu sagen. Elizabeth begann: Saerlaith. Elatha. Keena. Blaithin. Aedammair. Maeve. Isleen. Temair. Ailis. Daron. Cessair. Ahvair. Eibhilin. Bevin. Brenda. Cahan. Padraigin. Brid. Ceara. Lea zögerte einen Moment und sagte dann: „Nyah.“ Celach. Mairéad. Rori. Moina. Saraid. Dann begannen sie erneut, im Kreis ihre Namen zu sagen. Der Kräutertrank wirkte allmählich. Catherines Blick wurde schwerer und es fiel ihr zusehend schwer, ihre Umgebung und das Geschehen in ihr einzuordnen. Ihre Beine gaben langsam nach. Elizabeth und Elatha geleiteten ihren Körper auf den Boden und nahmen ihre spitzen Dolche in die Hand. Die Namen liefen immer noch durch die Reihe - nur Elizabeth und Elatha sprachen andere Worte: „Das Rad des Schicksals ist in mächtiger Hand. Folge deiner Spur - sie verläuft im Sand. Das Rad des Schicksals bleibt nicht stehen. Durchbrich’ den Zirkel des Geschehens! Das Rad des Schicksals ist in mächtiger Hand. Folge deiner Spur - sie verläuft im Sand. Das Rad des Schicksals bleibt nicht stehen. Durchbrich’ den Zirkel des Geschehens!“ Unter ständiger Wiederholung der Worte ritzen sie langsam und vorsichtig Catherines Handgelenke an der Seite an und fingen das Blut in kleinen Schalen auf. Lea musste wegsehen. Das hatte sie nicht gewusst. Sie hatte nicht gewusst, dass das geschehen würde. Hatte es Catherine gewusst? Catherine fühlte, dass sie ihrer Sinne nicht mächtig war. Vor ihren Augen erschienen Gesichter, in ihrem Kopf tönten Stimmen und Geräusche, in ihrem Herzen verspürte sie Gefühle. Sie erkannte die Gesichter nicht. Sie wechselten zu schnell. Sie konnte sie nicht einordnen. Viele der Geräusche kannte sie, doch benennen konnte sie diese ebenfalls kaum. Und die Gefühle… sie kannte sie, doch sie gehörten ihr nicht. Wut und Hass. Verzweiflung und Enttäuschung. Doch! Sie gehörten ihr. So hatte sie sich gefühlt, als Lucien sie verraten hatte. Als er sie im Stich gelassen hatte! Als er sie… Ihr Atem ging schwer. Wut. Verzweiflung. Wie hatte sie im je Vertrauen schenken können? ‚Du, die du dies hörst, bist noch am Leben, aber ich bin schon im Reich der Unsichtbaren. Ein Bleigewicht lastet auf mir, ein Gefühl wie das Ersticken in Macht. Nichts hält es zurück, bis die Aufgabe vollbracht’ Catherine zuckte zusammen und wieder ertönte die wohlbekannte Stimme. ‚Hilf mir! Vollende, was ich nicht konnte! Tu’ es!’ Catherines Gedanken wirbelten herum. Was tun? Warum? Wie? ‚Sie haben mich verraten. Er hat mich verraten. Sie haben dich verraten. Er hat dich verraten.’ Wer? Wer? ‚Wir sind eins. Wir waren es immer. Du bist ich und ich bin du. Aneinander gebunden bis in alle Ewigkeit. Aneinander gebunden bis die Prophezeiung wahr werden wird...’ Welche Prophezeiung? Sprich! Ein lautes Geräusch drang zu Catherine durch und sie verstand die folgenden Worte nicht. Wer bin ich? Was soll ich? Sprich! Sprich mit mir! Catherine hatte das Gefühl, sich verzweifelt suchend umzuwenden, in jede mögliche Richtung zu blicken, doch sie bewegte sich nicht. Sie konnte es nicht. Das alles fand nur in ihren Gedanken statt. In ihren Gedanken und Gefühlen. ‚Du bist…’ Plötzlich fühlte sich Feuer in sich, das sie ausfüllte und jede Furcht, die sie in den letzten Jahren jemals gelähmt hatte, verbrannte. Elizabeth sah, dass Catherine bald ihren Namen erhalten würde, doch sie konnte ihr nicht helfen. Sie rief ihren Hexen etwas zu, doch auch sie hatten mit ihren Gegner alle Hände voll zu tun. Sie mussten weiterhin kämpfen. Sie mussten Catherine schützen, die sich im Moment nicht selbst schützen konnte. „Elatha! Nimm’ diese Seite!“ Rufe, Schreie und Befehle. Verteidigung durch bloßen Körpereinsatz oder mithilfe der beherrschten Elemente. Waffen. Was glaubte die Bruderschaft? Dass man sie in ihrem eigenen Hauptquartier so einfach besiegen konnte? Nicht nur die Hexen hatten sie erwartet, sondern auch Vampire. Marius. Louis… Elizabeth wurde von drei Männern attackiert und wich für einen Moment von Catherines Seite. Lucien nutzte den Moment und kniete sich zu seiner Schwester hinunter. Sanft strich er ihr über die Stirn. Sein Blick fiel auf die Schalen mit Blut, die noch auf dem Boden standen. ‚Du musst angreifen, bevor ihr Blut den Altar befleckt. Nur dann kannst du sie retten. Nur, wenn du sie tötest. Nur dann, Lucien!’ So hatte es Jacques gesagt. Er nickte bei sich und zog den Dolch aus seiner Jacke. Er musste seinen Auftrag ausführen. Wenn er es nicht tat, würde ein anderer… Plötzlich schrie Catherine auf und begann, um sich zu schlagen. Sie trat, biss und kratzte, doch sie war nicht bei Bewusstsein. Lucien wich zurück und konnte sich nur mit der größten Mühe gegen ihre Raserei und ihre besinnungslose Wut verteidigen. „Was..? Catherine! Catherine!“ Der Vampir in einem eleganten Anzug entledigte sich seines Gegners und fuhr mit seiner Zungenspitze zum Mundwinkel, an dem noch ein Tropfen Blut hing. „Unmöglich diese Anfänger!“ meinte er zähneknirschend und blickte sich nach einem weiteren Gegner um. Er erblickte Catherine, die sich von ihrem Bruder befreite und auf diesen einstach. Das Blut gefror ihm in den Adern. Sie war von Sinnen. Elizabeth starrte einen Moment Catherine nur mit geweiteten Augen an. Ihre schwarz umrandeten Augen waren geöffnet, doch ein leerer Ausdruck lag in ihnen und die Iris schimmerte in einem eiskalten Blau. Dann blickte Elizabeth zu ihm und rief: „Marius! Bring’ sie weg von hier! Schnell!“ Kapitel 16: Im Gewölbe der Vampire ---------------------------------- Im Gewölbe der Vampire Marius eilte zu Catherine, riss ihr den Dolch aus der Hand und packte sie. Sie war bei dem Ritual wirklich wahnsinnig geworden, schoss ihm durch den Kopf. Elizabeth hetzte nun ebenfalls zu ihr, doch sie beugte sich über Lucien und betrachtete dessen Verletzungen. „Bring’ sie weg!“ „Und wohin soll ich sie bitte bringen?!“ Louis blickte sich um und bemerkte, dass soweit alles in Ordnung war: die Hexen kamen zurecht. „Wir nehmen sie mit uns!“ rief er quer durch den Saal, worauf Marius vehement den Kopf schüttelte. „Sie ist... das geht nicht... Sie…“ „Fürchtest du dich etwa vor ihr?!“ „Nein, aber…“ „Du hast mir deine Hilfe zugesichert! Genau wie David mir seine Hilfe…!“ erinnerte Elizabeth ihn und er nickte. „Dir, aber nicht ihr! Und schon gar nicht ihm!“ Er wies verächtlich auf den Boden, wo Lucien in seinem Blut lag. Catherine machte sich in ihrer Raserei fast los und näherte sich wieder ein Stück ihrem Bruder. Marius festigte seinen Griff um sie und nickte Louis zu, der immer noch etwas abseits stand. Ohne ein weiteres Wort verließen die Vampire mit Catherine den Saal. Sie hatten Thirlestane Castle kaum verlassen, da beruhigte sich Catherine und ihre unerklärbare Wut legte sich. Stattdessen fiel sie in eine tiefe Ohnmacht. „Wenigstens etwas.“ Louis blickte zurück und sah, dass Catherine nun völlig kraftlos in Marius’ Armen hing. „Wir sollten uns trotzdem beeilen. Wer weiß, wann sie wieder… Beeilen wir uns einfach.“ entgegnete Louis und sie setzten ihren Weg durch die schützende Nacht fort, bis sie schließlich ein kleines, verlassenes Gut mitten in einer verlassenen Landschaft erreichten. „Hoffentlich hat David inzwischen herausgefunden, was vor sich geht.“ Marius folgte Louis die lange Treppe in die Kellerräume unter dem Gut hinunter und wartete auf eine Antwort. „Immerhin war er bei der Talamasca.“ fügte er deshalb hinzu. „Ja, und da wäre er heute wahrscheinlich noch, wenn Lestat ihn nicht zum Vampir gemacht hätte.“ Marius zuckte die Schultern und Louis sagte nichts mehr. Immer weiter führte die Treppe sie nach unten und schließlich vor eine schwere Holztür, die Louis schwungvoll aufstieß und eintrat. Im dahinter liegenden Raum standen mehrere alte Möbel, die die Vampire aus dem Gut heruntergeschafft hatten, und viele entzündete Kerzen. „Wieso hausen wir eigentlich in diesem Dreck? Verdammt!“ fluchte Marius leise, als er mit dem Fuß gegen einen leeren Eimer stieß, als er Catherine auf dem Tisch ablegen wollte. „Wir sind immerhin…“ begann Daniel, ein weiterer Vampir. Marius hob die Hand. „Das war… rhetorisch.“ „Leg’ sie hierhin.“ „Was denkst du, was ich hier gerade mache.“ „Gegen den Eimer stoßen und Krach machen.“ Marius gab nur ein undefinierbares Geräusch von sich und Louis zog die Augenbrauen hoch. „Habt ihr von ihr getrunken? Seid ihr den wahnsinnig? Ihr Blut kann euch… Geht es euch gut?“ „David! Wir haben nicht von ihr getrunken. Das waren die Hexen.“ „Die Hexen haben von ihr getrunk…“ „Nein! Die Hexen haben ihre Handgelenke für dieses barbarische Ritual aufgeschnitten!“ rief Marius ungeduldig. „Das sieht man doch … da sind ja überhaupt keine Bissspuren.“ fügte er hinzu und strich mit den Fingern über die Wunde und gab so den Blick auf den feinen Schnitt frei. „Ah. Ja… jetzt…“ Louis fragte sich wieder einmal, warum er mit diesen beiden hier war. Diese Gestalten – Marius und David – waren manchmal wirklich zu… unglaublich. Er lachte leise. „Was ist?“ fragte Marius und überließ Catherine nun vollständig David, der die Wunden reinigte und dann verband. „Das barbarische Ritual… Und das aus deinem Mund…“ „Und das ist komisch?“ „Ja, es wäre aus unser aller Münder zu komisch!“ entgegnete Louis. Marius schnaubte verächtlich und reagierte nicht mehr. Mit Louis konnte man über so etwas nicht vernünftig reden. Louis verließ wenig später die Kellergewölbe und ließ die anderen allein. David war noch immer abwechselnd über Catherine und seine Manuskripte gebeugt, während Marius das Ganze von einem Stuhl aus beobachtete. Daniel verließ den Keller ebenfalls, da er nichts tun konnte. „Hast du irgendeine Ahnung, was hier vor sich geht?“ brach Marius schließlich das Schweigen. „Ich war Jahre lang bei der Talamasca und habe so viele Dinge gesehen. Abgesehen davon, was ich mit euch – dir und Louis und Lestat – mitmachen musste… durfte...“ „Gut, also?“ „Ich habe wirklich nur eine Ahnung. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es könnte sein, dass ein Geist versucht, von ihr Besitz zu ergreifen. So etwas in der Art meinte ja auch schon Saerlaith.“ Marius nickte. „Weißt du schon mehr?“ „Ich bin nicht sehr von dieser Geister-Theorie überzeugt.“ Marius drehte sich um und erblickte Lestat, der lässig am Türrahmen lehnte. „Wir haben auf dich gewartet. Wolltest du nicht mit uns nach Thirlestane Castle kommen?“ meinte er scharf. „Kurzfristige Terminänderung.“ grinste Lestat und näherte sich langsam dem Tisch, auf dem Catherine immer noch bewusstlos lag. „Es wird wirklich Zeit, dass du dein Rockstar-Verhalten ablegst…“ Lestat lachte und drehte sich zu Marius um. „Gab es Probleme, weil ich nicht dabei war? Hattet ihr Schwierigkeiten ohne mich?“ „Nein, wahrscheinlich war es besser so…“ Lestat nickte zufrieden und wollte Catherine eine Haarsträne aus dem Gesicht streichen, doch David packte seine Hand. „Wag’ es nicht sie anzurühren!“ Für einen Moment blickte Lestat David an, dann wanderte sein Blick zu Marius, der seinem Blick standhielt. „Keine Sorge. Ich habe schon getrunken.“ entgegnete er nach einer kleinen Pause und verschwand im Nebenraum. David sah ihm nach. „Er könnte trotz allem Recht haben.“ „Womit?“ fragte Marius. „Es gibt noch eine andere Möglichkeit… aber die ist sehr, sehr weit hergeholt…“ „Und die wäre?“ Marius war es langsam leid, immer nachfragen zu müssen. Konnte David nicht einfach einen seiner Vorträge halten, bei denen er für gewöhnlich alle Informationen in den Raum warf, die ihm zur Verfügung standen, ohne darauf zu achten, ob sie die Überlegungen zuträglich waren oder nicht? David zögerte noch einen Augenblick und meinte dann: „Es wäre möglich, dass sie erweckt werden soll.“ „Sie schläft nicht, sie ist ohnmächtig.“ David reagierte nicht, sondern fuhr fort: „Nach allem, was wir wissen, liegen ihre Wurzeln in Schottland in einer Familie, deren Mitglieder des Öfteren Magie ausgeübt haben…“ „Mehr oder weniger erfolgreich und verdeckt…“ „Richtig. Es wäre möglich, dass eine Seele irgendeines Familienmitgliedes in ihr ist und… wie drücke ich das aus… nun ausbrechen will.“ Marius zog die Augenbrauen zusammen, dann meinte er: „Wie soll das gehen?“ „Ich habe nur ein paar Mal darüber gelesen. Danach bräuchte es viele kleine Schlüsselreize, die langsam aber sicher die alte Seele stärken und somit…“ „Moment! Was geschieht mit der neuen… also, ihrer jetzigen Seele.“ „Es ist wahrscheinlich, dass sie vernichtet wird.“ David ließ seinen Blick noch einmal über Catherine streifen und meinte dann: „Ich muss mit Saerlaith sprechen. Ist sie verletzt worden?“ „Nein… Was machen wir mit ihr?“ „Saerlaith meinte, der Angriff würde Catherine gelten. Das war richtig, nehme ich an. Sie …“ „Du willst, dass sie hier bleibt?“ „Vorerst.“ Marius schüttelte heftig den Kopf. „Ich verstehe nicht, warum du diesen Menschen hilfst. Was geht uns das Ganze an?“ „Mein Gefühl sagt mir, dass…“ „Dein Gefühl? Du hältst doch überhaupt nicht viel von Gefühlen. Du hast deine Bücher und deine Regeln…“ „Das galt vielleicht, als ich sterblich war! Nun ist das anders. Ich will lediglich sicher gehen, dass alles…“ Marius winkte ab. „Geht uns das etwas an?“ „Vielleicht. Vielleicht mehr, als ich mir im Augenblick selbst vorstellen kann. Die Talamasca tut nicht schlecht daran, solche Phänomene zu beobachten…“ „Ich weiß nur eines: die Talamasca hat uns Vampiren den Krieg erklärt…“ „… Weil wir Merrick, die nun einmal unter dem Schutz der Talamasca stand, zum Vampir gemacht haben.“ erinnerte David. „Wie auch immer. Wieso sollten wir ihnen jetzt helfen? Catherine gehört doch auch zu…“ „Sie gehört nicht zur Talamasca. Sie gehörte zu Bruderschaft. Und mit der hat sie gebrochen. Sie ist in Gefahr und…“ David sah an Marius’ Gesichtsausdruck, dass ihm das noch nicht ausreichend Argumente waren. „Marius, was willst du denn sonst tun? Wieder nur beobachten, was die Lebenden als nächstes anstellen? Es ist ja nicht so, dass du noch so viel zu tun hast und dir die Zeit davonläuft. Was macht es schon, wenn wir uns hier einige Tage aufhalten?“ fragte David und traf damit ins Schwarze. Zeit hatten sie wirklich genug. Und wenn er ehrlich war, hatte er auch sonst nichts Wichtiges vor. Nichts, das seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Nichts, das ihn beschäftigen konnte. Nichts, das ihm nach all den Jahren noch wirklich neu und interessant war. „In Ordnung, aber deinen Besuch bei Saerlaith solltest du bis zur nächsten Nacht verschieben.“ entgegnete Marius nur und zog sich ebenfalls in den Nebenraum zurück, in dem fünf Särge standen. Lestat lag in seinem, doch er las noch. „Was geschieht jetzt mit ihr?“ „Was interessiert dich das?“ „Ich dachte, du plädierst immer noch für Zusammenhalt?“ „Was du unter Zusammenhalt verstehst, habe ich früher in der Nacht gesehen.“ gab Marius zurück. Lestat drehte sich amüsiert zu ihm um und blickte ihn aus seinen rebellischen Augen an. „Du hast uns doch sowieso hören können.“ „Richtig.“ Lestat legte das Buch weg und schloss grinsend den Deckel seines Sargs. Er hörte noch, dass David mit Louis sprach und dieser bei Catherine wachen sollte, dann schlief er ein. Wo Daniel so lange steckte, wusste er nicht. Kapitel 17: Gastfreundschaft der Unsterblichen ---------------------------------------------- Gastfreundschaft der Unsterblichen Lestat erhob sich am nächsten Abend, sobald die Dunkelheit aufzog, und verließ das Nebenzimmer. Louis saß da und las in irgendwelchen Unterlagen, während er immer wieder auf den Tisch hinüber zu Catherine blickte. „Das Blöde daran, dass wir in den Highlands sind, ist die Tatsache, dass es hier kaum Menschen gibt.“ meinte Lestat und beugte sich über Catherine. „Davon rate ich dir auf das Dringlichste ab.“ entgegnete Louis ruhig, doch nicht weniger bestimmt. Lestat wandte den Kopf um. „Solange ich nicht weiß, warum diese Sterbliche alles auf den Kopf stellt, kannst du Gift darauf nehmen, dass ich meine Zähne nicht…“ „Gibt es Probleme?“ fragte Marius und trat ebenfalls in den Raum. „Nein, natürlich nicht!“ erwiderte Lestat und verließ das Gewölbe. „Er wird uns noch Probleme machen. Wollte er von ihr trinken?“ „Es scheint nicht so.“ antwortete Louis beiläufig. „Ich fürchte, ich muss mit ihm reden.“ Louis blickte auf und zog die Augenbrauen hoch. „Lestat war schon immer so, das müsstest du am Besten wissen.“ Marius nickte und betrachtete Catherine. „Warum kommt sie nicht zu Bewusstsein?“ fragte er, doch erwartete darauf keine Antwort, da sie Louis unmöglich haben konnte. „Kam Daniel noch zurück?“ Louis nickte und erhob sich. „Ich habe Durst. Ich bin gleich wieder da.“ „Was? Haben wir Ratten im Keller?“ Louis überhörte diesen Kommentar, legte die Unterlagen zurück zu Davids und verließ das Gewölbe. Lestat kehrte mitten in der Nacht zurück zum Unterschlupf und zog die Holztür hinter sich zu. Catherine lag noch immer dort, wo Marius sie abgelegt hatte. „Marius und David sind zu Saerlaith aufgebrochen. Louis ist noch nicht wieder da und ich will jetzt auch gehen. Bleib’ hier und lass die…“ „Zähne aus ihr.“ beendete Lestat genervt den Satz und blickte Daniel an, der gerade erst aufgestanden sein musste. „Wo warst du so lange?“ „Ich habe einiges für David besorgt.“ Lestat wartete zwar auf weitere Ausführungen, doch die bekam er nicht. „Ihr gefallt euch darin?“ „Worin?“ „In eurer Rolle, mir alles zu verheimlichen, was nur geht! Ich habe nicht einmal eine genaue Vorstellung davon, warum ich hier bin…“ „Na, das ist ja wohl eher dein Problem und nicht meines.“ unterbrach ihr Daniel. Lestat blickte den ehemaligen Journalisten nur an, dann drehte er sich auf den Absätzen um und hörte, dass Daniel den Keller verließ. Allmählich hörte Lestat dessen Schritte verklingen und verschränkte die Arme vor der Brust. Langsam trat er zum Tisch und betrachtete das Mädchen auf ihm. Einzelne Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und lagen auf ihrer Stirn. Ihre Augenlider zuckten manchmal unruhig, während ihre Atemzüge leicht und in regelmäßigen Abständen ihre Brust hoben. Ihr Herz pochte sanft gegen ihren Brustkorb. Ihr Körper strahlte eine kaum bemerkbare Wärme aus. Ihr Blut rauschte förmlich durch ihre Adern. Lestat fuhr sich unwillkürlich über seine Lippen. Er hatte bereits getrunken, doch nicht viel. Der alte Mann, der ihm – zu dessen Unglück – begegnet war, hatte fad geschmeckt und kaum ausreichend seinen Gaumen benetzt. Es konnte nicht schaden, wenn er… Lestat riss sich selbst von ihrem Hals zurück und wich vom Tisch zurück. In sicherem Abstand setzte er sich in den kleineren Nebenraum und starrte gebannt auf die Wand vor ihm. Er durfte nicht daran denken, dass sie nicht weit von ihm entfernt ausgeliefert auf einem Tisch lag. Er durfte nicht…. Er durfte nicht… Plötzlich hörte er den Tisch knarren und erhob sich. Sie war bei Bewusstsein und blickte sich um. Der Horror war ihr ins Gesicht geschrieben. Lestat grinste. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt. „Du hast keine Ahnung, wo du bist, nicht wahr?“ fragte er in die Stille. Catherine fuhr erschrocken herum, rutschte schnell vom Tisch und brachte so das Möbelstück zwischen sich und den Fremden. „Wo… Wo bin ich denn?“ fragte sie. Ihre Stimme kratzte. Sie hatte das Gefühl, dass er sie nicht gehört haben konnte, so leise hatte sie gesprochen, doch er trat aus dem Schatten hinaus und meinte: „Ist das nicht unwichtig?“ Catherine sah seine weißen spitzen Zähne aufblitzen und zuckte zurück. Sie hatte fast mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass er Vampir war. „Sie sind der… der…“ Mann? Vampir? „Derjenige, der auf der Straße war. Und danach in meinem Zimmer.“ „Darauf solltest du dir wirklich nichts einbilden.“ „Warum haben Sie mich nicht da getötet? Macht es Ihnen Spaß, mit ihren Opfern zu spielen?!“ „Mit dem Essen spielt man nicht. Das heißt es doch, oder?“ Catherine schluckte. Er kam weiter auf den Tisch zu. „Bleiben Sie, wo Sie sind!“ rief sie verzweifelt. Ihre Finger krallten sich abgestützt in das alte Holz. Ihre Handgelenke schmerzten und die Gedanken kreisten wirr in ihrem Kopf. Wo war sie? Wer war er? Wie war sie hierher gekommen? Wo waren die anderen? Was war überhaupt passiert? Catherine schloss die Augen. Sie erinnerte sich nur an den Kräutertrunk und dann… Nein, so sehr sie sich auch anstrengte: sie hatte es vergessen – oder nicht mitbekommen, was geschehen war. Lestat betrachtete sie. Der Kerzenschein warf kleine, tanzende Schatten auf ihre Erscheinung und ließ sie wie eine Erinnerung aus ferner Zeit wirken. Sie stand da und blickte ihn an. Das Haar hing in einem langen Zopf, aus dem sich kleine verwirrte Strähnchen gelöst hatten, über ihre Schulter. Das lange Kleid umgab ihren geschmeidigen Körper. „Fürchtest du dich?“ Catherine antwortete nicht. „Wenn ich dir sagen würde, dass es dafür keinen Grund gibt… Was würdest du dann tun?“ Catherine antwortete wieder nicht. Lestat wich wieder einige Schritte zurück. Sie blickte ihn an und verbrannte ihn fast mit ihren Augen. „Du fürchtest dich und du würdest mich gerne…“ Er brach ab. „Was würde ich gerne?“ fragte Catherine. Langsam wich ihre Angst und machte Neugierde Platz. Dieser Mann vor ihr war anders als die Vampire, die sie bisher gesehen hatte. Sie hatte es gespürt, denn vor anderen würde sie nicht zurückweichen. Sein Gesicht war ebenmäßig und seine Augen unglaublich. Seine Gestalt edel und wunderschön. Das mussten die Vampire sein, die Kardinal so bewundernd mit ‚Vampir’ bezeichnet hatte. „Lestat!“ Catherine fuhr herum und erblickte einen zweiten und einen dritten Vampir. „Du brauchst uns nicht zu fürchten. Wir sind…“ „Ja, klar!“ Louis blickte zu Lestat. „Was hast du mit ihr gemacht?“ fragte er ungehalten. „Überhaupt nichts.“ Catherine blickte unschlüssig von einem zum anderen. „Ich bin Louis. Das ist Daniel. Und der hier… ja… der ist Lestat, aber er hat sich dir sicher vorgestellt.“ Catherine sagte nichts, doch als Louis sie fragend anblickte, meinte sie: „Ich denke, das hat er – auf seine Weise.“ Louis schüttelte den Kopf und blickte Lestat vorwurfsvoll an, dann fuhr er fort: „Wir sind Freunde von Saerlaith. Verbündete sozusagen.“ Catherine brauchte eine Weile, bis sie ihnen das glaubte und auch jetzt, wo sie mit ihnen an diesem Tisch saß, hatte sie noch ihre Zweifel. Lestat saß nicht mit am Tisch, sondern lehnte an der Wand. „Die Bruderschaft hat das Imbolc-Fest überfallen und das Ritual unterbrochen. Wir dachten nicht, dass du so früh wieder zu dir kommst. Immerhin warst du ganz schön weggetreten. Auf jeden Fall haben wir dich hierher gebracht, da du hier vor ihnen sicher bist und dich ausruhen kannst. Saerlaith weiß natürlich davon. Es war überhaupt erst ihr Idee. Und wie gesagt: von uns hast du nichts zu befürchten.“ meinte Daniel. Catherine blickte immer noch von einem zum anderen, dann fragte sie: „Was ist mit den anderen Hexen? Saerlaith, Elatha, Keena… Was ist mit ihnen? Wer hat den Angriff der Bruderschaft geleitet? War das ein größerer junger Mann mit braunem Haar und einer Narbe an der Schläfe? War das…“ Louis hob die Hand. „Das weiß ich nicht. Marius und David sind bei Saerlaith.“ „Wer sind Marius und David?“ „Sie sind wie wir.“ meldete sich nun das erste Mal Lestat zu Wort. Catherine blickte ihn an und wandte sich dann wieder Louis zu. „Du brauchst sie nicht zu fürchten.“ „Ja, sie dürften getrunken haben, wenn sie zurückkommen.“ „Lestat! Es reicht! Auch wenn du Recht hast.“ Die Tür hatte sich wieder geöffnet und zwei weitere Vampire traten ein. „Da sind sie. Marius und David.“ Der Vampir, der als David vorgestellt wurde, eilte sofort zu seinen Büchern und Schriftrollen, während Marius am Tisch Platz nahm. Catherine fühlte sich nicht direkt unwohl, doch die Situation war trotzdem sehr befremdlich. Sie saß hier – als einzige Sterbliche mit Pulsschlag – inmitten von Unsterblichen ohne Pulsschlag. „Was habt ihr schon erzählt?“ „Nicht viel. Was gibt es Neues von Saerlaith?“ „Viele neue Hinweise. David meint, er kann etwas mit den Puzzleteilen anfangen. Ich glaube noch nicht recht daran. Es klang alles ziemlich… wirr. Wir werden sehen. Wir können nur warten, bis er es hat.“ „Warten?“ fragte Catherine. „Ja, bis wir zurück ins Schloss aufbrechen, bleibst du natürlich…“ „…hier.“ beendete Catherine den Satz. Marius nickte und musterte sie. „Wie geht es den Hexen?“ fragte Catherine noch einmal. „Den Umständen entsprechend.“ antwortete Marius in seine Betrachtungen versunken. „Was heißt das genau?“ fragte sie eisern. Irritiert blickte er auf und antwortete: „Viele Verletzte. Drei sind noch in Lebensgefahr und sechs sind tot.“ Kapitel 18: Vampire als Untermieter ----------------------------------- Vampire als Untermieter „… sechs sind tot.“ „Wer?“ fragte Catherine und zwang sich zur Ruhe. „Blaithin, Keena, Temair, Bevin, Mairéad und Cahan.“ antwortete Marius und beobachtete ihre Reaktion. „Und wer ist schwer verletzt? Ich meine, wer schwebt noch in Lebensgefahr?“ „Ahvair, Brid und eine jüngere Hexe…“ „Nyah.“ flüsterte Catherine und er nickte. „Was hat Elizabeth… Saerlaith jetzt vor?“ David blickte erst zu Marius, der nickte, und meinte dann: „Wir sollen zurück nach Thirlestane Castle kommen sobald du dich in der Lage dazu fühlst.“ „Was soll das bringen?“ „Wir sind vor Ort und haben die Bibliothek zur Verfügung.“ „Das hat bisher auch nicht geholfen.“ „Da war ich noch nicht da.“ entgegnete David und Catherine zog eine Augenbraue hoch. Lestat sagte nichts. Er lehnte nur an der Wand und betrachtete Catherines Haar, das nun über ihren Rücken fiel. Louis und Daniel blickten unschlüssig in die Runde. Marius musterte Catherine ebenfalls mit einem neugierigen Blick, der Catherine unangenehm wurde. „Ich fühle mich gut. Wann …“ „Dann brechen wir sofort auf.“ „Das schaffen wir nicht vor Tagesanbruch.“ widersprach Catherine, worauf Marius leise lachte. „Das schaffen wir. Wir brauchen nur noch ein bisschen Zeit, um alles zusammen zu suchen. Wir kommen nach.“ meinte er. Louis, David und Daniel machten sich daran, die Unterlagen, Bücher und das sonstige Hab und Gut einzusammeln, während Catherine ihnen zusah. „Komm.“ meinte Lestat, ergriff sie am Handgelenk und zog sie mit hinaus. „Was? Wieso? Sollten wir nicht…“ „Du kommst mit mir. Die anderen werden uns folgen.“ Ehe sie wusste, wie ihr geschah, fühlte sie keinen Boden mehr unter den Füßen. Sie sah nur ihn über sich und die Erde unter sich. Er hielt sie fest, doch nahm er keine Notiz von ihr. Die kalte Nachtluft wehte durch ihr Haar und ihre Kleidung, strich ihr unbarmherzig über die Haut und durchdrang sie bis auf die Knochen. Sie flog. „Wie ist das möglich?“ Er antwortete nicht. „Du musst doch wissen….“ „Kannst du nicht einfach still sein?“ fiel er ihr ins Wort und blickte sie das erste Mal auf ihrer Reise direkt an. Er erkannte in Catherines Augen nicht nur lodernde Wut, sondern auch eine große Traurigkeit. Woher diese kommen mochte… Er war versucht zu fragen, doch da wendete sie den Blick ab und schwieg für die restliche Zeit. Der Himmel wurde grau und kündigte den Sonnenaufgang an, lange nachdem sie in Thirlestane Castle angekommen waren. Inzwischen hatte Catherine Elizabeth begrüßt und hatte sich ihrem Wunsch angeschlossen, sich zumindest etwas schlafen zu legen, da sie auf Marius und die anderen Vampire warten wollten. „Dieser Marius…“ fragte Catherine, „Woher kennen Sie ihn?“ Elizabeth zögerte, dann antwortete sie: „Vor langer Zeit wollte er mich töten, doch er hat es nicht getan.“ „Wieso nicht?“ Elizabeth schüttelte den Kopf. „Ich sage es nicht gern und ich sage es bestimmt nicht so schnell wieder, aber manchmal lässt man alte Geschichten besser ruhen.“ Catherine nickte. „Gibt es etwas Neues von Lea? Und den anderen natürlich?“ „Nein, ihr Zustand ist unverändert. Ihre Mutter ist bei ihr.“ Catherine nickte wieder nur und ging in ihr Zimmer. Sie schlief nicht sofort ein, da ihr noch viele Gedanken im Kopf umherschwirrten. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass es besser gewesen wäre, hätte sie das Schloss verlassen, doch Elizabeth hatte sie nicht gehen lassen. Sie war nur ihrem Wunsch nachgekommen und hatte damit vielleicht neun Hexen ums Leben gebracht… Catherine drehte sich auf die andere Seite. Immer deutlicher wurde ihr, dass es der Bruderschaft nicht einfach nur um Imbolc, die Hexengemeinschaft und Magie ging, sondern auch um sie – Catherine – selbst. Als Catherine erwachte, durchbrach die Sonne mit fahlem Winterlicht die trübe Wolkendecke. Angezogen und ausgeruht erledigte Catherine Krankenbesuche bei den verletzten Hexen und klopfte dann an Elizabeths Tür. „Guten Morgen…. Tag.“ korrigierte sie, als sie auf die Uhr blickte. „Hallo.“ „Kommen Sie doch herein!“ „Nein, ich wollte nur schnell fragen, wann wir uns treffen? Am frühen Abend?“ Elizabeth nickte. „In der Bibliothek.“ fügte sie ihrem Nicken hinzu. „Dann gehe ich in den Keller und trainiere.“ „Wieso wollen Sie trainieren?“ „Ich muss vorbereitet sein. Das sagt mir mein Gefühl.“ Elizabeth nickte und Catherine wollte den Raum verlassen. „Ach, da ist doch noch etwas, was mich interessieren würde.“ meinte sie und drehte sich noch einmal um. Elizabeth blickte von ihrem Schreibtisch auf und sah sie fragend an. „Der Angriff auf das Fest… Wer hat… Ich meine, wer war verantwortlich?“ „Die Bruderschaft.“ „Ja, schon, aber wer hat den Angriff… geleitet?“ „Ein junger Mann mit braunem Haar. Ich glaube, seine Mitstreiter haben ihn ‚Lucien’ gerufen.“ Catherine stockte, dann fragte sie weiter: „Was ist mit ihm?“ „Ihr Bruder, Catherine, ist… es geht ihm den Umständen entsprechend. Er ist in einem Krankenhaus. Wollen Sie ihn besuchen?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Nein. Das einzige, was uns noch verbindet, ist das Blut. Und die Familie kann sich niemand aussuchen.“ „Sind Sie sich sicher?“ Catherine nickte. „Er gehört in meine Vergangenheit.“ erwiderte sie, worauf Elizabeth zweifelnd nickte. „Die Vampire haben ihr Quartier im Keller neben Ihrem Trainingsraum bezogen. Nehmen Sie Rücksicht.“ Catherine nickte und ging nun endgültig nach unten. Sie stieg leise die Treppen hinunter und hörte plötzlich dumpfe Stimmen. Sollten die Vampire nicht in ihren Särgen liegen und ruhen? Catherine näherte sich weiter ihrem Trainingsraum und blieb unwillkürlich vor der Tür stehen, aus der die Stimmen drangen. „…Glaubst du, dass ich nicht gesehen habe, wie du sie ansiehst?“ Daniel. Eindeutig Daniel. „Ansehen? Ich sehe überhaupt niemanden an! Von wem sprichst du?“ Lestat. Eindeutig Lestat. „Das Mädchen. Catherine.“ „Wieso sollte ich sie ansehen?“ „Weshalb nicht?“ „Dient diese Unterhaltung irgendeinem Zweck?“ „Ich warne dich nur…“ „Du warnst mich?“ „Ja, das tue ich! Rühr’ sie nicht an!“ „Wie kommst du darauf, dass jemand wie sie meinem erlesenen Geschmack genug ist? Was ist sie schon? Eine dahergelaufene Hexe, die bis vor wenigen Wochen nicht einmal von ihren Kräften wusste. Ein Mädchen, das nicht weiß, wo in der Welt es steht. Ein Mädchen, das sich nicht einmal dagegen wehren kann, dass ein Geist von ihr Besitz ergreift!“ „Es ist kein Geist im eigentlichen Sinn… nicht, wenn man es ganz genau nimmt.“ meinte David. „Und du musst es einmal wieder ganz genau nehmen.“ stellte Lestat fest. „Wie auch immer…“ fuhr er mit fester Stimme fort, „Catherine – oder wie sie auch immer heißt – interessiert mich nicht ein bisschen. Weder als Person, noch als Frau. Und ihr dreckiges Blut interessiert mich auch nicht. Ist das nun klar?“ Catherine hatte genug gehört. Wütend machte sie auf dem Absatz kehrt und schlug die Tür zum Trainingsraum hinter sich zu. Was bildete sich dieser arrogante Typ eigentlich ein? Dreckiges Blut! Das war einfach lächerlich. Catherine begann, auf den senkrechten Stab mit Lederüberzug einzuschlagen. Lächerlich! Lächerlich! Unmöglich! Eine Unverschämtheit! Sie hatte nicht um seine Hilfe gebeten. Sollte er doch gehen, wohin er wollte! Sollte er doch verschwinden. Sie brauchte ihn nicht. Ihn und keinen seiner Gefährten. Was… Catherine hielt inne, da ihr die Wunden am Handgelenk schmerzten. Sie blickte hinunter und bemerkte, dass die Schnitte wieder aufgeplatzt waren. „Was machst du hier?“ Catherine fuhr erschreckt herum und erblickte Lestat. „Trainieren, wenn es erlaubt ist!“ gab sie zurück und wickelte die Bandagen um ihre Handgelenke fester. Das Blut färbte sie langsam schwach in einem fahlen, rötlichen Ton. „Ich bin mit nicht sicher, ob das so gut ist mit deinen Verletz…“ „Und ich bin absolut sicher, dass das dich nichts angeht! Was ist? Warum bist du hier?“ Lestat zuckte mit den Schultern. „Wir treffen uns in zehn Minuten mit Saerlaith. Früher als geplant, deshalb….“ „Ja, schön. Ich werde pünktlich sein.“ Lestat drehte sich um und ging zur Tür zurück. Catherine griff nach einer ihrer Sai-Gabeln, die etwas weiter weg in einer Halterung hingen, und schleuderte sie von sich weg. Knapp neben Lestat blieb sie in der Tür stecken. Einen Moment lang verharrte er in seiner Position, dann drehte er sich zu ihr um und grinste. „Du zielst gut.“ stellte er fest. Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich war das knapp daneben.“ Lestat kam so schnell auf sie zu, dass sie es nicht einmal genau sah. Plötzlich stand er vor ihr, packte sie an den Handgelenken und schob sie zur gegenüber liegenden Wand, gegen die er sie unsanft presst. „Mach’ das nicht noch einmal…“ „Sonst was?“ forderte sie ihn heraus. Lestats Finger verschafften sich einen Weg unter die Bandage am rechten Handgelenk und fuhren über die offene Wunde. Catherine zuckte vor Schmerz leicht zusammen. Lestat zog seinen blutigen Finger zurück und leckte ihn ab. „Vorsicht: Dreckiges Blut! Nicht, dass du dir deinen aristokratischen Gaumen für immer verdirbst!“ Kapitel 19: Aufkeimende Feindseligkeiten ---------------------------------------- Aufkeimende Feindseligkeiten Catherine trat als letzte in die Bibliothek und blickte sich um. Nur Elizabeth und die Vampire waren da. „Sie kommt zu spät…“ bemerkte Lestat mit einem Grinsen auf den Lippen. „Kümmer’ dich um deinen Kram.“ entgegnete Catherine und warf ihm einen wütenden Blick zu. „War irgendetwas?“ „Wie kommen Sie darauf, Elizabeth?“ fragte Catherine und setzte sich zwischen Louis und David. „Wie auch immer…“ begann Elizabeth etwas verwirrt. „Haben Sie Ihren Namen erhalten?“ „Nein. Ich kann mich an nichts erinnern. Doch, ich erinnere mich an… Schmerzen und Flammen, aber an keinen Namen.“ „Das ist schlecht.“ gab Elizabeth zu. „Kann das Ritual nicht einfach wiederholt werden? Ein paar Kräuter, ein paar Worte. So schwer kann das ja nicht sein.“ „So einfach ist das nicht, Lestat. Das könnte sie töten.“ widersprach David und blickte Catherine an. „Und das wollen wir nicht?“ „Nein, Lestat, das wollen wir nicht!“ David verlor fast seine Geduld. Lestat lächelte ein wenig. „Was wollen wir hier? Wir – beziehungsweise ihr – seid keinen Schritt weiter und wir treffen uns zu einer Besprechung. Ich sehe da keinen allzu großen Sinn darin.“ David blickte zu Elizabeth, Elizabeth zu Catherine und Catherine zuckte die Schultern. „Ich gebe ihm nicht gern Recht, aber wenn es so ist und wir wirklich nicht mehr wissen als vorher, dann bringt das Treffen wirklich nichts.“ meinte sie, als David sie nun auch fragend anblickte. „Es muss aber etwas geben, das wir übersehen haben!“ rief Elizabeth plötzlich, was nicht nur Catherine erschreckte. David räusperte sich und ergriff dann das Wort: „Wir wissen ein bisschen mehr…“ „David, diese Theorie mit der Seele…Das kann nicht sein.“ ging Elizabeth dazwischen. „Wieso nicht? Es ist die einzige, die wir bisher nicht ausschließen konnten.“ „Und auch die einzige, über die wir am wenigsten wissen.“ meinte Elizabeth wieder, worauf David nickte. „Auf jeden Fall wird etwas geschehen.“ „Was denn?“ fragte Catherine. Nach ihrer Meinung war beim Imbolc-Fest schon genug geschehen. „Generell können wir sagen, dass – auch wenn wir noch nicht wirklich wissen, was hier los ist – das Imbolc-Fest erst der Anfang war. Es werden mehr Mitlieder von der Bruderschaft kommen. Und mehr Hexen werden sterben. Das war erst der Anfang.“ murmelte Elizabeth und sank auf ihren Stuhl nieder. „Ich hätte gehen sollen.“ meinte Catherine leise. Irgendwie beschlich sie ein ungutes Gefühl. Nicht wegen der Worte, die Elizabeth gesagt hatte, sondern wegen denen, die noch kommen würden. „Mir ist das noch nie passiert, dass ich mit Zeichen nichts anfangen kann, aber diese hier…. kann ich nicht deuten, auch wenn sie noch so klar erscheinen. Ich bin verantwortlich für die Gemeinschaft der Hexen und ich weiß mir keinen Rat. Ich kann keiner Hexe einen Rat weitergeben, weil ich selbst nicht durchschaue, was hier geschieht. Ich hatte gehofft, dass Sie…“ Sie blickte Catherine offen an. „…mir weiter helfen, doch seit Sie hier sind, sind wir kein Stück weiter.“ Catherine erhob sich und erwiderte ihren Blick. „Es tut mir leid, dass ich Ihren Erwartungen nicht entspreche!“ entgegnete sie wütend und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Im Trainingsraum schlug Catherine schon seit zwei Stunden auf die Geräte ein und ließ so ihre Wut an ihnen aus. Sollte es an ihr liegen, dass sie nichts wussten? Konnte es nicht einfach sein, dass sie allesamt unfähig waren? Was wollten die hier alle überhaupt von ihr? Wo war sie nur hineingeraten? Und wieso?! Catherine schlug mit dem rechten Ellenbogen gegen das mit Leder überzogene Polster. Die Tür öffnete sich und jemand trat in den Raum, doch Catherine ignorierte es. Ihre Handgelenke schmerzten, Schweiß brannte in den flachen Schürfwunden und Tränen der Erschöpfung hingen in ihren Augenwinkeln. Lucien in seinem Blut. Catherine hielt außer Atem inne und blinzelte. Geräusche. Schreie. Das Messer. Blut. Luciens Blut. „Oh, mein Gott.“ murmelte Catherine und sank zu Boden. Sie erinnerte sich. Der Raum um sie schien sich zu drehen und die Decke schien auf sie einzustürzen. Das konnte nicht sein! Das konnte nicht wahr sein! Sie hatte ihn nicht…! „Catherine.“ Die Stimme drang zu ihr durch, doch sie war kaum fähig zu reagieren. Die Bilder in ihrem Kopf hielten sie gefangen. Lestat beugte sich zu ihr hinunter und suchte ihren Blick. Sie sagte nichts, sie reagierte nicht. Lestat zog sie zurück auf ihre Füße und blickte sie an. Nun senkte sie den Blick und machte sich los. Langsam ging sie auf die Tür zu. „Ist alles in Ordnung?“ Sie blieb stehen, wandte sich jedoch nicht um. Vorsichtig näherte er sich ihr und drehte sie an ihren Schultern zu sich um. Seine Hand hob ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Ihre grünen Augen glänzten glasig und hielten seinem Blick stand. „Ich habe mich geirrt.“ stellte er leise fest. „Worin?“ fragte sie matt. „Es ist weitaus mehr, als ich angenommen hatte.“ Catherine zog die Augenbrauen hoch. „Ich weiß, was du gesehen hast. Marius sagte mir, was geschehen ist.“ „Du warst nicht dabei.“ stellte sie fest, worauf er nickte. „Ich kann mich nicht wirklich daran erinnern. Das ist… ich habe so etwas noch nie… Logisch. Nein, ich meinte: ich habe noch nie die Kontrolle über mich verloren. Und vor wenigen Tagen hätte ich fast meinen Bruder ermordet.“ „Das warst nicht du.“ „Ich habe das Messer gehalten! Natürlich war ich es!“ „Nein. Deine Augen…“ Ein Räuspern ließ beide ihre Köpfe zur Tür drehen. „Entschuldigen Sie, wenn ich störe, aber ich brauche Sie dringend, Catherine.“ Elatha stand da und blickte die beiden von oben bis unten an. Catherines und Lestats Blicke begegneten sich noch einmal, ehe sie bemerkten, dass sie ziemlich eng beieinander standen. „Ähm…“ Catherine wich ein paar Schritte zurück. „Ich komme.“ Schnell verließ sie den Raum und stieg mit Elatha die Treppe hinauf. „Wie geht es Lea? Besser?“ „Ja, etwas.“ antwortete Elatha kurz. „Das ist gut. Wohin gehen wir?“ Elatha steuerte nur auf die Bibliothek zu und meinte: „Saerlaith möchte sich bei Ihnen entschuldigen. Die Situation ist derart verfahren, dass es einfach nur ärgerlich ist. Sie meinte allerdings nie, dass Sie an etwas Schuld sind.“ „Ich bin Schuld.“ „Was meinen Sie?“ „Ich habe meinen Bruder niedergestochen.“ Elatha zögerte einen Moment. „Sie haben sich verteidigt.“ Elatha öffnete die Tür zur Bibliothek und ließ Catherine zuerst eintreten. David und Elizabeth warteten noch an dem runden Tisch in der Mitte des Raumes. „Wird mein Bruder seine Verletzungen überleben?“ fragte sie, als niemand im Raum das Wort an sie richtete. Elizabeth nickte flüchtig, dann blickte sie wieder auf das Pergament vor sich. „Setz’ dich.“ forderte David sie auf und Catherine setzte sich mit an den runden Tisch. „Wir haben hier den Stammbaum deiner Familie. Fällt dir etwas auf?“ Catherine ließ ihren Blick über den großen Bogen streifen und studierte ihn. Ihr Bruder Lucien, ihre Eltern Jacques und Clarisse, sowie die Großeltern, Urgroßeltern und Ururgroßeltern waren ihr mit Namen bekannt und waren auch verzeichnet. Sie ging Generation für Generation zurück, las Namen und Lebensdaten, doch konnte beim besten Willen nichts Auffälliges daran entdecken. Catherine hob den Blick und sah David fragend an. „Das hatte ich fast befürchtet.“ „Was? Dass mir nichts auffällt?“ Er nickte. Catherine studierte den Stammbaum noch einmal genauer. „Ist jemandem sonst etwas aufgefallen?“ fragte sie nebenher. „Ihrem Bruder.“ entgegnete Elizabeth, worauf Catherine wieder aufblickte. „Und was ist ihm aufgefallen?“ „Er murmelte etwas von: sie haben den wahren Namen verbannt.’ Sagt Ihnen das etwas?“ „Nein… Und Sie denken jetzt, dass diese wirren Worte etwas mit meinem Familienstammbaum zu tun haben?“ erwiderte Catherine und beugte sich wieder über das Pergament. „Es ist eine Spur. Es wäre möglich.“ entgegnete David, da Elizabeth nur genickt hatte, was Catherine nicht sehen konnte. Elatha stand stumm am Tisch. Catherine fühlte ihren beobachtenden Blick auf ihr und konzentrierte sich noch stärker auf die Namen vor ihr. „Ich sehe nicht unbedingt eine Notwendigkeit darin, dass die Antwort in diesem Pergament liegt. Könnte es nicht auch sein, dass…“ „Ja, natürlich. Es gibt tausend andere Möglichkeiten, aber leider ist diese hier die einzige, die wir im Moment überprüfen können.“ „Tausend andere Möglichkeiten? Es tut mir leid, aber ich kann überhaupt nichts mit diesen Worten anfangen. ‚Sie haben den wahren Namen verbannt.’… Nein, da klingelt bei mir überhaupt nichts.“ David sah etwas enttäuscht aus und ließ seinen Blick wieder über den Stammbaum gleiten. „Eine alte Familie.“ stellte er fest, worauf Catherine nickte. „Alter Adel… Eigentlich müsstest du dich sehr gut mit Lestat verstehen.“ „Tatsächlich?“ fragte Catherine ironisch. „Sie verstehen sich gut.“ murmelte Elatha leise und bissig. „Wie bitte?“ Elizabeth schaute Elatha fragend an. „Nun, sie verstehen sich gut.“ antwortete sie nach längerem Zögern. „Wir verstehen uns überhaupt nicht.“ widersprach Catherine und begegnete ihrem kühlen Blick. „Zumindest gut genug, dass er etwas über Ihre Augen sagen wollte, als ich Sie gestört habe!“ Elizabeth blickte Catherine entgeistert an, doch Catherine ignorierte es. „Hier!“ meinte sie plötzlich. David blickte sofort auf die Stelle, auf die Catherine mit dem Finger zeigte und fragte: „Ist dir etwas aufgefallen?“ Kapitel 20: Der Duke of Irvine ------------------------------ Der Duke of Irvine „Was meinst du?“ „Als Lucien und ich Kinder waren, hat man uns immer erzählt, dass unsere Familie bis auf eine Schwester von Ludwig XII zurückgeht. Er hat bekanntlich von 1498 bis 1515 geherrscht und hinterließ keine männlichen Nachkommen… Wie auch immer. Dieser Stammbaum beginnt nicht bei besagter Schwester, sondern erst 1619. Das ist äußerst seltsam.“ David überlegte. „Es könnte natürlich auch sein, dass dieser hier unvollständig und das nur Zufall ist.“ „Nein, dieser müsste vollständig sein. Der stammt aus den Archiven der Talamasca.“ „Wie bist du an den herangekommen? Und wieso ist unser Familienstammbaum in den Archiven der Talamasca?“ Catherine wusste nicht, welche Frage sie zuerst beantwortet haben wollte. „Ich war... früher… bei der Talamasca. Es war kein Problem, da hinein zu kommen.“ „Und die andere Frage?“ „Welche Frage… ach so: Das hat mehrere Gründe.“ „Erstens?“ „Deine Familie dient seit Generationen der Bruderschaft.“ „Zweitens?“ „In den Generationen davor, bevor ihr zur Bruderschaft gerufen wurdet, praktizierten verschiedene Angehörige deiner Familie… Magie.“ „Sie waren Hexen?“ „Ja, wusstest du das nicht?“ Catherine schüttelte den Kopf. Was dachte David eigentlich? Dass man so etwas bei der Bruderschaft einfach gesagt bekam, wo sie doch Magie verachteten? „Sie verachten Magie und fürchten sie. Sie wollen sie ausrotten… Warum sollten sie meine Familie in die Bruderschaft aufgenommen haben?“ „Das weiß ich nicht. Vielleicht … Nein, das kann nicht sein.“ „Was?“ „Nun, wenn die Angehörigen deiner Familie enormes Talent und eine starke psychische Konstellation ausweisen, dann könnte die Bruderschaft versucht haben, sie für ihre Zwecke zu gebrauchen.“ „Das erklärt zumindest einiges, aber nicht alles… Warum hat sich das Wissen um unsere Vergangenheit nicht über die Generationen erhalten?“ David lachte leise. „Es hatten bei weitem nicht alle etwas mit Magie zu tun. Es kann gut sein, dass sich die Begabung verloren hat.“ „Ja, gut möglich. Ich hatte ja auch nie eine Ahnung, dass ich … verschiedene Dinge kann.“ Elizabeth nickte. „Die Menschen unserer heutigen Zeit sind unsensibel und nehmen die größten Schwingungen schon gar nicht mehr wahr. Sie wurden von der Bruderschaft trainiert und ausgebildet, doch ihre Seele wurde nicht geschult.“ David nickte und fuhr an Elizabeth’ Stelle fort: „Und das macht dich aus. Du bist nicht völlig vom Gedankengut der Bruderschaft verunreinigt. Deshalb geschieht das Ganze hier.“ „Das verstehe ich nicht.“ gab Catherine zu. David schüttelte den Kopf und winkte ab. Dann wandte er sich wieder dem Stammbaum zu. „Jemand wollte hier bewusst deine schottische Herkunft ausblenden, denn hier sind nur französische Namen verzeichnet. 1619. Dazu müsste ich etwas finden, aber ich brauche noch ein bisschen Zeit.“ „Haben wir einen schottischen Namen? Dann könnte ich morgen nämlich in diese Richtung recherchieren…“ schlug Catherine vor. David nickte nachdenklich und meinte dann: „Wir wissen – mysteriöser Weise – sehr wenig über deine schottischen Vorfahren. In keinen Unterlagen wird der Familienname erwähnt, sondern nur der Titel.“ „Und wie lautete der?“ „Duke of Irvine.“ Catherine nickte, obwohl sie diesen Titel noch nie gehört hatte. „Das ist der Titel des letzten Herzogs, der uns für die Jahre 1608 bis 1618 überliefert ist.“ „Das lässt darauf schließen, dass dieser Stammbaum doch korrekt ist.“ David nickte und blickte Catherine an. Irvine. Irvine. Catherine schüttelte nachdenklich den Kopf und starrte auf das Pergament. „Was ist nicht verstehe…“ begann Elatha. Die Runde blickte auf und sie fuhr fort: „Wieso gibt uns unser Feind, Ihr Bruder, Hinweise?“ Catherine zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht.“ „Vielleicht sind Sie ja… auf seiner Seite. Das wäre immerhin möglich.“ entgegnete sie. „Ich bin nicht auf seiner Seite.“ „Wieso sollten wir Ihnen glauben? Wir kennen Sie nicht und sollen Ihnen vertrauen? Ist das nicht etwas viel verl…“ „Elatha!“ ging Elizabeth dazwischen und blickte sie wütend an. Catherine blickte zu David, der ebenfalls Elatha musterte. „Wir müssen endlich herausfinden, was die Bruderschaft von dir will.“ meinte er zu Catherine, worauf Elatha lachte. „Warum? Warum ist das so wichtig? Meine Tochter wäre beinahe gestorben und wir sollen uns um eine Französin kümmern? Sollen wir nicht unsere Kinder in Sicherheit bringen, bevor auch noch sie sterben? Warum ist es so wichtig, was die Bruderschaft von ihr will?“ „Ich bin ein Mensch und Menschen sind normalerweise nicht ihr Zuständigkeitsbereich.“ „Eine ziemlich vage Aussage.“ warf Elizabeth ein, worauf Catherine nickte. „Ich weiß, wie die Bruderschaft denkt. Die oberste Priorität war immer die Geheimhaltung und der Schutz der Menschheit vor…“ Catherine blickte sich um und suchte nach anderen Worten, da sie mit einem Unsterblichen im Raum stand, von dem ihr keine Gefahr drohte. „… anderen Wesen.“ beendete sie ihren Satz und fuhr dann fort: „Diese Arbeitsweise – das Überfallen von wehrlosen Hexen, was Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte – passt einfach nicht zu ihnen. Und genau das macht es so verdächtig.“ „Nach allem, was wir wissen, verfolgte die Bruderschaft schon immer rigoros ihre Ziele, ohne auf Verluste in der Zivilbevölkerung zu achten.“ entgegnete David. „Ich kann dazu nichts weiter sagen. Tatsache ist allerdings, dass das Oberhaupt des Rates nun Daniele ist und nicht mehr Ramirez. Vielleicht liegt die Änderung in den Methoden auch an ihm.“ „Darauf können wir uns nicht verlassen…“ „David! Ich versuche hier, mir aus diesem ganzen Mist einen Reim zu machen! Ich war jahrelang Mitglied dieser Bruderschaft und habe Nacht für Nacht mein Leben riskiert! Es fällt mir nicht unbedingt leicht, mir einzugestehen, dass ich mein ganzen Leben einer falschen Ideologie gedient habe!“ fuhr Catherine den Vampir an. „Mitglied dieser Bruderschaft… Und trotzdem weißt du so wenig über sie?“ fragte Elatha. Catherine erhob sich und stützte sich auf den Tisch. „Ich weiß, dass meine Eltern wegen etwas gestorben sind, was ich auch hätte wissen sollen. Und die Antwort muss hier liegen! Und ich weiß, dass ich es nie erfahren soll. Warum auch immer. Ist das vorerst nicht genug?“ David sagte nichts. Auch Catherine schwieg und blickte in die Runde, doch sie erhielt keine Reaktion. „Der Überfall auf die Hexen… was auch immer die Bruderschaft dazu veranlasst hat… war nur der Anfang, wie Sie sagten, Elizabeth. Mitglieder der Bruderschaft wurden verletzt und getötet. Und dafür werden sie sich rächen und ihre Versäumnisse ausräumen. Und deshalb gibt es für niemanden… für niemanden, der bei diesem Überfall anwesend war eine andere Möglichkeit, außer in diesen schützenden Mauern zu bleiben und außerdem dafür zu sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Es gibt kein Zurück mehr.“ schloss Catherine, blickte noch einmal in die Runde und verließ dann die Bibliothek. Catherine wanderte durch das dunkle Schloss zurück in ihr Zimmer. Plötzlich glitt ein Schatten am Fenster vorbei und näherte sich ihr. „Erschrocken?“ „Nein.“ entgegnete Catherine und ging an Lestat vorbei. „Was war vorhin los?“ „Ich weiß nicht, warum ich mich erinnert habe. Auf einmal war es da.“ Catherine schwieg und blickte ihn an. Seine blauen Augen ruhten auf ihr, doch sie konnte unmöglich sagen, was er dachte. „Das meinte ich nicht. Was wollte die Hexe?“ fragte er sachlich und wenig beeindruckt. „Ach so. Nun, Elizabeth… Saerlaith wollte etwas mit mir besprechen.“ antwortete Catherine. Wie hatte sie auch annehmen können, dass er etwas anderes gemeint hatte? Er grinste. „Was?“ fragte sie und legte ihre Hand an den Türgriff zu ihrem Zimmer. „Nichts. Sag’ mal… Warst du schon immer so?“ „Wie?“ „Du hast immer im Mittelpunkt gestanden. Du brauchst das, oder?“ Catherine holte Luft. „Nein, ich brauche das nicht. Und du kennst mich nicht im Geringsten… Also, lass deine arroganten Schlüsse bleiben oder behalte sie zumindest für dich!“ entgegnete Catherine wütend. „Du bist nichts Besonderes. Eine Hexe, mehr nicht.“ „Das ist deine Meinung…“ „Ja, richtig. Das ist meine Meinung.“ Er schaute sie direkt an. „Nun, du…“ Er näherte sich ihr und drückte sie gegen den Türrahmen. „Ich mache mir schon reichlich wenig aus der Meinung von Sterblichen… Wieso sollte ich dann auf deine Meinung Wert legen?“ „Du findest mich sehr anziehend.“ Lestat kam näher und berührte sie mit seinen kalten Fingern an der Wange. Catherine lachte leise. „Wenn du dich da nicht täuschst…“ „Sicher nicht.“ Lestat ließ Catherine los und verschwand den Gang entlang. „Idiot.“ murmelte Catherine und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Catherine lag noch lange wach und dachte über das nach, was Lestat gesagt hatte. ‚Du findest mich sehr anziehend.’ Mürrisch drehte sie sich auf die Seite und schloss die Augen. Er war eingebildet und arrogant, was irgendwie dasselbe war. Er kümmerte sich nicht ein bisschen um das, was hier geschah. Im einen Moment schien er an ihrem Wohl interessiert und half ihr, behandelte sie so, wie man einen Freund oder zumindest Verbündeten behandelte, im nächsten ignorierte er sie, machte bissige Bemerkungen und brachte sie auch noch zufrieden grinsend zur Weißglut. Warum hatte gerade er sie in diesem Zustand sehen müssen? Hätte nicht David oder auch Marius oder Louis in den Trainingsraum kommen können, als sie sich an ihre Tat erinnert hatte? Louis schien der menschlichste von allen. Warum also nicht er? Catherine richtete sich auf und rieb sich die Augen. Was war in sie gefahren? Und warum gelang es ihm immer wieder, dass sie sich den Kopf über ihn zerbrach? Catherine ließ sich zurück in das Kissen fallen und blickte zur Decke. Sollte er doch denken, was er wollte. Das konnte ihr eh egal sein. Lestat! Wen interessierte schon, was dieser Typ dachte? Mit diesen Gedanken im Kopf fiel Catherine in einen unruhigen Schlaf, in dem sie nach langer Zeit wieder träumte. Kapitel 21: Die Runen des Kreuzheeres ------------------------------------- Die Runen des Kreuzheeres Ein lautes Klopfen riss sie wieder aus ihrem Schlaf und sie fuhr erschrocken hoch. Wieder hörte sie das Klopfen. Das durfte nicht wahr sein! Nach Wochen träumte sie wieder und immer wurde sie aus diesem Traum aufgeweckt, sodass sie ihn nie zu Ende träumte. „Ja?“ rief sie scharf, schwang ihre Füße aus dem Bett und griff nach ihrem dünnen Morgenmantel. „Wir treffen uns unten.“ meinte Lestat und starrte sie an. Ihr Haar hing lang und gewellt bis zu ihren Hüften hinab und umspielte sie. Noch nie zuvor hatte er sie mit offenem Haar gesehen. „Was ist?“ fragte Catherine, die bemerkte, dass er sie anstarrte. „Nichts. Wir treffen uns unten.“ „Das hast du schon einmal gesagt. Dürfte ich mir dann etwas anziehen?“ Lestat nickte und zog die Tür langsam hinter sich zu. Konnten diese Vampire nicht am Tag schlafen, wie es eben so üblich war? Catherine zog sich schnell an und richtete sich, dann trat sie in die Bibliothek, die nur durch elektrisches Licht erhellt wurde. „Morgen.“ „Guten Morgen, haben Sie gut geschlafen?“ begrüßte sie Elizabeth. Catherine zögerte, ob sie erzählen sollte, dass sie geträumt hatte und entschied sich dafür. „Ich hatte in den letzten Nächten wieder diesen Traum, von dem ich Ihnen vor Wochen schon erzählt hatte.“ „Und?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn wieder nur bis zu dem Punkt geträumt, an dem ich zum Scheiterhaufen geführt werde. Und dann wache ich auf.“ Lestat blickte Catherine prüfend an, doch dieses Mal bemerkte sie es nicht. Sie stand vor Elizabeth. Ihre schmale Gestalt wirkte auf einmal so zerbrechlich und ihr Herz schlug langsam gegen ihre Brust. das konnte er deutlich hören. Elizabeths Gedanken kreisten in ihrem Kopf, auch das hörte er, doch so sehr er sich bemühte: was Catherine dachte, blieb vor ihm verschlossen. David näherte sich mit einigen Manuskripten. „Was sagst du da? Du träumst von einem Scheiterhaufen? Du wirst verbrannt?“ „Um genau zu sein, bin ich noch kurz davor, verbrannt zu werden.“ „Das heißt, wir müssen nach jemandem suchen, der hingerichtet wurde.“ schlussfolgerte David, worauf Catherine den Kopf schüttelte. „Das haben Elizabeth und ich schon längst versucht, doch in dieser Bibliothek ist dazu nichts.“ So schnell Davids Hoffnungsschimmer aufgetaucht war, so schnell verlosch er auch wieder. „Vielleicht kommen wir heute trotzdem weiter. Gibt es etwas Neues?“ „Das hier.“ meinte David und reichte ihr ein Schriftstück, dessen Buchstaben ziemlich verblichen waren. Catherine begann zu lesen: „Seltsame Ereignisse geschahen in der Grafschaft, als der letzte Duke of Irvine waltete. Bis nach Rom drangen wirre Worte, die ich nun hier gedenke niederzuschreiben und der Nachwelt zu erhalten auf dass spätere Menschen klüger seien und die Deutung zu vollziehen vermögen.“ Catherine blickte fragend auf, doch David nickte nur, also las sie weiter: „Einer wird kommen, der zu Ende bringt, was auserwählter Seele diesen Tags nicht gelingt. Wut und Verzweiflung in des Todes Angesicht – das Blut der Flamme den herrschenden Bann endlich bricht. Wer nach Antworten suchet, der möge beginnen, wo Land und Meer sich gänzlich verschlingen. Dort werden sie hören, wenn sie es wagen, was ihnen die Runen des Kreuzheeres sagen.“ Catherine ließ das Papier sinken und blickte in die Runde. „Die Runen des Kreuzheeres?“ fragte sie, worauf David nickte. „Ich habe noch nie davon gehört.“ gab Catherine zu. „Das hatte ich auch schon geahnt. Es gibt verschiedene Deutungen über die Fehler, die sich in den Übersetzungen in diese Zeilen eingeschlichen haben, doch keine ist haltbar. Die Runen des Kreuzheeres sind ebenso schwierig zu fassen wie die Legenden um den Heiligen Gral.“ meinte Elizabeth. „Woher stammt diese Quelle?“ fragte Catherine. „Ein Kardinal der Bruderschaft hat das im 17. Jahrhundert geschrieben.“ „Er war also ein Zeitgenosse dieses letzten Dukes of Irvine?“ „Das ist anzunehmen, ja.“ „Wissen wir sonst noch etwas?“ „Er wurde kurz darauf tot aufgefunden.“ Catherine fragte erst gar nicht, woher er das wissen wollte. Die Antwort wäre ohnehin ‚aus den Archiven der Talamasca’ gewesen, was sie immer noch nicht ganz glauben konnte. Außerdem sah sie im Moment nicht, dass sie dieses Schriftstück sehr viel weiterbrachte. „Und was sagt uns das jetzt?“ fragte sie deshalb und blickte vom einen zum anderen. „Unsere Antwort muss etwas mit Runen und Prophezeiungen zu tun haben.“ „Das ist zwar wenigstens etwas, aber nicht gerade viel.“ meinte Lestat und sprach Catherine damit aus der Seele. „Du kannst auch gehen! Bei jedem kleinen Schritt, den wir weiterkommen, weist du darauf hin, wie klein er ist! Wichtig ist, dass überhaupt etwas passiert, also geh’, wenn es dir zu langsam geht!“ erwiderte Elizabeth mit einer Härte, die Catherine noch nie in ihrer Stimme gehört hatte. David sagte nichts und Lestat wandte sich mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen um. „Ich möchte, dass du bleibst.“ meinte Catherine und blickte ihn an. Er drehte sich um und begegnete ihrem Blick. Er war ruhig und bestimmt, doch warum wollte sie ihn – Lestat – dabeihaben? „Wir können jede Hilfe nutzen, die wir bekommen können.“ Wie konnte er schon nützlich sein? „Ich brauche jemanden um mich, der kritisch ist und die Sache hier leicht nimmt,...“ Wieso? „…sonst werde ich bei all dem Gerede noch wahnsinnig. Nichts für ungut, aber deine Miene, David, und Ihre, Elizabeth, vermittelt mir immer, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Und das finde ich nicht sehr…. erbauend oder förderlich für die Situation.“ Lestat hatte Mühe, Catherine nicht anzustarren. War sie etwa in der Lage, seine Gedanken zu hören? Das war unmöglich! Sie konnte diese Gabe nicht besitzen. Doch was bezweckte sie wirklich damit, dass er blieb? Sie verstanden sich doch überhaupt nicht! „Bitte.“ sagte sie nur noch und wandte sich wieder dem Schriftstück zu. Sie hatte etwas Konkretes in der Hand und die Erfahrung sagte ihr, dass sie mehr als diese Worte aus ihnen ziehen konnte. Sie musste sich nur konzentrieren und dann würde sie schon irgendetwas finden. Im 17. Jahrhundert war das geschrieben worden. Im 17. Jahrhundert begann der Stammbaum, den David ihr vorgelegt hatte. Konnte es auch einen Zusammenhang da geben? David musste sicher sein, dass das etwas zu bedeutet hatte. Warum sonst hatte er dieses Stück Papier anbringen sollen. „Die Runen des Kreuzheeres…“ murmelte sie leise und fuhr sich mit den Fingern durch das zurückgebundene Haar. Sie spielte mit den Worten und überlegte hin und her. Ihr war fast, als schien die Zeit still zu stehen. Sie drehte ich im Kreis. Irgendwie was sie daran ja schon gewöhnt. Die Recherchen für die Bruderschaft hatten auch oft Stunden in Anspruch genommen. Catherine erinnerte sich an die Zeit, bevor sie über alles Bescheid gewusst hatte. Ihr Großvater war oft mit ihren Eltern dort gesessen und immer hatten sie aufgehört zu reden, wenn sie den Raum betreten hatte, und noch öfter hatten sie sie wieder nach draußen geschickt. Ihr Großvater… ja. Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Das Kreuzheer. Wieso sagte ihr das nichts? Das einzige, was sie damit verband, waren Templer und Kreuzzüge, aber das konnte hier unmöglich gemeint sein! Nicht im 17. Jahrhundert. Das Heer. Das englische Wort army. Das christliche Kreuz. Crux. Army of the Crux? Catherine schüttelte den Kopf. Plötzlich fiel ihr etwas ein und sie sprang auf. Sie konnte ihren Einfall noch nicht in Worte fassen, also ging sie im Raum auf und ab. Ihr Großvater liebte Schottland… Natürlich! Auch er hatte bereits nach etwas gesucht und… Genau wie ihr Vater nach ihm…. Und beiden war es nicht… Genau wie sie es jetzt suchte! „Hast du eine Idee?“ fragte Lestat, während David und Elizabeth in ihre Bücher blickten und gar nicht mitbekommen hatten, dass sie durch den Raum spazierte. „Nein, nicht so richtig, aber…“ Catherine brach ab und biss sich auf die Lippen. Ihre Augenbrauen waren zusammen gezogen. Sie atmete tief durch und begann zu sprechen: „Ich habe versucht, die Worte ins Englische zu übersetzen. Army und Crux, wenn man das Kreuz nur als christliches Kreuz auffasst...“ „Was willst du damit sagen?“ Catherine reagierte nicht sofort auf Davids Frage, sondern überlegte noch einmal. „Es gibt noch ein anderes Wort für Heer… host! Das ist es! Ich bin mir sicher! Es handelt sich bei dem Text da…“ Sie wies auf das Pergament. „… um eine Übersetzung. In Schottland gibt es eine Gegend, die Crossbost heißt. Cross – Kreuz. Und das Host – Heer – könnte sich auf einem Schreib- oder Verständnisproblem ergeben haben. Sie haben es fehlerhaft mit den anderen Worten übersetzt, obwohl es eine Landschaftsbezeichnung ist!“ Catherine blickte David und Elizabeth an, dann zu Lestat, der langsam nickte. „Es macht Sinn.“ entgegnete er. David sagte noch nichts, sondern zog wieder die Schriftquelle heran. „Dort, wo Land und Meer sich verschlingen. Crossbost ist ein Vorsprung der Hebriden, dessen Spitze bei Flut unter Wasser liegt!“ Catherine war sich absolut sicher. Lestat beobachtete ihre Finger, die nach ihren Haarspitzen tasteten. „Wir sollten uns dort umsehen.“ meinte er plötzlich, was Catherine überraschte. „Wie stellst du dir das vor, Lestat? Louis und Daniel sind in London, Marius sucht…“ „Moment!“ unterbrach ihn Elizabeth. „Was tun Louis und Daniel in London und wen sucht Marius? Wieso weiß ich davon nichts? Was tun sie?“ fragte sie wütend. Catherine blickte David interessiert an. Sie hatte zwar bemerkt, dass sie seit Tagen nur mit ihm und Lestat zu tun hatte, doch hatte angenommen, dass die anderen die meiste Zeit im Keller verbrachten und nicht weiter nachgefragt, da es ihr eigentlich auch egal war. David hob beschwichtigend die Hände. „Wenn ich nicht gewusst hätte, wie du reagieren würdest, hätte ich dir gesagt, was ich geplant habe, dann hätte ich dir auch schon vorher etwas davon erzählt. Dann wüsstest du jetzt, dass Louis und Daniel in London sind, um dort die Augen offen zu halten, und Marius einen alten Bekannten sucht, der uns in dieser Sache weiterhelfen könnte, wenn Louis Recht hat…“ Catherine schüttelte den Kopf. Das waren wieder zu viele Konjunktive und zu viel Hin und Her für ihren Geschmack. „Ich nehme an, der ‚alte Bekannte’ ist ein Vampir?“ fragte Elizabeth weiter. „Das habe ich nicht gesagt.“ „Also ist er ein Mensch?“ „Das hat er auch nicht gesagt.“ meinte Lestat und fuhr fort, bevor ihn wieder jemand unterbrechen konnte: „Wir müssen uns dort umsehen, um wirklich sicher zu gehen, dass wir alles versuchen.“ „Und wer soll gehen?“ fragte Elizabeth am Rande eines Nervenzusammenbruchs. „Catherine wird mit mir kommen.“ meinte er und blickte sie an. Kapitel 22: Reise durch die Nacht --------------------------------- Reise durch die Nacht Catherine zögerte ein wenig, obwohl Lestat zu wissen schien, was er wollte oder vielmehr was getan werden musste. Sie blickte ihn an. Natürlich hatte sie zugesagt, doch sonderlich wohl war ihr nicht dabei, dass sie mit ihm allein gehen sollte, wenn sie an ihre erste Reise mit ihm dachte. „Ich nehme an, wir brechen heute Abend nach Sonnenuntergang auf?“ fragte sie, nur um die Stille zu durchbrechen. Er nickte und verließ den Raum. Catherine blieb mit den anderen zurück. „Mir ist nicht wohl dabei.“ meinte Elizabeth, worauf David versicherte, dass Lestat Catherine schon am Leben lassen würde. „Das meinte ich nicht. Was ist, wenn sie dort nicht allein sind?“ „Ich denke, wir können uns verteidigen.“ entgegnete Catherine und fügte hinzu: „Ich muss mich vorbereiten. David, wenn du Neuigkeiten von diesem wichtigen Bekannten hast, dann möchte ich diese aber auch wissen, wenn wir zurückkommen.“ Er nickte und Catherine verließ ebenfalls den Raum, um zu duschen und sich wenigstens noch ein bisschen auszuruhen, denn in einem hatte Elizabeth Recht: sie wusste nicht, was sie in Crossbost erwartete. Gegen Nachmittag erhob sie sich wieder und packte einige Waffen zusammen – nur für alle Fälle. Wenn sie gegen die Bruderschaft arbeiteten oder gar dieselben Recherchen anstellten, dann war es möglich, auf Ritter zu treffen und dann musste sie vorbereitet sein. Und auch weil Lestat dabei war, wollte sie nicht gänzlich ohne Verteidigung sein, auch wenn sie wusste, dass es mir diesen Waffen äußerst schwer sein würde, ihn sich zumindest vom Leib zu halten, wenn er es darauf anlegte. Als sie alles beisammen hatte, schaute sie noch schnell bei Lea vorbei und freute sich, als sie sah, dass es ihr wirklich besser ging. Sie war sogar kaum davon abzuhalten, endlich das Bett zu verlassen. „Du brauchst noch Ruhe.“ erinnerte Catherine ihre junge Freundin, worauf diese resignierend nickte. „Ich werde noch wahnsinnig, wenn ich überhaupt nichts tun kann.“ Catherine nickte. „Ja, ich bin auch froh, dass ich wieder einmal etwas anderes sehen kann.“ „Du gehst weg?“ „Ich komme wieder. Wir müssen etwas in Erfahrung bringen.“ antwortete Catherine. „Wir?... Cate, du gehst doch nicht etwa in Begleitung eines….“ „Doch und es geht nicht anders.“ „Vertraust du ihm etwa?!“ „Ich fürchte, ich habe keine Wahl, und bisher haben sie uns sehr geholfen.“ „Dazu kann ich nichts sagen. Ich weiß ja nicht, was hier los ist.“ „Tröste dich: genau wissen wir das auch immer noch nicht.“ „Wohin gehst du?“ „Crossbost.“ „Was wollt ihr da? Die Gegend ist total verlassen.“ meinte Lea und zog die Augenbrauen hoch. „Das wusste ich nicht… Das ist gut, dann fallen wir schon nicht auf.“ „Was macht ihr?“ „Wir folgen Hinweisen. Es kann aber sein, dass sie uns nur in die Irre führen und Zeit kosten. Morgen sind wir auf alle Fälle wieder da.“ „Sicher?“ „Ja, es gibt nicht viel, dass wir dort tun können.“ Lestat wartete vor dem Schloss auf Catherine, die mit schnellen Schritten und in einem langen schwarzen Mantel neben ihn trat. „Brauchst du sonst nichts?“ fragte er, als er an ihr hinunterblickte und nur eine kleine Tasche erblickte, die sie um die Schulter gehängt hatte. Sie schüttelte den Kopf und er nickte. „Dann komm!“ Sie schritten weiter in den dunklen Park hinaus. Die Gräber tauchten vor ihr auf und er blieb stehen. „Faszinierend, nicht wahr?“ „Die Grabsteine?“ „Nein, die Aura, die nach so vielen Jahren von ihnen ausgeht.“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Kannst du die Toten etwa nicht hören? Was denkst du, wie viele dort liegen, die sich immer noch nicht damit abgefunden haben, tot zu sein, deren Rache noch nicht erfüllt ist, deren Leben viel länger hätte sein sollen?“ Er hielt inne, als Catherine ihn immer noch nicht anblickte. „Ich höre überhaupt nichts.“ entgegnete sie und ging wieder voraus. „Wie weit willst du noch vom Schloss weg? Willst du bis zur Küste marschieren und dann bis Crossbost schwimmen?“ meinte Lestat hinter ihr, der ihr ohne irgendetwas zu sagen gefolgt war. „Ich denke, du willst… Können wir dann?“ fragte Catherine, als er grinste. „Sicher, komm her!“ Er breitete seine Arme aus und Catherine zögerte. „Ich beiße nicht.“ lachte er leise, was Catherine ebenfalls mit einem leisen Lachen quittierte. Sie trat dichter vor ihn. Sein Gesicht lag im Dunkeln, doch der Mond spiegelte sich schwach in seinen Augen. „Vertraust du mir eigentlich?“ fragte er beiläufig und strich ihr mit den kalten Fingern eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. „Ist das wichtig?“ „Nein.“ Er fasste sie an der Hüfte und zwang sie, ihn anzusehen. „Nun komm’ schon. Halte dich fest, sonst stehen wir hier noch morgen früh.“ „Was ja eher ein Problem für dich als für mich wäre.“ gab sie zurück, legte ihre Arme aber um seinen Nacken. Sie spürte seinen Körper an ihrem und seinen Atem an ihrer Schläfe. Dann zogen seine Arme sie dichter zu sich und sie erhoben sich in die kalte Nachtluft. Wenig später lag der Meeresarm zwischen Schottland und den Hebriden unter ihnen und Catherine versuchte, einen genaueren Blick zu erhaschen, was ihr nicht gelang. „Nachts sind alle Meere schwarz.“ meinte Lestat nur, worauf Catherine nach oben in sein Gesicht blickte. „Oder hast du Angst, dass ich dich fallen lasse?“ „Sollte ich die haben?“ „Nein, es ist lange her, dass ich eine Frau mit ihrer ganzen Wärme in den Armen gehalten habe. Das werde ich jetzt genießen.“ „Bitte?“ Catherine blickte ihm in die Augen. „Es ist so.“ meinte er nur und grinste. „Idiot.“ murmelte Catherine leise, doch natürlich wusste sie, dass er es genau hörte. Ihr Weg führte sie weiter durch den schneidenden Wind über dem nächtlichen Meer und Catherine begann zu zittern. „Du frierst.“ stellte er fest, worauf sie nur nicken konnte. Er festigte den Griff um sie ohne den Blick von ihr abzuwenden. Seine Lippen sanken an ihre Schläfe. „Nutzt du aus, dass ich abhängig von dir bin?“ „Nein, ich tue nur das, was du schon tun wolltest, als du mich das erste Mal gesehen hast.“ Catherine schnaufte. „Deine Fantasien sind ziemlich blühend.“ stellte sie nur fest. „Was denkst du, was uns Unsterblichen außer unseren Fantasien sonst bleibt in der Dunkelheit?“ Catherine sagte nichts. Er lachte leise. „Gib’ es doch endlich zu!“ „Was denn?“ fragte sie und blickte wieder nach oben. Ihre Augen trafen sich. „Dass du mich anziehend findest.“ „Geht das schon wieder los?“ murmelte sie. „Sei ehrlich!“ „Gut, du hast mich durchschaut! Vor Wochen in diesem Gewölbekeller, als du mich um den Tisch gehetzt hast…“ „Du übertreibst.“ unterbrach er sie. „Egal, als wir uns da gegenüber gestanden sind, da musstest du dich in Wahrheit vor mir schützen, damit ich nicht über dich herfalle.“ meinte sie ironisch, schüttelte dabei aber den Kopf. „Das war ja eher anders herum.“ fügte sie hinzu. Er grinste. „Nimmst du mir das immer noch übel?“ „Ich habe aufgehört, dir irgendetwas übel zu nehmen. Erst willst du mir an die Gurgel, dann sagst du, ich hätte dreckiges Blut, dann bin ich eine dahergelaufene Hexe…. Ich käme ja nicht mehr zu Ruhe, wenn ich dir alles übel nehmen würde. Und das ist mir zu anstrengend.“ gab sie zurück. „Dann sind wir uns ja einig, dass unsere Beziehung besser nicht laufen könnte.“ Catherine grinste und wusste, dass es ihm Spaß machte, sie einfach nur zu provozieren. Der Wind umwehte ihre Körper immer noch schneidend, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. „Du kannst mich jetzt übrigens loslassen.“ bemerkte sie, als er sie immer noch festhielt. Er löste seine Arme von ihrer Hüfte und sie nahm ihre Hände ebenfalls von seinem Nacken. Er sah sie an und strich ihr wieder eine gelöste Strähne aus dem blassen Gesicht. „Weißt du eigentlich, warum ich dich heute Morgen so angestarrt habe?“ „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wissen will.“ entgegnete sie und blickte ihn zweifelnd an. „Das war das erste Mal, dass du deine Haare offen getragen hast. Ich war… überrascht. Positiv überrascht, dass eine Sterbliche so schön sein kann.“ Catherine räusperte sich und meinte: „Wir haben etwas zu erledigen.“ Verwirrt ließ sie ihn stehen. „Deshalb sind wir ja hier.“ murmelte sie vor sich hin und betrachtete die Gegend. Der Mond erhellte die sanften Hügel und die Wellen, die gegen das Land schlugen. „Haben wir Ebbe oder Flut?“ Er trat dich hinter sie. Er wollte ihre Wärme spüren. „Flut.“ meinte er und blickte auf die hinunter. „Wenn wir Glück haben, müssen wir uns hier mit irgendetwas sechs Stunden die Zeit vertreiben.“ fügte er hinzu, worauf Catherine ihre Tasche fester an sich zog und einige Schritte von ihm weg ging. „Ich werde mich umsehen. Vielleicht gibt es hier noch andere Hinweise.“ Sie ging weiter zur Küste und sah sich um. Der Boden wies keine Unebenheiten auf und auch sonst entdeckte sie nichts Auffälliges. Sie seufzte. Dann war es wahr: Die Runen offenbarten ihr Geheimnis erst bei Ebbe, da sie im Moment noch von Meerwasser umspült wurden. Kapitel 23: Wo Land und Meer sich verschlingen... ------------------------------------------------- Wo Land und Meer sich verschlingen… Catherine saß schon seit Stunden am Meer und blickte in die Nacht hinaus. Lestat stand irgendwo hinter ihr und schien unbeteiligt durch die Gegend zu sehen. „Warum setzt du dich eigentlich nicht zu mir?“ fragte Catherine plötzlich. Er drehte den Kopf und bewegte sich einige Schritte scheinbar widerwillig auf Catherine zu. Er setzte sich neben sie, sagte aber nichts. Schweigen. Nur das Rauschen des Meeres und des Windes in dem höheren Gras durchbrach die Stille. „Ich hoffe, das hier bringt etwas.“ flüsterte Catherine. „Zumindest ist es nicht kalt.“ entgegnete Lestat, worauf Catherine nur die Augenbrauen hochziehen konnte. „Dir vielleicht nicht.“ murmelte sie, worauf er grinste. „Ich kann dich gerne in den Arm nehmen, dann wird dir bestimmt gleich wärmer.“ Catherine zog eine Grimasse und schüttelte leicht den Kopf. „Nein, danke.“ „Dann eben nicht.“ entgegnete er gleichgültig. „Weißt du, was man sich erzählt?“ „Was denn?“ fragte Catherine und wandte ihm den Kopf zu. Er blickte stur geradeaus auf die Stelle, an der das Meer sich langsam zurückzuziehen begann. Die Spitzen von regelmäßigen Felsen waren schon zu erkennen. „Diese heiligen Steinkreise sollen eine große Macht besitzen. Sie sollen die Wünsche der Menschen offenbaren.“ „Tatsächlich? Ich hoffe ehrlich gesagt, dass sie uns etwas anderes offenbaren.“ „Du willst deine tiefsten Wünsche nicht wissen?“ Catherine lachte leise. „Wenn ich sie wissen wollte, könnte ich dich fragen. Du weißt doch schon, dass mein tiefster und innigster Wunsch etwas mit dir zu tun hat… Was sagst du mir denn die ganze Zeit? Richtig: dass ich dich will und sonst nichts.“ „Das ist auch wieder wahr. Dann sind wir gar nicht auf die Runen angewiesen.“ „Ich denke eher, dass es ziemlich peinlich für dich wird, sollest du mit den Runen Recht haben. Dann kommt nämlich heraus, dass du mit meinem angeblichen tiefsten Wunsch nicht Recht hast.“ Lestat blickte Catherine herausfordernd an. „Bist du dir da sicher?“ „Ziemlich.“ „Aber nicht ganz, oder?“ „Dafür scheinst du dir umso sicherer zu sein.“ Er nickte und hielt ihrem Blick stand, bis sie ihn abwendete. „Wie kann man nur so von sich überzeugt sein?“ murmelte sie vor sich hin und schüttelte den Kopf. „Ich war schon immer so.“ entgegnete er gelassen. Catherine gab nur ein undefinierbares Geräusch von sich und schwieg wieder. „Weiß du, was ich glaube?“ fragte er nach einer Weile. „Nein.“ entgegnete sie. „Ich werde auf jeden Fall Recht behalten.“ „Wieso?“ „Du hast keine Wünsche.“ behauptete er. Catherine sagte nichts, doch sie nickte kaum merklich. Er hatte wahrscheinlich Recht, auch wenn er das mit Sicherheit selbst nicht ahnte. Sie hatte nie Träume leben können, denn als Kind hatte sie früh festgestellt, dass ihre nach einem normalen Leben sich nicht erfüllen würden. Und dann hatte sie die meisten Träume und Wünsche aufgegeben. „Du hast ja nicht einmal den Wunsch, deinen Bruder zu sehen, nachdem du…“ „Nachdem ich ihn fast umgebracht habe? Nein, wirklich nicht.“ „Das wollte ich nicht sagen.“ „Was dann?“ „Du hast dein bisheriges Leben mit ihm verbracht. Und jetzt liegt er im städtischen Krankenhaus…“ „Ich habe auch mein bisheriges Leben der Bruderschaft gedient und sie war in gewisser Weise meine Familie. Und das hat sich auch geändert.“ „Menschen unterschätzen die Bande von Blut immer sehr.“ murmelte Lestat leise vor sich hin, doch Catherine hatte es gehört. „Das ist eben so. Vielleicht kommt das daher, dass wir uns in unserer heutigen Zeit durch unsere Taten definieren und nicht durch unser Blut, das seit Generationen in unseren Adern fließt.“ „Immerhin ist dein Blut adlig.“ „Seit der französischen Revolution gibt es keine Unterschiede mehr – zumindest vor dem Gesetz nicht.“ „Die Revolution.“ wiederholte er nachdenklich. „Ich wundere mich schon gar nicht mehr, dass meine Familie das Massaker überhaupt überstanden hat. Sie war in Paris, aber das kann doch auch nicht so sonderlich gesund gewesen sein.“ Er grinste leicht. „Auf dem Land war es trotz allem schlimmer. Die Bauern waren außer sich. Das Abschlachten der Gutsherren und Adligen war von den politischen Drahtziehern in Paris nicht geplant.“ entgegnete Lestat. „Vielleicht hatte deine Familie Hilfe.“ fügte er hinzu. Catherine schaute ihn prüfend an. „Schau’ mich nicht so an! Ich war nicht an der Revolution beteiligt.“ „Du bist…“ „Nein, ich war damals schon der, der ich heute bin.“ „Ich hatte auch nicht erwartet, dass du es warst, der ihnen geholfen hat. Du kanntest diese Familie wahrscheinlich nicht einmal. Wer… Sie hatten wahrscheinlich Unterstützung von der Bruderschaft. Das ist doch die logische Erklärung für alles.“ Er nickte und schwieg wieder eine Weile, bevor er wieder auf das gemeinsame Blut zu sprechen kam. „Glaubst du, dein Blut und das Blut deines Bruders ist gleich?“ „Wie meinst du das? Wir haben dieselben Eltern… Das denke ich zumindest.“ entgegnete sie, worauf Lestat nickte. „Ja, das ist wahr, soweit ich das beurteilen kann.“ „Wieso kannst du das beurteilen?“ „Ich rieche es.“ „Im Blut? Du riechst das im Blut?“ „Teilweise. Man erkennt mit der Zeit verschiedene Noten und Akkorde… Das ist beinahe wie bei einem Parfum… und kann dann Verwandte ausmachen.“ „Faszinierend.“ murmelte Catherine. Er lachte leise. „Dein Blut und das Blut deines Bruders, das an deiner Kleidung war, ist ähnlich, da es dieselben Noten besitzt, aber deines ist trotzdem ... anders.“ „Kann ich dich fragen, nach was mein Blut riecht? Kannst du mir das beschreiben?“ Er überlegte und meinte dann: „Schwer.“ „Das hatte ich befürchtet.“ „Nein, es ist nicht schwer, das zu beschreiben. Dein Blut riecht schwer.“ Catherine blickte ihn an. Das war zwar kein Duft, aber immerhin. Ihr Blick fiel wieder auf den Steinkreis nach unten, der nun fast vollständig über Wasser stand. Sie machte Lestat darauf aufmerksam, der nickte. „Ein bisschen Zeit haben wir noch.“ „Wofür?“ Er antwortete nicht, sondern ergriff mit der einen Hand ihre Finger und zog sie ein Stück näher zu sich. Catherine fürchtete sich nicht, doch die Situation empfand sie als etwas Befremdliches, dem sie vorzugsweise ausgewichen wäre, doch genauso stark war der Wille in ihr, genau das nicht zu tun. „Darf ich?“ fragte er leise. Seine Finger näherten sich ihrem Hals und hielten kurz davor inne, bis sie zaghaft nickte. Dann näherte er sich ihrem Gesicht, während ihre Blicke sich begegneten. Sie spürte seinen Atem leicht und errötete. Er lächelte und sie bemerkte, sie ruhig sie wurde. Langsam senkte er den Blick und den Kopf und strich mit seinem Atem an ihrer Haut über den Hals entlang. Sie zuckte zusammen, als sie seine Lippen ebenfalls auf ihrer Haut spürte und sie langsam ihren Weg zur Schlagader suchten. „Ich warne dich.“ flüsterte sie, worauf er leise lachte. „Keine Sorge, ich habe getrunken, bevor wir aufgebrochen sind. Und beherrschen kann ich mich schon, wenn ich will. Ich bin kein Tier.“ Catherine schloss die Augen. Wieso hatte sie sich so nach diesen Berührungen gesehnt? Riefen diese Steine etwa doch irgendetwas in ihr wach, das bisher tief in ihrem Inneren geschlummert hatte? War das möglich? War es möglich, dass Lestat gleich in beiden Angelegenheiten Recht behalten sollte? Seine Berührungen waren so anders als alle, die sie vorher von irgendwelchen männlichen Wesen erfahren hatte – so anders, so viel stärker. Sie ließ ihn einfach gewähren. Lestat fuhr mit seinen Fingern über ihre Haut in ihrem Nacken und sog ihren Duft in sich ein. Er hatte so etwas noch nie wahrgenommen. Diese Vielfalt und diese Hitze, die von ihr ausging, raubten ihm fast den letzten Funken von Beherrschung, doch gleichzeitig war er bei genug Verstand, um durch eine einzige unüberlegte Tat, sich nicht immer dieses Gefühls zu berauben. Ein vom Tod erkalteter Körper bot für ihn nicht mehr den kleinsten Reiz. Sie lebte. Ihr Blut rauschte durch ihre Adern bis in ihr Herz und wieder zurück. Ihr Atem bebte unter seinen einfachen Berührungen. Lächelnd wusste er, dass er Recht gehabt hatte. Ihre Hände wanderten seinen Rücken hinauf und zogen ihn ein Stück näher an sich. „Es riecht köstlich. Nach Erde. Süß und zugleich wild.“ meinte er und löste sich von ihr. Ihre Blicke begegneten sich. „Du wolltest doch wissen, wie dein Blut riecht. Jetzt weißt du es.“ fügte er hinzu und grinste sie an. Kapitel 24: Die magischen Zeichen --------------------------------- Die magischen Zeichen Catherine erhob sich, griff nach ihrer Tasche und eilte zu dem Steinkreis hinab, der nun vollständig vom Wasser befreit war. Der Boden war glatt und glitschig, doch mit Gras bedeckt und relativ fest. „So, nach was suchen wir jetzt?“ fragte Lestat und trat dicht hinter sie. Sein Körper berührte ihren. Catherine schloss die Augen. „Inschriften. Zeichen. Alles, was auffällig ist.“ meinte sie und ging ein Stück zwischen dem äußeren und inneren Steinkreis entlang. Die Felsen waren beschädigt und verwittert und ohne ihre Taschenlampe konnte sie trotz des hellen Mondes überhaupt nichts erkennen. Lestat hatte es natürlich einfacher: er sah in der Dunkelheit um vieles besser. Sie arbeiteten sich aufeinander zu mit dem Schluss, dass im äußeren Kreis nichts war, das ihnen weiterhelfen konnte. „Ich hätte so und so im inneren angefangen.“ murrte er. „Wieso hast du das dann nicht getan? Ich habe dich nicht gezwungen…“ Er winkte ab und sie begannen, den inneren Megalithenring abzusuchen, was ebenfalls ohne Erfolg blieb, obwohl es ebenfalls lange Zeit in Anspruch genommen hatte. Lestat trat in die Mitte der gesamten Anlage. Catherine stellte sich neben ihn und blickte sich um. Der Mond stand direkt über dem mittigen Felsen, auf dem Lestat nun stand und weiter über die Anlage blickte. „Siehst du irgendetwas?“ „Nein.“ „Wenn wir wenigstens wüssten, wonach wir suchen.“ entgegnete sie. „Wenn wir es wüssten, hätten wir es wahrscheinlich gefunden.“ Catherine lehnte sich an den Felsen an, auf dem Lestat stand, legte ihre Tasche neben ihn und blickte in den Himmel. Lestat trat zum Rand und setzte sich neben sie. Er war immer noch größer als sie, obwohl sie stand. Ihr Oberarm berührte seinen Oberschenkel. Plötzlich verspürte sie einen Griff und er zog sie zu sich auf den Felsen. „Was…“ Er legte ihr einen Finger auf die Lippen und beugte sich über sie. „Ich denke, wir sind vorhin ungefähr hier stehen geblieben, oder?“ „Wir sind hier, um…“ „Etwas zu suchen. Richtig, aber wir finden es offenbar nicht.“ entgegnete er und Catherine schüttelte den Kopf. „Dann müssen wir eben weitersuchen.“ „Bist du immer so hartnäckig?“ „Meistens.“ „Und wenn ich jetzt einfach nehme, was ich will?“ „Dann bist du in ziemlichen Schwierigkeiten, wenn du mit einer Leiche zurückkommst.“ „Wer sagt, dass ich von dir trinken will?“ Catherine schluckte und ehe sie sich versah, berührten sich ihre Lippen und begannen ihr leidenschaftliches Spiel miteinander. „Ich hatte Recht.“ bemerkte er, als er kurz innehielt, und sie sich ihm entgegenstreckte, da sie mehr wollte. Sie lachte leise. „Ich wollte deine Weltordnung nicht völlig durcheinander bringen.“ entgegnete sie und zog ihn wieder zu sich. Erneut kamen sie sich nahe. Catherine schaffte es, sich in die obere Position zu bringen und setzte sich auf ihn. Sie blickte hinab in sein Gesicht und fuhr mit den Fingerspitzen über seine Lippen. Lestat zuckte bei dieser sanften Berührung und richtete sich auf die Ellenbogen auf. Kurz bevor sich ihre Lippen erneut trafen, registrierte Catherine kleine Zeichen im Felsen unter ihnen und rutschte zur Seite. „Was soll das?“ fragte er und sah ihr nach, da sie so schnell von seinem Schoß verschwunden war. „Hier… Das hier muss es sein!“ Lestat murrte widerwillig und blickte dann dorthin, wo ihre Hände auf dem Stein lagen: Kleine Zeichen, die in der Form eines Wagenrades in den Stein geritzt waren. „Das kann ich nicht lesen.“ meinte Catherine enttäuscht. „Das sind… Runen. Das müssen sie tatsächlich sein.“ entgegnete er und begegnete Catherines Blick. „Wieso sind dir die vorher nicht aufgefallen?“ „Ich bin mir sicher, dass sie vorhin noch nicht da waren.“ gab sie zurück und hätte genauso gut fragen können, warum er sie ebenfalls erst jetzt sah, doch sie beließ es dabei. „Du kannst das nicht zufälligerweise…“ Lestat schüttelte den Kopf. „Am besten, wir schreiben ab, was wir hier sehen. David kann das bestimmt.“ „Wieso ist David dann nicht hierher gekommen?“ „Das wünschst du dir nicht wirklich, glaub’ mir.“ grinste er. „Mein Experte für meine Wünsche. Dann glaube ich dir einfach.“ „Er ist zu zögerlich.“ „Was man von dir nicht sagen kann.“ entgegnete Catherine und kramte in ihrer Tasche nach Papier und Bleistiften. „Ich übernehme diese Seite.“ meinte sie und begann, die linke Seite des Rades abzuzeichnen. Lestat setzte sich ihr gegenüber und begann ebenfalls zu zeichnen. Das Meer rauschte in der Ferne und der Wind wehte durch die Steinkreise, doch Catherine fror nicht mehr. Ihr war, als habe sie in diesen Runen endlich gefunden, was sie so lange gesucht hatte – eine Antwort oder das letzte Puzzleteil in diesem großen Rätsel. „Woran denkst du?“ fragte er nach einer Weile, in der er die Hälfte seiner zugeteilten Runen abgezeichnet hatte. Catherine blickte auf. Das Licht der aufgestellten Lampe warf tiefe Schatten auf ihr Gesicht. „Ich musste an die letzte Zeit denken, was alles passiert ist, welche wirren Worte ich gehört habe…“ Lestat nickte. „Und dabei ist mir aufgefallen, dass es mir schwer fällt, mich genau an etwas zu erinnern. Es ist alles wie im Nebel.“ Catherine kam die Frauengestalt im Nebel in Erinnerung und schüttelte diese Gedanken gleich ab. „Ich hoffe, dass uns das wenigstens ein bisschen Gewissheit bringt.“ „Du stehst gerade ziemlich neben dir, vermute ich.“ „So kann man es auch sagen.“ „Trotzdem hältst du dich gut.“ Catherine sah ihn zweifelnd an. „Das denke ich wirklich.“ fügte er hinzu. Catherine wandte sich wieder ihren Runen zu und schob etwas Moos und Algen zur Seite, sodass sie die Runen richtig erkennen konnte. „Wir sollten uns beeilen.“ mahnte Lestat, worauf Catherine nickte. „Sieh’ mal… Kannst du das erkennen?“ meinte sie, als sie ein auffälliges Zeichen entdeckt hatte. Lestat rutschte ein Stück zu ihr herüber und sah sich die Rune an. Seine Finger fuhren ebenfalls das Zeichen nach und berührten dabei wie zufällig ihre. Catherine zog ihre Hand zurück und blickte ihn fragend an. „An was erinnert es dich?“ „Ich weiß es nicht genau…“ begann er. „Ich komme auch nicht darauf, aber ich habe dieses Zeichen schon einmal gesehen. Da bin ich mir sicher.“ „Bei der Bruderschaft vielleicht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Bei der Bruderschaft habe ich eigentlich keine Runen… Nein, ich komme nicht darauf.“ entgegnete sie nachdenklich und zeichnete es einfach ab. Lestat blickte ihr über die Schulter und berührte mit den Lippen ihren Hals. Dann wanderten sie weiter und fanden ihre Lippen. Catherine lehnte sich gegen ihn und ergriff seine Hand, ohne den Kuss zu unterbrechen. Sie wollte es so sehr, doch plötzlich meldete sich ihn Verstand zurück und sie entzog sich ihm. „Bist du schon fertig?“ fragte sie und blickte ihn an. Er schüttelte den Kopf und murmelte: „Fast.“ Lestat näherte sich ihr wieder, doch sie wandte sich ab. Es ging nicht. Es war unmöglich. „Wir müssen weiter….“ Er nickte und rutschte wieder auf seinen Platz ihr gegenüber. Schweigend notierten sie die restlichen Runen, packten dann ihre Unterlagen zusammen und verließen den Steinkreis, in den am östlichen Rand schon wieder das Wasser drang. Catherine hängte sich ihre Tasche wieder über die Schulter und ging hinter Lestat her, der die Anhöhe hinaufeilte. Oben angekommen blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. Er blickte zurück auf die Steine, die nun alle wieder von kaltem Wasser umspült wurden und meinte: „Hoffentlich haben wir alles, was David braucht.“ Catherine nickte und blickte ebenfalls zurück. Der Felsen in der Mitte war kaum noch zu sehen. Vor ihrem inneren Auge tauchten die Bilder an ihre Küsse dort unten auf und sie musste die Augen schließen. Sie fühlte seine Arme um sich und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. „Wir müssen noch nicht zurück.“ meinte er. Sie wusste, dass er nicht Recht hatte, auch wenn sie sich das wünschte. Und sie wusste, dass es… „Doch, das müssen wir.“ Er drückte sie an sich. „Wir könnten uns einen Unterschlupf suchen und dort bleiben. Bis zur nächsten Nacht.“ Catherine schüttelte schwach den Kopf. Sie wollte ihm nachgeben, aber es ging nicht. „Ich habe gesagt, dass wir nur eine Nacht unterwegs sein werden. Sie werden sich Sorgen machen, wenn wir...“ „Um dich werden sie sich Sorgen machen. Sie werden denken, dass ich dich…“ Er brach ab. „Das wäre vielleicht ein normaleres Verhalten. Ich hoffe, dass es die Steine sind, die das mit uns machen, Lestat.“ flüsterte Catherine und löste sich von ihm. Er blickte sie irritiert an und meinte dann mit einer kalten Gleichgültigkeit: „Was denn sonst?“ Catherine nickte. „Und genau deshalb sollten wir diesen Ort so schnell wie möglich verlassen.“ Kapitel 25: Der wahre Namen --------------------------- Der wahre Namen Sie kehrten noch vor dem Morgengrauen nach Thirlestane Castle zurück. Ihre Reise war schweigend verlaufen, denn weder Catherine noch Lestat wussten, was sie sagen sollten. Der Einfluss der Runen war also für ihre Handlungen und ihr Verhalten verantwortlich gewesen? Eine Sterbliche und ein Vampir. Catherine schüttelte stumm den Kopf und nahm es so hin. Wie sollte es auch anders sein? Es konnte nicht anders sein, auch wenn es sich sehr real angefühlt hatte. Kaum verspürte Catherine wieder festen Boden unter ihren Füßen, machte sie sich von Lestat los und ging voraus zum Tor, welches sie hinter sich einfach zufallen ließ. Lestat würde eh noch schnell etwas trinken gehen, das wusste sie. Als sie noch der Bruderschaft gedient hatte, hätte sie ihm den Kampf erklärt, denn immerhin tötete er wahrscheinlich Unschuldige. Und jetzt? Jetzt ließ sie es zu. Was war nur aus ihr geworden? Weshalb verspürte sie bei ihrer passiven Zustimmung nicht mehr etwas, was sich tief in ihr dagegen wehrte? Hatte sie akzeptiert, dass sie die Vampire als Unterstützung brauchte und nahm sie es deshalb hin? Oder hatte sie durch die Fehler der Bruderschaft, die sie in Kindertagen für hoch moralisch und anständig gehalten hatte, bemerkt, dass die meisten Menschen es nicht einmal wert waren, dass man für sie zu den Waffen griff. Catherine schüttelte die Gedanken ab so gut sie konnte und suchte die Bibliothek auf. Als sie die Tür aufschob fiel ihr Blick auf Elizabeth, die auf den Tisch gesunken war und schlief. Catherine nickte bei sich und verließ den Raum leise wieder. Etwas Schlaf würde ihr mit Sicherheit auch nicht schaden. Zumindest ein paar Stunden wollte sie sich noch ausruhen, bevor sie wieder den ganzen Tag über irgendwelchen Pergamenten und sonstigen Schriftstücken saß. Catherine schlief nicht ein, denn sie ärgerte sich zu sehr über Lestat. Immer wieder kamen ihr seine kalte Gleichgültigkeit und seine Worte in den Sinn. ‚Was denn sonst?’ Sie drehte sich um. Was war los mit ihr? Wieso brachte dieser Mann sie so durcheinander? Sie bemerkte, dass er Recht hatte: sie fand ihn anziehend und sie sehnte sich nach seinen Berührungen, die er ihr bei Crossbost wegen des Einflusses der magischen Zeichen geschenkt hatte… Vielleicht waren es auch nur die Nachwirkungen, denn nun war sie zurück und morgen musste sie wieder weiter nach Antworten suchen, die sie nicht finden konnte, da sie nicht einmal die Fragen stellen konnte… Müdigkeit erfasste ihren Geist. Irgendwie wollte sie nicht mehr. Sie wollte das alles nicht mehr. Es sollte aufhören… Es sollte nur alles aufhören. Leise öffnete sich die Tür zu ihrem Zimmer und Lestat trat ein. Er setzte sich neben ihr Bett und betrachtete sie, wie sie sich unruhig im Schlaf umher warf. Ihr Atem hob und senkte ihre Brust. Ihre Halsschlagader pulsierte gegen die zarte Haut. Ihr rotbraunes Haar umrahmte das helle Antlitz. Ihre Lider zuckten unruhig. Jede kleine Bewegung, die sie unbewusst tat, hielt seinen Blick gefangen. Er konnte ihn nicht abwenden. Sie war einfach wunderschön – schöner als jede andere Sterbliche und schöner als jeder Vampir. Ihr Leben in ihr machte sie zu dem, was sie war: menschlich, sterblich und zerbrechlich. Und genau das machte sie wunderschön, so wunderschön, dass er sie gegen alles schützen wollte, das da kommen konnte. Er konnte fast die Weichheit ihres gewellten Haares fühlen, obwohl er nicht wagte, sie zu berühren. Er erinnerte sich an ihren Duft und suchte ihn in diesem Raum, in dem er ihr ferner war und auch ferner sein musste. Die Wärme ihres Körpers drang nur fächelnd zu ihm herüber, doch er genoss sie. „Ich hätte mir denken können, dass du hier bist.“ meinte eine Stimme hinter ihm leise. „Marius.“ entgegnete er und erhob sich. Seine Augen trafen die Augen seines Lehrmeisters und Marius erkannte darin eine Schwäche, die er bei Lestat schon lange nicht mehr gesehen hatte. „Träumt sie?“ „Es wäre möglich.“ Marius nickte, beugte sich über Catherine und begutachtete ihren Hals. „Sie wird mich hassen.“ meinte Lestat und sah nun ebenfalls wieder zu Catherine. „Um die Zeichen zu offenbaren, hättest du von ihr trinken müssen. Ich sehe keine Bissspuren.“ Lestat nickte. „Dann war die ganze Nacht umsonst? Was denkst du dir dabei? Du kennst den Spruch. Elizabeth sagte… wie war das Original?“ „Sie sagte etwas von: Das Blut muss auf die Runen wallen.“ „Siehst du?“ Lestat schüttelte den Kopf. „Ich habe mir das Schriftstück selbst noch einmal angesehen. Sie hat es nicht richtig übersetzt. Eine Schottin und eine Quelle aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts… gut, nicht ursprünglich aus Frankreich und in französischer Sprache, aber… trotzdem, dass das nicht gut geht, war mir klar.“ Marius sagte nichts, sondern blickte ihn nicht überzeugt an. „Glaub’ mir, wir haben die Runen auch so entdeckt.“ „Wie?“ Lestat reagierte nicht. Marius entgegnete ebenfalls nichts mehr. Catherine wusste, dass sie träumte, doch sie konnte nicht aufwachen. Sie war in Paris und hetzte in die Bibliothek. Plötzlich ein Schlag und ein Hieb von der Seite, dann Schmerzen und wieder Schmerzen. Stimmen und Gestalten mit verhüllten Gesichtern. Sie sahen aus wie Schatten oder… Bruderschaft. Männer von der Bruderschaft in dunklen Kutten, wie sie nur selten getragen wurden, doch immer, wenn…. etwas Geheimes geschehen sollte. Eine geheime Aktion. Eine geheime Handlung… geheime Vorgehensweise. Catherine drehte sich um, doch blieb trotzdem an einer Stelle. Sie konnte sich nicht bewegen. Zahllose Stimmen um sie herum und nur eine, die klar zu ihr durchdrang: ‚In deinen unschuldigen Augen funkelt die Glut des Unheils. Dein Leib und deine Seele gehören schon längst nicht mehr dir. Heillos ist die Botschaft vom Tag deiner Geburt, dem verfluchten, an dem es Besitz von dir ergriff.’ Was? Wieder diese Frage, die sie hasste. Was? Lucien sagte das immer. Er fragte, doch gehorchte dann doch nur Befehlen von niederträchtigen Anführern. Wie konnte er! Wut. Verzweiflung. Enttäuschung. Hoffnungslosigkeit. Plötzlich ein Hilferuf – aus ihrem Mund oder aus einem anderen? Sie wusste es nicht. Sie fühlte es nicht, ob sie es war, die geschrieen hatte. Nebel, dichter Nebel und eine bekannte Stimme. ‚Du, die du dies hörst, bist noch am Leben, aber ich bin schon im Reich der Unsichtbaren. Ein Bleigewicht lastet auf mir, ein Gefühl wie das Ersticken in Macht. Nichts hält es zurück, bis die Aufgabe vollbracht’ Ein fremder Hilferuf und doch war es ihrer: ‚Hilf mir! Vollende, was ich nicht konnte! Tu’ es!’ ‚Sie haben mich verraten. Er hat mich verraten. Sie haben dich verraten. Er hat dich verraten.’ Der Raum zum Zeitpunkt des Imbolc-Festes… Das Messer in ihrer Hand und Lucien neben ihr. ‚Wir sind eins. Wir waren es immer. Du bist ich und ich bin du. Aneinander gebunden bis in alle Ewigkeit. Aneinander gebunden bis die Prophezeiung wahr werden wird...’ Prophezeiung! Welche Prophezeiung… Wer bin ich? Meinen Namen! Ich brauche meinen Namen! Catherine schrie und schrie. Sie fühlte Hände, kräftige und zugleich sanfte Hände, die sie hielten und zur Ruhe zwangen… Meinen Namen! Wer bin ich?! ‚Du bist...’ Feuer und Rauch… Besinnungslose Wut und trotzdem zwei Hände, die sie hielten und nicht von ihr abließen. Lestat! Sie wusste, dass er es war und bäumte sich mit letzter Kraft gegen ihn, doch er blieb der Stärkere. „Catherine.“ Sie reagierte nicht. Marius beugte sich über sie. „So ungefähr war es, als sie ihren Bruder töten wollte.“ erinnerte er sich. „Ihre Augen…“ begann Lestat und öffnete vorsichtig ihre geschlossenen Lider. „Und?“ Lestat schüttelte den Kopf. „Normal. Smaragdgrün.“ fügte er hinzu. Marius schüttelte den Kopf, da Lestat das so genau wusste, und meinte: „Wir holen besser Saerlaith.“ „Warte noch! Sie ist wieder ganz ruhig.“ „Lestat, das ist eine Hexenangelegenheit und sie sollte es wissen…“ Catherine sog scharf die Luft in sich ein. „Es geht schon wieder los!“ meinte Marius, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Nein, sie kommt zu sich.“ „Ich hole Saerlaith jetzt trotzdem.“ Ehe Lestat noch etwas sagen konnte, war er verschwunden. Er blickte wieder hinunter zu Catherine, deren Augen seinen begegneten. „Was ist…“ „Ich nehme an, du hast geträumt.“ Sie nickte schwach. „Wie fühlst du dich?“ „Schwach, aber gut.“ Er nickte. Ihr Blick fiel auf seine Unterarme, die Spuren von Verbrennungen aufwiesen. „War ich das?“ fragte sie, worauf er weder nickte noch den Kopf schüttelte. „So etwas heilt bei mir schnell.“ Sie nickte und richtete sich langsam auf und griff nach der Wasserflasche. „Kannst du dich erinnern, was du geträumt hast?“ fragte er und stützte sie. „Wieso tust du das?“ fragte sie und meinte damit die Tatsache, dass er ihr half. „Was willst du hören?“ Sie schüttelte den Kopf und beantwortete seine erste Frage: „Ich habe meinen Namen.“ Die Tür hatte sich geöffnet und Marius und Elizabeth standen im Raum. „Wie ist das möglich?“ fragte Elizabeth kreidebleich und setzte sich auf die andere Bettkante, da sie nicht neben Lestat sitzen wollte. „Ich weiß es nicht. Ich habe geträumt… Vom Angriff in Paris und vom Ritual und es war wie damals, doch…“ Sie brach ab. Lestat hatte ihrem Angriff standgehalten. Er hatte sie gehalten und ihr ermöglicht, weiter zu gehen. „Dann konnten Sie weiter in ihr zweites Bewusstsein vordringen…“ begann Elizabeth. Catherine nickte. „Wie auch immer. Ich weiß jetzt meinen Namen.“ „Und wie lautet er?“ Catherine nahm einen Schluck und entgegnete: „Lasair.“ Kapitel 26: Unvorhergesehener Zwischenfall ------------------------------------------ Unvorhergesehener Zwischenfall Der Name kam ihr über die Lippen, als hätte sie ihn schon immer benutzt. Er klang so vertraut, doch sie bemerkte, dass er Marius und Elizabeth einen Ausdruck des Schreckens ins Gesicht schrieb. Elizabeth blieb einige Sekunden ruhig, dann erlangte sie ihre Fassung wieder. „Ruhen Sie sich aus, Catherine. Die Vampire unter uns sollten daran denken, dass die Sonne bald aufgeht.“ meinte sie und wollte aus dem Raum gehen. Marius nickte und ging schon voraus. „Warten Sie! Was wird nun geschehen?“ Elizabeth drehte sich noch einmal um und meinte: „Wir wissen nicht, warum Sie ohne Ritual Ihren Namen erfahren haben. Wir wissen nicht, ob das überhaupt Ihr wahrer Name ist. Und wir müssen herausfinden, ob uns der Name ‚Lasair’ weiterbringt.“ „Das ist viel Arbeit. Ich werde Ihnen dabei helfen.“ „Nein, Sie brauchen Ruhe. Lea wollte soundso die ganze Zeit aufstehen. Heute werde ich es ihr erlauben. Sie wird mir helfen können.“ Elizabeth ging mit schnellen Schritten auf die Tür zu. „Moment! Es geht mir gut. Ich brauche keine Ruhe.“ Sie richtete sich ganz auf und stand auf. Sie fühlte sich gut. Sehr gut sogar. Lestat beobachtete sie von der Seite, denn sie sah nicht danach aus, dass es ihr gut ging. Trotzdem schien es zu stimmen, denn sie bewegte sich ohne die geringste Schwäche oder Unsicherheit. Elizabeth starrte für kurze Zeit Catherine an und schüttelte dann energisch den Kopf. „Lea wird mir trotzdem helfen. Gehen Sie spazieren… Oder lesen Sie ein Buch, aber ich möchte, dass Sie heute Ihren Geist mit etwas anderem beschäftigen.“ Catherine zog nur die Augenbrauen hoch und fragte sich, wie das gehen sollte, wenn sie hier war, doch schließlich nickte sie. „In Ordnung.“ meinte Elizabeth in großer Erleichterung mehr zu sich als zu Catherine oder Lestat und verließ wie Marius den Raum. „Verstehst du das?“ fragte Catherine, als sie verschwunden war. „Sie möchte, dass du dich schonst und heute die Dinge ruhig angehen lässt. Gibt es da etwas nicht zu verstehen?“ entgegnete Lestat und sah an ihr hinunter. Sie trug nur Hotpants und ein T-Shirt. „Wie kann sie denken, dass ich mich jetzt aus allem heraushalten kann?“ murmelte sie und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Er zuckte die Schultern und wandte sich von ihr ab. „Lestat?“ „Hm?“ Er wandte sich nicht mehr um, sondern blieb einfach stehen und blickte leicht über seine Schulter zurück. „Es tut mir leid. Das mit deinen Verletzungen.“ „Ist nicht weiter schlimm.“ meinte er nur und ging in den Keller, um sich wenigstens an diesem Tag hinzulegen. Sie hatte ihn in ihrer Wut auf irgendetwas anderes fast zu glimmender, roter Asche verbrannt, doch das würde er für sich behalten. Er schlenderte langsam hinab in den Keller. Etwas Ruhe konnte nicht schaden, denn wenn er Marius nach seiner Rückkehr von Crossbost richtig verstanden hatte, gab es jetzt auch nichts für ihn zu tun. Lestat schob die Tür zu dem dunklen Raum auf, in dem die Vampire seit Wochen ihre Särge stehen hatten, und erblickte Marius, der mitten im Zimmer stand. Er sprach mit jemandem. Leise und vertraut. Lestat blieb stehen und schloss hinter sich die Tür. „Lestat.“ ertönte es rau hinter Marius hervor. Lestats Glieder zuckten, seine Sinne schrieen Alarm, doch nicht wegen der Gefahr, sondern wegen der Erinnerungen, die diese Stimme im ihm erneut auffrischte. „Armand.“ entgegnete er schlicht und schob sich an Marius vorbei. Da saß er – auf Daniels Sarg mit einem langen Umhang und rotblondem Haar. Er hatte sich trotzdem verändert, doch Lestat konnte nicht genau sagen, was es war. Er wirkte natürlich nicht älter, doch… vielleicht ein bisschen müder, als er selbst ihn in Erinnerung hatte. Lestat sagte nichts mehr, begnügte sich mit Armands Namen, den er ausgesprochen hatte, und kletterte in seinen Sarg, damit die beiden weiter ihre Dinge besprechen konnten, die sie fernab von seinen Ohren besprechen wollten, wie es schien. Armand, der im 14. Jahrhundert von Marius geschaffen worden war. Armand, dem Lestat 1780 zum ersten Mal begegnet war – er hatte sich nie mit ihm verstanden… Catherine schlenderte durch die kleine Stadt, da Elizabeth sie förmlich aus der Bibliothek geworfen hatte, als sie doch helfen wollte. In den kleinen Vorgärten blühten schon die Osterglocken und Catherine war schon seit Wochen in Schottland. Sie vertrieb sich die Zeit mit einem langen Spaziergang durch die Fußgängerzone, die Altstadt und durch den Stadtpark und stand plötzlich vor dem modernen Gebäude des Krankenhauses. Sie blickte an der Fassade nach oben und setzte sich auf eine Bank. Dort sollte Lucien noch liegen? Irgendwo hinter diesen vielen Fenstern. Warum brachte die Bruderschaft ihn nicht nach Rom zurück, so wie auch alle anderen verschwunden waren, die das Imbolc-Fest aufgemischt hatten? War Lestat nur schlecht informiert oder steckte dahinter mehr? Lestat. Lestat. Catherine stützte das Kinn auf ihre Knie und dachte an die Nacht in Crossbost. Sie spürte, wie ihr das Blut erneut in das Gesicht stieg und sie rot wurde. Er hätte noch einen Schritt tun müssen, und sie wäre ihm gefolgt. Ob Lestat das wusste? Nein, denn es lag ja nur an der Macht der Runen. Er selbst hätte sich nie auf sie eingelassen… Bestimmt nicht. Catherine schüttelte den Gedanken daran ab, wie viel sie ihm gegeben und wie viel sie ihm von sich preisgegeben hatte, denn Wut und Enttäuschung stiegen wallend in ihr auf, wenn sie es tat. Und doch konnte Catherine nicht ganz glauben, dass es nur die Runen… Genug! Ein für alle Mal: genug! Energisch schüttelte sie den Kopf und lehnte sich zurück. Sie waren mit so viel zurückgekommen, aber trotzdem arbeiteten sie nicht weiter daran. Waren diese Runenübersetzungen nicht wichtiger als die Echtheit dieses Namens, den sie nun einmal jetzt hatte? Catherine verstand das wirklich überhaupt nicht. „Darf ich?“ Ein älterer Mann mit Hut setzte sich ohne eine Antwort abzuwarten neben Catherine auf die Bank. Erst jetzt bemerkte sie, dass es dunkel geworden war. „Haben Sie jemanden besucht?“ „Wie bitte?“ „Na, im Krankenhaus?“ „Oh, nein. Ich sitze nur zufällig hier.“ „Sie sind aus Frankreich, nicht wahr?“ Catherine blickte ihn misstrauisch an und er lächelte. „Ich habe beruflich mit Franzosen zu tun.“ Catherine nickte und wollte das Gespräch beenden, indem sie aufstand, doch er folgte ihr. „Miss du Ravin, laufen Sie nicht wieder weg!“ „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich bin nicht…“ „Catherine Valérie du Ravin… Man sucht in Paris nach ihnen – eigentlich in ganz Europa.“ Sie drehte sich um und blickte in ein Gesicht, das einfach nur die Wahrheit sagte. „Ich muss gehen.“ murmelte sie und begann zu laufen. Vor ihr tauchten zwei weitere Männer auf, die sie nur schwer umgehen konnte, doch dann schlug sie sich durch das Gebüsch im Park. Sie rannte einige unnötige Umwege durch die schmalen Gassen, die sie zusätzlich verwirrten, und schließlich hängte sie sie dank ihres Trainings ab. Es war dunkel, als sie durch den Park auf Thirlestane Castle zu lief und sich immer wieder umblickte. Da war niemand mehr. Sie war sicher, aber trotzdem… „Wohin so schnell?“ Catherine erschrak und musste mitten im Lauf inne halten, da Lestat plötzlich vor ihr aufgetaucht war und sie ihm nicht in die Arme stürzen wollte. „Sie suchen mich.“ „Wer? Die Bruderschaft?“ „Nein, die Polizei.“ Lestat packte Catherine am Arm, zog sie mit zu den Wirtschaftsgebäuden hinüber und schob sie durch die Tür. „Sie…“ wollte sie protestieren, doch er bedeutete ihr nur zu Schweigen und ging noch einmal halb nach draußen. Catherine sah nur seinen Rücken und das weiße Hemd, das er trug. Sie lehnte sich gegen die Wand und wartete still, bis er sich wieder ihr zuwandte. „Sie sind weg.“ meinte er, worauf sie nickte. „Das hätte ich dir auch sagen können.“ entgegnete sie leise und begegnete seinem Blick. Die letzte Nacht kam ihm ins Gedächtnis und plötzlich sah er sie, wie sie am Ufer gesessen und gewartet hatte. Catherine senkte den Blick. „Was ist?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nichts.“ Ihr Blut kochte auch jetzt in ihren Adern, obwohl die Runen weit entfernt lagen. „Nichts.“ wiederholte er und kam näher auf sie zu. Sie hob ihren Blick wieder und begegnete seinen blauen Augen. Furcht und Zweifel lagen in ihren, in diesem dunklen Grün, das ihn an diesen kostbaren, grünen Edelstein erinnerte. „Du hast keine Angst vor mir, nicht wahr?“ Sie schüttelte stumm den Kopf. „Was fürchtest du dann?“ „Ich fürchte nichts.“ Kapitel 27: In einer zusätzlichen Bedrängnis -------------------------------------------- In einer zusätzlichen Bedrängnis „Nichts?“ fragte er noch einmal und Catherine nickte. Seine Hand legte sich an ihr Kinn und hob ihren Kopf ein wenig an. Sie zitterte. „Es ist kalt.“ erklärte sie, als er sie fragend anblickte. Er grinste. „Wie gestern also.“ Sie nickte. „Wie gestern.“ meinte sie. Tausend Fragen schwirrten ihr im Kopf herum, doch sie sprach keine einzige von ihnen aus – sie war nicht mehr fähig zu sprechen. Licht drang durch die verschmutzen Fensterscheiben in den Raum. Lestat ergriff Catherines Hand und bewegte sich lautlos tiefer in den Raum hinein. Das Knarren der Tür durchbrach die Stille, dann folgten Schritte und Stimmen. „Wir suchen weltweit nach Mademoiselle du Ravin. Falls Ihnen etwas auffällt, dann rufen sie bitte im Präsidium an, Mrs. Abbotsford.“ meinte der Polizeibeamte, der Catherine im Park angesprochen hatte. Catherine biss sich auf die Lippen. „Haben Sie denn irgendwelche Anhaltspunkte? Wieso kommen Sie damit zu mir?“ fragte Elizabeth den Beamten und blickte ihn direkt an. „Nein, nein. Ich war bei allen Bürgern mit viel Besitz. Ihr Land ist groß, das Gelände unüberschaubar. Es wäre gut möglich, dass sie hier Unterschlupf sucht.“ „Weshalb suchen Sie sie, wenn ich das fragen darf?“ Ein leises Lachen erklang, dann wieder die Stimme des Beamten: „Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben, aber die fragliche Person befindet sich auf der internationalen Fahndungsliste.“ Lestat beobachtete sie. Sie biss sich noch immer auf die Lippen und hob schließlich die Augen zu ihm hinauf. Er begegnete ihrem Blick. Sie schüttelte leicht den Kopf und die Schritte verhallten allmählich wieder. Lestat und Catherine verharrten in ihrer Position, bis auch Lestat nichts mehr hörte, und schlichen dann nach draußen. Sie schritten schnell durch den Park, während Lestat vorauseilte. „Er ist mir mit Sicherheit nicht gefolgt.“ meinte sie leise, worauf Lestat zu ihr zurückblickte. „Und trotzdem ist er hier?“ Catherine nickte. „Ich muss unbedingt mit Elizabeth sprechen. Sie muss wissen, dass ich ihm schon begegnet bin.“ Lestat nickte. „Sie werden dich schützen.“ fügte er hinzu, worauf Catherine nickte. „Irgendjemand muss mich vermisst gemeldet haben.“ „Nach allem, was ich gehört habe, wurde die Villa deiner Eltern zerstört. Das wird aufgefallen sein.“ „Sicher, aber dann…“ Lestat blieb stehen und wartete mit fragendem Blick auf sie. „Wenn sie nach mir suchen, dann suchen sie doch auch meinen Bruder, oder nicht?“ Sie gingen weiter nebeneinander her. „Das ist anzunehmen. Und deine Eltern?“ „Meine Eltern sind tot.“ entgegnete Catherine und verspürte dabei einen kleinen Stich, da ihr die Worte relativ leicht über die Lippen gekommen waren. Lestat sagte nichts darauf. „Lucien liegt im Krankenhaus hier… Das hast du doch gesagt, oder?“ Er nickte. „Dann werden sie ihn finden, wenn sie das noch nicht getan haben. Und er wird ihnen sagen, dass ich hier bin…“ „Oder hat es schon gesagt.“ schloss Lestat und begegnete ihrem zustimmenden Blick. „Ich muss soundso mit Elizabeth reden. Kommst du mit?“ „Wenn du das willst…“ Catherine nickte und wenig später klopften sie an die Tür zu Elizabeths Büro. „Ja?“ kam von drinnen ihre Stimme. Lestat ließ Catherine vor sich eintreten und erblickte einen Augenblick später, dass Elizabeth keineswegs allein war, sondern Marius und Armand bei ihr waren. „Wo ist David?“ fragte Catherine überrascht, doch wartete keine Antwort ab. Lestat schloss die Tür. Dass Armand hier war, gefiel ihm immer noch nicht. „Die Polizei sucht nach mir, aber das wissen Sie schon.“ Elizabeth nickte und lehnte sich an das Fenster an. „Deshalb werden Sie das Anwesen nicht mehr verlassen. Gehen Sie am besten auch nicht mehr nach draußen und wenn sie unbedingt frische Luft wollen, dann bleiben sie im Park und gehen nicht in den angrenzenden Wald, denn dort gibt es keine Mauer oder keinen Zaun, um die Polizisten vor dem Herumschnüffeln abzuhalten.“ Catherine nickte etwas widerwillig, worauf Elizabeth sich zum Fenster drehte und hinausblickte. „Was schlagen Sie vor?“ fragte sie. Catherine zögerte kurz, da sie nicht wusste, was Elizabeth mit dieser Frage wollte, dann antwortete sie: „Es interessiert mich nicht, ob mein Name echt ist oder nicht. Und wir können uns in unserer jetzigen Situation nicht daran aufhalten, das herausfinden zu wollen. Das spielt keine Rolle. Ich fühle mich nicht anders, nennen Sie und die Mädchen mich weiterhin Catherine. Es ist einerlei, was ich träume oder nicht... welche Visionen ich habe.“ „Was ist dann wichtig?“ Catherine blickte den fremden Vampir an. Marius wandte ebenfalls den Blick zu Armand. „Lass’ sie ausreden.“ meinte er und Armand nickte. „Ich will wissen, was die Bruderschaft wirklich plant. Die Zerstörung des Altars und die Unruhe während des Imbolc-Festes waren… wie wir schon einmal gesagt hatten… nur der Anfang. Und außerdem diente das ganze laut Bruderschaft dazu, zu verhindern, dass eine alte Macht wiederaufersteht. Stimmt das? Ist es möglich, durch ein Ritual Unheil heraufzubeschwören, auf das die Bruderschaft reagieren würde?“ Elizabeth schüttelte den Kopf und setzte sich an ihren Schreibtisch. „Sie überschätzen uns, Catherine.“ Catherine stützte sich auf dem Schreibtisch ab und blickte sie auffordernd an. „Wir sind Hexen, aber solche Kräfte benutzen wir nicht.“ „Könnten sie es?“ „Nur die wenigsten von uns könnten es.“ „Wer?“ „Elatha und Nyah und auch ich, zum Beispiel.“ „Nyah?“ Elizabeth nickte. Saerlaith, Elatha, Nyah. Drei Generationen derselben Familie. „Es liegt also in einer Familie. In ihrer. Und die anderen?“ „Die anderen Mädchen, die hier sind, besitzen weniger ausgeprägte Fähigkeiten, ein Bruchteil davon, wenn sie es so wollen.“ „Aber trotzdem ist klar, dass sie sie besitzen?“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ Catherine schwieg eine Weile und zog die Augenbrauen zusammen. „Schicken Sie diejenigen von hier weg, deren Kräfte nicht so ausgeprägt sind.“ entgegnete Lestat. „Wie bitte? Thirlestane Castle ist ein Zufluchtsort! Wollten Sie das auch sagen, Catherine?!“ empörte sich Elizabeth. Catherine nickte. „Sind Sie in der Lage, ihre Schützlinge auch zu schützen, sollte die Bruderschaft noch einmal…“ „Ich lasse in diesem Punkt nicht mit mir reden! Sie bleiben. Und zwar alle!“ Catherine blickte zu Lestat, dem ein spöttisches Lächeln auf den Lippen und mit Sicherheit auch eine dementsprechende Bemerkung auf der Zunge lag. Sie schüttelte leicht den Kopf, schluckte hinunter, was sie von Elizabeths Einstellung hielt, und fuhr dann fort: „Wir brauchen die Ziele der Bruderschaft, die Übersetzung der Runen, die Lestat und ich in Crossbost aufgezeichnet haben…“ Sie brach ab, als Marius ein Blatt vom Schreibtisch nahm. „An der Übersetzung arbeiten wir noch. Die Umschrift allerdings haben wir.“ meinte er und wollte Catherine das Blatt weiterreichen, doch Elizabeth nahm es ihm aus der Hand. „Catherine kann damit nichts anfangen.“ meinte sie und zu Catherine selbst sagte sie: „Warten Sie, bis die Übersetzung fertig ist.“ „Wann wird das sein?“ fragte Lestat und nahm das Blatt an sich. Er warf einen Blick darauf und bemerkte Marius’ Handschrift. „Wir arbeiten so schnell es geht.“ entgegnete Elizabeth nur und verlangte das Papier zurück. Catherine verließ nach einem kurzen Nicken das Büro und lehnte sich draußen mit geschlossenen Augen an die Wand. „Was ist?“ Lea stand vor ihr und blickte sie fragend an. „Nichts, alles in Ordnung.“ Catherine war sich sicher, dass Lea ihr kein Wort glaubte, denn überzeugend hatte sie das gerade nicht gesagt. „Kommst du mit essen?“ „Nein, ich habe keinen Hunger.“ „Du isst ziemlich selten mit uns in der letzten Zeit.“ Catherine nickte und seufzte. „Es ist einfach viel passiert und…“ „Und?“ Catherine räusperte sich. „Und ich dachte nicht, dass die Todesfälle so am Alltag von Thirlestane Castle vorbeigehen.“ Lea zog die Augenbrauen hoch, dann meinte sie: „Das tun sie nicht. Wir bedauern sehr, was passiert ist.“ „Und trotzdem geht es weiter wie bisher.“ bemerkte Catherine. „Es ist ein bewährtes System… Du kommst also wirklich nicht mit?“ Catherine schüttelte den Kopf und Lea ging in den Speisesaal. Thirlestane Castle, der Zufluchtsort, der Ort, an dem Trauer nicht existierte, der Ort, an dem keine Katastrophe etwas am Alltag und am bewährten System ändern konnte. Catherine lachte leise. Das erinnerte sie sehr an die Bruderschaft – sehr. Sie schüttelte den Gedanken ab. Thirlestane Castle war anders als die Katakomben der Bruderschaft! Ganz anders! Nachdenklich griff sie sich an die Stirn und schritt die Treppe hinauf, die zu ihrem Zimmer führte. Ihre Schritte verursachten ein dumpfes Geräusch auf dem Teppich, der auf dem Holz der Treppe lag und den Dielen der Gänge ebenfalls folgte. Die Gemälde ihrer Vorfahren hingen stumm an der Wand und folgten ihr wieder – wie jene, die in ihrem Zuhause in Paris hingen – mit ihren Blicken. Zuhause! Sie lachte verbittert. Sie hatte kein Zuhause mehr. Diese Zeiten waren vorbei. Kapitel 28: Neue Pläne ---------------------- Neue Pläne Lestat beäugte Armand misstrauisch und fragte dann: „Stimmt das? Haben wir die Umschrift der Runen bereits?“ Elizabeth zögerte, doch Marius gestand: „Nein, aber Catherine sollten wir damit nicht zusätzlich belasten.“ Lestat lachte. „Wen dann, wenn nicht sie?“ fragte er und schüttelte den Kopf. „Lasair ist noch zu jung.“ entgegnete Elizabeth. „Sie ist noch nicht in sich gefestigt und sie braucht Führung.“ „Bevormundung also?“ entgegnete Lestat und Armand lachte. „Dir scheint wirklich viel an ihr zu liegen, Lestat.“ Lestat ignorierte ihn. Es ging hier um mehr, als seinen Hass oder sein gespanntes Verhältnis zu Armand. Marius ergriff wieder das Wort: „Da die Polizei nach ihr sucht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man auch hier suchen wird. Deshalb werden wir gehen.“ „Gehen?“ Lestat glaubte, er hatte sich verhört, doch Marius schien es ernst zu meinen, doch er hatte sich nicht getäuscht. „Dann gehen wir also, bis sich die Suche nach Catherine beruhigt hat, aber was dann...“ „Nein, Lestat. Wir werden nicht zurückkommen.“ entgegnete Marius. „David, Louis und Daniel sind bereits aufgebrochen und ihr solltet das auch möglichst bald tun.“ fügte Elizabeth hinzu und blickte Lestat durchdringend an. „Aber was wird aus…“ Marius schüttelte den Kopf. „Elizabeth hat alles unter Kontrolle. Nicht wahr?“ Elizabeth nickte. „Das ist nun eine Hexenangelegenheit.“ fügte sie ihrem Nicken hinzu. „Das bedeutet, dass wir gut genug waren, bis Sie klar gesehen haben, und nun sind wir nicht mehr von Nöten, also werden wir…“ Lestat brach ab, als er Armands ruhiges Grinsen sah. Er zuckte gleichgültig die Schultern. „Gut, dann gehen wir eben.“ meinte er und verließ vor Marius oder Armand das Büro. „Es ist einfach zu risikoreich. Wie soll ich der Polizei sechs Särge in meinem Keller erklären?“ versuchte Elizabeth noch einmal ihren Standpunkt zu erklären, doch Marius hob nur die Hand. „Es ist im Großen und Ganzen, wie Lestat gesagt hat, aber es ist deine Entscheidung. Wir werden gehen.“ „Wie soll ich meine Mädchen schützen, wenn...“ „Meine Meinung dazu kennst du: in diesen Gemäuern muss es viele versteckte Winkel geben, in denen wir uns verbergen könnten. Das wäre möglich. Immerhin hast du auch vor, eine Lebende vor der Polizei zu verstecken. Wenn dich das nicht vor ein Problem stellt, dann…“ „Das ist es doch genau! Ich werde Catherine nicht vor der Welt verstecken können. Sie wird ihre Aussage machen müssen. Es werden aufreibende Zeiten auf sie zukommen und deshalb haben Elatha und ich beschlossen, dass es das Beste so ist.“ „Elatha? Was hat sie damit zu tun?“ „Sie wird einmal meinen Platz einnehmen. Sie hat das Recht, darüber ihre Meinung zu äußern.“ Marius nickte und verließ mit Armand ebenfalls das Büro. „Du gibst Lestat Recht?“ fragte Armand. „Ja. Elizabeth hat mich angefleht, ihr zu helfen. Und jetzt will sie uns loswerden. Irgendetwas stimmt nicht.“ „Und trotzdem gehen wir?“ „Ja. Wenn ich Recht habe, und irgendetwas nicht stimmt, dann sollten wir sie in Sicherheit wiegen.“ Armand zog eine Augenbraue hoch und hörte Marius weiter zu. „Die Neuigkeiten, die du aus Rom mitgebracht hast, haben sie überrascht. Zum Glück haben wir ihr nicht alles gesagt, sonst könnte das zum Nachteil für Catherine sein.“ „Was ist nur an diesem Mädchen dran, dass sie selbst dir so viel bedeutet?“ „Sie bedeutet mir nicht viel, aber sie ist etwas Besonderes. Hast du das nicht gespürt?“ Armand schüttelte den Kopf. „Ich vermute, dass Elizabeth auch irgendetwas in diese Richtung gespürt hat. Und ich vermute, dass Lestat es auch spürt.“ „Wie willst du weiter vorgehen? Lestat wird mich nicht bei euch dulden. Wir hatten schon immer unsere kleinen Probleme miteinander.“ „Ich würde sagen, dass ihr diese Probleme unter euch endlich klären sollt, aber das scheint mir vergebens zu sein.“ Armand nickte finster. Marius seufzte. „Lestat und du… Ihr seid wirklich beide die reinsten Sturköpfe, aber gut! Das regeln wir später.“ Sie traten in den Kellerraum und bemerkten, dass Lestat nicht anwesend war. „Wo ist er?“ Armand zuckte die Schultern. „Vielleicht bei Catherine.“ murmelte er amüsiert und bereitete mit Marius die Abreise vor. Catherine träumte nicht in dieser Nacht, doch sie schlief auch nicht. Nachdenklich saß sie auf der Fensterbank in ihrem dunklen Zimmer und blickte hinaus auf den Innenhof, in dem die Fackeln wieder brannten und flackernde Schatten auf den steinernen Boden warfen. Weit entfernt standen die Bäume und unter denen befanden sich die Grabmäler. Von ihrem Fenster konnte sie diese in der Dunkelheit zwar nicht sehen, doch sie wusste, dass sie da waren. Sie konnte sie fühlen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch nicht Furcht, sondern Neugier war der Grund. Neugier und Ehrfurcht vor den Toten vielleicht. Immerhin waren es mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ihre schottischen Vorfahren, die dort begraben lagen. Das war ein seltsames Gefühl, dass sie sich hier im ehemaligen Besitz ihrer Familie befand, aber Elizabeth sagte, was getan wurde. Und es war seltsam, dass sie sich nicht im Geringsten mit ihren Vorfahren identifizieren konnte. Oder es nicht wollte. Was machte es für einen Unterschied, wenn sie wusste, wer vor hunderten von Jahren zu ihrer Familie gehört hatte? Wer wem den Kopf eingeschlagen hatte? Oder ähnliche Dinge. Mussten diese Dinge immer Auswirkungen auf ihr eigenes Leben haben, das einmal mehr nicht ihr eigenes war? Blutsbande waren nichtig – seine Familie konnte man sich nicht aussuchen. Was konnte man schon anhand der Verwandtschaft über eine Person aussagen? Sie blickte hinunter auf ihre Hände und dachte an die Verbrennungen an Lestats Unterarmen. Nie hatte sie geglaubt, dass sie solche Kräfte besaß, doch auch jetzt war es ihr, als ob es nicht sie gewesen war. Der Angriff gegen Lestat war so weit weg von ihrem Inneren wie der Angriff auf Lucien, und doch war bei beiden Fällen sie diejenige gewesen, die gehandelt hatte. Und sie wollte es nicht sein! Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Wand. Irgendwie musste es eine Möglichkeit geben, sich zu kontrollieren. Sie musste es lernen, denn so war sie das, was sie nie sein wollte: eine Gefahr für sich und andere. Bilder kamen ihr in den Sinn. Bilder von ihren Eltern und der Ausbildung bei der Bruderschaft, Fetzen von geführten Gesprächen, Anweisungen, Dinge, die sie irgendwann einmal gelesen hatte, und ihr Bruder. Lucien. Er stand da und schüttelte den Kopf, dann wandte er sich um und schritt auf die gemeinsamen Eltern zu. ‚Du hattest die Wahl.’ Catherine schluckte und presste ihre Lippen aufeinander. „Ich will nicht mehr.“ flüsterte sie kaum hörbar. „Du hast keine Wahl.“ Catherine schreckte hoch und blickte in Lestats Gesicht. „Was machst du hier?“ Catherine nahm die Beine von der Fensterbank und drehte sich mit dem Rücken zur Fensterscheibe. Langsam hob er seine Hände und fuhr ihr mit ihnen durch ihr dichtes Haar. Einer seiner Finger wischte sanft eine winzige Träne aus dem Winkel ihres rechten Auges. „Ich weine nicht.“ „Natürlich nicht.“ Catherine lachte leise. „Also?“ fragte sie und blickte ihn an. „Hast du an deinen Bruder gedacht?“ „Auch, aber eigentlich an alles – an meine Eltern und an meine Kindheit.“ „Hattest du überhaupt eine Kindheit?“ Sie nickte. „In gewisser Weise.“ fügte sie hinzu. Er blickte sie schweigend an. „Du hättest das nicht hören sollen.“ „Dass du nicht mehr willst?“ Catherine nickte und versuchte, irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck zu finden, das ihr sagte, was er dachte. „Ich verstehe es selbst nicht. Ich bin normalerweise nicht so…“ Sie brach ab. „So… was?“ fragte er. „So schwach.“ entgegnete sie. Lestat betrachtete sie prüfend. „Wir wurden trainiert, mit dieser Belastung umzugehen. Und ich war darin ziemlich rigoros, wenn ich das so sagen kann. Es spielte noch nie eine Rolle, was ich wollte oder brauchte. Wenn ich als Kind geweint habe, hat das niemanden gekümmert. Genauso war es, wenn ich geblutet habe oder anders verletzt war. Es war egal, da alle wussten, dass meine Wunden schnell heilten. Ich habe es gehasst, aber ich bin klar gekommen.“ „Wie?“ „Das Weinen habe ich mir größtenteils abgewöhnt, da es nie etwas geändert hat. Und die anderen Dinge habe ich hingenommen.“ „Ich denke nicht, dass du schwach bist. Es ist einfach viel verlangt.“ Catherine betrachtete wieder seine Gesichtszüge. Sie waren wunderschön. „Und ich bin normalerweise auch nicht so mitteilungsbedürftig. Ich sollte dir das alles nicht sagen.“ „Wir waren uns schon näher, wenn ich dich erinnern darf.“ Kapitel 29: Übermächtige Gefühle -------------------------------- Übermächtige Gefühle Er lehnte sich zu ihr nach vorne und stützte seine Arme neben ihr ab, ehe er mit seinen Lippen ihre berührte. Sie erwiderte das Spiel seiner Lippen und tastete mit ihren Händen nach seiner Brust. Langsam öffnete sie ihre Beine, rutschte auf der Fensterbank wieder ein Stück nach vorne und zog ihn dichter an sich. Catherine fühlte sich wie gefangen in diesen fiebrigen Berührungen, denen sie sich hingab. Ihr Herz schlug heftig gegen ihren Brustkorb, sodass sie beinahe glaubte, er würde zerspringen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Lestats Lippen bewegten sich langsam zu ihrem Ohrläppchen und sanken an ihren Hals. Mit gehauchten Küssen bedeckte er ihre zarte Haut und ließ leicht seine Zähne über Catherine streifen, was sie zusammenzucken ließ. Sie vertraute ihm trotzdem völlig. Langsam widmete er sich wieder ihren Lippen und Catherines Hände fuhren über seinen Rücken wieder nach vorne auf seine Brust. Ihre Finger öffneten zitternd die oberen Knöpfe seines Hemds, dann hielten sie inne, da er seine Lippen wieder von ihren nahm. Ihre Blicke begegneten sich. Sie zog ihn wieder zu sich und begann wieder, ihn zu küssen, was er nur allzu gern erwiderte. Ihr Duft umnebelte ihm seine Sinne und raubte ihm jede Vernunft, die ihm noch zurief, Abstand zu halten. Sie war so weich, so warm, so lebendig. Und sie hatte keine Angst. Er wollte sie – gänzlich. Plötzlich wurde ihm bewusst, was er gerade dachte. Verwirrt hielt er inne, schob sie ein Stück von sich weg und betrachtete sie. „Wir sollten das nicht tun.“ bemerkte er. „Seit wann tust du, was du solltest?“ entgegnete sie und lächelte. Dann meinte sie: „Es ist nicht gut, was wir tun. Es verwirrt uns nur zusätzlich und das können wir uns nicht leisten. Wir sollten uns auf die Arbeit konzentrieren. Und die erfordert unsere volle Konzentration. Da hast du Recht.“ „Habe ich das?“ fragte er, nickte aber. Catherine lächelte. „Leider, ja.“ entgegnete sie. „Du verstehst das nicht…“ begann er. „Dann erklär’s mir.“ forderte sie ihn auf. Sie wollte es verstehen. Er suchte nach den richtigen Worten und rang mit sich, das sah sie. „Es ist gefährlich.“ meinte er schließlich. „Das ist alles?“ „Reicht das nicht?“ Catherine schüttelte den Kopf und lächelte. „Nein, bei weitem nicht.“ bestärkte sie ihre Geste. „Du weißt trotzdem nicht, worauf du dich einlässt.“ bemerkte er und schüttelte den Kopf. „Ich denke schon, aber…“ Sie ergriff seinen Arm, da er sich wieder von ihr abwenden wollte. „… ich weiß vor allem, was ich will.“ Lestat grinste und blickte auf sie hinunter. „Du weißt nicht, worauf du dich einlässt.“ wiederholte er. Catherine seufzte und zuckte die Schultern. Scheinbar gleichgültig ließ sie ihn los und meinte: „Solange du es weißt…“ Lestat entgegnete nichts. „Weißt du es überhaupt?“ fragte sie und blickte ihn prüfend an. „Ja, ich bin Vampir und…“ „Das meinte ich nicht.“ „Was dann?“ „Ich meinte mich. Was immer mit mir los ist, kannst du auch nicht wissen. Ich scheine in bestimmten Augenblicken nicht kontrollieren zu können, was ich tue. Ich ersteche meinen Bruder…“ „Er lebt noch.“ „…und ich verbrenne dich.“ „Das war überhaupt nichts.“ „Sicher.“ gab sie ironisch zurück. „Die Verletzungen, die ich dir zugefügt habe, waren ernst. Ich kann noch immer die Rötungen sehen.“ Lestat sagte nichts, sondern zog nur die Augenbrauen hoch. Es klopfte an der Tür und Lea steckte den Kopf herein. „Ähm, Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass ihr… du… Was auch immer! Kannst du herunterkommen? Elizabeth braucht dich.“ Catherine schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Sie braucht dich aber.“ Lestats Blick wanderte von einer zur anderen. „Und ich brauche Antworten und bekomme sie auch nicht.“ „Aber…“ „Ich kann jetzt wirklich nicht. Hat das nicht Zeit?“ Lea biss sich auf die Lippen und schüttelte leicht den Kopf. „Sie hat gesagt…“ Lestat fixierte sie und Lea verstummte. „Ich richte ihr aus, dass du beschäftigt bist.“ meinte Lea schließlich und verließ das Zimmer. „Du hast ihr Angst gemacht!“ sagte Catherine und schlug Lestat leicht vor die Brust. „Ich denke nicht, dass sie Angst vor uns hat.“ „Vor den andern wahrscheinlich nicht, aber vor dir.“ entgegnete sie nickend. „Wieso sollte sie keine Angst haben? Auch wenn sie Hexe ist, rennen ihr nicht dauernd solche … Typen wie ihr über den Weg.“ „Sie hat sich vor ein paar Nächten lange mit Louis unterhalten.“ „Ist er gefährlich?“ fragte Catherine erschrocken und begegnete Lestats schelmischen Augen. „Um sie machst du dir Sorgen. Um dich nicht. Du bist seltsam.“ Sie senkte den Blick. „Du hast mich vor ein paar Tagen gefragt, ob ich dir vertraue. Erinnerst du dich?“ murmelte sie leise. „Ich weiß, dass du es tust.“ antwortete er nur und hob ihr Kinn etwas hoch, sodass sich ihre Blicke wieder begegneten. „Du würdest mich sonst nie so nah an dich heranlassen.“ fügte er hinzu. Catherine nickte. „Das solltest du nicht.“ meinte er leise und schüttelte den Kopf. Catherine schob ihn zur Seite und rutschte von der Fensterbank. Im Vorbeigehen strich sie mit ihren Fingerspitzen über seinen Bauch und drehte sich dann von ihm weg. Ihre Schritte hallten leise auf dem Parkett. Lestat beobachtete ihre langsamen Bewegungen. Sie nahm ihr Haar nach vorne und fuhr mit den Fingern hindurch. Die Sekunden schienen langsamer zu verstreichen als jemals zuvor. Die Zeit schien still zu stehen. Nach etlichen Augenblicken drehte sie sich wieder zu ihm um und streckte ihre Hand nach ihm aus. Lestat stand immer noch am Fenster und blickte zu ihr. „Komm!“ flüsterte sie und er folgte ihrer Bitte, als sei dieses Wort nur das, worauf er gewartet hatte. Er ergriff ihre Hand, zog sie dicht zu sich und dirigierte sie unter leidenschaftlichen Küssen zur Tür, die er mit einer raschen Handbewegung abschloss, und hob sie dann mit Leichtigkeit hoch. Sie schlang ihre Beine um seinen Körper und ihre Arme um seinen Nacken und erwiderte seinen Kuss. Lestat bewegte sich zum Bett und legte Catherine darauf ab. Vorsichtig beugte er sich über sie und strich ihr mit seiner Hand über die Wange. Catherine schloss genießend die Augen und tastete nach seinem Körper. Ihre Hände glitten so sanft über seinen Körper, dass er das Gefühl hatte, es sei nur ein leichter Windhauch. Sie hatte die Augen geöffnet, doch ein Schleier hatte sich über sie gelegt. Lestat lächelte bei sich und verwickelte sie erneut in einen leidenschaftlichen Kuss, bis er mit den Fingern über ihre Halsbeuge zu ihrem Dekolleté wanderte und dann seine Lippen ihnen folgen ließ. Langsam streifte er ihr das Oberteil ab und warf es neben sich. Catherine richtete sich halb auf und nahm ihm noch mehrere Küsse von den Lippen, ehe sie zu seinem Ohrläppchen und schließlich seinen Hals hinunter fuhr. Zärtlich knabberte sie leicht an seiner Haut, worauf er scharf die Luft einzog und sie an ihrer Taille noch dichter zu sich zog. „Ich dachte, das ist mir vorbehalten.“ flüsterte er, worauf sie leise lachte. „Untersteh’ dich!“ Catherine zog ihm nun endlich auf sein Hemd aus und spürte seine warme Haut auf ihrem erhitzten Körper. Er übersäte sie mit Küssen, ergab sich ihren Berührungen, bei denen sie genau wusste, was sie bewirkten. Sie wusste, wo sie ihn berühren musste. Sie wusste, wie sie ihn berühren musste. Lestat beugte sich nun wieder über ihren nackten Körper und betrachtete sie. Sie war wunderschön und schien ihm makellos. Er stützte sich neben ihrem Kopf ab und sank mit den Lippen wieder an ihre Brüste und ihren Bauch. Er verwöhnte sie. Catherine spürte seinen schweren Körper auf sich. Er war ihr so nahe, dass sie sich nicht mehr näher kommen konnten. Catherine schloss die Augen und legte den Kopf zurück. Es war nicht nah genug! Sie wollte ihn noch näher bei sich! Ihre Finger tasteten nach seinem Handgelenk und plötzlich verspürte Lestat einen stechenden Schmerz, sodass er auffuhr. Blut tropfte aus seinem Handgelenk auf das Laken und sie blickte ihn grinsend an. Sie fuhr sich mit der Zunge zum Mundwinkel, an dem noch ein Tropfen hing. „Was…?“ Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern bedeckte seine Lippen mit ihren. Lestat schmeckte sein Blut in ihrem Mund und empfing wieder alles, was von Catherine ausging. Ihre weiche Haut fühlte sich unter seinen Händen an wie Samt. Ihr Körper gab sich ihm in vollem Vertrauen hin, das er nicht enttäuschen wollte. Sie war so kostbar. So zerbrechlich und kostbar. Ihr Duft drang bis tief in seine Lungen und erfüllte sie. Seine Sinne waren im Rausch und er genoss es. Und es war unwichtig, was gerade geschehen war. Für ihn zählte nur noch sie. Catherine. Alles an ihr. Kapitel 30: 'Leb' wohl, Catherine.' ----------------------------------- ‚Leb’ wohl, Catherine.’ Erschöpft sanken sie in das Laken zurück. Lestat bemerkte, dass Catherine leicht zitterte. Sie sah ihn an und tastete mit ihrem Finger an seine Schläfe, an dem ein rötlicher Tropfen hing. Er nahm ihre Finger weg und wischte sich den Schweiß selbst ab. Sie angelte nach einem Tuch und hielt es ihm hin. Worte waren nicht nötig. Sein Schweiß war - ebenso wie seine Tränen, sollte er einmal weinen, mit Blut vermischt. Lestat wischte sich trocken und warf das Tuch aus dem Bett. Catherine kuschelte sich in die Kissen. Ihre Sinne gehorchten ihr noch immer nicht. Sie sah Lestat nur leicht verschwommen vor sich, dann spürte sie ihn wieder an sich und bemerkte, wie er die Decke nach oben zog. Sie schloss die Augen und schluckte. Als sie sie wieder aufschlug, blickte sie ihn seine graublauen Augen. „Hast du gehofft, es war ein Traum?“ Sie lächelte und schüttelte leicht den Kopf. „Befürchtet.“ verbesserte sie ihn und strich ihm über seine Stirn. Lestat schwieg und hielt sie einfach nur fest. Catherine bettete ihre Stirn gegen seinen Hals und lauschte seinen Atemzügen, bis sie langsam bemerkte, dass sie immer müder wurde. „Geht es dir gut?“ fragte Lestat leise, worauf sie nur noch mit einem zustimmenden Geräusch antwortete. Kurz darauf spürte er, dass ihr Körper schwerer wurde und schloss daraus, dass sie eingeschlafen war. Wie selbstverständlich strich er ihr zärtlich über ihre immer noch warme Haut, während er seinen Gedanken nachhing. Wie lange war es her, dass er den Körper eines Menschen so gespürt hatte? Natürlich hatte er in seinem sterblichen Leben Erfahrungen gesammelt, doch diese hatten sich auf Prostituierte und Schauspielerinnen, was in damaliger Zeit in dieselbe Richtung ging, beschränkt. So etwas, wie das mit Catherine… So etwas hatte er noch nie erlebt. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass er eine lebende Person je wieder auf diese Art und Weise spüren würde. So ganz ohne Hintergedanken… Oder hatte er welche? Schon öfter hatte er Menschen dazu gebracht, ihn zu bewundern, zu mögen und gar zu lieben, nur um sie später doch gänzlich zu nehmen und das leidenschaftliche Blut, das für ihn in ihnen strömte, zu schmecken. Lestat wandte den Kopf und betrachtete Catherines Gesicht. Ihre ebenmäßigen Züge waren so lieblich und verrieten nicht, welche Kämpfe sie in ihrem Leben schon durchgestanden hatte. Sie schlief ruhig und friedlich und zeigte ihm somit einmal mehr, wie sehr sie ihm vertraute. Sanft zog er mit seinem Finger die Linie ihrer Augenbrauen nach und strich ihr durch das Haar. Sie bewegte sich geschmeidig im Schlaf und legte ihre Hand auf seinen Bauch. Er begehrte sie. Sogar diese Berührung entfachte erneut ein Feuer in ihm. Er lauschte den regelmäßigen Schlägen ihres Herzens und versank in diesem Geräusch. Schon allein dieses Geräusch raubte ihm den Atem. Er liebte es. Dumpf. Stark. Leidenschaftlich. Verführerisch. „Lestat.“ murmelte sie. „Ja?“ entgegnete er leise und überrascht, überhaupt etwas von ihr zu hören, doch Catherine sagte nichts weiter. Sie schlief fest. Elatha ging in Elizabeths Büro auf und ab und schüttelte immer wieder den Kopf. Elizabeth saß an ihrem Schreibtisch und folgte ihr mit ihrem Blick. „Wie stellst du dir das vor, Mutter? Die Polizei auf Thirlestane Castle… Was soll sie den Beamten schon sagen, ohne uns selbst in diese Sache…“ „Es geht nicht anders. Wir können Lasair nicht verstecken…“ „Wie soll sie erklären, dass sie hier ist? Und was soll sie über ihren Bruder und ihre Eltern sagen. Ihr Bruder mit Stichwunden im Krankenhaus, ihre Eltern tot? Das ist einfach zu verdächtig.“ „Wichtig ist, dass sie herausfindet, was die Polizei schon weiß. Sie darf nur Dinge zugeben, die sie schon wissen.“ Elatha schüttelte unwillig den Kopf. „Wie soll sie das schaffen? Sie ist keine von uns. Sie…“ Elatha brach ab, da es an der Tür klopfte. „Herein!“ rief Elizabeth und Lea trat ein. „Wo warst du so lange? Und wo ist Lasair?“ fragte Elatha und setzte sich auf einen Stuhl. Lea legte ihr Buch aus der Hand und meinte: „Sie ist beschäftigt. Sie kommt nicht. Ich habe versucht, sie zu überreden, aber sie kommt nicht.“ entgegnete Lea und blickte etwas nervös in die Gesichter ihrer zwei Verwandten. Elizabeth nickte und meinte: „Das habe ich mir gedacht. Na, da kann man nichts machen. Danke, Lea.“ Lea zögerte und begegnete dem fragenden Blick ihrer Mutter. Langsam holte sie Luft und verwarf den Gedanken wieder. „Was ist denn noch? Willst du noch etwas sagen?“ „Ich…“ Lea stockte und trat ganz in den Raum. Sie schloss die Tür und meinte: „Lestat war bei ihr. Sie haben sich unterhalten und… Sie schien wegen ihm nicht herunterkommen zu wollen.“ Elatha warf ihrer Mutter einen viel sagenden Blick zu. „Ich sagte doch, sie verstehen sich gut. Wir sollten ihr nicht trauen. Wer sich mit einem Vampir ….“ „Wie kannst du so etwas sagen! Catherine ist vertrauenswürdig. Nur weil sie nicht in euer Schema passt….“ entgegnete Lea heftig. „Lea! Wer sich mit einem Vampir einlässt, ist nicht ganz dicht! Und wer sich mit einem Vampir einlässt, dem sollte man nicht vertrauen. Ich habe dir nicht umsonst gesagt, du sollst dich von ihnen fernhalten. Wir sind Hexen. Sie sind Vampire. Wir gehören nicht zusammen! Das gibt nur eine Katastrophe.“ erwiderte Elatha forsch und Elizabeth fuhr fort: „Die Katastrophe ergibt sich auch, wenn man nur Sterbliche und Unsterbliche zusammen kommen lässt.“ „Ihr versteht doch gar nichts!“ rief Lea und knallte die Tür hinter sich zu. Elizabeth und Elatha tauschten verwunderte Blicke aus, dann schüttelte Elizabeth den Kopf. Nach kurzem Schweigen meinte sie: „Wir kümmern uns später um sie. Lasair bedarf im Moment unserer Aufmerksamkeit…. Wo waren wir? Ach, ja. Ihre Fähigkeiten sind enorm.“ „Meiner Meinung nach besitzt sie durchschnittliche magische Kräfte.“ widersprach Elatha ihrer Mutter und schüttelte wieder den Kopf. Elizabeth machte eine abwertende Handbewegung. „Sie fühlt sich hier nicht wohl und hat sich noch nicht integriert.“ „Das wird sie auch nie.“ prophezeite Elatha, worauf Elizabeth sie einen Moment nur ansah. Dann meinte sie: „Ich denke schon. Trotz ihrer Fähigkeiten braucht sie jemanden, der ihr eine gewisse Anleitung gibt.“ Elatha blickte ihre Mutter misstrauisch an. Elizabeth nickte. „Ich möchte, dass du das übernimmst.“ „Du weißt genau, dass ich zurück nach London muss. Die Arbeit…“ „…kommt in diesem Fall wohl ohne dich aus. Die Talamasca hat sicher noch andere Mitarbeiter, oder wie auch immer sich das bei euch nennt!“ Elatha nickte und gab klein bei. „Sie muss so sensibel werden, dass sie fühlt, was ihr Gegenüber fühlt, dass sie denkt, was ihr Gegenüber denkt…“ „Das ist schwer. Nicht einmal ich bin darin so gewandt wie…“ Elizabeth hob die Hand und Elatha verstummte. „Unsere Vorfahren waren darin gewandter, ich weiß. Und trotzdem sind wir vom selbem Blut und das fließt stark in unseren Adern. Und deshalb müssen wir darauf vertrauen, dass wir es können, Elatha. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?“ „Oft.“ gab Elatha zu. „Zu jeder passenden Gelegenheit und auch zu jeder unpassenden.“ fügte sie hinzu und begegnete dem strengen Blick ihrer Mutter. „Ich bin streng zu dir gewesen, da du einmal meinen Platz einnimmst. Es tut mir leid, dass du das immer noch nicht verstehst.“ „Ich verstehe es, aber… Ich wurde nie gefragt, ob ich das will.“ „Natürlich nicht. Du bist meine einzige Tochter. Wer sollte die Verantwortung über unsere Gemeinschaft übernehmen, wenn nicht du?“ Elatha entgegnete nichts. Es war zwecklos. Das wusste sie. Und sie wollte sich nicht mit ihrer Mutter streiten. Auch das war zwecklos. „Bist du deshalb nach London? Aus Trotz?“ fragte Elizabeth weiter. „Nein. Nicht aus Trotz. Ich wollte mehr lernen. Und wenn du schon so anfängst…. Dass ich mehr lerne, kommt auch den Mädchen irgendwann zugute.“ „Das ist typisch für dich. Du drehst dir alles, wir du es haben möchtest.“ Elizabeth schwieg einen Moment, dann fuhr sie fort: „Lassen wir das.“ Elatha nickte erleichtert. Lestat betrachtete Catherine immer noch. Er konnte sich nicht an ihr satt sehen. Das Haar umrahmte ihr helles Gesicht und strömte einen betörenden Duft aus. Ihre schlanken Finger hatten sich inzwischen mit seinen eigenen verwoben und hielten ihn fest. Ihre Atemzüge streiften warm über seine Schulter und streichelten ihn. Er konnte sich nicht vorstellen, nun zu gehen, doch es wurde Zeit. Er spürte es und Marius wartete bestimmt schon mit Armand auf ihn und fragte sich, wo er blieb – wenn er nicht gar wusste, wo er war. Marius kannte ihn immerhin gut. Lestat schob langsam ihre Finger zurück und erhob sich. Sein Blick haftete immer noch auf ihr. Er wollte sie ansehen, solange er konnte. Leise und rasch zog er sich an und beugte sich dann über sie. Sanft strich er über ihr Haar und legte zärtlich seine Lippen auf ihre Schläfe. „Leb’ wohl, Catherine.“ flüsterte er und verließ dann lautlos das Zimmer. Kapitel 31: Eine Aufgabe der anderen Art ---------------------------------------- Ein Aufgabe der anderen Art Catherine erwachte erst, nachdem der Morgen angebrochen war, und drehte sich in ihrem Bett auf die andere Seite. Müde strich sie mit ihren Fingern über die Stelle, an der Lestat gelegen hatte. Sie bedauerte, dass er nun nicht neben ihr aufwachen konnte, doch das hatte sie schon vorher gewusst. Das war eben unmöglich. Nachdenklich richtete sie sich auf und angelte nach ihren Kleidungsstücken. Wie hatte es zwischen ihnen nur so weit kommen können? Und wieso bereute sie es nicht im Geringsten? Warum drängte alles in ihrem Körper, in ihrem Herzen und ihrem Verstand nur auf eines: ein Wiedersehen. Sie wollte ihn nahe bei sich fühlen, seine Stimme hören, nur neben ihm sein, nur seinem Blick begegnen… Catherine schloss die Augen und schluckte. Ihr Herz flatterte aufgeregt, sodass sie es zur Ruhe zwingen musste. Sie musste ruhig bleiben. Niemand sollte unnötige Fragen stellen. Wenig später verließ Catherine frisch geduscht das Badezimmer und schritt den Gang entlang. Lestat. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie beinahe mit Lea zusammenstieß. „Entschuldige!“ meinte Catherine, da Lea fürchterlich erschrocken war. Sie fasste sich nur langsam wieder, doch der knapp verhinderte Zusammenprall schien sie nicht zu beschäftigen. Vielmehr tanzten auf ihrem Gesicht verwirrende und komplexe Fragen und jegliche Antwort schien weit entfernt. Lea sah schon beinahe weggetreten aus – gefangen in ihrer eigenen Welt. „Ist alles in Ordnung?“ fragte Catherine deshalb, worauf Lea nur nickte. „Bist du sicher?“ „Ja.“ erwiderte sie knapp und blickte Catherine an. „Wieso fragst du?“ „Nur so.“ antwortete Catherine ebenso knapp und wollte weiter gehen, doch Lea meinte: „Ich habe ausgerichtet, dass du gestern keine Zeit hattest. Es war in Ordnung, denke ich.“ „Danke. War sonst noch etwas Besonderes, das ich wissen sollte?“ fragte Catherine, da sie immer noch fand, dass Lea nicht so wie sonst war, doch Lea schüttelte nur stumm den Kopf und ging weiter. Catherine hörte, wie sie irgendetwas von ‚Erledigungen’ murmelte, und dachte sich nichts weiter dabei. Bei sich schüttelte sie den Kopf und setzte ihren Weg zu Elizabeths Büro fort. Im Büro traf sie auf Elatha, die mit dem Rücken zu ihrer Mutter gewandt, aus dem Fenster schaute. „Sie wollten gestern mit mir sprechen. Worüber? begann Catherine nach einer kurzen Begrüßung. „Setzen Sie sich, Catherine.“ entgegnete Elizabeth und reagierte nicht auf das verächtliche Atmen, das vom Fenster kam. Catherine folgte der Bitte und setzte sich gegenüber an den Schreibtisch. Dann wartete sie. Elizabeth schien sie zu studieren, zu beobachten. Schließlich nickte sie und begann: „Da Sie nun Ihren wahren Namen haben, werde ich Sie auch bei ihm nennen. Und ich werde ‚du’ sagen, da das bei uns so üblich ist. Du, Lasair, gehörst nun wirklich zu uns, da der letzte Zweifel an deinen Kräften ausgeräumt wurde.“ „Wie?“ „Du hast deinen Namen. Lasair. Nur eine wahre Hexe erhält ihn. Und eine mächtige erhält ihn manchmal auch ohne Ritual. Das ist bei dir geschehen.“ antwortete Elizabeth und fuhr fort: „Trotzdem werden wir deine Fähigkeiten noch weiter schulen müssen… Das siehst du doch ein?“ Catherine nickte nur. „Da du nun Lasair bist, bin ich für dich Saerlaith. Und ich möchte, dass du mich von heute an so ansprichst.“ Catherine nickte wieder nur. Nach einer kurzen Pause, in der sie zu überlegen schien, fuhr Elizabeth fort: „Unsere Gemeinschaft ist zerbrechlich, wenn Gefahr von außen droht. Spätestens seid dem unterbrochenen Imbolc-Fest ist das wieder deutlich geworden. Deshalb unterliegt jeder in unserer Gemeinschaft den gleichen Regeln und jeder trägt Verantwortung – jeder nach seinem Vermögen. So wie Thirlestane Castle heute existiert, existiert es noch nicht lange, und jede Hexe hat eigene Erfahrungen und Traditionen eingebracht und zieht aus ihnen ihre Schlüsse. Das schwächt die Gemeinschaft, doch ist nicht zu ändern. Damit Thirlestane Castle nicht noch weiter geschwächt wird, müssen wir dafür sorgen, dass die Welt der normalen Menschen nichts an dieser Gemeinschaft auszusetzen hat… Mit anderen Worten: es muss mit rechten Dingen zugehen und wir unterliegen ebenfalls den weltlichen Gesetzen.“ Elizabeth machte wieder eine kleine Pause, in der sie Catherine offen ins Gesicht blickte. „Das bedeutet, ich muss meine Angelegenheiten in Ordnung bringen.“ entgegnete Catherine, als Elizabeth nicht wieder zu sprechen beginnen wollte. „Ich muss dafür sorgen, dass die Polizei meinen Aufenthalt hier anerkennt, dass ich ihnen eine glaubhafte Geschichte auftischen kann, sodass sie aufhört, zu ermitteln. Meinst du das, Saerlaith?“ „Ja. Wir wissen beide, Elatha und ich, dass das sehr schwierig ist, weshalb wir darin übereingekommen sind, dass du mit Elatha deine mentalen Fähigkeiten ausprägen wirst. Anders gesagt: Du wirst lernen, glaubhaft zu lügen.“ Catherine lächelte flüchtig. „Was ist daran so lustig?“ fragte Elatha scharf. Catherine schüttelte den Kopf. „Seit über vierzehn Jahren lebe ich mit einer Lüge. Ich führe ein Doppelleben, von dem niemand auch nur etwas ahnt. Das Lügen fällt mir nicht schwer.“ erklärte Catherine zu ihrer Verteidigung und fuhr dann fort: „Was ich hierfür brauche sind Fakten. Wann genau wurde die Villa meiner Eltern zerstört. Wurden die Leichen meiner Eltern gefunden? Hat die Polizei meinen Bruder gefunden und verhört? Wenn ja: was hat er ausgesagt. Das sind die Sachen, die ich brauche und ich erledige das mit der Polizei.“ „Stell’ dir das nicht zu einfach vor, Lasair. Du bist vor der Polizei weggelaufen. Wie willst du das erklären?“ fragte Elizabeth. „Darüber brauche ich mir noch keine Gedanken machen. Das werde ich in meine Geschichte einbauen, wenn ich die anderen Eckpunkte habe. Ich brauche Zugang zu offiziellen Akten… Wie kann ich den bekommen?“ Catherine war sich ihrer Sache sicher und hielt Elizabeths prüfendem Blick stand. Schließlich wandte sich Elatha wieder ab und Catherine blickte kurz zu ihr. „Na gut.“ seufzte Elizabeth. „Ich werde dafür sorgen, dass du alles bekommst, was du brauchst. Allerdings möchte ich die Version deiner Geschichte hören, bevor ich die Polizei informiere, dass du hier aufgetaucht bist. Einverstanden?“ „Ja. Einverstanden.“ stimmte Catherine zu, erhob sich und ging aus dem Büro. Das alles gefiel ihr nicht sonderlich, doch sie wusste, dass es sein musste. Doch wie sollte sie aus dem ganzen Wirrwarr eine glaubhafte Geschichte basteln? Sie war Hals über Kopf aus Paris abgereist, nach den Erzählungen von Kardinal Salieri standen in der Villa nur noch die Mauern und der Dauerauftrag der Bank, der die Gehälter der Bediensteten seit Monaten weiter überwies, machte das Ganze nicht weniger verdächtig. Catherine schlenderte durch die Gänge und überlegte. Sie hätte auf die Anrufe ihrer Freunde reagieren sollen. Sie hätte ihnen gleich etwas von irgendwelchen familiären Angelegenheiten erklären sollen, sodass sie sich nun darauf berufen konnte! Die Gedanken kamen träger und schwirrten nur so in ihrem Kopf. Sollte sie vielleicht doch Elizabeths Hilfe annehmen? Doch was konnte sie schon tun? Im entscheidenden Moment, in dem Catherine einen Vorschlag erwartet hatte, hatte sie geschwiegen. Sie konnte nichts tun. Gedankenverloren setzte sie sich in eine Nische im Flur an das Fenster und blickte hinaus. Vor ihr erstreckte sich der Park, in dem die Amseln auf dem Gras umherhüpften und nach Würmern stocherten. Sie brauchte eine gute Geschichte, die auch in einiger Zeit noch geglaubt würde. Was sie am allerwenigsten brauchen konnte, waren ständig wieder aufgenommene polizeiliche Ermittlungen. Noch immer war ihr nicht klar, wie sie das anstellen sollte, doch ihr blieb nichts anderes übrig, als erst einmal abzuwarten. Wie immer musste sie zuerst Informationen sammeln, dann überlegen und dann handeln. Sie blinzelte in die Sonne und sah dünne Schleierwolken vorbeiziehen. Elizabeth würde ihr irgendwie Zugang zu den geheimen Datenbanken verschaffen. Und dann würde sie weitersehen. „Lasair, das wurde gerade für dich abgegeben.“ meinte ein blondes Mädchen und reichte ihr einen Briefumschlag. „Danke.“ Catherine streckte die Hand nach ihm aus und wandte ihn, um eine Adresse oder zumindest einen Namen zu sehen, doch es stand nichts außer ihrem eigenen Namen darauf. „Wer hat ihn abgegeben?“ fragte sie aufgeregt. „Wer?“ „Ich habe keine Ahnung. Irgendein Mann eben.“ entgegnete das Mädchen und drehte sich schulterzuckend um. Catherine sprang auf und lief zum Eingangtor. Hektisch riss sie es auf und blickte die leere Auffahrt hinunter. Das konnte nicht möglich sein! Das war unmöglich! Sie rannte einige Schritte und sah sich nach allen Richtungen um, doch außer ihr selbst war niemand da. Verwirrt blieb sie stehen und blickte auf den Umschlag in ihrer Hand hinab. War das ein Trick? Und war sie auf ihn hereingefallen? Sie blinzelte und konzentrierte sich. Nein, sie war sicher. Auf dem Briefumschlag… Es war deutlich und unverwechselbar für ihre Augen. Dort stand ‚Catherine’ geschrieben - mit schwarzer Tinte und in der Handschrift ihres Großvaters. Kapitel 32: Schreckliche Neuigkeiten ------------------------------------ Schreckliche Neuigkeiten Catherine schlenderte nachdenklich die Auffahrt zurück und schloss langsam die Eingangstür hinter sich. Immer wieder drehte sie unter argwöhnischen und erstaunten Blicken den Brief in ihrer Hand von der einen auf die andere Seite. Die Handschrift ihres Großvaters war unverkennbar. Catherines Gedanken kreisten wirr in ihrem Kopf, denn immer noch konnte sie sich keinen Reim darauf machen. Ihr Großvater, der Großvater, der so oft Schottland aufgesucht hatte, war vor Jahren nicht mehr aus Schottland zurückgekehrt. Es war verschwunden. Verschollen. Verstorben. So hieß es von der Bruderschaft. Sollte die Bruderschaft gelogen haben? Sollte er noch leben? Wie in Trance ging sie die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, dessen Tür sie nach sich verschloss. Catherine wusste nicht, was sie empfand. Zu viel von allem – so fühlte sie sich. Verwirrung und Neugier, doch trotzdem mahnte etwas in ihr zur Vernunft und Vorsicht. ‚Gib’ dich nicht deinen hoffnungsvollen Gefühlen hin. Es könnte immer noch ein Trick sein!’ mahnte es in ihr. Ein Trick, eine List, die sie nur verwundbar machen würde, nachdem all ihre Hoffnungen zerstört worden waren. Und doch konnte sie sich nicht dagegen wehren: ein Funke von Hoffnung war in ihr entfacht. Hoffnung darauf, dass er doch noch leben konnte. Hoffnung darauf, dass sie nicht alleine war. Vielleicht konnten auch ihre Eltern noch am Leben sein… Nein, das war absurd, das wusste sie, doch ihr Herz wollte es nicht glauben. Catherine blickte zögernd den Brief an und setzte sich auf die Fensterbank. Ihr blieb keine Wahl: sie musste ihn öffnen und damit der Wahrheit ins Gesicht blicken. Der Wahrheit, dass alles beim Alten bleiben würde, denn Tote kehrten nicht zurück. Zumindest nicht die Toten ihrer Familie, denn die waren nun einmal wirklich tot. Mit zitternden Fingern fuhr die über den Briefumschlag und öffnete ihn. Ihr Herz schlug heftig gegen ihren Brustkorb, als sie das weiße Papier, das an seinen Rändern gelbliche Verfärbungen erhalten hatte, aus dem Umschlag zog und zu lesen begann: ‚Meine kleine Catherine, ich weiß nicht, wann du diesen Brief erhalten wirst – in welchem Jahr und wie alt du dann sein wirst, doch es wird in dem Augenblick sein, in dem diejenigen, denen ich am meisten vertraue, die Zeit für gekommen halten. Sie haben bisher diesen Brief für mich verwahrt, da ich nur in diesem Brief die Gelegenheit habe, dir etwas sehr, sehr Wichtiges mitzuteilen. Es gibt Dinge über unsere alte Familie zu wissen, die auch dich etwas angehen. Dinge, die die Societas am liebsten auslöschen würde. Durch Zufall stieß ich bei einer gewöhnlichen Recherche in unserer Familienchronik auf Ungereimtheiten, weshalb ich der Sache nachging. Ich erspare dir die einzelnen Schritte und Erkenntnisse, doch das Ergebnis war, dass es sich bei unserer Familienchronik in Paris und bei den Chroniken in den Versammlungsräumen der Societas um Fälschungen handelt. Ich schloss daraus, dass zu einer früheren Zeit gewisse historische Geschehnisse aus unserer Familiengeschichte eliminiert werden sollten. Aus Überzeugung setzte ich meine Forschungen fort und stieß durch die Hilfe eines guten Freundes auf eine Chronik, die ich als richtig identifiziert habe. – Heute bereue ich, dass ich diesen Freund nicht in alles eingeweiht habe, denn er könnte dir aus verschiedenen Gründen auch heute noch mit Rat und Tat beiseite stehen. – Ich fand heraus, dass die Familie du Ravin nicht auf eine Schwester des Königs Ludwig XII zurückgehen kann, sondern es beinahe nicht erkennbare Verbindungen zu einer schottischen Adelsfamilie gibt, deren Spuren sich 1618 plötzlich verlieren. Nur ein Jahr später kann ich mit gesicherten Quellen die ersten Verzeichnungen der Familie du Ravin annehmen. 1618 ist allerdings ein Datum, über das uns sehr wenig bekannt ist. Systematisch wurden scheinbar alle wichtigen Ereignisse, die mit dieser schottischen Adelsfamilie zu tun haben, unkenntlich gemacht, weshalb es mir nicht möglich ist, darüber sicher Auskunft zu geben. Sicher ist nur eines: das Anwesen der Familie muss in Irvine gelegen haben. Ich glaube, auch mit Sicherheit sagen zu können, dass es das Schloss ist, auf dem ich mich nun befinde: Thirlestane Castle...’ Catherine stockte und las den Satz wieder und wieder. Ihr Großvater war einst auf Thirlestane Castle gewesen! Noch einmal las sie den Satz durch und folgte dann weiter dem Schreiben ihres Großvaters. ‚…Ich glaube, auch mit Sicherheit sagen zu können, dass es das Schloss ist, auf dem ich mich nun befinde: Thirlestane Castle. Leider ist uns kein Name erhalten – nur der Titel ‚Duke of Irvine’ kann uns Aufschluss über das Schloss geben, denn im beginnenden 17. Jahrhundert sollen die Herzöge von Irvine auf Thirlestane Castle residiert haben. Ich präsentierte nun stolz auf meine Arbeit, meine Ergebnisse dem Hohen Rat und musste feststellen, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Erklärt wurde mir nichts, doch meine Ergebnisse wurden verbrannt und mir wurde verboten, je wieder ein Wort über ‚solche Dinge’ zu sprechen. Eine seltsame Reaktion und eine Reaktion, die mich nur noch mehr anstachelte, die Wahrheit, die mir nun umso interessanter schien, zu suchen. Die Societas wollte Punkte unserer Vergangenheit auslöschen. Warum? Diese Frage beschäftigte nur noch meinen Geist. Ich reiste ohne die Billigung des Rates wieder nach Schottland und man bot mir an, auf Thirlestane Castle Quartier zu beziehen. Was konnte es für eine weitere Forschung besseres als Ausgangspunkt geben als dieses Schloss? Ich war mir sicher, dass ich hier früher oder später auf weitere Hinweise stoßen würde, doch dem war nicht so. Noch dazu scheine ich in meinem Alter dem rauen Klima nicht mehr gewachsen zu sein. Vielleicht erinnerst du dich, dass die Ärzte mich am liebsten in ein heißes, trockenes Wüstenklima geschickt hätten, doch vielleicht warst du noch zu jung und hast das nicht bemerkt. Ich hatte vor, mich hier soweit auszuruhen, dass ich mich wieder auf die Heimreise begeben kann, doch im Moment bin ich dazu zu schwach. Inzwischen glaube ich auch nicht mehr, dass ich dieses Schloss jemals verlassen werde. Vielleicht ist es nicht einmal meine Krankheit, sondern etwas anderes. Um mehr herauszufinden, fehlt mir allerdings die Zeit, doch ich bin mir sicher, dass du dies wissen musstest. Und ich bin mir sicher, dass dies wichtig war und wichtig sein wird. Finde mehr heraus. Das bist du unserer Familie schuldig. Ich kann es nicht mehr tun. Und du bist es dir schuldig. Ich liebe dich. Dein Großvater Vincent.’ Catherine ließ den Brief sinken und ließ ihren Blick über die saubere und regelmäßige Schrift gleiten. Sie erinnerte sich an die Papiere ihres Großvaters und daran, wie sie als Kind immer diese gleichgroßen und ordentlichen Buchstaben bewundert hatte. Weißes Papier schien durchzogen von feinen Strichen und Bögen schwarzer Tinte. Sie nickte bei sich. Von ihm hatte sie Schreiben gelernt. Sie atmete tief durch und faltete enttäuscht den Briefbogen zusammen. Insgeheim hatte sie sich mehr erwartet – mehr erhofft, denn das alles wusste sie bereits. Der Duke of Irvine war ein Vorfahre und die Bruderschaft hatte etwas dagegen, um es ganz knapp zusammenzufassen. Nur eines wusste sie nun mit Sicherheit: der Bruderschaft den Rücken zu kehren, war richtig und nicht die unüberlegte Laune einer jungen Frau, die nichts verstand. Und es war nicht ihr Bruder Lucien, der weise war, sondern derjenige, der auf die Bruderschaft hereingefallen war. Sie hatte es schwarz auf weiß, dass sie richtig gehandelt hatte und das beruhigte ungemein. Catherine drehte das Blatt herum, um es wieder in den Umschlag zu stecken, und entdeckte noch einige Zeilen. Ihre Augenbrauen zogen sich misstrauisch zusammen und ihre Hände falteten den Brief wieder etwas auf, sodass sie die Zeilen lesen konnte. ‚Es ist Gift. Gift im Essen, im Trinken. Ich weiß nicht, wo. Wähle deine Freunde mit Bedacht. Vertraue niemandem, Catherine. Niemandem.’ Kapitel 33: Ein neuer Hinweis ----------------------------- Ein neuer Hinweis Catherine starrte auf das Blatt vor sich und schüttelte immer wieder den Kopf. „Oh, mein Gott.“ murmelte sie und strich sich über die Stirn. Er war vergiftet worden. Hier. In diesen Mauern, in denen auch sie sich nun befand. In Mauern, von denen man ihr gesagt hatte, sie würden sie schützen. Bei Menschen, denen sie ihr Wohl anvertrauen sollte. Niemand hatte ihr gesagt, dass er hier gewesen war. Niemand hatte es auch nur in einem winzigen Nebensatz erwähnt, dass er bekannt war. Niemand. Ihr Großvater hatte Recht: sie konnte niemandem vertrauen. Catherine war sich sicher, dass zumindest Elizabeth ihn gekannt haben musste. Zumindest sie musste vor einigen Jahren schon hier gewesen sein. Wütend steckte Catherine den Brief zurück in den Umschlag und presste ihn an ihre Brust. Schreckliche Gedanken beschlichen sie: Elizabeth hatte davon gewusst! Elizabeth hatte es veranlasst! Er wurde aus dem Weg geräumt, weil er Fragen gestellt hatte. Und sie hatte ihren Feind vernichtet, indem sie ihn sinnvollerweise in Freundschaft und Vertrauen gefesselt hatte. Ja, wie sonst? Wie sonst konnte man zum sicher vernichtenden Schlag gegen einen Feind ausholen? Man machte ihm zum Freund und er glaubte alles. Er wiegte sich in Sicherheit und hegt nicht den geringsten Verdacht. Diese Lösung war todsicher. Catherine lachte bitter. „Hexe.“ flüsterte sie tonlos. „Heuchlerin.“ Catherine schloss die Augen und schüttelte einmal mehr den Kopf. Konnte das wirklich sein? War sie es nicht, die sich etwas zusammenreimte, was nicht der Realität entsprach? Es war eine wahnwitzige Idee, diese Idee von einem weitreichenden Komplott gegen ihre Familie – gegen sie selbst. Sie rief sich die letzten Wochen in Erinnerung, in denen Elizabeth mit ihr nach der Wahrheit gesucht hatte, sollte sie das alles nicht nur vorgetäuscht haben. Sie waren nicht sehr weit gekommen, doch auch die Vampire hatten keinen Erfolg gehabt. Doch dann kam ihr die Erinnerung an das Imbolc-Fest und an den bitteren Kräutertrank, der sie in Willenlosigkeit versetzte hatte, in den Sinn und plötzlich schien ihr die Möglichkeit eines Giftes in der Hand von Elizabeth nicht mehr so abwegig. Catherine presste ihre rechte Hand gegen ihre Schläfe und öffnete unruhig die Augen. Lernte sie denn nie dazu? Sie konnte der Bruderschaft nicht trauen, das hatte sie bemerkt. Wieso sollte sie dann einer Vereinigung von Hexen trauen können, die ihr ausgerechnet ein Kardinal der Bruderschaft empfohlen hatte? Salieri. Sie hatte ihm vertraut. Er war ihr Mentor. Er kannte sie. Er hatte sie bis zu einem gewissen Punkt ausgebildet und angeleitet. Sie hatte ihm vertraut… Lucien. Würde er ihr glauben, wenn sie ihm den Brief zeigen konnte? Catherine wusste es nicht. Und noch dazu war es überflüssig, darüber nachzudenken, denn sie hatte keine Ahnung, wo sich ihr Bruder aufhielt. Catherine blickte hinab in den Park und steckte schließlich den Brief klein zusammengefaltet in die hintere Tasche ihrer Jeans. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Übereilt handeln wollte sie nicht. Sie musste vorsichtig sein und ihr Wissen für sich behalten. Es gab nur eine Möglichkeit: sie musste herausfinden, ob es wahr war. Und dazu musste sie weiterhin die unwissende, kleine Catherine spielen, die sie bisher in Elizabeths Augen wohl auch gewesen war. Catherine nickte bei sich. Kurz darauf klopfte es zaghaft an der Tür. „Ja?“ Catherine wartete ab und wandte sich nicht um. Sie hörte, dass die Klinke gedrückt wurde und erinnerte sich, dass sie abgeschlossen hatte. „Ich komme!“ meinte sie und ging quer durch den Raum. Fast geräuschlos drehte sie den Schlüssel im Schloss um und öffnete die Tür einen Spalt, ehe sie sich wieder abwandte. Catherine hörte, wie die Tür weiter geöffnet wurde. „Cate, kommst du hinunter zum Essen?“ fragte Lea und behielt ihre Hand an der Türklinke. Sie sah, dass Catherine den Kopf schüttelte und wollte sich wieder zum Gehen wenden, doch sie zögerte. „Wieso hattest du abgeschlossen?“ „Das war... keine wirklich Absicht.“ entgegnete Catherine und ging wieder zum Fenster zurück. „Du bist also nicht böse oder…“ „Nein, es ist alles in Ordnung.“ unterbrach Catherine sie und versuchte, so glaubhaft wie möglich zu klingen. Sie legte den Kopf zurück und meinte: „Du warst heute Morgen seltsam – nicht ich.“ Lea nickte und biss sich auf die Lippen. „Catherine, wie stehst du zu uns?“ brach sie schließlich hervor. „Was meinst du?“ fragte Catherine und drehte sich erstaunt um. Lea erschrak. „Also?“ „Du siehst schlecht aus. Catherine, bist du krank? Du bist kreidebleich! Ich habe dich noch nie so gesehen… Du hast…“ Lea brach ab und ergriff sie bei der Hand. „Du siehst aus, als sei dein Körper blutleer. Hat Lestat etwa…? Nein, das würde er nicht, oder? Du hast ihm doch vertraut, oder nicht?“ Catherine hob ihre Hand und schüttelte den Kopf. „Es hat nichts mit Lestat zu tun. Es geht mir gut.“ entgegnete sie und schüttelte den Kopf, als Lea immer noch besorgt schaute. „Wie ich zu euch stehe?“ fuhr Catherine fort und bat Lea, die Tür zu schließen, da mehrere Mädchen draußen vorbeigingen. Catherine schwieg eine Weile und wandte sich wieder von Lea ab. Das Schweigen zerrte an Leas Nerven, doch sie wartete. Sie musste es wissen, doch sie konnte warten, bis Catherine sich entschloss zu sprechen. „Lea, was willst du von mir? Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Ich mache mir nur noch Gedanken über meine Aussage bei der Polizei.“ meinte Catherine und machte eine kleine Pause. „Darf ich dir eine Frage stellen?“ Lea nickte. „Weißt du immer, was deine Mutter und deine Großmutter tun, was sie vorhaben, was sie planen?“ Lea schwieg und schüttelte dann leicht den Kopf. „Sie haben sich verändert. Beide. Und nicht zum Besseren.“ gab sie leise zu und senkte den Blick. „Ich kenne sie nicht mehr. Vielleicht ist es, weil sie mich nun scheinbar einbeziehen, und ich trotzdem nichts weiß. Sie lassen mich Dinge tun, die ich nicht tun will.“ „Was meinst du damit? Stimmt etwas nicht?“ Lea schüttelte den Kopf. „Ich kann es dir nicht sagen.“ verwehrte sie und griff wieder nach der Türklinke. „Lea, warte!“ rief Catherine und Lea hielt in ihrer Bewegung inne. „Vertraust du ihnen? Ich meine, deiner Mutter und deiner Großmutter.“ Lea seufzte. „Als ich ein kleines Kind war, habe ich meiner Großmutter vertraut, meine Mutter kannte ich allerdings kaum.“ Catherine nickte und vermutete, dass sie nichts weiter darüber sagen würde, doch da hatte sie sich geirrt. „Heute ist das anders. Sie sind nur noch Saerlaith und Elatha für mich. Ich vertraue ihnen nicht blind, Cate. Ich weiß einerseits zu viel über sie, andererseits zu wenig und es gibt Dinge, die mich stutzig machen, aber diese reichen mir noch nicht aus, um mich endgültig zu entscheiden, ob sie vertrauenswürdig oder nicht vertrauenswürdig sind.“ „Sie reichen dir noch nicht aus, ja? Was müsste noch geschehen? Hast du eine Vorstellung davon, was noch geschehen muss, dass du diese Entscheidung triffst und dein Urteil fällst?“ „Ich weiß es nicht. Sie sind meine Familie. Und das bedeutet mir viel, Cate. Ich habe nur das hier. Nur Saerlaith und Elatha.“ „Du hast dich. Und das ist viel wichtiger.“ „Was willst du damit sagen?“ Lea schaute sie an und biss sich auf die Lippen. „Lea, wir entscheiden uns für uns. Und wir tragen die Verantwortung für unser Handeln allein. Wir sollten nicht etwas tun, nur weil es unsere Familie für richtig ansieht, wenn wir es selbst für falsch halten.“ Lea blickte sie an und schwieg. „Ich klinge wie irgendeine Spinnerin!“ fuhr Catherine fort und winkte ab. Lea schüttelte den Kopf und meinte: „Ich muss dir etwas sagen…“ Catherine wartete ab und vermied, ihr in die Augen zu starren. Sie sollte sagen, was sie sagen wollte und was sie zu sagen hatte. Trotzdem blickte sie ihr ins Gesicht. „Ich muss… gehen. Du kommst wirklich nicht herunter?“ Lea drehte sich um und verschwand aus der Tür. Catherine blieb allein zurück und blickte ihr nach. Nachdenklich wanderte ihre Hand in ihre Hosentasche und griff nach dem Brief. Sie holte ihn wieder heraus und las ihn noch einmal durch. Wieso hatte er nicht einmal ein Datum geschrieben? Das war doch das Selbstverständlichste der Welt – ein Brief mit Datum. Hatte sie etwas übersehen? Irgendwas? Catherine setzte sich auf ihr Bett und blickte zur Decke hoch. Wenn ihr Großvater geahnt hätte, dass sie einmal auch hier sein würde, hätte er ihr dann nicht einen Hinweis hinterlassen? Sie legte sich nach hinten und hielt den Brief gegen das Licht. Am Kopf des Papiers schien ein Emblem hindurch. Catherine setzte sich wieder auf und betrachtete es genauer. Ein Porträt eines Mannes in einem ovalen und bekrönten Rahmen. Links wurde das Emblem von einem Einhorn flankiert, rechts von einem Löwen. Catherine kannte es. Sie hatte es bei den Bankunterlagen ihres Vaters gesehen: Das Emblem der Royal Bank of Scotland. War ihr Vater überhaupt Kunde dort gewesen? Das konnte Catherine nicht mit Sicherheit sagen, aber sie hatte auch keinen Einblick in die Geschäfte ihres Vaters gehabt. Nur einmal lagen diese Unterlagen auf seinem Schreibtisch und sie hatte sie gesehen. Sie konnte nicht genau sagen, wann es gewesen war, aber es musste kurz nach dem Tod ihres Großvaters gewesen sein. Ihr Vater und ihre Mutter hatten Schwarz getragen. Sie selbst hatte ein schwarzes Kleid angehabt. Und Lucien einen schwarzen Anzug, der für ihn geschneidert worden war. Die Trauerfeier auf dem Anwesen war vorüber, die wenigen Gäste saßen im Salon zusammen und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Eine Beerdigung hatte es nicht gegeben. Nur eine Trauerfeier für einen vermissten Verstorbenen. Catherine erhob sich und griff nach ihrer Jacke. Sie nahm Handy und Geldbeutel an sich und verließ ihr Zimmer. Mit festen Schritten ging sie die Treppe hinunter und verließ das Schloss. Sie war sich sicher, dass die Royal Bank of Scotland ihr weiterhelfen konnte. Vielleicht gab es dort ein Schließfach oder sonst etwas. Sie musste es zumindest versuchen. Kapitel 34: Erlediging einer unaufschiebbaren Aufgabe ----------------------------------------------------- Erledigung einer unaufschiebbaren Aufgabe Wenig später klopfte sie an die Tür zu Elizabeths Büro und trat ein, als niemand antwortete. Sie hatte erwartet, dass auch Elizabeth beim Mittagessen war. Catherine nahm sich einen Stift und einen Zettel und schrieb darauf, dass sie zur Polizei gegangen war und nicht wusste, wann sie zurückkommen würde. Sie lächelte bei sich, wenn sie sich Elizabeths Gesicht vorstellte. Den Schrecken in den Gliedern und mit stillstehendem Herzen würde sie sich bestimmt erst einmal setzen müssen. Zweifellos würde sie sich dann nach einem Whiskey oder etwas anderem Hochprozentigen sehnen, um den Schock hinunterzuspülen. Und dann würde sie wahrscheinlich wütend werden, denn was glaubte Catherine denn, mit was und wem sie es zu tun hatte? Sie konnte doch nicht einfach so zur Polizei spazieren, ohne dass sie, Elizabeth, die Geschichte gehört hatte, die sie gedachte, der Polizei aufzutischen. „Oh, doch. Ich kann.“ murmelte Catherine und verließ schnell und ungesehen das Büro. Elizabeth hatte keine Ahnung, wozu sie im Notfall und unter gewissen Umständen noch fähig war. Sie schritt durch die Straßen der Stadt und fragte sich bis zur örtlichen Polizeistelle durch. Obwohl sie sich nicht genau eine Version für die Polizei einfallen hatte lassen, erfüllte sie eine seltsame Ruhe, die sie auch nicht verließ, als sie die Tür aufdrückte und auf den Tresen zuging, hinter dem eine relativ junge Polizistin irgendwelche Daten in den Computer eingab. Catherine näherte sich dem Tresen und wartete einen Moment, bis sich die blonde Frau erhob und zu ihr kam. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ fragte sie in einem freundlichen Ton und lächelte. „Ich möchte eine Aussage machen.“ „Zu welchem Fall? Haben Sie einen Termin?“ „Nein, ich weiß nicht, wie sich das nennt. Ich bin Catherine du Ravin und man sucht nach mir. Ich möchte mich… stellen. Heißt das so?“ Die Polizistin blickte einen Augenblick seltsam und nickte dann. Sie kramte nach einem Formular und einem Kugelschreiber, bevor sie meinte: „Füllen Sie dieses Formular bitte aus. Ich informiere einen Kollegen, dass Sie hier sind.“ Catherine nickte und blickte sich unauffällig um. Auf einigen Stühlen den Gang entlang saßen mehrere Menschen und beachteten sie gar nicht. Einige Polizisten saßen hinter ihren Schreibtischen und kümmerten sich ebenso wenig um sie. Das alles verwunderte sie doch ein wenig. Niemand beobachtete sie, obwohl sie gesucht wurde? Seltsam. Catherine zuckte kaum merklich und eher aus Reflex mit den Schultern und begann, das Formular auszufüllen. Kaum hatte sie ihren Namen geschrieben, da trat der ältere Herr, dem sie einmal weggelaufen war, auf sie zu und meinte: „Kommen Sie bitte mit in mein Büro, Miss. Die Formalitäten können wir auch dort erledigen.“ Catherine legte den Kugelschreiber weg, nahm das Formular und folgte ihm den Gang entlang in ein kleines Büro mit zwei Schreibtischen. „Das ist mein Kollege. Parker. Ich bin Sanderson. Sie sind also Miss du Ravin.“ meinte der ältere Herr und bat sie, sich zu setzen. „Sie haben sich also doch noch entschieden, mit uns zu sprechen.“ bemerkte er weiter, ließ sich das Formular aushändigen und reichte es an seinen jüngeren Kollegen weiter. „Mein Kollege wird mit Ihnen diese Papiere ausfüllen.“ Catherine nickte und Sanderson verließ den Raum. „Nun, gut. Ihr Name ist du Ravin. Ihr Vorname Catherine Valérie. Ist das korrekt?“ Hätte sie es sonst etwa hingeschrieben? Innerlich rollte sie die Augen, doch sie nickte nur. „Gut. Wann sind Sie geboren?“ „Am 01. Januar 1987.“ „Und wo?“ „In Paris.“ Catherine beantwortete schnell und wahrheitsgetreu die Fragen. Sie war sich sicher, dass später ihre Angaben anhand ihrer Ausweisnummer ohnehin noch einmal überprüft wurden. Warum man nicht gleich die Ausweisnummer durch den Rechner laufen ließ, verstand sie nicht. Parker schrieb die Daten auf und blieb währenddessen über das Blatt gebeugt. „Und als letztes noch: seit wann befinden sich in Schottland?“ „Seit dem 02. Januar 2007.“ „Und Sie haben sich bei keiner Behörde gemeldet?“ fragte er und blickte sie nun direkt an. „Ich bin hier privat und arbeite hier nicht. Ist das dann nicht überflüssig? Schottland gehört immerhin zu Europa. Bin ich da falsch informiert?“ „Nein, das ist korrekt. Wenn sie hier nur jemanden besuchen und in keinem Arbeitsverhältnis stehen, brauchen Sie das nicht.“ Die Tür öffnete sich und Sanderson trat wieder ein. „Fertig?“ Parker nickte und überreichte seinem Kollegen wieder die Papiere. „Dürfte ich Sie nun noch um ihren Ausweis bitten?“ Catherine kramte in ihrem Geldbeutel und hielt ihm ihren Ausweis hin. Sanderson blickte das Formular an und gab den Ausweis zur Kontrolle an einen der Beamten draußen weiter. Dann meinte er: „Miss du Ravin, ich will ehrlich zu Ihnen sein: wir müssen hoffen, dass Sie Licht ins Dunkel unserer Ermittlungen bringen können.“ Catherine zog die Augenbrauen zusammen und entgegnete noch nichts. „Nach unseren Ermittlungen fielen ihre Eltern einem Gewaltverbrechen zum Opfer.“ „Haben Sie sie gefunden?“ fragte sie schnell und blickte ihn auffordernd an. Er nickte leicht. „Die Identifizierung geschah mit den Zahndaten. Ein Zweifel ist ausgeschlossen.“ Catherine sah ihn betroffen an. „Ich hatte die ganze Zeit gehofft, dass es nicht so ist.“ murmelte sie und biss sich auf die Lippen. „Können Sie uns sonst etwas dazu sagen?“ Helfen Sie uns, das zu verstehen. Helfen Sie uns, Ihre Rolle dabei zu verstehen, Miss.“ redete er weiter auf sie ein. Sie nickte leicht. „Ich kann selbst nicht genau begreifen, was geschehen ist.“ meinte sie und machte wieder eine kleine Pause. „Sagen Sie uns einfach, was Sie wissen. Wir werden dann sehen, was wir daraus machen.“ erwiderte Sanderson und setzte sich ihr gegenüber. „Wir haben auf unsere Eltern gewartet…“ Sanderson unterbrach sie: „Wir… das bedeutet Sie und Ihr Bruder Lucien?“ Catherine nickte und stimmte zu. „Wann war das?“ „Am Abend des 30. Dezember. Es war schon spät und draußen stürmte und schneite es. Da sie aus Rom mit dem Flugzeug hätten kommen sollen, nahmen wir an, dass es wegen der Wetterverhältnisse eben nicht ging. Wir dachten uns nichts weiter dabei. Es wird schon nichts passiert sein, dachten wir.“ Catherine nickte noch einmal zur Bekräftigung. „Haben Ihre Eltern sich gemeldet?“ „Nein, wir hatten keinen Strom. Wahrscheinlich hätten wir uns sonst Sorgen gemacht, aber soweit ich weiß, hatte das gesamte Gebiet um die Avenue de Chiosy und um die Rue National keinen Strom. Ich weiß es aber nicht genau.“ Sanderson nickte und fragte: „Was geschah dann?“ Catherine überlegte und fuhr fort: „Lucien meinte, ich sollte etwas schlafen. Er selbst wollte wach bleiben und weiter auf sie warten.“ „War das ungewöhnlich?“ „Nein. Ich gehe meistens früher als mein Bruder zu Bett. Es genügte, wenn einer wach wäre, sollten sie doch noch zurückkommen. Er wollte mich aber wecken.“ entgegnete Catherine und erzählte weiter: „Ich bin nach oben in mein Zimmer und das Fenster stand offen.“ „Das Fenster stand offen?“ Catherine nickte. „Was haben Sie dann getan?“ „Ich habe es geschlossen und Lucien gerufen.“ „Und er kam dann auch.“ „Ja. Wir vergewisserten uns, dass nichts fehlte und die anderen Räume ebenfalls in Ordnung waren. Er ging nach unten und sah dort weiter nach. Ich wollte erst den Boden aufwischen.“ „Sie waren also der Meinung, dass alles in Ordnung war.“ „Ja. Wir vermuteten auch, dass das Fenster eben nicht richtig verschlossen gewesen war und deshalb vom Sturm aufgedrückt werden konnte. Lucien war schon wieder unten, als ich ein Geräusch hörte, dass mich stutzig machte. Ich konnte es mir nicht erklären, also ging ich dem nach…“ „Sie gingen dem nach? Haben Sie ihrem Bruder Bescheid gegeben?“ „Ich kam die Treppe herunter und sagte es ihm, ja.“ „Und wieso ist er nicht diesem Geräusch nachgegangen?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Er hatte es nicht gehört. Er war ja unten und ich in meinem Zimmer. Da ist das schon möglich.“ Sanderson nickte und machte nur eine Handbewegung, dass sie weiter sprechen sollte. Catherine zögerte einen Augenblick, dann meinte sie: „Es kommt Ihnen sicher seltsam vor, aber ich habe nun einmal keine Angst vor der Dunkelheit. Insofern sehe ich darin keine große Überwindung, nachts allein hinauszugehen.“ „Ich verstehe. Was geschah als nächstes?“ „Ich ging um das Gebäude herum, aber entdeckte nichts, also ging ich einige Schritte die Rue Charles Moureu entlang. Da begegnete ich ihm.“ „Wem?“ „Einem Mann. Ich kannte ihn nicht, aber er sprach mich an.“ Sanderson hing an ihren Lippen, also sprach Catherine gleich weiter: „Er machte mir Angst. Ich weiß nicht mehr genau, was er gesagt hat, aber es war irgendetwas von Hochmut und Rache…“ Catherine fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf. „Möchten Sie einen Kaffee?“ Catherine blickte Sanderson an und entgegnete: „Nein, ein Mineralwasser wäre mir lieber.“ Parker stellte schnell ein Glas vor Catherine und schenkte ihr ein. Sie nickte nur zum Dank und berichtete weiter: „Ich rannte zurück zum Haus, aber als ich dort ankam, saß er bei Lucien und hatte eine Waffe auf ihn gerichtet.“ „Was für eine Waffe? Eine Schusswaffe? Welches Kaliber?“ „Einen Revolver, ja, aber das Kaliber kann ich Ihnen unmöglich sagen.“ antwortete Catherine, worauf Sanderson nickte. „Dieser Mann teilte uns mit, dass ein zweiter und ein dritter Mann unsere Mutter und unseren Vater in der Gewalt hätten und es überflüssig sei, die Polizei zu rufen.“ Kapitel 35: Eine überzeugende Geschichte? ----------------------------------------- Eine überzeugende Geschichte? Sanderson blickte sie an und schüttelte leicht den Kopf. Catherine schwieg eine Weile und wartete ab. Schließlich fragte Sanderson: „Wieso sind Sie weggelaufen, als ich sie angesprochen habe?“ „Ich wusste nicht, wer Sie waren. Haben sie etwa gesagt, Sie seien von der Polizei? Nein, nicht am Anfang. Und als Sie dann meinten, die Polizei suche nach mir… Nun, das kam in meinem Kopf nicht wirklich an. Ich dachte, Sie seien einer von denen. Und ihre Kollegen, die vor mir aufgetaucht sind… Eine seltsame Methode, das muss ich schon sagen.“ erklärte Catherine und hielt seinem Blick stand. Sanderson nickte und ergriff wieder das Wort, um zu Catherines Aussage zurück zu kommen: „Wieso haben Sie nur auf ihn gehört und haben die Polizei nicht eingeschaltet?“ „Was hätten Sie getan, wenn jemand permanent eine Waffe auf ihren Bruder gerichtet hätte? Mein Gott, wie hätten wir denn etwas anderes tun sollen?“ rief Catherine verzweifelt und schaute Sanderson direkt in die Augen. „Sie hätten auch auf seine Forderungen reagiert!“ Sanderson hob beschwichtigend eine Hand und nickte. „Was wollte er?“ „Geld, was sonst? Er muss vorher schon mit Lucien gesprochen haben, denn er meinte nur noch, dass ihnen nichts geschehen würde, sollten wir uns an alles halten und alles so durchführen. Allerdings sollten wir keinerlei Verdacht aufkommen lassen, also unsere Termine wahrnehmen. Er drohte noch einmal, dass sie uns im Blick hätte, dann ging er.“ „Wie sollte das Ganze über die Bühne gehen? Die Lösegeldübergabe, meine ich.“ fragte Sanderson und Catherine schloss für einen Moment die Augen. Schließlich erwiderte sie: „Lucien sollte auf einen Anruf warten, der am nächsten Morgen erfolgen würde und auf diesen hin bei der Bank anrufen, damit das Geld bereitgehalten wurde. 500 000 Euro.“ „Welche Bank würde so eine Summe aufgrund eines Telefonats nur bereitstellen?“ „Unsere. Die Banque de France. Ein Telefonat, um die Dinge in die Wege zu leiten. Natürlich erfolgte die Abholung des Betrags immer persönlich.“ erklärte Catherine. Sie hatte einmal ihren Vater begleitet und in der Eingangshalle auf ihn gewartet, bis alles erledigt war. „Welche Vorteile hat das?“ fragte Sanderson. „Insgesamt gesehen führt das zu einer Beschleunigung des Vorgangs.“ entgegnete Catherine und erzählte weiter: „Lucien sollte nach diesem Anruf alles in die Wege leiten und schließlich auf den Mann warten. Der Anruf kam am Morgen. Lucien telefonierte gleich darauf mit der Bank. Ich verließ das Haus, um mich mit einer Freundin zu treffen. Wir sollten ja so tun, als sei alles normal.“ „Wie lautet der Name der Freundin?“ „Nathalie Fronsac.“ antwortete sie. „Ich traf mich also mit ihr. Als ich zurückkam, war der Mann wieder da. Er machte uns noch einmal klar, dass es keinen Sinn hatte, die Polizei einzuschalten, da unsere Eltern an zwei verschiedenen Orten festgehalten wurden. Sollte er sich nicht bei seinen Komplizen in regelmäßigen Abständen melden, würden sie allerdings getötet. Nun wurden wir von weiteren Einzelheiten unterrichtet: Lucien sollte mit diesem Mann das Geld abholen und ihn dann nach Italien begleiten. Irgendwo in Italien sollte er das Geld selbst auf ein Konto überweisen. Wenn alles gut ging, würde er dann die Aufenthaltsorte unserer Eltern erfahren.“ Catherine machte eine Pause und nahm einen Schluck Wasser. „Lucien verließ am Nachmittag das Haus zusammen mit diesem Mann. Ich musste warten. Am Abend rief mich noch ein Freund an, ob ich nun zu seiner Silvester-Party käme, aber ich lehnte ab. Mein Bruder sei krank, sagte ich. Das schien mir besser. Ich denke, er hat mir geglaubt. Ich wollte warten.“ „Wann haben Sie wieder etwas von ihrem Bruder gehört?“ Catherine sah auf ihr Wasserglas und schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht mehr. Am nächsten Tag kamen zwei weitere Männer – diese waren älter als der erste – und meinten, Lucien hätte Mist gebaut. Sie würden mir aber noch eine Chance geben.“ „Wurden Sie bedroht?“ „Ja. Sie tobten, warfen Stühle um und zerbrachen Kunstgegenstände. Sie waren beide mit Revolvern bewaffnet, aber der eine drückte mir als kleine Erinnerung, dass sie es ernst meinten, eine Scherbe ins Handgelenk. Dann gingen sie wieder. Sie wollten am nächsten Tag wiederkommen. Ich hatte Angst. Ich war wie gelähmt. Sie hatten mich in der Hand.“ Sanderson wartete eine Weile und meinte dann: „Haben Sie eine Narbe am Handgelenk?“ Catherine zog ihren Ärmel hoch und zeigte ihm die Narbe von ihrem Sturz in das zerbrochene Wasserglas. Er betrachtete sie und forderte Catherine dann auf, weiter zu erzählen. „Ich sollte versuchen, noch mehr Geld aufzutreiben, aber das konnte ich nicht. Ich hatte bis dahin nur mein Konto – das Konto einer Studentin. Auf das Familienvermögen hatte ich wegen meines Alters noch keinen Zugriff. Mein Vater hätte das erst veranlassen müssen. Ich weiß nicht, warum ich auf ihre Rückkehr gewartet habe und nicht schon da geflohen bin. Ich habe versucht, bei der Bank etwas zu erreichen, aber das war erfolglos. Der eine der beiden Männer kam am nächsten Tag zurück, um zu erfahren, was ich erreicht hatte. Als klar war, dass ihr Plan nicht aufgegangen war, wurde er ziemlich ungehalten.“ „Hat er Ihnen etwas getan?“ „Er schlug mich. Ins Gesicht, in den Bauch und in den Rücken, soweit ich mich erinnern kann. Dann stürzte ich zu Boden und wachte erst wieder auf, als er weg war. Vermutlich... Nein, ich weiß es nicht.“ „Was vermuten Sie?“ fragte Sanderson. „Vielleicht dachte er, ich sei tot. Ich weiß es nicht!“ entgegnete Catherine. „Ich sah mich um – mitgenommen hatten sie kaum etwas, aber verwüstet hatten sie den Großteil der Bibliothek und des Arbeitszimmers meines Vaters. Ich rief den Chef unserer Angestellten an, dass sie Urlaub nehmen sollten, dann verließ ich Paris und kam hierher. „Warum ausgerechnet hierher?“ „Mein Großvater war in regelmäßigen Abständen für längere Zeit hier. Er hatte hier Freunde. Ich hatte gehofft, bei diesen Freunden unterzukommen, doch ich habe sie nicht gefunden. Ich hatte ja nichts bei mir, was mir da helfen konnte. Vielleicht war es auch eher Zufall, dass ich hier gelandet bin. Ich kann mich nicht erinnern, was mich dazu angetrieben hat.“ „Und Mrs. Abbotsford?“ „Elizabeth Abbotsford bin ich zufällig begegnet. Sie hat mich aufgenommen.“ Sanderson lehnte sich zurück und betrachtete Catherine. Sie hielt seinem Blick stand. Sie hatte ihm erzählt, was man aus diesen Rahmenbedingungen machen konnte, und soweit sie das richtig verstanden hatte, war sie soundso nicht als verdächtig betrachtet worden. Glaubte er ihr? Parker tippte noch die restlichen Worte und schließlich verstummte das Geräusch von gedrückten Tasten und er lehnte sich ebenfalls zurück. „Danke, Miss du Ravin. Sie haben uns sehr geholfen.“ meinte Sanderson plötzlich, erhob sich und wies mit seiner Hand auf die Tür. „Darf ich Sie bitten, draußen Platz zu nehmen? Wir werden nun nur noch die Aussage fertig machen, sodass Sie sie gleich unterschreiben können.“ Catherine erhob sich ebenfalls, nickte und ging zur Tür. „Natürlich. Wie lange wird das ungefähr dauern?“ entgegnete sie und blickte von Sanderson zu Parker und wieder zurück. „Nicht lange. Eine halbe Stunde vielleicht. Wir haben interessante Zeitschriften dort draußen.“ erwiderte nun Parker und stand auf, um die ausgedruckte Befragung aus dem Drucker zu nehmen. Catherine nickte und zog hinter sich die Tür zu. Erleichtert setzte sie sich auf einen der blauen Plastikstühle und schlug die Beine übereinander. Erst jetzt bemerkte sie, dass es bereits dämmerte. Die Beamtin am Empfang sah herüber und lächelte, als Catherine sie ebenfalls ansah. Catherine lächelte freundlich zurück. Dann fiel ihr Blick auf den kleinen Tisch neben ihr auf die Zeitschriften und entdeckte eine, die sie darauf auch unter dem Stapel hervorzog und aufschlug. Sie kam ja sonst nicht dazu, in der Vogue zu blättern, und jetzt hatte sie bestimmt nichts Besseres zu tun. Sanderson saß an seinem Schreibtisch und las noch einmal die verfasste Aussage durch. Immer wieder sah er zu Parker, der ebenfalls eine vor sich hatte. Wieso studierte er sie so aufmerksam? Er hatte sie doch selbst ausformuliert. Der ältere Beamte seufzte innerlich, verglich hier und da noch einige Textpassagen mit den entsprechenden Sätzen aus dem Protokoll der Aussage und setzte dann das Datum und den Stempel der Dienstbehörde darunter. „Halten Sie sie für vertrauenswürdig, Parker?“ Der junge Kollege blickte auf und nickte. Er stützte sein Kinn auf und überlegte. „Es klingt in sich schlüssig, finden Sie nicht?“ Sanderson nickte und meinte: „Vielleicht haben wir etwas übersehen.“ Parker schüttelte den Kopf und kramte in den Akten herum. „Nein. Wir haben die Aussage der Nachbarin Toullier, die am Abend des 30. Dezember gesehen hat, dass Catherine du Ravin die Villa verlassen hat. Diese Nachbarin sah auch einen fremden Mann in die Villa gehen und ungefähr zehn Minuten später Catherine du Ravin zurückkommen. Des weiteren gab diese Nachbarin an, dass Lucien du Ravin und besagter fremder Mann am Morgen des 1. Januar die Villa mit einer Reisetasche verlassen hätten. Außerdem hat Madame Toullier am 1. Januar morgens einen dunklen Wagen gesehen, aus dem zwei ihr unbekannte Männer gestiegen sind. Ältere, wie sie sagte, oder nicht? Denselben Wagen hat sie noch einmal am Morgen des 2. Januar gesehen, allerdings sonst nichts.“ „Das ist bestimmt eine der Nachbarinnen, die den ganzen Tag am Fenster sitzen.“ brummte Sanderson, um seinen Kollegen nicht allzu sehr zu unterbrechen. Parker nickte und fuhr fort: „Die Freundin Nathalie Fronsac hat angegeben, dass sie sich am 31. Dezember mittags mit Catherine du Ravin getroffen habe, sie allerdings die Verabredung vergessen habe – meiner Meinung nach spricht das nur für die Richtigkeit ihrer Aussage.“ Sanderson winkte ab und ließ Parker weiter reden. „Adrien Clement berichtete von seinem Telefonat mit Miss du Ravin und ihrer Angabe, ihr Bruder sei krank. Auch das ist richtig… Und nicht zuletzt konnten französische Techniker bei dem zertrümmerten Telefon zumindest noch feststellen, dass telefoniert wurde. Und zwar zweimal am Morgen des 31. Dezember und am Morgen des 2. Januar ebenfalls zweimal oder mehrmals. Was wollen Sie noch, Sanderson?“ Sanderson erhob sich und bat Catherine noch einmal ins Büro. Kapitel 36: Böses Erwachen -------------------------- Böses Erwachen „Setzen Sie sich.“ meinte Sanderson und behielt das Blatt mit der Aussage noch in der Hand. Catherine setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie während ihrer Aussage schon gesessen hatte und blickte Sanderson ruhig an. „Sagen Sie, Miss du Ravin… Haben Sie eine Ahnung, wo sich Ihr Bruder Lucien derzeit aufhält?“ „Nein. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen.“ log Catherine und fragte weiter: „Wieso? Was ist mit ihm?“ „Nun, er war hier. wahrscheinlich suchte er nach Ihnen.“ „Dann wissen Sie aber doch, wo er ist.“ entgegnete Catherine und blickte nun zu Parker. „Nein. Wie ich schon sagte: er war hier. Allerdings hat er sich den Ermittlungen entzogen. Sie haben ihn nicht zufällig doch im Krankenhaus besucht. Oder ihn gewarnt?“ „Wie sollte ich ihn besuchen, wenn ich nicht wusste, dass er hier war? Und wieso sollte ich ihn warnen? Wir haben nichts getan.“ Sanderson nickte zaghaft und musterte Catherine. „Bei Ihrem Bruder sind wir uns in dieser Angelegenheit nicht so sicher, Miss du Ravin.“ meinte nun Parker. „Sie glauben… Nein, das ist absurd. Dazu wäre er nie fähig.“ widersprach Catherine und blickte vom einen zum anderen. Nachdrücklich schüttelte sie den Kopf. „Sie haben ausgesagt, der erste fremde Mann sei vor Ihnen im Haus gewesen und habe allein mit Ihrem Bruder gesprochen…“ „Das ist überhaupt kein Beweis dafür, dass Lucien in die Sache verwickelt gewesen sein soll.“ gab Catherine zurück. Sanderson nickte. „Ein Beweis ist das nicht, nein, aber ein Hinweis.“ erwiderte er. Catherine zögerte, dann meinte sie: „Niemals. Das glaube ich nicht.“ Sanderson nickte und drehte sich etwas zu seinem Schreibtisch. „Wäre es Ihnen möglich, die Männer zu beschreiben?“ fragte er und Catherine überlegte kurz. „Der erste Mann hatte kurzes Haar – dunkelbraun bis schwarz, war mittelgroß und hatte einen südländischen Einschlag. Die Augenbrauen waren sehr geschwungen. Die Lippen eher voll. Er trug dunkle Kleidung und sah nicht unbedingt ungewöhnlich aus.“ Catherine nickte. „Die beiden älteren hatten beide ergrautes Haar. Der eine allerdings war dicker und kleiner. Tut mir leid, aber mehr kann ich ihnen nicht sagen. Vielleicht noch, dass der größere der beiden leicht gehinkt hat, aber mehr… Nein, tut mir leid.“ Catherine blickte Sanderson an. „Der dickere hat also gehinkt?“ fragte er nach. „Nein, er dünnere. Der dünnere war größer, der dickere kleiner.“ antwortete Catherine und hielt dem Blick stand. „Gut, danke. Das hat uns sehr geholfen.“ entgegnete Sanderson und händigte ihr das Blatt aus. „Lesen Sie Ihre Aussage noch einmal genau durch. Wenn sie korrekt ist, unterschreiben Sie sie.“ meinte er und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Catherine blickte ihn aus den Augenwinkeln noch einmal prüfend an, dann begann sie zu lesen. Schließlich nahm sie den Füllfederhalter, der ihr hingelegt worden war, und unterschrieb das Papier. Parker nahm es entgegen und heftete es ab. Sanderson blickte sie an und nickte. „Das war alles, Miss du Ravin.“ meinte er und Catherine erhob sich. „Was soll ich jetzt tun?“ „Sie können tun, was Sie wollen. Hier bleiben. Zurück nach Paris fliegen. Ganz wie Sie wünschen.“ entgegnete Parker und fügte hinzu: „Jeder Verdacht gegen Sie ist fallen gelassen.“ Catherine nickte und hängte ihre Tasche über die Schulter. „Ich danke Ihnen.“ meinte sie und griff nach der Türklinke, doch Sanderson war schneller. Er blickte sie an und kniff die Augen zusammen. „Ach, sagen Sie, Miss. Sie sind doch in Paris geboren - in welchem Krankenhaus? Entschuldigen Sie, aber ich habe lange in Paris gearbeitet und es würde mich einfach interessieren.“ meinte er. „Im Hopital Saint Louis.“ „Ah, das ist in der Rue de Rivoli, nicht wahr?“ fragte er und blickte sie an. Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, in der Avenue Claude-Vellefaux. Das Krankenhaus in der Rue de Rivoli ist die Clinique Saint Vincent.“ „Tatsächlich. Da habe ich mich getäuscht.“ Catherine lächelte und nickte. „Aber sagen Sie, Miss… Die Avenue Claude-Vellefaux ist doch ziemlich weit von der Avenue de Choisy, in der Sie wohnen, entfernt. Ich dachte, dass Leute aus Ihrer Gegend ein Krankenhaus in ihrer Nähe aufsuchen – wie etwa in der Rue de Rivoli.“ „Nun, soweit ich weiß, arbeitete ein Freund meines Vaters damals noch im Saint Louis. Deshalb wollten meine Eltern wahrscheinlich dorthin… Und von der Avenue de Choisy lägen die Clinique Villa Montsouris oder die Clinique Jeanne d’Arc günstiger.“ „Sie kennen sich sehr gut aus in Paris.“ Catherine lachte flüchtig und meinte dann: „Ich habe bisher mein ganzes Leben in Paris verbracht. Was erwarten Sie?“ Sanderson nickte und hielt ihr die Tür auf. „Leben Sie wohl, Miss du Ravin.“ meinte er und Parker schloss sich an. Catherine nickte kurz und entgegnete höflich: „Auf Wiedersehen.“ Catherine verließ das Büro und ging an der Beamtin am Empfang vorbei hinaus auf die Straße. Es regnete leicht und war inzwischen ganz dunkel geworden. Der Schein der Straßenlaternen und die Scheinwerfer der Fahrzeuge spiegelten sich auf dem nassen, schwarzen Asphalt. Sie ging langsam die Straßen entlang, die sie gekommen war und blieb hin und wieder an einem Schaufenster stehen. Wie lange hatte sie das nicht mehr getan? Wie lange war sie nicht mehr einigermaßen unbekümmert durch irgendeine Stadt geschlendert? Catherine betrachtete die ausgestellten Schuhe und ging dann weiter. Nicht, seit sie keinen Kontakt mehr zu Nathalie und den anderen hatte. Nicht, seit sie hier war. Nicht, seit es permanent Wichtigeres gab als ein Schaufensterbummel. Sie seufzte. Zumindest hatte sie das mit der Polizei erledigt, was sie sehr erleichterte und beruhigte. Catherine lächelte. Sie konnte es kaum erwarten, auf Elizabeth zu treffen, in ihr Gesicht zu blicken und einfach nur zu sagen, dass sich die Sache mit der Polizei erledigt hatte, weil sie sich selbst gleich darum gekümmert hatte. Sie brauchte Elizabeth nicht, und wenn sie ihr das damit zumindest etwas zeigen konnte, würde ihr das schon sehr gut tun. Catherine legte den Kopf in den Nacken und dachte an Lestat. Sie musste dringend mit ihm reden. Oder ihn zumindest sehen. Ihm nahe sein. Ihr Herz begann zu rasen und plötzlich hatte sie das Gefühl, als müsse sie sterben, wenn sie ihm jetzt nicht bald wieder nahe sein konnte. Lestat. Catherine biss sich auf die Lippen und beschleunigte ihren Schritt. Catherine trat in den Eingangbereich und ging zuerst in ihr Zimmer, um ihre Tasche wegzulegen. Lea begegnete ihr auf dem Gang. „Hallo.“ Catherine nickte ihr zu und ging weiter. „Kann ich mit dir reden?“ fragte sie und schloss neben ihr auf. Sie suchte Catherines Blick, doch Catherine stieß nur die Tür zu ihrem Zimmer auf, warf ihre Tasche auf das Bett und verließ es wieder. „Später, Lea. Jetzt nicht.“ entgegnete sie knapp und rauschte an ihr vorbei den Gang entlang und wieder die Treppe hinunter. Unten wartete Elatha und meinte ohne ein Wort der Begrüßung: „Saerlaith will dich sofort sprechen.“ „Ich nehme an, es geht um meine Aussage. Sie kann beruhigt sein.“ entgegnete Catherine und wandte sich ab. Elatha griff nach ihrem Oberarm und hielt sie fest. „Sie will mit dir reden. Und zwar sofort. Du tust gefällig, was sie will.“ wies Elatha sie forsch zurecht. Catherine machte sich los und funkelte sie wütend an. „Es ist alles erledigt! Sie wird wohl warten können. Ich habe es satt, zu springen, wenn sie pfeift!“ entgegnete sie gereizt und ließ Elatha stehen. Schnell eilte sie durch die Halle zur Kellertreppe, die sie ebenfalls rasch hinuntereilte, und durch den dunklen Gang, der zum Raum führte, in dem die Vampire untergebracht waren. Catherine klopfte stürmisch an und öffnete gleichzeitig die Tür. „Lestat, ich…“ Catherine brach ab. Vor ihr lag nur ein leerer Raum. Verlassen. Kalt. Düster. Im ersten Moment war sie nicht fähig, irgendeinen winzigen Gedanken zu fassen, dann stürzten tausend verschiedene auf sie ein und raubten ihr fast den Verstand. Er war weg. Sie waren weg. Wo waren sie? Warum? Catherine ging weiter in den Raum hinein. Das trübe Licht der einzelnen Glühbirne über ihrem Kopf erhellte nur kläglich den Raum, in dem sonst immer viele Kerzen gebrannt hatten. Wachstropfen klebten noch am Boden. „Verdammt, Lestat… Warum?“ flüsterte sie immer noch fassungslos und stützte sich an der Wand ab. Ihre Finger fühlten die feuchten Steine und pressten sich stärker gegen das Mauerwerk. Langsam kroch die Kälte über ihre Finger in ihren Körper und lähmten ihr Herz. Die Schläge schienen vor ihren eigenen Ohren zu verstummen. Sie hörte nur noch ihr eigenes Blut pochend gegen ihre Glieder rauschen. Catherine begann zu zittern. „Nicht auch noch du.“ flüsterte sie und sank kraftlos auf den Boden nieder. Ihre Augen füllten sich mit heißen Tränen und benetzten allmählich ihr Gesicht. Enttäuschung. Einsamkeit. „Nicht auch noch du.“ wiederholte sie leise. Dann schloss sie die Augen und über ihre Lippen kam nur noch in einem zarten Hauch ein Name: „Lestat…“ Kapitel 37: Willkommene Ablenkung --------------------------------- Willkommene Ablenkung Durchdringend zerriss der Alarm eines Rettungsbootes die üblichen nächtlichen Geräusche der schlafenden Lagunenstadt. Marius schritt stumm neben Lestat her und vergrub die Hände in seinen Taschen. Das Wasser des Canale Grande wog die Gondeln, die für die Nacht befestigt worden waren, sanft auf seinen kleinen Wellen. Unvermittelt blieb Lestat stehen und blickte auf die Wasseroberfläche. ‚Lestat.’ Er strich sich das Haar zurück und legte den Kopf in den Nacken. Catherine. Er spürte Marius Blick und wandte sich um. „Hast du ein schlechtes Gewissen?“ fragte Marius und schritt zur Brüstung der schmalen Brücke. Lestat drehte sich zu ihm um und schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Gewissen.“ entgegnete er. Marius blickte ihn an und legte Lestat seine Hand auf seinen rechten Unterarm. „Du denkst, ich hätte es ihr sagen sollen, nicht wahr?“ Marius lächelte und nickte leicht. „Es wäre nur schwerer geworden zu gehen.“ „Für wen?“ fragte Marius und legte ihm seinen Arm um die Schultern. Lestat schüttelte nur still den Kopf und umfing seine Taille mit seinem Arm. Schweigend verschwanden sie in der Nacht. Catherine saß gegen die kalte Wand gelehnt und blickte mit leerem Blick geradeaus. Ihre Finger drehten langsam mehrere Haarsträhnen herum und strichen durch sie hindurch. Sie waren weg. Anscheinend war es ihr Schicksal, dass sie von allen verlassen wurde, denen sie Vertrauen geschenkt hatte. Catherine lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Selbstmitleid! Das brachte sie im Moment am wenigsten weiter, das wusste sie. Vielleicht war sie einfach zu schnell, wenn sie ihr Vertrauen vergab. Vielleicht lag es an ihr… Unsinn! Es war normal, dass sie Salieri vertraut hatte, denn immerhin hatte er sie mit sieben Jahren im Orden gelehrt. Immerhin war er derjenige, der sie betreut hatte, bis sie mit vierzehn ihren ersten Auftrag bekommen hatte. Und er war auch danach noch regelmäßig an ihrem Wohl interessiert gewesen. Wie oft war sie mit ihm durch die Gärten spaziert und hatte mit ihm über das, was sie bewegte, gesprochen? Er hatte ihr zugehört, da ihre Eltern keine Zeit gehabt hatten. Und nun? Nun schmerzte es, wenn sie daran dachte, wie sehr sie ihm vertraut hatte. Lucien, Salieri, Elizabeth und den anderen. Lestat und den anderen. Lestat. Catherine öffnete die Augen wieder und schüttelte bei sich den Kopf. Sie konnte ihm keinen Vorwurf machen, dass er gegangen war. Er hatte nichts mit ihr zu tun. Warum sollte er also bleiben? Sie erinnerte sich ja, dass er von Anfang an eher skeptisch gewesen war. Warum also? Catherine setzte ihr Kinn auf den herangezogenen Knien ab. Selbstsüchtiger Kerl! Unzuverlässiger… Idiot. Hätte er ihr nicht wenigstens sagen können, dass er gehen würde? Nicht einmal diesen Anstand besaß er. Feige war er noch dazu. Catherine presste sich die Handflächen gegen die pochenden Schläfen. Ihr Herz verkrampfte sich vor Kummer, wenn sie so dachte. Und immer diese schwache Stimme in ihr, die ihr zuflüsterte, dass Lestat nicht so war. „Lestat, das war das Schlimmste, was du tun konntest.“ flüsterte Catherine leise und zog die Knie an ihren Körper. Ihre Kehle schmerzte und zog sich zusammen, wenn sie nur an ihn dachte. Müde legte sie den Kopf auf ihre Knie und formte mit ihren Lippen noch einmal stumm seinen Namen. Tränen standen ihr immer noch in den Augen, doch es waren nicht mehr genug, um ihre Wangen hinunter zu rinnen. Catherine wusste nicht, wie spät es war, als sie sich endlich vom Boden erhob. Sie fror und zitterte, doch sie wusste, dass sie nicht wegen der Kälte zitterte. Langsam streckte sie ihre Glieder aus und blickte sich noch einmal um. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen, doch eigentlich war ihr wieder nach Weinen zumute. Sie biss sich auf die Lippen und atmete tief durch. Sie musste Lestat aus ihrem Gedächtnis verbannen, das wusste sie. Nur so konnte sie tun, was sie tun musste. Sie musste die Stärke finden, gegen Elizabeth und Elatha - und wer sonst noch mit ihren unter einer Decke steckte – zu handeln, ohne das sie es gleich zu deutlich bemerkten. Sie musste sie in Sicherheit wiegen und dann dem Hinweis ihres Großvaters nachgehen. Catherine nickte bei sich und wischte sich das verwischte Make-up unter den Augen so gut es eben ging mit den Fingern weg. Zögernd öffnete die Tür und ging hinaus. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und blickte einen Augenblick in den Raum. „Vielleicht ist es gut so. Vielleicht.“ murmelte sie, tastete dann nach dem Lichtschalter und schloss leise die Tür hinter sich. Nachdem sie in ihrem eingerichteten Trainingsraum nach dem Rechten gesehen hatte und ihre Sai-Gabeln und die übrigen Waffen an sich genommen hatte, fiel ihr Blick auf die Kerbe in der Holztür, die die auf Lestat geschleuderte Sai-Gabel verursacht hatte. Catherines Finger fuhren darüber und schüttelte den Kopf, wenn sie an ihre anfänglichen Probleme mit Lestat dachte. Das Leben hielt auch für sie – oder gerade für sie – immer noch Überraschungen bereit. Sie presste die Lippen aufeinander und trat wieder in den Gang hinaus. Lea kam ihr entgegen und erschrak, als sie Catherine sah. „Was machst du denn hier?“ fragte sie fast entsetzt. „Ich habe… ein paar meiner Sachen geholt.“ erklärte Catherine und sah, dass Lea schon die Hand nach der Tür zum Raum, in dem die Vampire untergebracht gewesen waren, ausgestreckt hatte. „Du weißt es aber, oder?“ „Dass sie gegangen sind? Ja. Das weiß ich.“ antwortete Lea und nickte bedrückt. „Wann haben sie es dir gesagt?“ „Überhaupt nicht. Ich musste es selbst herausfinden. Na, was soll’s? Was machst du hier, wenn du wusstest, dass sie weg sind?“ „Ähm. Ich… Catherine, kannst du…“ stammelte Lea und fuchtelte mit den Händen vor sich herum. „Ja? Soll ich dir etwas helfen?“ fragte Catherine und blickte sie aufmerksam an. „Wolltest du mir nicht vorhin etwas sagen?“ Lea nickte und meinte: „Ich habe gehört, dass du bei der Polizei warst.“ Catherine nickte. „Das stimmt. Es lief alles glatt, wenn man das so sagen kann. Die Ermittlungen werden abgeschlossen – zumindest kann ich tun, was ich will. Ich denke, die Entführer meiner Eltern werden noch eine Weile gesucht und dann der Fall zu den Akten gelegt.“ „Du hast gesagt, dass sie entführt wurden?“ „Ich wusste nicht, wie ich sonst drei fremde Männer und fremde Autos in solch einer Nacht erklären sollte. Und den Mord an meinen Eltern.“ gab Catherine zurück und wollte an Lea vorbeigehen. „Warte! Ich muss dir etwas zeigen.“ meinte Lea, öffnete die Tür und ging in den Raum hinein. Catherine folgte ihr. Lea ging zu der Mauer auf ihrer rechten Seite und blickte zu Catherine. Es schien, als ob sie auf ein Zeichen der Zustimmung wartete, also nickte Catherine. Lea nickte ebenfalls und drückte dann gegen die Wand. Plötzlich hörte Catherine ein metallisches Geräusch aus dem alten Gemäuer, das sich zu einem leisen, monotonen Knarren wandelte und schließlich verklang. Catherine konnte noch ein dünnes, schwaches Klicken hören, bevor die Wand sich gemächlich zu bewegen begann. „Was?!… Lea!“ begann Catherine und brach dann ab. Ungläubig starrte sie auf das, was sich vor ihren Augen tat: ein Teil der Wand schob sich nach hinten und zur Seite und gab den Blick auf einen dunklen Gang frei. Lea reichte Catherine eine Taschenlampe. „Der Gang führt nach draußen. Sollen wir?“ fragte Lea. Catherine trat näher, nickte und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in den dunklen Tunnel. „Ich gehe voran.“ fügte Lea hinzu und schlüpfte mit eingezogenem Kopf durch den Eingang. Vorsichtig folgte Catherine ihr. Ihre Schritte hallten auf den ersten Metern auf dem Steinboden, dann wurde der Boden weicher und das Geräusch wurde dumpfer. Catherine hielt inne und leuchtete den Boden ab. Überall lagen Steine und Reste von Balken. „Bist du sicher, dass der Gang nicht einstürzt?“ fragte Catherine. Lea lachte leise: „Er hat Jahrhunderte gehalten. Warum sollte er jetzt einstürzen?“ Catherine nickte nur, was Lea natürlich nicht sah. „Ich habe trotzdem nichts umgeräumt.“ fügte Lea hinzu und kletterte über einen querliegenden Balken, der mit Sicherheit einmal einen Teil der Decke gestützt hatte. „Seit wann weißt du von dem Gang?“ fragte Catherine und kletterte ebenfalls über den Balken. „Das ist ganz seltsam. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe ihn vor ein paar Wochen wieder entdeckt.“ „Wieder entdeckt?“ Lea gab nur ein zustimmendes Geräusch von sich. „Ich habe mich, als ich ihn vor ein paar Wochen entdeckt habe, erinnert, dass ich schon einmal von ihm wusste. Ich kannte den Weg und wusste, wo der Gang wieder an die Oberfläche tritt. Ich weiß auch nicht, wie ich das vergessen konnte!“ erklärte sie und blieb stehen. Catherine trat näher zu ihr und blickte auf sie herunter. War es möglich, dass Lea etwas vergessen hatte, weil jemand wollte, dass sie es vergaß? Kapitel 38: Ein aufrichtiges Angebot ------------------------------------ Ein aufrichtiges Angebot Nach weiteren zehn Minuten hielt Lea noch einmal an, um Catherine zu zeigen, wo sie den Schlüssel für die alte Holztür am anderen Ende des Ganges versteckt hatte. „Als ich das erste Mal hier war, hat er von innen in der Tür gesteckt. Er liegt seither hier zwischen den beiden Steinen in der Wand.“ meinte sie und zog einen verrosteten großen Schlüssel aus der Nische zwischen den beiden Steinen, auf die sie deutete. Catherine hielt die Taschenlampe, sodass sie das Schlüsselloch fand. Sie sah, dass es nicht einfach war, das Schloss zu öffnen, doch dann hörte sie, dass der Riegel innen zurücksprang. Lea zog die Tür zu sich und blickte zu Catherine. „Bist du bereit, Cate?“ Die Luft wurde langsam frischer. „Wofür? Wo sind wir jetzt?“ fragte Catherine und betrachtete die ausgetretenen Steinstufen, die nach oben führten. „Das wirst du gleich sehen. Ahnst du es noch nicht?“ entgegnete Lea und ging wieder voran. Catherine ahnte etwas, doch sie hatte dort im unterirdischen Gang jeglichen Sinn für Orientierung verloren, weshalb sie nichts sagte. Sie kletterten die Stufen hinauf und leuchteten die Decke ab. Es sah aus, als seien als Decke einfach mehrere Holzbretter aneinander genagelt worden, die immer noch recht dicht zueinander abschlossen. Plötzlich blieb Lea wieder stehen und Catherine stieß gegen sie. „Entschuldige! Sag’ nächstes Mal, wenn du stehen bleibst.“ meinte sie leise. „Wieso flüsterst du?“ fragte Lea amüsiert, erwartete jedoch keine Antwort von Catherine. Catherine schnaubte nur mit der Botschaft: ‚Das weiß ich selbst nicht.’, während Lea die Decke abtastete und sich schließlich mit aller Kraft gegen sie stemmte. Ein Knarren ertönte und die Decke begann sich ein Stück zu heben. „Ich habe übertrieben!“ stöhnte Lea unter Anstrengung und Catherine kletterte ein Stück höher. „Womit?“ „Ich habe die Tür mit zu viel Erde abgedeckt. Um sicher zu gehen.“ erklärte Lea und stemmte sich noch einmal dagegen. Da Catherine aber noch nicht in Reichweite der Tür war, blieb das noch ohne Erfolg. „Jetzt sieht man sie nicht nur nicht, man kommt auch nicht mehr hinaus.“ bemerkte Catherine amüsiert und erreichte nach einer weiteren Stufe die Decke mit ihren Händen. Gemeinsam stießen sie die schwer mit Erde beladene Holzplatte zurück und kühle Nachtluft strömte in den Tunnel. Lea knipste ihre Taschenlampe aus und kletterte ins Freie. Catherine tat es ihr gleich. Oben angekommen sah sich Catherine erst einmal um. Es dauerte eine Weile, bis sie in der Dunkelheit etwas erkennen konnte, doch dann bestätigte sich, was sie geahnt hatte: sie befanden sich bei den alten Gräbern. Catherine erkannte das Kreuz, an dem sie die Frauengestalt gesehen hatte, in unmittelbarer Nähe zum Ausgang des Geheimganges. Es stand direkt vor ihr. Catherine berührte es mit ihren ohnehin schon schmutzigen Händen und fuhr über die steinerne Oberfläche, die beinahe vollständig unter Efeuranken verschwunden war. Nur das obere Ende des Kreuzes und Teile des steinernen Querbalkens mit den eingemeißelten Knotenmustern als Verzierung blickten darunter hervor. „Was denkst du, warum du vergessen hattest, dass der Gang existiert?“ fragte Catherine und wandte den Blick zu Lea, die sich auf einen Baumstumpf gesetzt hatte. „Ich weiß es nicht. Was denkst du?“ entgegnete sie und blickte zum Schloss. Catherine folgte ihrem Blick. Unzählige erhellte Fenster übersäten die Fassade. Sie erkannte die Bibliothek, hinter deren Fenster mehrere Mädchen mit Büchern gingen. Um wen es sich handelte, erkannte sie nicht. „Ich weiß nicht, was ich denken soll, Lea. Deine Großmutter sagte vor einigen Tagen zu mir, dass die meisten Mädchen hier gar nicht so große Kräfte besäßen. Sie selbst und deine Mutter und auch du seien da aber eine Ausnahme.“ erzählte Catherine und antwortete damit nicht auf Leas Frage. Entspannt lehnte sie sich gegen das Kreuz und starrte in die Nacht hinein. „Wieso hast du mir gezeigt, wo sich der Gang befindet? Wieso mir und sonst niemandem?“ fragte sie vorsichtig. Lea schwieg eine Weile, dann meinte sie: „Ich erinnere mich nicht nur daran, dass ich ihn als Kind schon einmal entdeckt habe. Ich erinnere mich auch daran, dass ich damals aufgeregt zu meiner Oma gerannt bin und ihr davon erzählt habe. Ich habe sie hingeschleift. Und dann hört meine Erinnerung auf. Deshalb sage ich es heute dir. Ich denke, dann vergesse ich es nicht.“ Lea nickte noch einmal zur Bekräftigung, das hörte Catherine am Rascheln ihrer Kleidung. Catherine schwieg und fuhr mit den Fingerspitzen über die Efeublätter an der Seite des Kreuzes. „Seit du hier bist, ist alles anders.“ meinte Lea nach einer kurzen Pause. „Das tut mir leid.“ gab Catherine betroffen zu. „Ich kann mir vorstellen, dass du nicht gerade gut auf mich zu sprechen bist, denn immerhin verursache ich das ganze Chaos und die Spannungen zwischen mir und deiner Großmutter beziehungsweise deiner Mutter. Die sind wahrscheinlich auch nicht sehr hilfreich.“ Lea sagte nichts. „Trotzdem musst du mir glauben, dass ich wünschte, ich könnte in mein altes Leben zurückkehren und aus deinem verschwinden.“ Lea lachte leise. „Nein, das tust du nicht. Du weißt doch, dass du mit deinem Wissen nie wieder die Unwissende sein könntest.“ „Was weiß ich denn schon? Absolut nichts … fast nichts!“ entgegnete Catherine und schüttelte heftig den Kopf. „Es trägt zumindest nicht dazu bei, dass ich einem Ergebnis entgegen sehe. Ich komme mir nur noch verlorener in diesem Spiel vor. „In diesem Spiel? Ist es das für dich? Ein Spiel?“ fragte Lea und wandte den Blick zu Catherine. „Versteh’ doch: ich komme mir hier einerseits so wichtig vor wie die Dame beim Schachspiel, andererseits allerdings so unwichtig und unnütz wie der Bauer bei diesem Spiel. Einerseits will deine Großmutter mich bei den Besprechungen dabei haben, andererseits verheimlicht sie mir wichtige Informationen. Ich kann hier keinem trauen…“ „Kannst du auch mir nicht trauen?“ unterbrach Lea Catherine scharf. „Du bist noch sehr jung…“ „Ach, ein Kind also. Und deshalb kann man einfach so übergangen werden. Ernst genommen wird man ja ohnehin nicht. Oder wie soll ich das verstehen?!“ vermutete Lea wütend und gestikulierte mit ihrer Hand vor Catherine herum. „Du bist noch sehr jung. Ich bleibe dabei. Du solltest dich damit nicht befassen – zumindest nicht, wenn es nicht sein muss.“ „Und du entscheidest, ob es sein muss oder nicht. Oder meine Großmutter und meine Mutter. So ist es doch immer.“ Catherine lachte leise und bitter. „Ich habe mit vierzehn Jahren meinen ersten Auftrag von der Bruderschaft erhalten. Mit vierzehn Jahren wurde ich als vollwertiges Mitglied derjenigen angesehen, die eben die Aufträge ausführen. Und ich war noch ein Kind. Ich war nicht bereit dafür. Es hat niemanden interessiert. Vielleicht wollte ich dir das ersparen.“ „Ich bin keine vierzehn mehr.“ murmelte Lea und Catherine nickte. „Aber fünfzehn. Und das macht keinen sehr großen Unterschied, denke ich. Wenn ich dir zu wenig zugetraut habe, dann tut mir das ehrlich leid, aber ich habe getan, was ich für das Beste hielt.“ Lea entgegnete nichts, sondern blickte nur wieder zum Schloss. Catherine atmete ruhig die kühle Nachtluft ein und wartete. Nach einer Weile ergriff Lea wieder das Wort: „Auch wenn du mir nicht vertraust…“ „Das habe ich nicht gemeint. Ich vertraue denjenigen nicht, denen ich vertrauen sollte. Das ist mein Problem.“ „Wie auch immer. Ich vertraue dir. Und deshalb möchte ich dich etwas fragen. Und zwar… Glaubst du, meine Großmutter hat etwas damit zu tun, dass ich den Geheimgang vergessen habe? Ich meine, ich war bei ihr. Sie wusste davon. Und dann wusste ich nichts mehr. Meinst du, das ist möglich?“ Catherine brauchte eine Weile, bis sie antwortete: „Ich weiß es nicht, Lea. Ich weiß nicht, ob sie so etwas tun würde und warum sie es tun sollte. Deshalb möchte ich dir nicht sagen, dass ich es glaube. Glaubst du es?“ Lea stützte das Kinn auf ihren Knien ab und meinte: „Ich sollte so etwas nicht denken oder gar aussprechen, aber ich halte es für möglich. Ich werde den Gedanken einfach nicht los, dass es so war. Was rätst du mir?“ Catherine traf diese Frage unvorbereitet, doch sie überlegte schnell. „Hm, was ich dir rate… Abgesehen davon, dass ich kaum objektiv gegenüber deiner Verwandtschaft bin – Großmutter wie Mutter – rate ich dir, dass du die Augen offen halten solltest.“ Catherine sah, dass Lea sich erhob. „Mein Urteil muss ich mir also selbst bilden. Willst du das damit sagen?“ Catherine nickte und gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Das hat Louis auch gesagt…“ murmelte Lea und Catherine ging nicht darauf ein. Sie wusste ja, dass sie längere Zeit mit Louis geredet hatte. Wahrscheinlich hatten sie auch über Elatha und Elizabeth gesprochen. „Ich werde dir nicht in deine Meinung hineinreden, Lea, aber du kannst zu mir kommen, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Du kannst mir erzählen, was dich beschäftigt.“ bot Catherine deshalb nur an und suchte in der Dunkelheit Leas Blick, doch Lea sah weiterhin zum Schloss hinüber. „Danke. Und was ist mit dir? Brauchst du niemanden, mit dem du reden kannst? Es ist sicher nicht gut, wenn du alles mit dir ausmachst. Was ist zum Beispiel mit den Vorbehalten gegen meine Großmutter? Willst du dir die nicht von der Seele reden?“ erwiderte Lea und drehte sich nun doch zu Catherine um. „Netter Versuch!“ lachte Catherine, erhob sich und ging in Richtung auf das Schloss. Lea rannte hinter ihr her und nickte. Schweigend verließen sie den Park. Kapitel 39: Visionen mit Folgen ------------------------------- Visionen mit Folgen Catherine und Lea traten ungesehen in den Eingangsbereich und schlichen sich nach oben in Catherines Badezimmer. Lea setzte sich auf den Hocker und zog sich das Sweatshirt über den Kopf, während Catherine ihr ein Handtuch hinlegte und den Wasserhahn aufdrehte. „Wenn wir uns jedes Mal so dreckig machen, bringt uns der Geheimgang nicht viel.“ murmelte Catherine und seifte ihre Hände ein. „Du hast ja überhaupt nicht so viel abbekommen.“ entgegnete Lea und trat ebenfalls zum Waschbecken. Catherine nickte und machte Lea Platz. Flüchtig blickte sie in den Spiegel und bemerkte, dass sie wirklich noch sauberer war. Lea starrte abwesend vor sich hin und bemerkte nicht einmal, dass Catherine sie musterte. „Was ist?“ fragte Catherine nach einer Weile und riss damit Lea aus ihren Gedanken. Sie schwieg eine Weile und holte dann tief Luft. „Es gibt noch mehr solche Gänge – auch im Schloss.“ „Wie kommst du darauf?“ fragte Catherine und hängte ihr Handtuch an den Haken an der Wand. „Ich habe es gesehen.“ flüsterte Lea und blickte Catherine im Spiegel an. Als sie nichts erwiderte, sondern nur auffordernd blickte, fuhr sie fort: „Ich habe das Schloss gesehen, wie es vor etlichen Jahren ausgesehen haben muss. Und da waren mehrere Gänge, die Zimmer miteinander verbunden haben oder…“ Lea stockte und kniff die Augen zusammen. „… oder hinter Zimmern entlang führten. Man konnte alles hören.“ „Was konntest du hören?“ fragte Catherine. Sollte sie in die Vergangenheit gesehen haben, dann musste es etwas mit diesem Schloss zu tun haben und dann vielleicht auch mit dem, was gegenwärtig hier und mit ihr geschah. Lea schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht deutlich an die Worte erinnern, aber… der Raum kam mir so bekannt vor.“ „Kannst du ihn einordnen? Würdest du den Gang finden?“ Lea nickte leicht und überlegte still. Schließlich meinte sie: „Das Büro meiner Großmutter. Das muss es gewesen sein. Der Gang muss in der Außenwand entlanglaufen, denn ich habe auf die Tür geschaut. Die sehe ich sonst nie. Die sieht man nur, wenn man am Schreibtisch sitzt frontal.“ Catherine starrte Lea ungläubig an, dann senkte sie den Blick. „Würdest du den Gang wieder finden?“ fragte sie vorsichtig. „Ja. Und ich würde ihn auch nutzen können.“ antwortete Lea und schenkte Catherine damit eine gewisse Erleichterung, denn diese Möglichkeit war ihr auch sofort in den Sinn gekommen. Langsam verließ sie das Bad und trat zu ihrem Fenster. Sie konnten hören, was Elizabeth und Elatha unter vier Augen miteinander besprachen. Sie konnten wissen, was sie planten und wie viel sie Catherine verschwiegen hatten. Wie viel wussten sie tatsächlich? Der Gang bot ihnen die Möglichkeit, das alles zu ihrem Vorteil… „Ich muss jetzt zum Abendessen. Du kommst wieder nicht mit herunter, nehme ich an?“ unterbrach Lea Catherines Gedanken. Sie stand noch in der Tür zum Badezimmer und hängte das Handtuch über eine Stange. „Nein, ich werde mir wieder etwas in der Küche holen. Wenn ich auf einmal mit dir komme, schöpft deine Großmutter noch Verdacht.“ entgegnete sie. Catherine lächelte, als Lea mit hochgezogenen Augenbrauen nickte. „Auch wieder wahr. Na, dann… Bis später.“ „Kannst du mir sagen, wo der Eingang zu diesem Gang ist?“ Lea schüttelte den Kopf. „Ich müsste davor stehen und es mir genau ansehen. Irgendwo in der Wand unter der Treppe, aber die ist groß. Tut mir leid.“ Catherine nickte und winkte ab, als Lea sich noch weiter rechtfertigen wollte. „Wir können später nachsehen.“ meinte Catherine und Lea nickte. „Bis später dann.“ Lea machte kehrt und Catherine blickte ihr nach, bis sie die Tür hinter sich zugezogen hatte. Catherine ging gleich anschließend in die Küche hinunter und ließ sich dort einen Teller geben. Das Personal kannte sie bereits und machte keinerlei Anstalten mehr, dass sie doch oben essen sollte. Die rundliche Köchin schöpfte ihr immer mehr aus, als Catherine eigentlich wollte, doch Widerstand war zwecklos, da sie nach Meinung der gesamten Mannschaft viel zu wenig auf den Rippen hatte. Seufzend nahm Catherine es hin, nahm sich den Teller und setzte sich an die kleine Bar. Heute hatte sie sich nur eine Suppe geben lassen, sonst würde sie auch heute den Rest, den sie nicht schaffte, zurückgeben. Nachdenklich begann sie, die Suppe in sich hineinzulöffeln. Obwohl sie sich innerlich schon ausmalte, was sie alles durch Lauschen im Geheimgang erfahren würde, hingen ihre Gedanken noch am Brief ihres Großvaters und den Neuigkeiten, die sie durch ihn erfahren hatte. Neugier drängte sie beinahe dazu, sofort aufzustehen, nach Edinburgh zu fahren und sich das Schließfach ihres Verwandten, der immerhin verstorben war, zeigen zu lassen - falls er dort überhaupt eines hatte, doch erstens musste sie irgendeinen offiziellen Wisch besorgen, der sie als eine Angehörige des Verstorbenen dazu berechtigte, den Inhalt des Schließfaches zu sehen und zweitens musste sie weiterhin vorsichtig sein und zumindest einige Tage verstreichen lassen, da sie nicht wusste, ob die Polizei sie noch im Blick hatte - und sei es nur im Augenwinkel. Catherine nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Vielleicht konnte sie das bei Spaziergängen durch die Stadt beobachten. Glücklicherweise hatte die Bruderschaft sie gelehrt zu bemerken, wenn sie verfolgt oder auch nur beschattet wurde. Catherine legte den Löffel zur Seite und nahm noch einen Schluck Wasser. Wie auch immer sie es drehte und wendete: sie musste Geduld haben. Nach dem Essen wartete Catherine in ihrem Zimmer auf Lea, die später kommen würde. Essen mit der Gemeinschaft dauerte immer länger, das wusste sie. Catherine lag auf ihrem Bett, trommelte mit ihren Fingerspitzen auf dem Überwurf herum und hatte den Blick zur Decke gerichtet. Lestat kam ihr in den Sinn. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, dass sie seine seidene Haut auf ihrer spürte und dem Blick seiner Augen begegnete. Wo war er nur? Was tat er? Und viel wichtiger: Warum war er gegangen? Warum waren alle anderen gegangen? Die Tür öffnete sich langsam und Lea trat ein. „Denkst du nach?“ fragte sie und setzte sich zu Catherine auf das Bett. „Weißt du, warum sie weg sind?“ Lea zögerte. Catherine richtete sich halb auf und blickte sie fordernd an. „Du weißt es.“ bemerkte sie. Lea nickte zaghaft. „Ich weiß es nicht genau, aber meine Großmutter wollte sie zumindest wegen der Polizei nicht mehr hier haben. Das hat meine Mutter gesagt.“ Catherine nickte, doch sah dies als Grund nicht ein. „Das war es, was ich dir heute morgen sagen wollte.“ fügte Lea noch hinzu. „Und dann konntest du es nicht.“ murmelte Catherine nickend. „Ja, ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte. Und als ich dich dann aus dem Trainingsraum kommen sah, wusste ich, dass du es schon weißt.“ Catherine nickte und meinte: „Wollen wir den Geheimgang, den du gesehen hast, unter die Lupe nehmen? Ich brauche etwas zu tun.“ Lea nickte und erhob sich. „Wenn wir Glück haben, sind die meisten noch beim Essen.“ erklärte sie. Gemeinsam verließen sie das Zimmer und traten in die Einganghalle. Vorsichtig sahen sie sich um und Lea machte sich daran, die Wand mit der Holzvertäfelung abzutasten. „Hier war es irgendwo.“ meinte sie leise, während Catherine weiterhin Ausschau nach irgendwelchen Leuten hielt, die vorüber gehen konnten. „Hier!“ rief Lea plötzlich. Catherine wandte sich ihr zu und trat näher. Lea drückte bestimmt gegen eine der kleinen, verzierten Wandtäfelungen und drehte einen der erhabenen Ränder ein kurzes Stück im Uhrzeigersinn, ehe sie wieder leichten Druck auf ihn ausübte. Die Tür sprang nach hinten auf, worauf Catherine und Lea schnell hindurch schlüpften und den Gang wie den Geheimgang zuvor untersuchten. Im Gegensatz zum vorigen, der nach draußen führte, was dieser aufgeräumt und die Gefahr zu stolpern oder irgendwo den Kopf anzuschlagen äußerst gering. Lea ging wieder voraus, Catherine folgte ihr. Schließlich erreichten sie den Punkt, an dem der Gang eine Biegung machte. Dann folgte noch eine und Lea hielt an. „Jetzt müssten wir vor dem Büro sein. Beziehungsweise dahinter. Zwischen Außenwand und Büro.“ flüsterte sie und betrachtete die Innenwand. An ihr befanden sich mehrere winzige Löcher, die kaum zu erkennen waren, aber zweifellos dazu dienten, dass das Gesprochene zum Ohr des Lauschenden dringen konnte. „Schade, dass man nur hören und nichts sehen kann.“ bemerkte Catherine leise. Lea legte den Finger auf die Lippen und blickte Catherine auffordernd an. „Wir müssen annehmen, dass sie uns ebenso hören können.“ wisperte sie anschließend, worauf Catherine nickte. Das war ihr alles klar, doch im Moment schien es so, als sei niemand im Büro: Nicht das geringste Geräusch drang zu ihnen durch. Kapitel 40: Versteckte Zeugen ----------------------------- Versteckte Zeugen Enttäuscht kehrte Lea bereits nach wenigen Minuten dem Büro den Rücken, als Catherine hörte, wie sich die Tür öffnete. Schnell und geräuschlos ergriff sie Lea am Handgelenk und wies mit dem Kopf ein Stück zurück. Lea schlich wieder zurück und hielt die Luft an. Es war mit Sicherheit Elizabeth, die hereingekommen war, doch sie war nicht allein. Sie konnten das Geräusch vom Zurückziehen eines Stuhles auf dem Teppichboden hören, dann wurde es einen Moment still. Schließlich folgte das Rascheln von Blättern und Elizabeth begann zu sprechen: „Es tut mir leid, aber ich habe sie auch seither nicht mehr gesehen.“ „Seit wann?“ fragte Elatha. Catherine blickte zu Lea, die flüchtig nickte. „Seit du sie in den Keller gehen hast lassen.“ entgegnete Elizabeth. „Sie kann doch nicht verschwunden sein!“ „Wieso hast du Lea beim Essen nicht gefragt? Sie saß neben dir. Vielleicht hat sie Catherine gesehen. Und wo ist Lea jetzt?“ fragte Elizabeth wieder und blickte Elatha an. „Ich bin es leid, dass sie hier ist.“ murmelte Elatha und lehnte sich auf ihrem Stuhl nach vorne. „Lea oder Catherine?“ fragte Elizabeth spöttisch und ließ ihren Blick über die Papiere fallen, die sie in der Hand hielt und mit angespannter Miene durchsah. Elatha reagierte nicht, sondern blickte vor sich hin. „Du machst es dir zu einfach.“ „Ich mache es mir nie einfach.“ widersprach Elatha schließlich und fuhr fort: „Was hat die Polizei dir gegenüber gesagt? Glaubt sie Catherine du Ravin, oder nicht? Und was wird weiter geschehen, wenn nicht?“ „So wie es aussieht, kann sie wirklich gut lügen.“ „Wenigstens etwas.“ „Nicht unbedingt. Sie ist in dieser Hinsicht fähiger, als ich dachte. Und scharfsinnig ist sie noch dazu. Wir sollten vorsichtiger sein.“ „Ich frage dich noch einmal: Was sollte sie schon ausrichten?“ „Und ich sage dir noch einmal, dass ihre Kräfte enorm sind. Auch wenn du das nicht glaubst, ist das so. Unser Glück ist, dass Catherine nicht weiß, was sie könnte und es daher nicht tut. Und im Moment hat sie auch noch einen Anlass gegen uns zu handeln, wenn ich das richtig sehe.“ „Was ist, wenn du dich irrst?“ fragte Elatha und griff nach einem Teil der Aussage, die die Polizei Elizabeth zukommen hatte lassen. Sie las einige der falschen Fakten durch und ließ das Blatt dann sinken. „Ich irre mich nicht.“ antwortete Elizabeth, da sie es hasste, wenn sie mit jemandem sprach, der gerade ins Lesen vertieft war. „Hättest du deinen Unterricht mit ihr gleich begonnen, dann wüssten wir mehr.“ „Woher sollte ich ahnen, dass sie gleich zum Polizeipräsidium geht, sobald wir sie nicht mehr im Auge haben? Diese Fähigkeit ist bei mir nicht so stark ausgeprägt. Und Catherines Gedanken konnte ich noch nie lesen. Niemand konnte das von uns. Niemand kann es.“ rechtfertigte Elatha sich und warf das Papier auf den Schreibtisch vor sich. Ungeduldig sah Elizabeth ihre Tochter an. Dann meinte sie: „Du bist zu impulsiv. Siehst du nun, dass es gut war, die Vampire wegzuschicken?“ „Daran habe ich nie gezweifelt.“ entgegnete Elatha gelassen. „Stimmt, aber du hast die falschen Gründe angenommen.“ „Was ist daran schon falsch zu verstehen? Catherine und Lestat sind sich zu nahe gekommen… Unvorstellbar!“ „Darum ging es mir nicht nur. Es ging mir auch darum, dass du in deinem Zorn deine Gedanken nicht vor ihnen verbergen kannst. Stell’ dir nur vor, was sie getan hätte, wenn sie unsere Pläne gekannt hätten?“ „Was schon? Catherine konnte ihnen egal sein. Immerhin war sie nur eine Sterbliche.“ Elizabeth schüttelte den Kopf. „Das ist zwar richtig, aber sie war keinem von ihnen egal. Zumindest ihre Neugier hat sie geweckt. Marius hat sich für sie interessiert und auf Lestat hat sie anziehend gewirkt, obwohl sie das wahrscheinlich nicht beabsichtigt und geplant hat, vielleicht sogar versucht hat, sich gegen seine Anziehungskraft zu wehren.“ Elizabeth schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „Was auch immer in ihr vorgegangen ist, weiß ich nicht. Tatsache ist aber, dass Marius uns nicht mehr helfen wird. Wenn sie seine Hilfe braucht, denke ich, wird er allerdings kommen.“ „Wie kannst du da so sicher sein.“ „Ich bin in dieser Sache nicht sicher, aber ich vermute es. Ich kann es nur annehmen.“ „Aber die Sache zwischen Catherine und Lestat…“ begann Elatha wieder. „Zweitrangig! Unwichtig für uns. Hätte er Catherine getötet, wäre das nicht zu ändern gewesen. Für uns wäre eine Gelegenheit zerstört worden, doch unsere große Göttin hätte ein Auge auf uns gehabt und für uns gesorgt. Und vielleicht hätte sich die Gelegenheit irgendwann, nach vielen Jahren, wieder ergeben. Auf lange Sicht hätte es keine Rolle gespielt, ob Catherine lebt.“ meinte Elizabeth und lehnte sich zurück. Elatha schüttelte den Kopf. „Du würdest das nicht überstehen, wenn du nicht Zeugin dieses historischen Ereignisses werden könntest. Deshalb haben dich die Vampire auch gestört. Dein Hass hat dich schon immer verzehrt, als ich noch ein Kind war. Schon damals hast du geahnt, dass sich dir die Gelegenheit ergeben könnte. Seit du wusstest, was die Bruderschaft angerichtet hat, wolltest du ihr eine empfindliche Niederlage zufügen. Du hast davon geträumt, sie gänzlich zu vernichten.“ erinnerte Elatha ihre Mutter. „Ich hätte dieses Wissen nie mit dir teilen dürfen. Du bist immer noch zu jung und zu aufbrausend. Wann wird sich das jemals ändern?“ „Ich denke nicht, dass sich das ändern wird, solange du mir meinen Platz vorenthältst. Ich bin es leid, deine Handlangerin zu sein. Du traust mir nichts zu und geachtet hast du mich nie…“ „Wie sollte ich jemanden achten, der bei der Talamasca ist?“ fragte Elizabeth beißend. Elatha erhob sich und schüttelte den Kopf. Langsam ging sie auf und ab. Schließlich meinte sie: „Ich war bei der Talamasca und habe dir Wissen zukommen lassen. Wenn du mit meinen Hinweisen nichts anfangen konntest, solltest du den Fehler vielleicht eher bei dir suchen.“ Elizabeth studierte Elathas Gesichtsausdruck und bemerkte, dass Elatha ihr wieder einmal standhielt. Sie war stärker geworden und ihr Willen unbeugsamer. Gleichgültig zuckte sie die Schultern und meinte: „Bilde dir nicht ein, dass die Talamasca anders wäre. Auch sie besitzt Regeln und eine strenge Hierarchie. Was stört dich hier daran, wenn du es dort willig in Kauf nimmst?“ Elatha entgegnete nichts. Elizabeth würde das nie verstehen. Elatha verstand es selbst nicht, warum sie bei der Talamasca blieb, denn eigentlich hasste sie den Orden. Warum, das konnte sie selbst nicht so genau sagen, aber alles an ihm störte sie. Vielleicht auch einfach nur die Tatsache, dass die Talamasca einst aus der Bruderschaft entstanden war. Sie hatte sich zwar wegen unterschiedlicher Ansichten abgespalten, doch der Ursprung des Übels blieb für sie derselbe. Und Elatha war zum Hass auf die Bruderschaft erzogen worden. Und dieser Hass war gut. Catherine brauchte eine Weile, bis sie verdaut hatte, dass Elatha bei der Talamasca war – wie einst David. Sollten sie sich da nicht zumindest vom Namen kennen? Seltsam war das schon, aber Catherine konnte nicht weiter darüber nachdenken, da das Gespräch im Büro nicht still stand. Leicht verwirrt beobachtete sie Lea, die angestrengt zuhörte. Sie blickte hin und wieder zu Catherine und dann wieder vor sich hin, um dem Hin und Her zwischen Mutter und Tochter zuzuhören. Vorwürfe über falsche Erziehung und seltsame Ansichten… Unwichtig für sie, wie Catherine fand. Lea zeigte die Diskussion, dass es zwischen Elizabeth und ihrer Tochter Charlotte ebenfalls keine Mutter-Tochter-Beziehung gab. Im Glücksfall gab es eine Beziehung zwischen Saerlaith und Elatha, doch mehr war da nicht. „Der Fluch der Familie Abbotsford-Reynolds?“ entgegnete Catherine flüsternd, da sie ahnte, was Lea dachte. Lea nickte schweigend. Dann lenkte Elatha das Gespräch wieder in eine etwas andere Richtung: „Du möchtest also nicht mehr meine Handlangerin sein. Ich habe dich zwar nie als solche betrachtet, sondern immer als meine einzige Erbin, aber gut.“ Elizabeth machte eine kleine Pause, dann fuhr sie fort: „Da du in der nächsten Zeit nicht nach London zur Talamasca zurückkehren wirst und dein Unterricht mit Catherine unnötig geworden ist, möchte ich, dass du Lea bittest, sie im Auge zu behalten.“ „Lea soll Catherine ausspionieren?“ „Lea soll sie integrieren und ihr Vertrauen gewinnen.“ erklärte Elizabeth und nickte bei sich. „Das ist fast dasselbe. Wozu soll das dienen?“ fragte Elatha. „Sie muss beginnen, sich hier wenigstens etwas wohl zu fühlen, damit sie sich nicht gegen uns wendet.“ „Das klingt so, als wolltest du Catherine wirklich hier haben.“ meinte Elatha verwirrt. „In gewisser Weise ist das so. Bis wir mehr wissen, müssen wir verhindern, dass sich Catherine gegen uns wendet. Nur so können wir Zeit gewinnen und die brauchen wir. Salieri hat sie uns anvertraut.“ Elizabeth erhob sich von ihrem Schreibtisch, während Elatha sich wieder schräg auf ihren Stuhl setzte. „Was hast du mit der Zeit vor?“ fragte sie und griff sich an die Stirn. Es gab so vieles, das ihre Mutter offenbar immer noch nicht mit ihr teilte. „Der Trank bei Imbolc hat seine Wirkung unerwarteter Weise nicht gezeigt. Unverständlich ist das heute noch für mich. Ich weiß nicht, was schief gelaufen ist.“ Elatha nickte. „Der Trank war stark genug…“ Elizabeth unterbrach Elatha mit einem Nicken und einer kleinen Handbewegung. „In der Zeit, die Lea uns verschafft, müssen wir eine Möglichkeit finden, Lasair zu stärken, sodass sie Catherine in den Hintergrund drängt. Das ist das Wichtigste.“ meinte Elizabeth, worauf Elatha nickte. Kapitel 41: Ein Funke menschlicher Schwäche ------------------------------------------- Ein Funke menschlicher Schwäche Lea machte ein Zeichen, dass sie gehen wollte, da Elatha und Elizabeth nur noch über irgendwelche finanziellen Dinge sprachen. Catherine nickte und folgte ihr langsam und vorsichtig den Gang entlang. Behutsam öffnete Lea den Eingang und steckte erst den Kopf heraus, um zu sehen, ob die Luft rein war, dann verließ sie den Geheimgang und wartete, bis Catherine ebenfalls wieder in der Halle unter der Treppe stand. Geräuschlos schloss Lea den Gang wieder und kroch dann unter der Treppe hervor. „Das war aufschlussreich, findest du nicht?“ fragte Lea, da Catherine die gesamte Zeit geschwiegen hatte und auch jetzt keine Anstalten machte, etwas zu sagen. Nachdenklich nickte sie und blickte durch Lea hindurch. „Hallo? Ist irgendetwas?“ „Deine Mutter wird auf dich zukommen und dir ausrichten, dass du mich ausspionieren sollst…“ „Das werde ich natürlich ablehnen!“ entgegnete Lea heftig, doch Catherine schüttelte den Kopf. „Nicht?“ fragte Lea. „Nein. Ich denke, wir sollten die Gelegenheit nutzen… Willst du sie nutzen?“ „Welche Gelegenheit?“ fragte Lea, da sie annahm, sie könne Catherine nicht ganz folgen. „Wir können vielleicht noch mehr erfahren, wenn sie dich auf ihrer Seite vermuten. Meinst du nicht?“ Lea nickte zustimmend, aber zögernd. „Ich weiß nicht, ob ich ihnen das vorspielen kann.“ „Ich verlange es nicht von dir. Du entscheidest.“ erwiderte Catherine und stieg langsam die Treppe hinauf. Lea folgte ihr und meinte: „Ich will dir helfen. Das ist keine Frage, Cate, aber ich bin mir sicher, dass meine Mutter und meine Großmutter größere Kräfte besitzen als ich. Deshalb weiß ich nicht, ob ich ihnen glaubhaft machen kann, dass ich auf ihrer Seite bin.“ Lea machte eine kleine Pause, während sie neben Catherine die Treppe und den Gang entlang schritt. Ihr Blick fiel auf die Porträts an der Wand, dann fuhr sie fort: „Ich versuche es. Und ich gebe mein Bestes.“ „Danke.“ „Was hast du nun vor? Hast du schon etwas vor?“ fragte Lea weiter. Catherine nickte und antwortete ihr: „Ich muss Elizabeth zumindest versuchen, von der Vernehmung zu erzählen…“ „Aber sie weiß doch schon, was du ausgesagt hast.“ „Richtig, aber davon weiß ich doch offiziell nichts.“ erklärte Catherine. „Klar! Natürlich! Was dann?“ „Dann werde ich ein paar Tage verstreichen lassen und nach Edinburgh fahren.“ „Was willst du in Edinburgh?“ Catherine zögerte. „Ich habe einen Hinweis von meinem Großvater. Nein, eigentlich bin ich mir nicht einmal sicher, ob es ein Hinweis ist, aber ich denke, es könnte einer sein.“ meinte sie schließlich. „Wie bist du an den gekommen?“ fragte Lea und Catherine schwieg einen Moment. „Kannst du mir das nicht sagen?“ hakte Lea nach, worauf Catherine leicht nickte. Dann begann sie davon zu erzählen, wie ein Brief für sie abgegeben wurde, und dass ihr Großvater darin von der Tatsache gesprochen hatte, dass ihre Familie schottische Wurzeln hatte, die Bruderschaft dies aber geheim halten wollte, und sie erzählte von dem Emblem der Royal Bank of Scotland, das wie ein Wasserzeichen durch den Briefkopf schimmerte, wenn man das Briefpapier gegen das Licht hielt. Von dem Gift und dem Aufenthalt ihres Großvaters auf Thirlestane Castle sagte sie nichts. Lea hörte aufmerksam zu und nickte hin und wieder. Inzwischen waren sie in Catherines Zimmer angekommen und saßen sich auf dem Bett gegenüber. Sie kamen zu dem Entschluss, dass Lea abwarten sollte, bis Elatha auf die zukam. Dann würde sie zustimmen, Catherine auszuspionieren – oder wie sie es nannten: zu integrieren – und schließlich ihrer Großmutter und Mutter berichten, dass Catherine nach Edinburgh gehen wollte. Daraufhin würde Catherine wohl von irgendjemandem angesprochen werden, was das solle und welchem Zweck das dienen sollte, worauf Catherine antworten konnte, dass sie ihre touristische Neugier nun auch einmal nach Wochen, in denen sie nichts anderes als Thirlestane Castle gesehen hatte, in die schottische Hauptstadt trieb. „Meinst du, das nehmen sie uns ab?“ fragte Lea immer noch skeptisch. Catherine nickte. „Ich gehe sogar davon aus, dass ihnen einfällt, dass du ganz dringend auch etwas in Edinburgh zu tun hast und mich fragen, ob ich dich mitnehmen könnte… Wollten wir wetten?“ „Lieber nicht. Ich denke, die Wette gewinnst du. Macht es dir etwas aus, wenn ich mitkomme?“ entgegnete Lea und suchte Catherines Blick. „Nein. Es ist mir sogar ganz recht, denn dann musst du deinen Bericht abliefern über das, was wir gemacht haben.“ meinte Catherine grinsend. „Na, danke!“ lachte Lea. „Ich komme trotzdem gern mit.“ Catherine nickte und ergriff wieder das Wort: „Dann würde ich sagen, wir warten bis Ostara vorbei ist… Das ist ja schon in ein paar Tagen.“ Lea nickte. „Und ich sehe zu, dass ich meiner Mutter unauffällig Gelegenheit gebe, mit mir zu sprechen.“ Catherine nickte. „Ich sehe, wir verstehen uns.“ bemerkte sie schmunzelnd. Der Plan stand. Catherine und Lea hatten außerdem ausgemacht, sich in den nächsten Tagen nicht zu oft miteinander zu zeigen und Lea schaute sich immer fünfmal um, bevor sie an Catherines Zimmertür klopfte, ob auch wirklich niemand mit ihr auf dem Gang war. Catherine musste leider zu ihrer Überraschung noch einmal Elizabeth genau über ihre Aussage bei der Polizei Bericht erstatten, da diese so tat, als wüsste sie von nichts. Leicht genervt hatte Catherine aber auch das gleich am nächsten Tag hinter sich gebracht und wurde nun wieder in Ruhe gelassen, was ihr sehr recht war, da sie sich so wieder möglichst unauffällig im Schloss bewegen konnte. Die Mädchen begannen langsam, das Schloss für das Ostara-Fest zu schmücken und verteilten überall Kränze mit Kerzen und hängten geflochtene Girlanden aus frischem, grünen Grashalmen und den ersten Blumen – Osterglocken und Erika, sowie Krokus und die letzten der Schneeglöckchen, die sie noch fanden – auf. Elatha sprach einen Tag vor Ostara mit Lea und hieß sie an, Catherine stärker zu integrieren und ihr und Elizabeth, denen es um Catherines seelisches und körperliches Wohl ging, über alles zu informieren, was Catherine tat, vorhatte, dachte und träumte. Pro Forma zierte sich Lea zuerst, dann ließ Elatha weitere Argumente folgen, nach denen sich dann Lea dazu bereit erklärte, ihren ‚Auftrag’ auszuführen. Die Hexen feierten an Ostara, einem alten keltischen Brauch, dass die Erde aus dem Winter wieder erwachte. Alles in allem schien Catherine der Ritus ähnlich wie der des Imbolc-Festes, doch sie sagte nichts darüber. Zu wem auch? Sie saß links neben Elizabeth, während Lea wenigstens zu ihrer linken saß, doch reden konnten sie nicht, ohne dass sie gehört wurden, also schwiegen sie. Wieder war mit Myrrhe und Weihrauch geräuchert worden, weshalb sich Catherine eher wie bei den katholischen Messen in ihrer Kindheit vorkam. „Lasair, du bist so schweigsam.“ meinte Elizabeth mit besorgtem Tonfall. „Bist du krank? Fühlst du dich nicht wohl?“ „Wie kommst du darauf, Saerlaith. Es ist alles in Ordnung.“ entgegnete sie und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Du wirkst nachdenklich.“ bemerkte Elizabeth weiter, die sich damit nicht zufrieden gab. „Das könnte daran liegen, dass ich nachdenke.“ erwiderte Catherine und bemühte sich nur schwer, keine allzu sarkastischen Bemerkungen auszusprechen. „Über was denkst du nach, Lasair. Heute solltest du feiern. Später in der Nacht gibt es Musik und wir tanzen ausgelassen.“ erklärte Elizabeth und blickte Catherine so aufmerksam an, dass diese sich genötigt fühlte, zu nicken. „Also?“ „Kurz nachdem ich mit Lestat bei den Runen in Crossbost war, lag dir und David bereits die Umschrift des Textes vor. Hast du inzwischen die Übersetzung?“ fragte Catherine gerade heraus. Sie musste den Anschein aufrechterhalten, als baute sie noch auf Elizabeth und ihr Wissen. „Ach, Lasair… Du hast ja keine Ahnung, wie schwierig Runen zu entziffern sind…“ „Entziffert waren sie ja schon, wenn ich mich nicht irre. Wie konntest du sonst sagen, du hättest die Umschrift, die Übersetzung fehle allerdings noch?“ unterbrach Catherine sie und wartete auf eine Reaktion. „Du stellst dir das trotzdem zu einfach vor! Lasair, vertraue meinem Urteil.“ „Und wie lautet das?“ fragte Catherine fordernd. Elizabeth seufzte und schüttelte den Kopf. „Hab’ Geduld, Lasair. Geduld ist eine Tugend.“ meinte Elizabeth schließlich und nahm einen Schluck Rotwein zu sich. Catherine nickte bei sich und murmelte: „Dann habe ich dich wohl überschätzt, Saerlaith.“ Elizabeth wandte den Kopf zu ihr. Für einen Moment flackerte Wut und verletzter Stolz in ihren Augen. „Du kannst gern selbst einen Blick auf die Umschrift und die Runen werfen, wenn du meinst, du könntest mehr damit anfangen!“ schlug sie vor. Plötzlich erstarrte ihre Miene und in ihrem Blick gewannen wieder Vernunft und Ruhe die Oberhand. Catherine sah sie an und entdeckte tief in ihr Unverständnis darüber, wie sie ihr nur so etwas hatte anbieten können. Langsam nickte Catherine und meinte: „Das würde ich sehr gern tun. Am besten ich komme morgen einfach bei dir im Büro vorbei. Was meinst du, Saerlaith? Wäre das in Ordnung für dich?“ Kapitel 42: Ostara auf Thirlestane Castle ----------------------------------------- Ostara auf Thirlestane Castle Venedig. Regen prasselte unaufhörlich auf die Pflastersteine und vermischte sich mit dem dunklen, bewegten Wasser der zahlreichen Kanäle. Lestat streifte seit der Dämmerung allein durch die leeren Gassen zu Seiten des Wassers. Seine Hände hatte er tief in seinen Taschen vergraben, nicht weil die Kälte ihn störte, sondern weil er die Wärme mochte. Der Regen hatte ihn inzwischen gänzlich durchnässt, doch auch das war ihm egal. Seine Gedanken waren bei Catherine, doch es war ihm nicht möglich, mehr über ihren Verbleib wahrzunehmen, als dass sie wohl soweit in Ordnung war. Je länger er über sie nachdachte, desto mehr Fragen taten sich für ihn auf, doch keine einzige von ihnen konnte er formulieren. Catherine. Sie erinnerte ihn ein bisschen an Maharet und an Jesse, aber das war unmöglich. So ähnlich sahen sie sich ja auch nicht. Maharet und Jesse hatten rotes Haar, Catherines Haar war eher… duftend, glänzend und weich… rotbraun. Eher sogar braun als rot. Lestat schüttelte den Kopf. Nein, es war schon rotbraun. Und ihre Augen waren auch grün, wie Jesses und Maharets Augen, aber das war auch schon alles. Lestat überquerte schließlich die Calle Fraterna und bog in die Calle del Magazen ab. Wenig später erreichte er den Palazzo Querini, auf dessen Fassade die Spiegelung der Straßenlampen im Wasser tanzte, aber Lestat versuchte immer noch, seine Gedanken zu ordnen. „Dein Spaziergang war nicht sehr erfolgreich, wie es scheint.“ bemerkte Marius und trat aus dem Schatten des Gebäudes heraus. Lestat trat näher und schüttelte nur stumm den Kopf. „Was ist zwischen euch passiert?“ Lestat lächelte flüchtig. Seine Augen schimmerten dunkelblau, als er meinte: „Ich kann es mir nicht erklären, aber… Marius! Es ist das passiert, was eben zwischen Mann und Frau passiert.“ „Das ist doch nicht möglich!“ Marius wich ein Stück zurück. „Da du nicht dabei warst, würde ich sagen, du glaubst mir.“ schlug Lestat vor und zog seine Hand zurück. Marius schüttelte den Kopf. „Das ist nicht möglich… Wie ist das möglich?“ fragte er und Lestat steckte seine Hände zurück in die Taschen. „Wenn ich es mir erklären könnte, würde ich es dir erklären. Ich kann es nicht. Wir suchen Erfüllung nicht bei einer Frau, sondern im Töten und im Blut, das weiß ich. Das wusste ich auch, als ich bei ihr war, aber gleichzeitig habe ich mich menschlicher gefühlt. Wie gesagt: ich kann es nicht erklären.“ Marius seufzte und schwieg einen Augenblick, bevor er wieder das Wort ergriff: „Was hast du da nur wieder angestellt, Lestat?“ Lestat verzog das Gesicht und schloss die Augen. „Ich hätte dir nichts sagen sollen! Ich gebe dir in vielem Recht, Marius, aber darauf hatte ich kaum Einfluss und mit Sicherheit habe ich nichts angefangen…“ „Bitte! Keine Details!“ unterbrach Marius ihn, legte ihm die Hand in den Nacken und zog ihn näher zu sich. Lestat wartete ab. „Wann fängst du endlich an, zuerst zu denken und dann zu handeln?“ fragte Marius fordernd an sein Ohr und wandte sich dann ab. Lestat legte den Kopf schief und zuckte die Schultern. „Ich kann es nicht mehr ändern. Und es ist nichts passiert. Es geht ihr gut.“ „Es ging mir nicht darum, dass du deine Blutlust vielleicht nicht hättest unterdrücken können. Mich interessiert, warum sie dich als Sterbliche so angezogen hat, dass du mit ihr geschlafen und nicht von ihr getrunken hast.“ Marius ging vor Lestat auf und ab. „Sollen wir nicht hineingehen?“ fragte Lestat und wies zur Tür. „Und du meinst, drinnen diskutiert es sich besser?“ „Wir diskutieren nicht, Marius. Du redest und ich höre zu. Das ist keine Diskussion.“ „Wenn du es sonst auch so genau nehmen würdest!“ seufzte Marius und wirkte wieder einmal für einen kurzen Augenblick menschlicher denn je. Lestat lehnte sich an die Hauswand und setzte einen Fuß auf den kleinen Vorsprung auf Kniehöhe. Abwartend verschränkte er die Arme vor der Brust und blickte Marius an. „Siehst du es denn kein bisschen ein?“ flüsterte Marius nach einer Weile. „Was soll ich einsehen, Marius? Dass die Nacht mit ihr der größte Fehler meines Lebens war… Nein, das war sie bei weitem nicht! Und das weißt du. Du kennst mich. Und du weißt, dass ich in meinem Stolz und… nenn’ es, wie du willst … Verblendung, Hybris, Größenwahn, weitaus schlimmere Dinge entfesselt habe…“ „Akasha.“ flüsterte Marius nickend. „Das hast du nicht wissentlich getan, Lestat.“ fuhr er leise fort. Lestat nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. „Ich wollte es. Ich wollte sie. Akasha. Die Königin. Unsere ehemalige Königin. Marius, ich wollte ihr Blut. Natürlich wusste ich nicht, welche Ideen sie verfolgen würde, aber ich wollte sie. Ich liebte sie…“ „Wie du jetzt Catherine liebst? Oder um nicht ganz so weit zu gehen: Wie du jetzt Catherine willst? Oder ist das etwas anderes?“ fragte Marius und Lestat überlegte. „Marius, sieh’ uns an! Wir stehen hier wie zwei normale Männer, die über eine sterbliche Frau sprechen, und einer von beiden macht dem anderen Vorwürfe, weil der seine Triebe nicht unter Kontrolle hatte! Schon allein das war es irgendwie wert.“ gab Lestat schließlich zu und strich sich sein nasses Haar mit beiden Händen zurück aus dem Stirn. „Was auch immer du noch hier draußen willst, mich beginnt der Regen zu nerven.“ fügte er hinzu und ließ Marius allein draußen stehen. Catherine beobachtete Lea und ihre gleichaltrigen Freundinnen, wie sie im Kreis um den Altar wirbelten, ausgelassen tanzten und lachten. Hin und wieder lachte auch Catherine und als Lea das sah, kam sie zum Tisch und ergriff sie bei der Hand. „Komm! Mach’ mit!“ „Lea, ich kann das nicht!“ wehrte sich Catherine, erhob sich aber, weil Lea einfach zu stark an ihrem Arm zog. Lea stellte sich auf ihre Zehenspitzen und wisperte ihr ins Ohr: „Glaub’ mir, es ist auffällig, wenn du nicht mitmachst! Komm!“ Catherine nickte und folgte ihr in die Mitte des Raumes und trat mit Lea an den Altar. Lea griff nach einem silbernen Kelch und reichte ihn Catherine. „Was ist das?“ „Kräuter. Keine Drogen.“ entgegnete Lea und nickte Catherine noch einmal zu. „Trink! Meine Mutter schaut her. Trink’, sonst wird sie misstrauisch. Ich pass’ schon auf dich auf!“ Lea legte den Kopf schief. Catherine lachte, nahm ihr den Kelch ab und setzte ihn an die Lippen. Der süße, dickflüssige Trank benetzte ihre Lippen und ihre Zunge und veranlasste ihre Geschmacksnerven dazu, sich zusammenziehen. „Ja, er ist süß!“ lachte Lea, als Catherine nur das Gesicht verzog, den Kelch aber nicht absetzte. Wenig später tanzte Catherine mit den anderen ausgelassen im Kreis. In ihrem Kopf drehte sich alles, ihre Glieder waren von einer wohltuenden Schwere befallen und eigentlich war sie so müde, aber es tat gleichzeitig so gut, sich zu bewegen, also tanzte sie weiter. Seit wann sie tanzte, konnte sie nicht mehr sagen. Immer wieder drehte sie sich und griff nach den Händen, die ihr die Mädchen hinstreckten, sah Lea herumwirbeln und dann wieder verschwinden. Catherine kam sich einen kurzen Augenblick wie ein Indianer vor, der stumm um ein Lagerfeuer wirbelte und gleichzeitig die Geister seiner Ahnen beschwor, doch so schnell der Gedanke seinen Weg in ihren verwirrten Geist gefunden hatte, so schnell war er auch wieder verschwunden. Sie lebte. Sie atmete. Sie fühlte. Langsam wurde ihr Körper immer müder und ihr Atem ging schneller, doch sie schenkte ihm kaum Beachtung. Ihr Herz schlug härter gegen ihren Leib, doch sie konnte nicht aufhören, sich zu bewegen. Endlose Zeit. Endloser Tanz. Catherine fühlte sich innerlich, als laufe sie unbeirrt auf eine Klippe zu, von der sie wusste, dass der Abgrund ihre Erlösung sein würde. Sie gab nicht auf. Sie fürchtete sich nicht. Sie wollte in diesen Abgrund hineinstürzen und erlöst werden! Plötzlich schlug ihr Herz unaufhaltsam gegen ihre Brust, als wolle es ausbrechen und für einen Moment verklangen die rhythmischen Musik und das Lachen und Reden der anderen und die übrigen Geräusche der Umgebung. Stille. Klare Stille, doch Catherine war bewusst, dass sie in den Abgrund stützte, obwohl sie noch tanzte. Regen. Wasser. Eine Stadt im Meer. Venedig. Ein alter Palazzo und zwei dunkle Gestalten - unbeirrt, obwohl der Regen unaufhörlich auf sie niederprasselte. Catherine wollte hören, was sie sprachen, doch sie hörte nur den Regen. Sie hörte den Regen, wie er auf die Straße fiel, in das Wasser des Kanals, wie er an den Dächern entlang rann und sich in den Rohren sammelte. Sie fühlte den Regen an seiner Kleidung und in seinem Haar. Der Regen duftete. Ihr Körper bewegte sich so schnell wie zuvor, doch er kam Catherine langsam und leicht vor. Sie stürzte nicht mehr, sondern sie flog. Sie schwebte. Catherine traten winzige Tränen in die Augen. Sie war losgelöst und frei, doch trotzdem in Sicherheit - wie in Lestats Armen auf dem Weg nach Crossbost. Kapitel 43: Botschaft des Unterbewusstseins ------------------------------------------- Botschaft des Unterbewusstseins Catherine wusste nicht, wann sie in dieser Nacht in ihr Zimmer gekommen war. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war es draußen schon ganz hell. Catherine bezweifelte, dass es überhaupt noch am Morgen war. Sie erhob sich und tapste ins Bad, während sie sich verschlafen die Stirn rieb. Sie hatte wieder einen furchtbaren Traum gehabt, daran konnte sie sich erinnern, aber ob es der Traum gewesen war, in dem sie selbst verbrannt war, konnte sie nicht mehr sagen. Sie erinnerte sich nicht. Müde wusch sie sich und zog sich an, dann ging sie in die Küche hinunter, um etwas zu frühstücken. Sie trank zwei Tassen Kaffee und aß einen Toast, dann ging sie wieder nach oben und klopfte sofort an Elizabeths Büro. Niemand antwortete, weshalb Catherine wieder kehrt machte und in die Bibliothek ging. Auch dort war Elizabeth nicht, doch Elatha saß an einem Tisch und sah flüchtig auf, als Catherine in die Bibliothek trat. Sie ging an mehreren Tischen und Mädchen vorbei und beugte sich dann zu Elatha hinunter. „Ich möchte die Umschrift der Runen sehen.“ flüsterte sie, worauf Elatha den Kopf schüttelte. „Das ist nicht abgesprochen.“ „Dann bist du nicht informiert, Elatha. Saerlaith hat es mir gestern während des Ostara-Festes zugesichert.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist nicht richtig.“ entgegnete Elatha und schüttelte den Kopf. Catherine wurde ungeduldig. „Es ist abgesprochen, ob das dir passt oder nicht. Und ich will jetzt die Runen sehen!“ beharrte Catherine etwas lauter, weshalb die am nächsten sitzenden Mädchen die Köpfe zu ihnen wandten. Elatha erhob sich energisch und griff Catherine am Oberarm. „Komm mit!“ zischte sie und wollte Catherine mit sich ziehen. Catherine entzog ihr den Arm und folgte Elatha so. „Wo ist Saerlaith heute? Sie ist sonst doch immer in ihrem Büro.“ fragte Catherine, als sie Elathas eilendem Schritt durch die Halle folgte. „Sie erledigt die Einkäufe.“ entgegnete Elatha zögernd, worauf Catherine nur die Augenbrauen hochziehen konnte. Das würde Elizabeth Abbotsford ja auch sicher allein machen, obwohl sie sie in den Wochen, in denen Catherine nun schon hier war, nicht einmal selbst erledigt hatte. Hielt Elatha sie eigentlich für komplett beschränkt? Catherine schüttelte bei sich den Kopf und trat hinter Elatha in das Büro. „Schließ’ die Tür!“ hieß Elatha sie an, öffnete dann ein niedere Schranktür an der Seite des Schreibtisches, an dem sonst immer Elizabeth saß. Catherine hörte das Klicken eines weiteren Schlosses und sah erstaunt zu Elatha herüber. Elatha ignorierte es, doch Catherine war sich sicher, dass da im Schreibtisch ein Tresor war, in dem Elizabeth alles Wichtige verschloss. Das war sehr interessant doch hatte sie etwas anderes erwartet? „Wann wird Saerlaith zurück sein?“ fragte Catherine, da Elatha ununterbrochen in den Unterlagen stöberte. „Ich weiß es nicht. Hier ist die Abzeichnung der Runen.“ entgegnete sie und reichte ihr zwei Zettel. Den einen hatte sie beschriftet, den anderen hatte Lestat voll geschrieben. „Und die Umschrift?“ fragte Catherine, als sie ihr keinen weiteren reichte. „Die finde ich hier gerade nicht. Komm’ später noch einmal, wenn Saerlaith da ist.“ Elatha verschloss den Tresor wieder und schob Catherine mit ihren beiden Zetteln zur Tür hinaus. „Ich…“ „Um festzustellen, dass du das auch nicht übersetzen kannst, brauchst du wohl nicht die Büroräumlichkeiten, oder?“ unterbrach sie Elatha, worauf Catherine freundlich lächelnd den Kopf schüttelte. „Ich werde in die Bibliothek gehen.“ informierte sie Elatha und ging so schnell vor ihr her, dass sie nichts mehr dagegen sagen konnte. Seit Stunden saß Catherine schon in der Bibliothek über den beiden Blättern. Zuerst hatte sie sich einen Sammelband mit allen vorkommenden Runen geholt und dann die gezeichneten Runen versucht einzuordnen. Manchmal konnte sie nur danach gehen, welche sich am ähnlichsten waren, doch am Ende hatte sie zu jeder gezeichneten Rune eine Entsprechung in dem dicken Buch gefunden. Lestats Runen entsprachen den abgedruckten fast in jedem Detail. Das war unglaublich. Catherine fuhr mit ihren Fingerspitzen über sein Blatt und nickte lächelnd. Sie saß am Ende der Bibliothek ganz hinten, wo keiner sie störte, was ihr nur recht war. Schließlich hatte sie sie noch einmal sauber abgezeichnet, denn an die Anordnung erinnerte sie sich auf vor ihrem inneren Auge äußerst genau. Seit wie langer Zeit saß sie hier eigentlich schon genau und starrte auf das Blatt? Seufzend stützte Catherine das Kinn in ihre Hand und schloss einen Moment die Augen. Die Zeichen schwammen in ihrem Geist umher. Schwirrend vertauschten sie sich untereinander und verschoben sich über-und untereinander. Wenn sie nicht bald zu einer Lösung käme, würde sie verrückt. Catherine spürte es tief in sich. Draußen wurde es allmählich dämmrig, doch die Nacht war noch weit entfernt. Sie öffnete die Augen und sah zum Fenster hinaus. Dort draußen erhoben sich die Gräber bereits im Halbschatten unter den Bäumen. Catherine dachte an den Park in der heimatlichen Villa in Paris. Wie glücklich war sie manchmal trotz allem dort gewesen – oder gerade deshalb? Sollte sie ohne Dämonen und Übernatürliches nicht existieren können? Würde sie jetzt wirklich mit irgendjemandem tauschen wollen? Catherine schüttelte leicht den Kopf und lächelte. Sie konnte schon ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe erkennen. Das lange Haar, das sie offen trug… Vielleicht, weil es Lestat so mochte. Sie wusste es nicht. Ihre blasse Haut und ihren schlanken Oberkörper von der Seite. Langsam wandte sie den Blick wieder vor sich. Sie wollte nicht tauschen. Vielleicht, weil sie es ihr Leben inzwischen akzeptiert hatte, wie es war. Vielleicht, weil es unsinnig war, überhaupt über die Möglichkeit nachzudenken. Vielleicht, weil sie keinen anderen Menschen auswählen mochte, der ihnen Platz einnahm. Doch musste ihr Platz wirklich besetzt sein? War es nicht Überheblichkeit, wenn Menschen sich als Retter der Menschheit aufspielten. Catherine dachte an die Bruderschaft und ihr Leben unter ihren Ansichten zurück. Früher oder später würde sie wieder mit all dem konfrontiert werden, das fühlte sie. Und sie wollte vorbereitet sein, also rief sie ihre Konzentration zurück und betrachtete sich wieder die Runen vor sich. Lestat wusste, dass er träumte. Es musste ein Traum sein, da er Catherine in seinen Armen hielt. Ein Traum. Nichts weiter. Catherine in seinen Armen. So real. Er fühlte Wärme von ihr ausströmen. Die Wärme, die so sehr seiner eigenen glich, wenn er das Blut eines Opfers in sich aufgenommen hatte. Es pulsierte fiebrig und dunkelrot durch ihre Adern. Ihr Herz schlug gegen seines. Ihre Haut presste sich erhitzt gegen seine. Der Blick ihrer Augen war leicht verschleiert, doch er wusste, dass sie ihn fixierte. Das dunkle Grün leuchtete in der Dunkelheit und fing die spärlichen Lichtquellen der Umgebung in ihren Augen ein. Ein Lächeln. Sanft, doch trotzdem belustigt. Ihre Zähne blitzten glänzend auf. Das Lächeln! Nicht spöttisch, sondern erheitert. Lestat war sich sicher, dass er der Grund für ihr Lächeln war, was auch immer er getan oder gesagt hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und zog sich ein Stück an ihm nach oben. Er zitterte in seinem Traum, als ihre Finger langsam seine Halsschlagader hinunterfuhren. Erneut suchte er ihren Blick, doch ihre andere Hand ergriff sein Kinn, bewegte sich zu seinen Augenlidern nach oben und fuhr leicht über sie, sodass er sie schloss. Er fühlte ihren heißen Atem gegen seine Haut wehen und legte den Kopf ein wenig zur Seite. Sie bedeckte seinen Hals mit federartigen Küssen, ehe sie ihre Zähne in seinen Hals senkte. Erschreckt fuhr Lestat auf. Ein Traum! Nichts weiter! Ein Traum wie jeder andere. Träume waren für ihn und alle anderen, die wie er waren, keine Seltenheit, keine Ausnahme, nichts… Beunruhigendes. Lestat rieb sich die Stirn. Es dämmerte und die Nacht würde bald ganz hereinbrechen. Und sie würde früh hereinbrechen, da es ein trüber Tag gewesen war. Es regnete immer noch. Diese Träume ereilten sie alle immer an der Schwelle zur Nacht, wenn sie kurz davor waren, sich zu erheben, um wieder eine Nacht zu durchleben. Lestat erhob sich von dem Bett, auf dem er gelegen hatte und trat zum Fenster. Was ihn am schlechten Wetter störte, war lediglich die Tatsache, dass er keine letzten, roten Sonnenstrahlen sehen konnte, sondern der Himmel und alles unter ihm sich nur von einem milchigen Grauton in ein nichts sagendes Schwarz wandelten. Solche Nächte kamen ihm trostloser als andere vor. Und dann noch die Träume, die er immer als lästig empfunden hatte, obwohl sie ihn dann doch beschäftigten. Vielleicht waren sie ihm deshalb lästig. Er wusste es nicht. Nachdenklich lehnte er sich an den Fensterrahmen an und tastete mit einer Hand unwillkürlich an seinen Hals. Vielleicht musste er doch mit Marius darüber sprechen, was noch zwischen ihm und Catherine geschehen war, wenn sie sogar in seinen Träumen sein Blut wollte. Kapitel 44: Erinnerungen eines anderen -------------------------------------- Erinnerungen eines anderen Catherine war über ihren Runen eingeschlafen und niemand hatte sie geweckt. Draußen war es dunkel und nur ein spärliches Licht brannte noch in der Bibliothek. Sie fühlte sich wie gerädert und dachte einen Moment, sie müsste sämtliche Knochen und Wirbel ihres Rückend erst einmal neu ordnen, bevor sie wieder in der Lage war, einigermaßen anständig zu gehen. Ein schmerzverzerrtes Ächzen entwich ihrer Kehle, als sie ihre Wirbelsäule im Hohlkreuz durchstreckte und ihre Arme ausschüttelte. Ihr Blick fiel auf die Blätter vor ihr und stellte ernüchternd fest, dass sie keinen einzigen Schritt weiter war. Im Schlaf erledigte sich die Arbeit mit Sicherheit nicht, das war ihr auch bewusst, doch plötzlich war sie so müde geworden und die Stille in der Bibliothek hatte den Rest getan. Die Augen waren ihr einfach zugefallen. Catherine blickte nach draußen in den dunklen Park und schüttelte den Kopf, als sie ihr Spiegelbild sah. Hatte sie sich vom Schock von Lestats Verschwinden nicht erholt oder war sie schon immer so blass gewesen? Ihre Hände fuhren über ihre Stirn und pressten kurz ihre Finger gegen die Schläfen, dann packte sie die Blätter und die Stifte zusammen, mit denen sie verschiedene Möglichkeiten auf den Papierbögen herumgestrichen hatte, und erhob sich von ihrem Tisch. Sie war tatsächlich die letzte Leserin in der Bibliothek, wie sie feststellte, und auch im übrigen Schloss schien es ruhig, soweit sie das hier hören konnte. Catherine blinzelte gegen die Müdigkeit an und ordnete die Bücher auf ihrem Tisch. Sie würde sie nicht aufräumen, sondern lediglich Karteikarten in die Regale stellen, auf welchem Tisch die Bücher zu finden waren, sollte sie jemand suchen, was sie sich kaum vorstellen konnte. Das Aufräumen lohnte sich nicht, da Catherine gleich am nächsten Tag weiter machen wollte. Es musste doch gehen! Sie war doch nicht beschränkt. Oder doch. Zweifelnd zog sie eine Grimasse und knipste dann die Tischlampe, die sie schon früh am Nachmittag benötigt hatte, aus. Sie gähnte unterdrückt, schaute auf die Uhr – halb drei – und verließ die Bibliothek, nachdem sie das Licht gelöscht hatte, in die dunkle Halle hinaus. Kaum hatte sie sich umgezogen und lag in ihrem Bett, holte sie noch einmal die Blätter mit den Abzeichnungen hervor und studierte sie. War sie schon immer so verbissen gewesen? In einer anderen Weise bestimmt. Als sie noch für die Bruderschaft tätig gewesen war, hatte sie ihren Körper mit Training bis über die Erschöpfung hinaus getrieben, heute trieb sie ihren Geist bis zum Rande des Wahnsinns. Oder auch darüber hinaus? Catherine wusste es nicht, doch es schien ihr zumindest so. Sie zwang sich, die Blätter beiseite zu legen, und löschte das Licht. Morgen war auch noch ein Tag und in diesem morgigen Tag würde sie wieder einige Stunden Zeit finden, sich mit diesen Runen zu beschäftigen. Die Situation, in der sie steckte, die Situation, in der sich nichts vorwärts und rückwärts bewegte, vermittelte ihr zumindest einen positiven Aspekt: Sie stand nicht unter dem Problem von Zeitdruck. Die Pläne der Hexen kannte sie ungefähr und die Bruderschaft verhielt sich ruhig. Catherines Müdigkeit schob den Gedanken, ob die Societas sich vielleicht zu ruhig verhielt, energisch beiseite und überwältigte sie. Elizabeth und Elatha schlichen langsam durch den dunklen Gang und betraten dann die Bibliothek. „Ich sagte doch, dass sie aufgegeben hat.“ meinte Elatha zu ihrer Mutter, doch Elizabeth schüttelte den Kopf. „Sie wird morgen weiter machen. Sie hat die Bücher nicht in die Regale eingeräumt.“ erklärte sie und wies auf den Tisch, an dem Catherine gearbeitet hatte. „Meinst du, sie könnte etwas finden?“ „Wenn ich selbst wüsste, was es damit auf sich hat, könnte ich dir das wahrscheinlich beantworten. Die Übersetzung der Runen muss wichtig sein, denn sie stammen aus Crossbost… Wieso sollte jemand an diesem heiligen Ort etwas Unwichtiges hinterlassen?“ Elatha nickte. „Lasair…“ meinte sie nachdenklich. „Ich gebe es nicht gern zu, aber es ist schief gegangen. Ich kann mir nicht erklären, warum das so ist, aber…“ Elizabeth brach ab und setzte sich halb auf einen der Tische. Elatha betrachtete sie. „Das Namensritual wurde unterbrochen. Deshalb haben wir an Imbolc keinen Namen erhalten, aber nun nennt sie sich Lasair… Und das ist nicht der Name, den wir erwartet hatten.“ fuhr Elizabeth fort und blickte Elatha an. „Ja, wir haben beide in unseren Visionen einen anderen gehört. Einen anderen, aber nicht Lasair.“ überlegte Elatha laut, worauf Elizabeth nickte. „Könnten wir uns getäuscht haben? Könnte Catherine überhaupt nicht diejenige sein, die wir gesucht haben?“ „Nein, das ist unmöglich, Elatha. Sie ist es. Da bin ich mir sicher. Ich weiß nur nicht, was wir falsch gemacht haben. Catherine beherbergt Morairs Seele. Zu diesem Schluss ist auch Salieri gekommen. Es muss also stimmen.“ „Wieso?“ „Elatha, weil er Catherine kennt. Er hat sie trainiert und war ihr Mentor. Sie hat ihm in ihrer Kindheit jeden einzelnen Traum anvertraut, an den sie sich nun nicht mehr erinnert. Salieri hat sie in Trancezustände versetzt und die Ergebnisse waren eindeutig.“ „Gut, aber dann könnten wir Salieri hier ganz gut gebrauchen, oder nicht? Wo ist er?“ Elizabeth schwieg eine Weile und versank in ihren Gedanken, dann hob sie den Blick und fixierte ihre Tochter. „Er wusste zu viel.“ Elatha hob sie Hand an den Mund. „Du hast…“ Sie brach ab. „Er musste verschwinden. Er wusste zu viel und hätte uns noch aufhalten können.“ rechtfertigte sich Elizabeth und nickte noch einmal zur Bekräftigung. „Wann?“ fragte Elatha und blickte ihre Mutter an. „Er ist niemals nach New Orleans aufgebrochen. Zumindest nicht lebend.“ „Und nicht mit der Familienchronik. Wo ist die dann?“ „Er hat sie vorher vernichtet. Sie ist verbrannt. Er muss etwas geahnt haben.“ meinte Elizabeth und erhob sich dann wieder von der Tischplatte. „Es war nötig, Elatha.“ meinte sie nur noch, als sie dem widerstrebenden Blick ihrer Tochter begegnete. „Was ist mit Morair, wenn sie nicht in Catherine ist? Lasair scheint nach allem, was geschehen ist, ja tatsächlich der richtige Name ihrer Hexenpersönlichkeit zu sein.“ wollte Elatha wissen, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. Elizabeth nickte langsam. „Ich hatte gehofft, dass wir Lasair kontrollieren und so sie die Aufgaben von Morair übernehmen könnte, aber das scheint mir sehr unwahrscheinlich.“ „Lasair oder Catherine… ganz wie du willst… lassen sich beide nicht kontrollieren. Interessant wäre nur: wer war es, der Lucien angegriffen hat? Catherine? Wohl kaum. Lasair? Weshalb sollte sie? Da stimmt etwas immer noch nicht in unserer Annahme, Saerlaith. Das fühle ich.“ „Fühlst du sonst noch etwas?“ fragte Elizabeth, worauf Elatha den Kopf schüttelte und ihre Mutter allein ließ, als diese sie darum bat. Catherine machte sich am nächsten Morgen gleich wieder an die Arbeit. Im Bad hatte sie sich beeilt und ein Frühstück hatte sie sich ebenfalls nicht gegönnt. Lea wollte auf sie zukommen, wenn sie die Zeit für passend erachtete. Sie mussten sich Zeit lassen, da es seltsam war, wenn Catherine jetzt auf einmal, wo sie doch Arbeit hatte, nach Edinburgh wollte. Und es würde einige Zeit dauern, bis Lea das ‚herausfinden’ konnte. Wieder saß Catherine auf ihrem Platz in der Bibliothek und blätterte in den Büchern, doch suchte bereits wieder sein Stunden nach etwas, das ihr weiterhalf. Plötzlich verschwammen die Runen von ihren Augen und, so sehr sie auch blinzelte, blieben unscharf. Catherine fühlte sich eigenartig und als sie sich umblickte, saß sie in einem Raum mit Steinmauern und einem großen Kamin, vor dem zwei Personen in mit Leder bezogenen Sesseln saßen. Sie selbst saß mit zwei Hunden auf einem dicken Fell und strich ihnen gedankenverloren über das weiche Fell. Catherine blickte hinunter auf ihre Hand und stellte fest, dass es nicht ihre war. Sie blickte an sich hinunter und stellte fest, dass sie andere Kleidung trug. Das war nicht ihr Körper, sondern der Körper eines Jungen! Eines siebenjährigen Jungen! Catherine schrie, und doch kam kein Laut über die Lippen des Jungen. Unbeirrt streichelte er weiter die Hunde, die bei ihm lagen und genoss ihre Wärme. Die Personen am Kamin unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und Catherine konnte nicht mehr sehen, als das rotbraune Haar der Frau. Rotbraunes Haar! Konnte sie nicht irgendwie diesen Jungen dazu bringen, sich zu bewegen? War das vielleicht… eine Vorfahrin von ihr? Catherine sammelte ihre Kräfte und versuchte es, doch sie scheiterte. Der Junge begann zu summen und schließlich murmelte er ein kurzes Lied vor sich hin. Catherine schenkte den Worten keine Beachtung, doch der Mann vor dem Kamin drehte sich um, erhob sich und kniete sich zu dem Jungen hinunter. „Na, was singst du, George?“ Der Junge und auch Catherine schreckten zurück, als sie die winzigen Fangzähne des Mannes erblickten. „Halte dich fern von meinem Sohn. Er hat nichts damit zu tun!“ drohte die Frau und nahm das Kind zu sich. Kapitel 45: Schwarzes Haar und schwarze Augen --------------------------------------------- Schwarzes Haar und schwarze Augen Als sich Catherines Blick wieder zurück aus der Ferne einer lang vergangenen Zeit auf das Blatt vor ihr konzentrierte, traute sie ihren Augen kaum, denn sie hatte sich Notizen darauf gemacht. Sie hatte sich tatsächlich nur einigen der Zeichen kleine Kreuzchen und Striche gemacht und hatte unten auf das Blatt mehrere Worte geschrieben. Worte, die sie zwar nun lesen konnte, die aber weiterhin in einer fremden Sprache waren. Eine sehr eigentümliche Sprache, wie Catherine fand, doch sie kam ihr trotzdem seltsam vertraut vor. Langsam las sie noch einmal die halbe Zeile, die sie vor sich hatte. ‚héo naefre wacode dægréd tó bisig mid…’ Immer wieder lief ihr Blick über ihre eigene Schrift und dann wieder über die Runen, immer wieder von links nach rechts und wieder von vorn. Sie kannte die Worte, doch sie wusste nicht woher. Vielleicht täuschte sie sich, denn sie hatte nun tatsächlich bestimmt tausendfach über diese wenigen Worte gelesen und sie konnten sich schon in ihr Gedächtnis eingebrannt haben. ‚héo naefre wacode dægréd tó bisig mid…’ Obwohl Catherine den Inhalt nicht verstand, schloss sie, dass der Satz unvollständig war. Was war das für eine Sprache? Die ursprüngliche Sprache Schottlands – also Gälisch? Catherine lehnte sich mit prüfenden Augen zurück. ‚Naefre’ – das klang wie ‚never’ und ‚bisig’ vielleicht wie ‚busy’, aber vielleicht sollte sie das auch irgendjemandem überlassen, der Gälisch konnte. Ob Elizabeth es… Nein! Elizabeth würde davon nichts erfahren, beschloss Catherine und wunderte sich über die Mechanismen in ihrem Hirn, die seit jeher die gleichen gewesen waren. Hatte sie als Kind ein Problem mit den Hausaufgaben gehabt, war sie zu ihrer Mutter oder ihrem Vater gerannt, hatte sie als Kind ein Problem mit ihren Eltern gehabt, war sie zu ihrem Großvater Vincent gerannt, hatte sie ein Problem mit irgendwelchen Proleten gehabt, musste Lucien ihr helfen, da sie selbst sie ja nicht verprügeln durfte – das hatte man ihr sinnvollerweise verboten. Welches Mädchen kann sich schon mit mehreren Kerlen gleichzeitig anlegen? Na, klar! Das ist heutzutage doch ganz normal! Das kann jedes! Catherine verzog spöttisch die Mundwinkel, wenn sie daran dachte, wie sehr sie sich früher in bestimmen Situationen zusammengerissen hatte, nur um nicht aufzufallen. In der Bruderschaft war es Salieri gewesen, der ihr mit Rat zur Seite gestanden hatte und nun hatte sie sich wohl doch schon so an Elizabeth gewöhnt, dass sie auch gleich automatisch ihren Rat holen mochte, aber Elizabeth war schlecht und hinterhältig und nicht vertrauenswürdig. „Sieh’s ein, Catherine!“ murmelte sie zu sich selbst und betrachtete weiter das Blatt. Sie hasste ihre Hilflosigkeit, aber da war eben auch niemand, der ihr half. Auch Lestat hatte sich… nun er war eben weg. Catherine saß noch eine Weile in der Bibliothek und dachte über die Art Vision nach, die sie erlebt hatte, doch dann bemerkte sie einen Schatten neben sich und blickte auf. „Kann ich dich kurz sprechen?“ flüsterte Lea. Catherine nickte und Lea zog sich einen Stuhl neben Catherine. „Was ist mit Edinburgh? Wann hast du das vor?“ „So schnell wie möglich. Du kannst Elizabeth schon einmal sagen, ich hätte eine Andeutung gemacht, dass ich am nächsten Wochenende etwas vorhätte. Meinst du, du bekommst das hin?“ „Ich bin ja nicht doof.“ entgegnete Lea etwas beleidigt, aber kaum hörbar. „Das hat damit auch überhaupt nichts zu tun. Du weißt doch, wie ich das meine.“ rechtfertigte sich Catherine etwas ungeduldig, worauf Lea sie prüfend anblickte. „Alles in Ordnung?“ fragte sie deshalb. „Ja, es würde zu lange dauern, es dir hier und jetzt zu erzählen. Komm’ später in mein Zimmer.“ bat Catherine und Lea nickte. „Nach dem Mittagessen?“ „Nach dem Abendessen.“ korrigierte sie Lea und sah dann Lea nach, die nach einem kurzen Nicken wieder die Bibliothek verließ. George. Sagte ihr das etwas? Natürlich nicht. Seufzend erhob sich Catherine und räumte ihren Platz frei, falls jemand anderes noch an diesem Tisch arbeiten wollte. Mit den Blättern in der Hand verließ sie die Bibliothek und traf im Eingangsbereich auf Elatha, die gerade ihren Mantel an einen Haken hängte. „Schon fertig für heute?“ fragte sie, worauf Catherine nickte. „Ich denke, ich gebe auf. Ich komme einfach überhaupt nicht weiter.“ flunkerte sie. „Na, das war zu erwarten. Was machst du dann heute noch?“ „Ich denke, ich gehe spazieren. Wenn die Sonne schon einmal scheint, sollte man das ausnutzen.“ entgegnete Catherine ohne auf Elathas erste spitze Bemerkung etwas zu sagen und ging an ihr vorbei die Treppe hinauf. „Wolltest du nicht mit Saerlaith wegen der Runen sprechen?“ hielt Elatha sie noch einmal schnell zurück. Catherine schüttelte den Kopf und meinte: „Nein, das hat sich erledigt. Wie gesagt: ich mache wahrscheinlich nicht weiter. Saerlaith und du, Elatha, ihr seid in so Sachen eh viel geschulter. Ich überlasse das euch.“ Elatha nickte und Catherine beeilte sich, die Treppe hinaufzukommen und in ihr Zimmer zu gelangen. Sollte sie noch ein Wort des Lobes auf Elizabeth/Saerlaith oder Elatha von sich geben müssen, würde ihr mit größer Wahrscheinlichkeit schlecht werden und unmöglich, diese Übelkeit zu verbergen. Das war schon beinahe wieder zum Lachen – aber nur beinahe. Ihre Vision – war es überhaupt eine Vision? – hatte auf jeden Fall mit Thirlestane Castle und mit ihren Vorfahren zu tun, die ja hier gelebt hatten. Catherine bedauerte, dass sie alles aus der Perspektive des Kindes gesehen hatte, denn so hatte sie gerade nicht das Gesicht der Frau sehen können, sondern nur ihre Hände und dann ihre Finger spüren können, die sich angstvoll in seine Schultern gebohrt hatten. Und die Stimme der Frau hatte älter geklungen, als ihr Hände und Finger gewirkt hatten, so glaubte Catherine zumindest. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Gedanken in diese Richtung brachten sie nicht weiter, da sie sich die Antworten auf die folgenden Fragen nicht aus den Fingern saugen konnte. Der Vampir musste ihr Ansatzpunkt sein, auch wenn bei ihm die Gefahr ebenfalls groß war, dass sie nicht weiterkam. Ein Vampir, der im 17. Jahrhundert in Schottland gewesen war… Hätte sie doch wenigstens die Archive der Bruderschaft zu Verfügung oder die in der Villa in Paris! Catherine trat ans Fenster und blickte hinunter in den Park. Ein Vampir mit schwarzem Haar und schwarzen Augen. Ohne Zweifel war er schon älter gewesen, als er gestorben und zum Vampir geworden war, doch das vampirische Blut hatte ihn verjüngt und die Falten aus seinem Gesicht gewischt. Die Haut war schimmernd hell und der Blick aus seinen Augen stechend, obwohl sie so dunkel gewesen waren. Sie seufzte und verließ dann mit ihrer Jacke ihr Zimmer. Bis Lea nach dem Abendessen kommen würde, hatte sie noch eine Menge Zeit. Catherine ging die Auffahrt entlang und trat dann auf die Straße hinaus. Zwei Passanten blickten sie etwas misstrauisch an, doch erwiderten dann ihren höflichen Gruß. Catherine zwang sich noch zu einem Lächeln, dann ging sie in die entgegengesetzte Richtung davon. Glaubten nun selbst die Bürger von Irvine nicht mehr, dass es sich bei Thirlestane Castle um eine private soziale Einrichtung handelte? War ihnen das ganze Schloss unheimlich, weil Geschichten von vergangenen Zeiten über Generationen weitergegeben worden waren und jetzt unbewusst das Denken der Leute beeinflusste? Vielleicht waren aber auch erst neulich Gerüchte über jene Nacht des 2. Februar hindurch gedrungen, doch andererseits… wie sollte das geschehen sein? Es war keine Polizei eingeschaltet worden und alle Spuren von den älteren Hexen fein säuberlich beseitigt worden – sogar die Leichen der Hexen waren an einem unbekannten Ort nach keltischem Ritus bestattet worden. Nicht einmal die jungen der Hexen waren dabei anwesend gewesen, sondern nur die ältesten der Hexen. Saerlaith, Elatha, Isleen, Saraid und Celach. Das hatte sie alles von Lea erfahren, die sich darüber beschwert hatte, dass sie der Bestattung nicht beiwohnen hatte können. Es gab Wichtigeres! Der Vampir mit dem schwarzen Haar und den schwarzen Augen. Kannte Lestat ihn vielleicht? Lestat. Catherine schlenderte langsam und nachdenklich stundenlang durch die Straßen, kam an mancher Straßenkreuzung zweimal vorbei und kehrte dann über den Park auf das Schlossgelände zurück. Der Wind bewegte leicht ihr Haar, doch die Wärme des Frühlings war inzwischen auch hier im hohen Norden angekommen und hatte sich in den letzten Tagen festgesetzt. Catherine näherte sich der Baumgruppe und setzte sich auf einen trockenen Baumstumpf. Sie betrachtete die Gräber und atmete bewusst den schweren Duft der feuchten Erde ein. Sie schloss die Augen und atmete noch einmal tief ein. Sie liebte ihn. Ihn. Den Duft von feuchter Erde… Und Lestat. Kapitel 46: Unterwegs nach Edinburgh ------------------------------------ Unterwegs nach Edinburgh Die Pläne begannen Früchte zu tragen: am nächsten Wochenende luden Lea und Catherine ihre Taschen in den Wagen und waren kurz davor, nach Edinburgh aufzubrechen. Elizabeth hatte aus einem unverständlichen Grund darauf bestanden, dass Catherine selbst fuhr. Vielleicht hatte sie gehofft, dass Catherine es sich wegen dem Rechtsverkehr in Schottland dann doch anders überlegte, doch Elizabeth war enttäuscht worden: Begeistert hatte Catherine die Autoschlüssel an sich genommen, hatte im Internet eine Wegbeschreibung erstellen lassen und Lea damit beauftragt, noch eine normale Straßenkarte zu besorgen, doch das war alles kein Problem. Nun stand Elizabeth mit einem leicht angesäuerten Gesichtsausdruck am Eingang und sah Catherine und Lea nach, wie sie langsam die Einfahrt hinunter fuhren. Catherine fuhr auf die Woodland Avenue hinaus, bog dann in die Bank Street ab und schließlich auf die Annick Road. Dann wählte sie nach zwei Kreisverkehren die Auffahrt zur A71, folgte dieser knapp 8 Meilen und wechselte dann auf die A77. Nachdem die A77 die Glasgow Road überquert hatte, wechselte Catherine auf die M77 und nach weiteren 17 Meilen nach den Schildern auf die M8. Kurz darauf überquerten sie den Fluss Clyde. „Brauchst du die Karte eigentlich überhaupt?“ fragte Lea, die bisher still ihren Weg auf der Karte verfolgt hatte, falls Catherine Anleitung brauchte. „Nein, so wie es aussieht nicht. Ich habe mir die Wegbeschreibung durchgelesen.“ „Und jetzt kennst du den Weg auswendig? Was hast du denn für ein Gedächtnis?!“ „Ein trainiertes, nehme ich an.“ meinte Catherine grinsend und musste auf dem weiteren Weg feststellten, dass die A8 und die M8 dieselbe Straße waren und die Namen scheinbar nur abgewechselt wurden. „Ja, Schilder und Straßenbezeichnungen sind in Schottland nicht immer logisch.“ gab Lea zu und ließ die Karte aufgeschlagen. Dass Catherine den Weg wusste, gab ihr Gelegenheit über alles nachzudenken, was Catherine ihr in den letzten paar Tagen erzählt hatte – über die Vision an erster Stelle. Catherine im Körper des Jungen war ungewöhnlich, denn Leas Visionen ermöglichten ihr, als unbeteiligte Person ungesehen und unbemerkt durch Räume zu spazieren und sich dies und das anzuschauen. Natürlich war sie auch eingeschränkt. Ihre Sinne waren nicht so scharf, ihre Bewegungen etwas langsamer und ein wenig fühlte sich das wie ein tranceartiger Zustand an, doch insgesamt blieben ihr mehr Möglichkeiten als Catherine. „Wo sind wir gerade?“ fragte Lea nach einer Weile und Catherine meinte: „Inzwischen von der A720 bereits auf der A701 nach Edinburgh.“ Lea blickte aus dem Fenster und erkannte eine Art Vorstadtgebiet, das immer wieder von Industriearealen durchzogen war. „Dann dauert es ja nicht mehr lange.“ stellte sie fest, worauf Catherine nickte. Jetzt hatten die Straßen wieder Namen, die nicht mit Ziffern versehen waren: Howden Hall Road, Liberton Gardens, Liberton Brae, Craigmillar Park, Mayfield Gardens, Minto Street, Newington Road… „Musst du dich gerade konzentrieren?“ fragte Lea. „Ein bisschen. Was ist?“ „Ich wollte nur wissen, was wir jetzt gleich machen. Was hast du vor?“ „Ich bin extra so nach Edinburgh gefahren, dass ich direkt in die Straße komme, in der die Royal Bank of Schottland ihre Zentrale hat, aber ich denke, das dauert noch ein bisschen….Ah, nein! Das ist jetzt schon die South Clerk Street.“ „Wolltest du nicht vorher zum Hotel?“ „Doch, aber ich wollte wissen, wo die Bank ist.“ antwortete Catherine und stellte fest, dass die South Clerk Street nun in die Clerk Street überging. „Sehr sinnig.“ murmelte sie und entdeckte links auf einem Platz eine kleinere Parkfläche.“ „Ist das jetzt der Nicolson Square? Siehst du irgendwo ein Schild?“ „Ja, da an der Hauswand. Nicolson Square.“ „Gut, perfekt. So, unser Hotel müsste nun geradeaus sein… Nicolson Street… South Bridge… Cowgate… und am Kreisel in Grassmarket… Und dann ist es die… 61.“ „Da vorne ist es… Bist du sicher, dass wir hier richtig sind? Ist das nicht ein bisschen teuer?“ „Lea, die Bank wird mich überprüfen. Da kann ich nicht in irgendeinem Hostle absteigen.“ „Klar… aber gleich das Apex City Hotel? Ich meine… ich kann dir das nicht zurückzahlen.“ „Habe ich das etwa gesagt? Nein, natürlich nicht! Es ist einfach die beste Adresse in der Nähe der Bank und außerdem können wir hier ungestört die Unterlagen durchsehen, falls es welche gibt.“ erklärte Catherine und parkte das Auto vor dem Hotel. Sie schaltete den Motor ab und blickte die moderne Fassade nach oben. „Vergiss’ nicht, dass ich jetzt mit Akzent sprechen werde, bitte fang’ also nicht an zu lachen, sonst wirkt das leicht seltsam. Ich werde mich bei manchen Worten auch etwas ungeschickt stellen.“ „Wieso eigentlich?“ „Ich bin aus Paris. Und wir Franzosen haben Probleme mit jeder Sprache, die nicht unsere eigene ist.“ bemerkte Catherine lächelnd. „Du aber nicht. Du sprichst flüssig und ohne Akzent englisch…“ „Ich spreche auch flüssig Latein. Das kommt von der Bruderschaft.“ „Du hattest Sprachunterricht bei der Bruderschaft?“ „Nicht nur das. Sprachunterricht, verschiedene Dialekte, menschliche und territoriale Bräuche… alles, was sinnvoll ist, um nicht aufzufallen…“ „Das hört sich beinahe wie Agententraining bei irgendwelchen CIA-Filmen an.“ bemerkte Lea, worauf Catherine lachte. „Ja, vielleicht… Komm!“ Catherine griff nach dem Türgriff, doch Lea meinte: „Sag’ mal…“ „Hm?“ Catherine drehte sich noch einmal zu ihr um und wartete ab. „Hast du mit Lestat französisch oder englisch gesprochen?“ „Französisch.“ erwiderte Catherine knapp und stieg aus dem Wagen. Lea nickte und folgte ihr. An der Rezeption stand ein jüngerer Mann und blickte neugierig auf, als Catherine und Lea eintraten. „Guten Tag, ich hatte ein Zimmer reserviert…“ Weiter kam Catherine mit ihrem französischen Akzent nicht, denn der Angestellte legte los: „Ah, Mademoiselle du Ravin, c’est un très grand honneur pour nous, que vous avez choisi notre hôtel. Je suis Mike MacLynn et je suis totalement à votre disposition.“ „Merci beaucoup.“ „Was hat er gesagt?“ fragte Lea und zupfte Catherine am Unterarm an ihrer Jacke. „C’est très gentil. Votre français est très bien...“ „Oh, merci…“ „Mais je préférais si nous pouvions parler l’anglais, parce-que je le sais et parce-que ma cousine ne comprend pas le français.“ „Ah, oui, c’est pas… Natürlich. Englisch. Sie hatten ein Zimmer reserviert… ja, hier ist es. Zimmer 312 im dritten Stock.“ MacLynn rief einen weiteren Angestellten hinzu, händigte ihm den Schlüssel aus und überließ es ihm, den Gästen das Zimmer zu zeigen. Mit Catherine klärte er noch die Art der Zahlung, bei dessen Gespräch sich Catherine etwas unbeholfener gab, als sie tatsächlich war, doch dann konnte der andere Angestellte seiner Arbeit nachgehen. Im Aufzug redete er über die vielen schönen Sehenswürdigkeiten, die es in Edinburgh gab, doch Lea zeigte sich wenig beeindruckt. „Wir sind nicht privat hier…“ begann sie, worauf Catherine leise lachte und schließlich mit französischem Akzent fortfuhr: „Nün ja, zümindest nischt nür! Wir wörden üns mit Sischereit die Stadt anschauen.“ Dann lächelte sie und begegnete Leas sehr belustigtem Blick, den sie nur allzu schwer unter Kontrolle brachte. Im Zimmer abgekommen bekam Lea erst einmal einen Lachanfall, nachdem der Page sein Trinkgeld erhalten hatte und verschwunden war. „Noch eine Sekunde länger und ich hätte es nicht mehr ausgehalten!“ meinte sie unter Lachtränen und suchte sich dann ihre Seite des Bettes aus. „In der Bank werde ich das lassen. Das ist auf Dauer zu anstrengend.“ „Wozu dient es dann hier?“ „So haben wir unsere Ruhe. Es wird niemand auf die Idee kommen, mit uns mehr zu reden als nötig.“ „Clever. Was hat der Typ an der Rezeption eigentlich von sich gegeben. Ich habe tatsächlich kein Wort verstanden.“ gestand Lea und legte ihre Tasche auf den Sessel in der Ecke. Catherine nickte und fasste schnell zusammen: „Es sei eine sehr große Ehre für ihn, dass wir uns für das Apex entschieden hätten, und er stehe uns völlig zur Verfügung. Dann meinte ich, dass sein Französisch gut sein, ich aber vorziehe, Englisch zu sprechen, da du – meine entfernt verwandte Cousine – kein Englisch sprichst.“ Lea setzte sich auf das Bett und beobachtete Catherine, die etwas in ihrer Tasche suchte. „Aha. Was suchst du?“ „Etwas zum Anziehen…“ „Du hast doch wohl genug dabei… Wieso ziehst du dich jetzt um? Ich dachte, wir wollten zur Bank?“ „Ich werde dieses Gespräch nicht in Jeans und Pullover hinter mich bringen. Und du auch nicht. Ehrlich gesagt suche ich gerade etwas, das ich für dich mitgenommen habe.“ „Wie bitte?“ „Ja, ich war einkaufen und habe dir etwas besorgt.“ „Ich hoffe, keinen Rock. Wenn es ein Rock ist, bleibe ich hier und warte auf dich! Dann kannst du das allein machen.“ Catherine grinste und blickte Lea an. Diese verzog immer mehr das Gesicht – in Erwartung, ob Catherine doch bald einen Rock herausziehen würde. „Nein, ich hatte eine schwarze Hose und ein dunkelviolettes Oberteil, das etwas länger ist, aber einen dünnen Gürtel mit einer mit Strasssteinen besetzten Schnalle besitzt.“ „Wo hast du das her? In Irvine ist es selbst schwierig, eine normale Jeans zu bekommen.“ „Ich war vor zwei Tagen in Glasgow.“ erklärte Catherine, worauf Lea sie mit offenem Mund anstarrte. Kapitel 47: Ein Schritt näher am Ziel ------------------------------------- Ein Schritt näher am Ziel „Was warst du? Wann denn? Du bist doch bis nachmittags auf dem Schloss gewesen.“ „Richtig. Und dann habe ich plötzlich Kopfschmerzen bekommen und habe mich in mein Zimmer eingesperrt. Die Läden in Glasgow haben bis um 22 Uhr auf, also war das kein Problem.“ Catherine reichte ihr die Kleidungsstücke, die sie nun endlich gefunden hatte. „Ach, und hier ist noch eine etwas elegantere Jacke, damit es zusammen passt.“ „Hast du auch noch Schuhe für mich?“ fragte Lea völlig perplex, da Catherine scheinbar an alles gedacht hatte. „Verdammt!“ „Du denkst also doch nicht an alles!“ bemerkte Lea. „Wie?“ „Nicht so wichtig. Was soll ich jetzt machen? Ich kann unmöglich so eine Hose und Jacke anziehen und dann normale Sneakers.“ „Geh’ an den Wagen und hol’ die Schuhe. Sie sind im Kofferraum.“ Lea begann den Kopf zu schütteln, dann lachte sie und verließ das Zimmer. Catherine hörte sie noch ein amüsiertes ‚oh, Mann’ murmeln, dann fiel die Tür ins Schloss. Als Lea wiederkam, war Catherine schon umgezogen. Sie trug einen schwarzen Rock, der locker ihre Knie umspielte, eine Bluse und darüber einen schwarzen Blazer, der zum Rock passte, und schlüpfte gerade in ein Paar schwarze Pumps. „Oh, lala!“ meinte Lea leise und Catherine grinste. „Ich bin aus Paris, da macht man das so.“ meinte sie. „Was?“ „Ich sichere mich ab, falls mir die verbalen Argumente ausgehen.“ erklärte sie, worauf Lea die Augenbrauen hochzog und lachend ins Bad ging. „Hast du nicht mit einer Frau gesprochen?“ „Doch, schon, aber diese Frau meinte, da müsste ich mich schon mit dem Filialleiter treffen und das mit ihm regeln. Sie wollte allerdings alles vorbereiten.“ „Hoffentlich macht sie das dann auch. Wie heißt der Chef?“ „Albert.“ „Albert? Und wie weiter?“ „Nein! Mr. Albert. Den Vornamen kenne ich nicht!“ entgegnete Catherine. „Ach so.“ kicherte Lea amüsiert. „Gibt es heute etwas, was du nicht lustig findest?“ fragte Catherine und holte sich eine Bürste. Nachdenklich kämmte sie sich vor dem Spiegel im Zimmer ihr Haar, um es danach locker nach oben zu stecken. Sie konnte es unmöglich offen lassen, denn sie musste als eine Art Geschäftsfrau oder zumindest seriös auftreten. Catherine ließ einige Strähnen locker und wellig über ihre Schläfen zu ihrer Halsbeuge hinunterfallen. Sie musste dem armen Mann die Möglichkeit geben, von ihr fasziniert zu sein – und was eignete sich besser, als offenes oder zumindest nicht streng nach hinten gebundenes Haar, um Männerfantasien anzuregen? Offenes Haar. Catherine lächelte leicht. Lestat hatte das auch einmal kurz aus der Bahn geworfen, als er sie an diesem einen Morgen geweckt hatte. Catherine schloss die Augen. Plötzlich war ihr, als spürte sie Lestats Finger, die langsam und eine süße Qual entfachend von ihrem Ohrläppchen zu ihren Schultern hinabfuhren, und dann seine Lippen gegen ihre Haut. Lestat. Sie musste sich auf das Gespräch, das vor ihr lag, konzentrieren und durfte nicht in ihren Erinnerungen oder Wunschträumen feststecken. Catherine schüttelte leicht den Kopf, öffnete wieder die Augen und betrachtete sich. Das rotbraune Haar würde dieses Mal nur seinen Zweck erfüllen. „Du kannst ins Bad, Cate.“ meinte Lea und Catherine schreckte aus ihren Überlegungen auf. „An was denkst du?“ „Ich hoffe nur, dass alles gut geht.“ meinte Catherine und betrachtete Lea. Die Hose und das Oberteil passten und Lea trug bereits die Schuhe mit dem kleinen Absatz. Ihr Haar hatte sie gekämmt und die vorderen Strähnen mit Klammern zurückgesteckt. „Geht das so?“ fragte Lea. „Ja, klar. Perfekt.“ entgegnete Catherine und ging nun ebenfalls ins Bad, um sich zu schminken, während Lea im Zimmer auf sie wartete. „Kannst du unten anrufen und ein Taxi rufen lassen?“ fragte Catherine nach einer Weile, worauf Lea ein zustimmendes Geräusch von sich gab. Dann hörte sie, wie Lea mit der Rezeption telefonierte. Wenig später rief die Rezeption zurück, um Bescheid zu geben, dass das Taxi da war. Catherine und Lea fuhren mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und gingen durch die Eingangshalle. „Oh, ist das kalt!“ meinte Lea, als sie nach draußen trat, und folgte Catherine schnell zum Taxi. „April hin oder her.“ fügte sie noch hinzu. „Wir müssen ja nicht weit laufen.“ meinte Catherine und stieg ebenfalls in das Taxi. „Zur Royal Bank of Scotland, bitte. In der Nicolson Street 30.“ „Das ist aber nicht die Zentrale, Miss. Die ist in Gogar in West-Edinburgh.“ meinte der Taxifahrer hilfsbereit. „Ja, ich weiß. Dankeschön. Ich möchte nicht in die Zentrale.“ entgegnete Catherine und sah den Fahrer nicken. Lea blickte sie zweifelnd an. „Weißt du, was du tust?“ fragte sie zweifelnd, worauf Catherine nickte. „Ich habe ausführlich telefoniert. Das hat schon alles Sinn, was ich mache.“ versicherte Catherine und blickte dann aus dem Fenster. „Verstehe ich das richtig? Du hast zuerst in der Zentrale angerufen, die dich dann an die Filiale in der Nicolson Street weitergeleitet hat?“ „Richtig.“ stimmte Catherine nachdenklich zu und blickte aus dem Fenster. „Gab es keine Probleme? Die hatten doch eigentlich keine Ahnung, dass du es wirklich bist…“ „Wirklich erfahren habe ich natürlich nichts, aber dann hieß es, dass ich in der Nicolson Street am ehesten Erfolg hätte, wenn ich nach etwas von Vincent du Ravin suche. Es gäbe ein Schließfach. Mehr durften sie mir ja nicht sagen.“ Lea nickte. „Ja, dass es ein Schließfach gibt, hast du bereits gesagt… Du wirkst so nachdenklich. Ist etwas?“ „Nein, ich hatte bei dem Telefonat mit der Zentrale nur das Gefühl, als würde ich die Stimme kennen, mit der ich gesprochen habe…“ „Eine Stimme am Telefon zu erkennen, ist kaum möglich, wenn man sie nicht wirklich sehr gut kennt.“ warf Lea ein. Catherine nickte und der Fahrer hielt vor der kleineren Filiale der Royal Bank of Scotland. Catherine zahlte das Taxi, gab Trinkgeld und stieg dann nach Lea aus. Gemeinsam eilten sie elegant die Treppenstufen hinauf und traten in die Eingangshalle. Lea entdeckte das Büroschild mit ‚Mr. Garfield Albert. Filialleiter.’ zuerst und wies Catherine darauf hin. Darunter war ein weiteres Schild angebracht: ‚Mrs. Anne Williams. Sekretärin.’ „Dann wollen wir einmal!“ meinte Catherine und klopfte an die Tür, wartete, bis eine Antwort erklang und trat dann ein. „Guten Tag.“ begrüßte sie die junge Frau, die von ihrem Computer aufblickte und ihre Brille zurechtrückte. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ Catherine trat näher und wartete, bis Lea die Tür geschlossen hatte, dann meinte sie: „Ich habe zwar keinen Termin, doch ich müsste mit Mr. Albert sprechen.“ „Wer sind Sie, bitte? Ich kann Sie nicht einfach ohne Termin durchlassen.“ „Das ist mir bewusst. Ich bin Catherine du Ravin und telefonierte bereits mit der Zentrale in Gogar. Dort hieß es, ich solle mich sofort an Mr. Albert wenden und er würde darüber unterrichtet werden.“ flunkerte Catherine ein wenig, worauf die Sekretärin in ihren Unterlagen nachsah. „Ich kann hier zwar keine Notiz finden, doch warten Sie.“ meinte sie nach einer Weile und wählte die Telefonnummer des Chef-Büros. Nur kurze Zeit später saßen Catherine und Lea dem Chef gegenüber. Er war ein hagerer Mann mit weit vorspringender Nase, doch er machte einen ruhigen und freundlichen Eindruck. „Miss du Ravin, um es kurz zu machen und Sie nicht unnötig in einem Schwebezustand hängen zu lassen, werde ich Ihnen nun geradewegs sagen, wie ich die Dinge sehe.“ Catherine war erstaunt und lehnte sich zurück. Sie selbst war noch überhaupt nicht dazu gekommen, mehr als ihren und Leas Namen zu sagen, doch dann sollte er eben einmal beginnen. „Ich kannte Ihren Großvater, Miss du Ravin. Er war oft hier und war mit unseren Dienstleitungen überaus zufrieden. Ob Sie es glauben oder nicht, doch er legte mir persönlich ans Herz, offen mit Ihnen zu sprechen, sollten sich mir einmal die Gelegenheit dazu bieten.“ „Wann war das?“ „Bei seinem letzten Aufenthalt in Schottland…“ „Also 1993.“ „Korrekt. Er sah sehr schlecht aus und wenn ich auch bisher immer nur den Verdacht hatte, er wolle Steuern in Frankreich hinterziehen, so… wie soll ich sagen? Nun, dieser Verdacht bestätigte sich absolut nicht.“ „Ich wusste überhaupt nicht, dass mein Großvater hier ein Konto hatte, mit dessen Hilfe er hätte Steuern hinterziehen können.“ Albert schüttelte den Kopf. „Nein, er hatte kein Konto, aber ein Schließfach. Es wäre auch möglich gewesen, dass er Bargeld aufbewahrte. Wir fragen unsere Kunden natürlich nicht nach dem Inhalt ihrer Schließfächer, denn das wäre unmöglich. Ihr Großvater hat Vorkehrungen getroffen.“ Kapitel 48: Ein bekanntes Gesicht --------------------------------- Ein bekanntes Gesicht Catherine blickte ihn gespannt an. Es gab ein Schließfach, das wusste sie nun mit absoluter Sicherheit, aber wie würde sie die Berechtigung erhalten, an den Inhalt des Schließfachs zu kommen? „Er hat festgelegt, dass das Schließfach auch bei seinem Tod weiter Bestand hätte und allein Sie, Miss du Ravin, dazu berechtigt seien, den Inhalt zu sehen oder das Schließfach zu kündigen. Er hat eine solche Verfügung unterschrieben.“ Catherine atmete sichtlich auf, worauf Albert sich zurücklehnte und mit allen Fingern die Tischkante nach außen entlang strich. „Und diese Verfügung ist bis heute rechtskräftig und nicht durch irgendwelche Klauseln wirkungslos?“ fragte Catherine skeptisch. Irgendwie konnte sie das Glück, das sie in diesem Augenblick hatte, kaum fassen. „Das einzige, das ich brauche ist Ihr Ausweis und eine Kopie Ihrer Geburtsurkunde. Letztere habe ich bereits aus Paris beantragt. Ich hoffe, das war in Ihrem Sinne.“ Catherine nickte überrascht und stumm. „Das ist mir jetzt ein wenig unangenehm, aber ich muss Sie bitten, diese Verfügung zu unterschreiben.“ „Was ist das?“ fragte Catherine und nahm das Blatt Papier entgegen. „Sie erklären sich damit einverstanden, der Bank ihr Strafregister zugänglich zu machen.“ Catherine zog die Augenbrauen hoch. „Keine Sorge, das ist bei so einer Sache reine Formalität. Oder gibt es ein Problem mit Ihrem Strafregister, Miss?“ Catherine schüttelte langsam den Kopf, dann meinte sie: „Ich wurde vor einigen Tagen von der Polizei zur Entführung meiner Eltern befragt, aber… Es hieß, die Sache sei für mich erledigt.“ Albert schien nicht im Geringsten überrascht zu sein, als er von der Entführung hörte, was Catherine aber überraschte. „Sie wissen davon?“ Albert überging die Frage und meinte: „Wenn es erledigt ist, gibt es auch keinen Vermerk im Register. Gibt es sonst etwas?“ Catherine lächelte. „Nicht, dass ich wüsste.“ entgegnete sie und las noch durch, womit sie sich einverstanden erklärte, bevor sie unterschrieb, während Albert ihren Personalausweis mit den anderen Daten, die er über sie hatte, verglich. „Gut, das ist alles in Ordnung. Ich informiere Sie, wenn ich die restlichen Unterlagen beisammen habe.“ „Wir können nicht gleich das Schließfach sehen?“ fragte Lea, worauf Catherine sie anblickte. Sie hatte fast völlig vergessen, dass sie mit Albert nicht allein war. „Nein, ich habe meine Anweisungen, die ich befolgen muss. Ich bin der Zentrale Rechenschaft schuldig.“ erklärte Albert und erhob sich. Catherine und Lea erhoben sich ebenfalls. „Sie machen doch auch Urlaub, oder nicht? Sehen Sie sich die Stadt an. Es lohnt sich. Morgen können Sie vorbeikommen und das Schließfach durchsehen.“ „Morgen ist Samstag.“ erinnerte Catherine den Bankangestellten, worauf er abwinkte, da die Bank an Samstagvormittagen geöffnet war. Catherine und Lea fuhren in ihr Hotelzimmer zurück und wechselten die Kleider. Lea schnappte sich ihre Digitalkamera und probierte sie schon einmal im Zimmer aus. „Ich brauche die kaum, deshalb weiß ich nicht wirklich, wie alles geht.“ meinte sie zu ihrer Entschuldigung, als Catherine mit einem fragenden Blick aus dem Bad kam. „Am besten ist es, wenn du die Bilder von unserem Zimmer gleich wieder löschst. Elizabeth braucht nicht zu wissen, wo wir abgestiegen sind, sonst wird sie noch misstrauisch.“ schlug Catherine vor und schlüpfte wieder in ihre Jacke. „Weißt du, dass wir viel vorhaben? Wir müssen so viele Bilder machen, dass die beiden überhaupt nicht auf die Idee kommen, wir hätten noch etwas anderes getan.“ „Ja, das ist mir klar. Was gibt es denn hier zu sehen?“ „Viel Ahnung habe ich von Edinburgh auch nicht. Ich wohne ja nicht hier. Wir brauchen einen Stadtplan und Stadtführer.“ „Hast du unten im Hotel so etwas gesehen?“ fragte Catherine und kramte noch nach ihrem Geldbeutel. „Nein, aber an den Metro-Stationen gibt es so etwas immer. Gehen wir?“ Catherine nickte und schloss das Zimmer noch nach ihnen ab. Innerhalb der nächsten Stunden klapperten Catherine und Lea viele Sehenswürdigkeiten ab wie zum Beispiel den Palace of Holyroodhouse, das schottische Parlament, das Writer’s Museum und das National Museum of Scotland, sodass sie sich am späten Nachmittag müde in ein Cafe setzten und eine heiße Schokolade tranken. „Das haben wir uns wirklich verdient.“ meinte Lea und lehnte sich in den bequemen Sesseln zurück. „Muss ich mich heute Abend noch einmal so schick anziehen, wenn wir im Hotel essen?“ fragte sie, da sie von den engen Schuhen Blasen an den Zehen hatte. Catherine lachte leise und schüttelte den Kopf. „Ich dachte, dass wir heute Abend vielleicht nicht im Hotel essen, sondern in ein Bistro oder eine Pizzeria gehen. Was hältst du davon?“ „Oh, ja! Da bin ich gleich dabei.“ stimmte Lea zu, worauf Catherine sich zufrieden zurücklehnte. „Es ist gut gelaufen in der Bank, nicht wahr?“ „Ja, viel besser, als ich erwartet hatte.“ gestand Catherine und fügte hinzu: „Glück muss man haben.“ „Hm, weißt du schon, was wir morgen machen?“ „Erst einmal zur Bank, würde ich sagen, und dann… lass’ mal sehen.“ begann Catherine und studierte für einen Moment die Broschüre über die Top-Sehenswürdigkeiten, die sie in der Metro gekauft hatten. „Spukendes Edinburgh. Unterirdische Straßen unter der Royal Mile aus dem 17. Jahrhundert. Hast du Lust?“ Lea nickte begeistert. „Aber schon mit einem Führer, oder?“ fragte sie, worauf Catherine noch einmal genauer über den Beschreibungstext las. „Ja, da sind Führungszeiten. Um 13:15 ist eine und dann noch einmal um 16:30. Das kommt dann darauf an, wie wir in der Bank fertig werden.“ Lea nickte. „Oh, weißt du, was ich auch gerne machen würde… Aber nur, wenn du Lust hast.“ „Sag’ schon!“ „Einkaufen. Erstens: ich war ewig nicht mehr. Zweitens: das macht wirklich den Anschein einer total touristischen Unternehmung.“ erklärte Catherine, worauf Lea nickte. „In Ordnung. Ich wollte mich auch mal nach ein paar neuen Büchern umsehen. Vielleicht sticht mir ja etwas ins Auge.“ Catherine nickte und trank einen Schluck von ihrer Schokolade. „Und am Sonntag könnten wir dann noch das Schloss besichtigen, bevor wir wieder nach Irvine zurück fahren.“ „Ja, das sollte man schon gesehen haben.“ „Oh, Mann. Hoffentlich können wir uns dazu überhaupt aufraffen, wenn wir den Inhalt des Schließfaches erst einmal gesehen haben.“ Catherine nickte nachdenklich und blieb stumm. „Was ist?“ fragte Lea deshalb. „Wie?“ schreckte sie hoch und Lea wiederholte ihre Frage. „Ich weiß auch nicht. Ich habe Angst, dass es überhaupt nichts Wichtiges im Schließfach für uns gibt. Vielleicht alte Unterlagen, die vielleicht doch davon zeugen, dass meine Familie nur Steuern hinterzogen hat… Ich weiß es nicht.“ „Das ist doch Unsinn! Hätte dein Großvater so ein Geheimnis um das alles gemacht? Hätte er diesen Brief geschrieben? Er wusste doch auf alle Fälle etwas…“ „Ja, richtig, aber das wussten wir auch schon alles vorher.“ „Aber das konnte er nicht wissen. Er konnte nicht wissen, dass du das herausfinden würdest, weil mit dir etwas geschieht. So einfach ist das nicht.“ beharrte Lea. „Du hast ja Recht, aber ich…. Nun, ja. Sagen wir es so: wenn ich doch nichts Neues erfahre, habe ich wenigstens damit gerechnet.“ Lea lachte kopfschüttelnd. „Du bist schon seltsam. Seltsam, aber im positiven Sinn. “ Catherine nickte bei sich und sagte nichts mehr. Lea hatte Recht: es musste etwas Wichtiges sein, aber was war es? Ein erneuter Verdacht, dass er vergiftet worden war oder vielleicht sogar der Beweis dafür? Und wie sollte sie das dann Lea erklären, der sie noch nicht einmal etwas von der Behauptung im Brief erzählt hatte? Catherine hoffte inständig, dass es nichts in diese Richtung war, denn irgendwie schien ihr der Zeitpunkt noch nicht reif dafür, Lea zu eröffnen, dass ihre Großmutter oder sonst jemand auf Thirlestane Castle ihren Großvater auf dem Gewissen hatte. Wieder gingen Catherine und Lea nur zum Umziehen in das Hotelzimmer zurück. Lea übernahm es, an der Rezeption Bescheid zu geben, dass sie heute außerhalb aßen, während Catherine wartete. Nicht weit entfernt vom Hotel fanden sie ein arabisches Bistro, zu welchem Catherine Lea überreden konnte. „Ich bin so froh, dass ich auf dich gehört habe. Diese Gemüsebällchen sind wirklich lecker!“ meinte sie und trank noch einen Schluck Orangensaft. „Echt gut.“ Catherine lächelte und schob gerade das letzte Stückchen von ihrem Gebäck auf die Gabel, als ihr ein Mann auffiel, der in der Tür verharrte. Sie ließ beinahe die Gabel fallen und blinzelte. „Das ist nicht möglich.“ „Was? Hast du etwas gesagt?“ fragte Lea mit halbvollem Mund, weshalb sie sich die Hand vorhielt. Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, nichts….“ Lea aß weiter und Catherine meinte: „Ich bin gleich wieder da.“ „Wo willst du hin?“ fragte Lea noch, doch Catherine war so schnell zwischen den Tischen verschwunden, dass sie keine Antwort mehr erhielt. Kapitel 49: Überraschende Begegnung ----------------------------------- Überraschende Begegnung Dunkelheit umfing Catherine, als sie nach draußen trat. Er hatte doch mit Sicherheit gesehen, dass sie aufgestanden und ihm nachgegangen war! Wo war er jetzt? Catherine suchte die fast menschenleere Straße vor sich ab, doch entdeckte ihn nicht mehr. Trotzdem war sie sich noch sicher, dass er es gewesen war. Sie hatte deutlich das jungenhafte Gesicht und das rotblonde Haar gesehen. Sie sah es jetzt noch vor sich. „Armand, bitte.“ flüsterte sie tonlos und ging einige Schritte. „Ich weiß, dass du hier irgendwo bist.“ Catherine ging an einem Pärchen vorbei und bog dann um die Ecke, wo sie ihn sah. Er stand mitten auf dem Gehweg und schien auf sie zu warten. In seiner Hand hielt er irgendeinen Umschlag, den er nun in die Innenseite seines Mantels steckte. Das Gesicht blickte ihr regungslos entgegen, doch seine Hand hob sich leicht und lud sie zu sich ein. „Es war nicht leicht, dich zu finden.“ meinte er leise und wartete, bis sie noch ein paar Schritte näher kam. „Fürchtest du dich?“ fragte er und blickte sie an. Catherine schüttelte ehrlich den Kopf. „Warum bist du hier? Was willst du…“ fragte sie und schaute ihn ruhig an. „Nichts.“ unterbrach er sie und ging einige Schritte an ihr vorbei. „Du bist wohl nicht ohne Grund hier, oder doch?“ fragte Catherine und suchte seinen Blick. Armand verzog das Gesicht, doch blieb stumm. Catherine nickte und wollte sich wieder zum Gehen wenden. Lea wartete. „Lass’ sie warten.“ meinte Armand plötzlich. Catherine drehte sich wieder um und starrte ihn an. Konnte er hören, was sie dachte? Armand blieb noch einen Augenblick stumm, also sprach sie die Frage aus: „Kannst du meine Gedanken lesen?“ „Gedanken hören, lesen oder wahrnehmen, nenn’ es, wie du willst.“ meinte Armand und machte eine kleine Pause, ehe er antwortete: „Wir können das fast alle, aber deine Gedanken sind uns allen verschlossen.“ Catherine zog die Augenbrauen hoch. „Zweifelsohne hast du bei der Societas gelernt, sie gut zu verbergen.“ „Ich kann mich nicht erinnern, so etwas gelernt zu haben.“ „Dann ist es angeboren. Oder…“ Armand winkte ab. „War das alles?“ fragte Catherine. „Dann würde ich nun wirklich gehen.“ „Du bist mir hinterher gekommen, nicht ich dir. Also wolltest du offenbar etwas von mir.“ stellte Armand scharfsinnig fest, was Catherine ärgerte. Immerhin war er in dieses Bistro gekommen und immerhin hatte er gesagt, es sei nicht leicht gewesen, sie zu finden. Also: was wollte er? Einfach sehen, ob sie noch am Leben war… oder ändern, dass sie am Leben war? „Ich habe Fragen.“ meinte sie schließlich, um diesen Gedanken zu verdrängen. „Fragen? Was für Fragen?“ wollte Armand wissen und stellte sich wieder vor Catherine. „Du bist hier und hast mich gesucht, wie du vorhin gesagt hast. Was willst du von mir?“ „Ich wollte sehen, wie du damit klar kommst.“ „Womit?“ „Dass Lestat dich enttäuscht hat und einfach so verschwunden ist.“ Catherine kniff die Augen zusammen. „Wieso sollte ich damit nicht klar kommen?“ fragte sie. War das der einzige Grund? Und warum interessierte ihn das? Armand zuckte die Schultern. „Dann geht es dir gut?“ fragte er noch einmal, was Catherine noch mehr verwirrte. Sie schüttelte leicht den Kopf und sein Blick verfinsterte sich. Sie war verwirrt, das konnte er leicht sehen. Er selbst war auch verwirrt, da ihm nun kein guter Grund mehr einfiel, warum er sie so dringend gesucht hatte. Und er hatte sie gesucht. Er hatte sie gesucht, wie noch niemanden zuvor und es hatte ihn beinahe wahnsinnig gemacht, sie nicht zu finden. Dass es an ihrer Person lag, wagte er dennoch zu bezweifeln, doch weshalb war er hier? „Elizabeth wollte, dass ihr geht. Ich sollte meine Aussage bei der Polizei in Ruhe vorbereiten können und alles erledigen, was angefallen war.“ meinte sie schließlich mehr zu sich als zu ihm. „Wieso sagst du mir das? Das weiß ich.“ „War das der einzige Grund? Oder hatte Elizabeth einfach nicht mehr die Kraft, ihre Gedanken gegen eure mentalen Fähigkeiten zu verschließen? Wusste sie, dass sie nicht mehr lange dazu in der Lage sein dürfte? Wusste sie, dass auch Elatha langsam erschöpft war?“ fragte Catherine und blickte ihn direkt an. Armand zuckte die Schultern und schüttelte schließlich den Kopf. „Ich bin froh, dass ich damit nichts mehr zu tun habe.“ entgegnete er, worauf Catherine nickte. „Dann sollten wir wohl beide unserer Wege gehen und vergessen, dass du hier warst.“ Catherine wandte sich um und schritt langsam die Straße zurück. Sie blickte noch einmal über die Schulter zurück, doch Armand war verschwunden. „Willst du überhaupt nicht wissen, wo Lestat ist?“ fragte Armand, der stattdessen vor ihr aufgetaucht war. Catherine erschrak fürchterlich und wich einige Schritte zurück. Ihre Hand legte sich gegen ihre Brust und sie zwang sich zur Ruhe. „Ganz schön schreckhaft für eine Vampirjägerin.“ murmelte er leise und amüsiert. „Als solche habe ich mich nie gesehen.“ informierte sie ihn und antwortete nicht auf seine Frage. Lestat. „Willst du nicht wissen, wo Lestat ist?“ wiederholte er fast wörtlich noch einmal und blickte sie prüfend an. Überrascht bemerkte er, dass sie den Kopf schüttelte. „Ich weiß, wo er ist.“ flüsterte sie und blickte zur anderen Straßenseite hinüber, wo drei junge Leute vorbeigingen und lachten. „Tatsächlich?“ fragte Armand. Er konnte sich das nicht vorstellen. „Zumindest war er vor einer Woche noch in Venedig. Ich denke, dort ist er jetzt noch.“ fügte sie hinzu und blickte wieder in Armands Gesicht. Er presste überlegend die Lippen aufeinander, dann lächelte er. „Vielleicht. Möglich. Ich weiß selbst nicht so genau, wo er ist.“ durchbrach er dann die Stille. „Dann seid ihr alle nicht mehr beisammen?“ vermutete Catherine, worauf Armand erleichtert nickte. „Wir tun uns sehr schwer, längere Zeit beisammen zu sein. Irgendwann bricht unsere künstlich errichtete Gemeinschaft immer wieder auseinander. Das ist vorhersehbar und auch gut so.“ erklärte er und wandte sich zum Gehen. Als Catherine ihm nicht folgte, drehte er sich noch einmal um und streckte den Arm nach ihr aus. „Was soll das?“ fragte sie misstrauisch. Sie wusste nicht, ob sie weinen oder es lassen sollte und dabei wusste sie nicht einmal, warum ihr jetzt eher nach Weinen zumute war. „Lea wartet. Ich bringe dich zum Bistro zurück.“ meinte er und Catherine setzte sich langsam in Bewegung. Sie schlang ihre Arme um ihren Oberkörper und ging schweigend neben Armand her. Es war kalt ohne Jacke, aber sie hatte in der Eile nicht daran gedacht. „Ich bin im Moment wieder mit Daniel alleine unterwegs.“ meinte Armand beiläufig und Catherine blickte ihn von der Seite an. Sein Gesicht spiegelte keinerlei Emotion oder Gedanken wider. Daniel. Mit ihm hatte sie am wenigsten zu tun gehabt. Sie würde nicht einmal mehr beschreiben können, wie er aussah, wenn sie gefragt würde. „Marius und Lestat werden sich wohl auch wieder trennen… Und dann bleibt abzuwarten, ob Louis und David sich ihm wieder anschließen.“ fuhr er fort. „Wieso erzählst du mir das?“ brach Catherine ihr Schweigen und blickte wieder auf die Straße vor sich, da er den Blick zu ihr wandte. „Warum nicht?“ fragte er. Catherine schüttelte den Kopf. „Du weißt ziemlich wenig über uns.“ „Gibt es etwas, das ich unbedingt wissen müsste? Wohl kaum, wenn diese Sache, die mich beschäftigt, euch nichts mehr angeht, oder? Oder sehe ich das falsch?“ fragte Catherine und blickte ihn wieder an. Armand nickte. „Wir werden nicht hören können, wenn du Hilfe brauchst, wenn du in Gefahr bist, aber andererseits… warum sollte uns das auch interessieren, nicht wahr?“ „Völlig richtig. Warum auch?“ stimmte Catherine ihm zu und lächelte flüchtig. Armand blickte sie an und verschwand ohne ein Wort des Abschieds in die Nacht, sobald sie den Eingang zum Bistro erreicht hatten. Catherine bahnte sich wieder einen Weg durch die Tische und Stühle und setzte sich schließlich neben Lea, die gelangweilt am Tisch saß. „Tut mir leid, es hat…“ „…länger gedauert, was auch immer dieses Nichts war, das dich beschäftigt hat.“ beendete Lea Catherines Satz und blickte sie vorwurfsvoll an. „Ich werde nicht gerne allein irgendwo sitzen gelassen.“ fügte sie hinzu. Catherine nickte und biss sich auf die Lippen. Ihr Essen war kalt, doch sie hatte eh keinen Hunger mehr, nachdem sie draußen so gefroren hatte. Und beim Gespräch war ihr das nicht einmal aufgefallen, doch dann hatte es sich angefühlt, als hätte die Kälte beinahe ihre Haut blutig geschnitten. „Es tut mir wirklich leid. Ich hätte überhaupt nicht gehen brauchen, da es sich nicht gelohnt hat.“ „Was war denn überhaupt?“ „Armand war da.“ erklärte Catherine und trank einen Schluck von ihrem Mineralwasser, das auch an Kohlensäure verloren hatte. Lea schluckte und schaute sie immer noch ungläubig an, ehe sie herausbrachte: „Armand. Was wollte er denn?“ Catherine stellte das Glas zurück und schüttelte den Kopf. „Nichts, absolut nichts.“ entgegnete sie, was Lea nicht ganz verstand. Catherine erzählte ihr kurz von ihrer Begegnung mit ihm und dann war auch Lea klar, dass Catherine wirklich nichts Neues erfahren hatte. „Da ist nur eine Sache, die vielleicht ansatzweise interessant ist.“ meinte Catherine, worauf Lea sie fragend anblickte. „Sie können unsere Gedanken wahrnehmen – nicht alle, aber die meisten von ihnen. Wie auch immer: Meine Gedanken sind ihnen verschlossen und ich habe nicht einmal aktiv etwas getan, sie vor ihnen geheim zu halten.“ Lea nickte, doch dann meinte sie: „Das ist wirklich ungewöhnlich. Ich habe bisher von niemandem gehört, der das nicht lernen musste. Wir mussten es alle lernen. Manche können es besser, manche weniger gut.“ Lea verstummte und überlegte. Schließlich fuhr sie fort: „Deine Kräfte sind enorm, aber bei dir bin ich mir nie sicher, ob es wirklich Hexenkräfte sind.“ „Wie meinst du das? Was denn sonst?“ fragte Catherine überrascht und schüttelte den Kopf. Lea schüttelte ebenfalls den Kopf und verwarf den Gedanken. „Du hast Recht: was sollten sie sonst sein?“ stimmte sie nickend zu und bestellte sich noch einen Orangensaft. Allzu lange wollten sie allerdings nicht mehr bleiben, doch Catherine gewährte sich auch noch einen süßen arabischen Tee, den Lea aber ausschlug, da ihr extrem süße Sachen nicht schmeckten. „Du verpasst wirklich etwas.“ meinte Catherine und führte das klebrige Getränk zu ihren Lippen, was Lea mit angewidertem Gesicht kommentierte. Ungenießbar! Lea betrachtete Catherine. Sie verstand nicht, dass Catherine in all ihren Wochen auf Thirlestane Castle nicht die geringste Lust verspürt hatte, ihre Hexenkräfte zu vermehren. Sie hatte zwar getan, was verlangt wurde und hatte einige Male dem ‚Unterricht’ beigewohnt, doch war bald nicht mehr gekommen. Vielleicht wusste Catherine in ihrem Unterbewusstsein, dass es für sie nicht mehr nötig war, ihre Kräfte zu vergrößern, da sie schon unglaublich groß waren, das konnte Lea nicht beantworten. Doch sie konnte es auch nicht ausschließen. Kapitel 50: Schließfach Nr. 1187 -------------------------------- Schließfach Nr. 1187 Catherine und Lea standen am nächsten Morgen früh auf, wuschen und richteten sich, frühstückten schnell etwas und saßen dann auch schon wieder im Taxi zur Bank. Lea war still, da sie noch müde war, Catherine dachte nach und hoffte inständig, irgendetwas zu finden, das in irgendeiner Hinsicht brauchbar war. Sie hatte es so satt, auf der Stelle zu treten und keinen Millimeter voranzukommen. Armand kam ihr wieder in den Sinn. Wie langweilig musste ihm in seinem unsterblichen Leben sein, wenn er sie wirklich ohne Grund aufgesucht hatte, obwohl sie überhaupt nicht längere Zeit etwas miteinander zu tun gehabt hatte. Armand war gekommen, Catherine und Lestat hatten Elizabeth die Runen gebracht, sie hatte ihren Namen erhalten und dann waren die Vampire auch schon wieder verschwunden – und Armand mit ihnen. Ihr Name! Catherine musste sich beherrschen, kein abfälliges Geräusch von sich zu geben. Sie erinnerte sich, dass sie darum gebeten hatte, weiterhin Catherine genannt zu werden, doch trotzdem sprachen Elizabeth und Elatha und all die anderen nur noch Lasair an. Elizabeth, die sie jetzt ja auch Saerlaith nennen sollte, und Elatha, deren bürgerlichen Namen sie nicht einmal kannte. „Ist alles klar? Denkst du an Armand?“ fragte Lea plötzlich und riss Catherine aus ihren Gedanken. „Wie kommst du darauf?“ fragte Catherine. „Was fesselt dich sonst so, dass du nicht bemerkst, dass wir da sind. Gib’ dem Fahrer sein Geld und dann steig’ aus.“ meinte Lea und verließ den Wagen. Catherine kramte in ihrer Tasche und bezahlte den Taxifahrer, ehe sie Lea nachging. Albert wartete bereits in seinem Büro und nahm sofort die Schlüssel zu den Kellerräumen und den Schließfächern mit sich. Seine Sekretärin wies er an, bei eingehenden Telefonaten zu sagen, er sei in einer wichtigen Sitzung und im Moment für niemanden zu sprechen – auch nicht für seine Frau, die ja eh dauernd anrief. Catherine musste sich ein Lächeln verkneifen und folgte ihm dann mit Lea die Halle entlang, schließlich eine Treppe hinunter und durch mehrere Türen mit Zahlencodes in die Kellerräume hinab. Lea sah sich um und war sich völlig sicher, dass hier nichts weg kam. Es war unmöglich, hier ungesehen herein oder hinaus zu kommen. Nach vier Türen und vier Sicherheitsbarrieren musste sich Albert noch mit seinem Ausweis vor einem Sicherheitsbeamten aufbauen, der seinen Fingerabdruck überprüfte und schließlich grünes Licht gab. „So, da wären wir. Ihr Großvater hatte das Schließfach Nr. 1187… Wo ist es denn? Ah, ja! Hier.“ meinte Albert und händigte Catherine einen einzelnen Schlüssel aus. Sie zögerte. „Das hat seine Richtigkeit. Diesen Schlüssel hat ihr Großvater bei seinem letzten Aufenthalt hier gelassen, damit Sie ihn erhalten.“ Catherine nahm den Schlüssel entgegen und Albert machte ihr vor dem Schließfach Platz, damit sie aufschließen konnte. Sie steckte den kleinen silberfarbenen Schlüssel in das Schloss und drehte ihn zweimal herum. Das flache Türchen sprang auf und Catherine griff nach dem Kästchen aus Metall, in dem die Sachen ihres Großvaters lagen. Sie zog es heraus und stellte es vorsichtig auf dem Tisch ab, der neben ihr stand. Ihr Atem wurde schneller, das bemerkte sie, doch das lag einfach an der Situation. Was auch immer ihr Großvater versteckt hatte, würde sie nun sehen. Und sie war die erste Person nach ungefähr 14 Jahren, die es sehen würde. „In Ordnung, Miss du Ravin. Dort drüben steht ihnen ein Raum zur Verfügung, den sie von innen abschließen können. Anders als hier gibt es dort keine Videoüberwachung, sodass sie in Ruhe und unbeobachtet durchsehen können, was ihr Großvater ausdrücklich Ihnen hinterlassen hat.“ meldete sich Albert wieder zu Wort und wies auf eine Tür, die in einen kleinen Raum führte, in dem lediglich ein Tisch und zwei Stühle standen und mehrere grelle Neonlampen an der Decke angebracht waren. Der Boden war mit robustem, hellbraunem Teppich ausgelegt und in der Ecke standen noch auf einem Regal Gläser und Wasserflaschen. Catherine zog den Schlüssel vom Schließfach ab und nahm ihn an sich. „Der Raum ist außerdem schalldicht, sodass Sie ungehindert sprechen können.“ fügte Albert hinzu, während Catherine lächelnd das Kästchen aufnahm. „Ich denke nicht, dass mein Großvater derartige Geheimnisse hatte.“ meinte sie, da es nötig war, so etwas zu sagen, obwohl sie genau wusste, dass es gelogen war. „Hier steckt der Schlüssel. Wenn Sie fertig sind, schließen Sie einfach wieder ein, was Sie nicht mitnehmen möchten, und sagen Sie dem Sicherheitsbeamten Bescheid. Er wird mich dann in meinem Büro anrufen und ich hole Sie wieder ab. Haben Sie noch Fragen?“ „Nein, alles klar. Vielen Dank, Sir.“ „Mit Vergnügen, Miss.“ Albert nickte, wie noch einmal auf den Schlüssel hin und verließ dann die Kellerräumlichkeiten, nachdem er noch einmal genickt hatte. Catherine und Lea sahen ihm nach, bis er verschwunden war. „Ziemlich nervös, der gute Mann.“ murmelte Lea und ging nun ganz in den Raum hinein. Catherine folgte ihr. „Frag’ mal mich! Ich könnte auch ausrasten vor Anspannung.“ gab Catherine zurück und legte das Kästchen auf den Tisch. Die Neonlampe summte. „Dann gibt es wohl nur eine Sache, die wir tun können.“ vermutete Lea, worauf Catherine nickte, zur Tür ging und abschloss. „Nachsehen.“ flüsterte sie. Sie war aufgeregt. Sehr aufgeregt. Ihr Herz raste, ihre Finger zitterten und ihre Gedanken waren schon bei dem, was vielleicht in dem Kästchen sein könnte. Hoffnung und Enttäuschung lagen in ihrem Leben einfach zu dicht beieinander, dass sie nun nicht wirklich glauben konnte, einen Schritt weiter zu kommen. Und wenn sie nachsah, konnte sie enttäuscht werden. Aber wenn sie nicht nachsah, würde die Neugier sie umbringen. Lea beobachtete sie. Sie sah förmlich, wie die verschiedenen Gedanken über Catherines Gesicht huschten, so wie sie mit Sicherheit in ihrem Kopf kreisten. „Es hilf alles nichts.“ murmelte Catherine und steckte den Schlüssel des Schließfachs nun noch einmal in das Schloss des Kästchens. Ein Klicken ertönte und dann sprang der Deckel aus seiner Verankerung, sodass Catherine ihn anheben konnte. Langsam öffnete sie und blickte dann längere Zeit auf den Inhalt, der sich aus Papieren und kleineren Schachteln zusammensetzte. „Okay… Wir brauchen Jahre, um das alles durchzugehen.“ meinte Lea plötzlich, worauf Catherine den Kopf schüttelte. „Das geht schnell, du wirst schon sehen. Ich wette, hier ist auch vieles, das wir schon wissen.“ „Trotzdem sollten wir uns alles ansehen, damit wir wirklich nichts übersehen. Willst du das alles mitnehmen?“ „Ja, ich könnte mich nicht entscheiden, was ich hier eingeschlossen lasse, wenn ich die Unterlagen noch nicht kenne.“ meinte Catherine und legte den Stapel Unterlagen neben das Kästchen. Schnell las sie die jeweiligen ersten Zeilen durch, doch stieß noch nicht auf etwas Neues. Lea sah sich die kleinen Schachteln an, die allerdings nur private Dinge zu enthalten schienen. „Und?“ fragte sie deshalb, als Catherine den Stapel im Schnellverfahren gesichtet hatte. „Es scheint alles etwas mit übernatürlichen Dingen zu tun haben, also nehmen wir auf jeden Fall diese Unterlagen alle mit. Was hast du da?“ entgegnete Catherine und blickte Lea an. „Photos, Briefe… Schmuck. Und das hier.“ meinte sie und reichte Catherine ein kleines Buch, das ziemlich mitgenommen aussah. Der Einband war aus Leder, doch auch schon ziemlich abgerieben, und als Catherine das Buch behutsam aufschlug, zerbrach die erste Seite wie eine dünne Eisplatte über einer Pfütze. „Verdammt!“ zischte sie und bemühte sich, noch vorsichtiger zu sein. „Was ist das? Kannst du schon etwas erkennen?“ fragte Lea neugierig und lehnte sich ein Stückchen nach vorne, um besser sehen zu können. „Ich weiß es nicht…“ begann Catherine, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Arbeit und schaffte es, das nächste Blatt vorsichtig von den anderen Blättern abzutrennen, ohne dass es brach oder bröselte. „Es ist auf jeden Fall alt und nicht im besten Zustand.“ stellte Lea fest, worauf Catherine nur stumm nickte und begann, die Seite zu studieren, die sie aufgeschlagen hatte. Feine Tintenstriche waren spärlich über das Blatt verteilt, doch regelmäßig und sehr sorgfältig. „Es sieht aus wie eine Art Tagebuch oder… Ja, so etwas in der Art. Hier steht rechts oben gleich ein Datum.“ erzählte Catherine, da Lea nicht in das Buch blicken konnte. „Zeig’ mal! Kannst du es entziffern?“ Catherine hielt ihr kurz das Buch hin, dann nahm sie es wieder an sich und las das Datum. „1607, April.“ entgegnete Catherine Leas Frage und ließ das Buch sinken. „1607? Das ist ja dann genau 400 Jahre alt!“ bemerkte Lea sofort, was Catherine überhaupt nicht aufgefallen war. „Und auch noch April! Ist das unheimlich!“ fügte sie hinzu und wich etwas zurück. Catherine nickte und überfolg den Eintrag. Sie konnte bei weitem nicht alles lesen, doch sie hoffte, irgendwo einen Namen zu entdecken. Mutter… Vater… Das war nutzlos, doch am Ende des Abschnitts fand sich die schmale und kleine Signatur der Verfasserin: Mary. Kapitel 51: Ein verlockendes Fundstück -------------------------------------- Ein verlockendes Fundstück Catherine konnte das Tagebuch nicht aus der Hand legen, auch wenn sie von den Seiten kaum etwas lesen konnte. Bei genauerem Hinsehen war ihr auch klar geworden, dass es sich um eine Kinderschrift handelte, aber das spielte keine Rolle. Wie alt mochte das Mädchen gewesen sein? Vielleicht acht oder maximal vierzehn. Und mit Sicherheit war sie aus adligem Stand, denn sonst hätte sie im 17. Jahrhundert bestimmt nicht lesen und schreiben können. „Was überlegst du?“ fragte Lea plötzlich und ließ die Photos sinken, die es ihr mehr angetan hatten, als diese alten Unterlagen, die ihr so aus dem Zusammenhang eh nichts sagten. „Ich versuche, mir vorzustellen, wer diese Mary war.“ entgegnete Catherine noch halb abwesend. „Und wie weit bist du damit?“ „Ein Mädchen von ungefähr… sagen wir… acht bis zwölf Jahren und adlig, da sie schreiben konnte. Und am liebsten hätte ich es, wenn sie aus dem Hause Irvine stammen würde.“ „Hältst du das nicht für sicher? Warum hätte dein Großvater sonst gerade auf ihr Tagebuch kommen sollen?“ „Ich fürchte, das kann ich dir erst beantworten, wenn wir alle Unterlagen durchgesehen haben.“ „Und wann machen wir das? Fangen wir hier an oder nehmen wir einfach alles mit?“ „Ich halte es nicht für sehr sinnvoll, hier alles auszubreiten und dann wieder zusammen zu räumen.“ „Also nehmen wir alles mit. Ja. Das wird besser sein.“ stimmte Lea zu und stellte ihre Tasche auf den Tisch. „Sollen die privaten Sachen auch mit?“ vergewisserte sie sich, worauf Catherine nickte und Lea mit dem Einpacken begann. Das Tagebuch hatte es Catherine angetan. Eigentlich hatte sie überhaupt nicht anfangen wollen, gleich zu lesen, doch dann war sie schon von den ersten paar Worten gefesselt worden. ‚Ich sitze allein in meinem Zimmer und blicke immer wieder hinaus. In der Ferne sehe ich das Osterfeuer lodern, doch die Stimmen und Gesänge der Dorfbewohner verklingen, bevor sie mich erreichen. Vater sitzt am Kamin und starrt schweigend vor sich hin, während der Arzt immer noch bei Mutter ist. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann sie krank wurde. Es scheint mir schon immer so…’ „Was ist? Hast du etwas Wichtiges entdeckt?“ unterbrach Lea ihr Lesen, worauf Catherine beinahe gleichzeitig den Kopf schüttelte und nickte. Sie war hin- und hergerissen: mit ihren Nachforschungen hatte das bisher noch nicht allzu viel zu tun, doch trotzdem war es unglaublich interessant. „Ich kann doch mehr lesen, als ich dachte. Das könnte uns weiterbringen, wenn es wirklich ein Mädchen von Irvine geschrieben hat. Die Zeit stimmt.“ „Was steht drin?“ fragte Lea und setzte sich auf den Tisch. Mit einer Hand stützte sie sich ab, mit der anderen hielt sie ihre Tasche neben sich. „Viel habe ich noch nicht gelesen, aber es ist Ostern, die Mutter ist schon lange krank und der Vater verzweifelt.“ fasste Catherine zusammen und klappte schließlich das kleine Buch zu. Sie blickte Lea an und nickte. „Ich habe ein sehr gutes Gefühl, dass wir endlich weiter kommen.“ meinte sie lächelnd. „Du bist erleichtert, oder?“ fragte Lea und rutschte wieder vom Tisch herunter. Catherine nickte. „Ja, mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich weiß zwar, dass wir vor viel Arbeit stehen, aber wenigstens können wir etwas tun.“ „Und was tust du, wenn du das alles durchgesehen hast, herausgezogen hast, was drin ist, und du doch kein Ergebnis hast?“ Catherine stockte und schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht.“ „Und wenn es so ist?“ fragte Lea weiter. „Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist.“ antwortete Catherine und schloss das leere Metallkästchen wieder ab. Sie reichte Lea vorsichtig das Buch, damit sie es ebenfalls in ihre Tasche steckte, dann brachte sie das Kästchen in der Schließfach zurück und schloss es wieder ab. „Das wäre alles, oder? Haben wir etwas vergessen?“ fragte Lea und blickte sich um. „Nein, lass’ uns gehen.“ erwiderte Catherine und ging zum Sicherheitsbeamten, der dann Albert anrief. „Sie sind schon fertig?“ fragte der Filialleiter, der nach wenigen Augenblicken die Treppen hinuntergeeilt kam. „Ja, wir haben alles erledigt.“ entgegnete Catherine und fügte hinzu: „Mr. Albert, ich möchte das Schließfach nun noch kündigen. Können wir das sofort erledigen?“ „Aber sicher. Kommen Sie noch einmal mit in mein Büro.“ entgegnete Albert und ging voran. Catherine und Lea folgten ihm zurück in die Büroräumlichkeiten. Dann erledigte Catherine die Kündigung des Schließfaches, zahlte noch die restlich angefallenen Gebühren und gab nach ihrer letzten Unterschrift auch den Schlüssel zurück. „Nun ist also alles erledigt, nicht wahr?“ vergewisserte sich Catherine noch einmal, worauf Albert nickte. „Ja, das Schließfach gehört nun wieder der Bank.“ entgegnete er noch und nickte noch einmal. „Schön. Dann bedanke ich mich für Ihre Bemühungen.“ meinte Catherine und erhob sich. Lea erhob sich ebenfalls. „Es war mir eine Ehre, Miss du Ravin.“ Albert streckte seine Hand aus, die Catherine ergriff, und verabschiedete sich von ihr. „Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft.“ „Danke. Auf Wiedersehen.“ verabschiedete sich auch Catherine und wartete, bis Lea sich ebenfalls mit Händedruck verabschiedet hatte, ehe sie Lea vor sich aus der Tür hinaustreten ließ. In der Tür drehte sich Catherine noch einmal um und nickte ihm ein letztes Mal zu. „Danke.“ wiederholte sie und ging dann hinaus aus dem Büro. Draußen auf der Straße angekommen, rief Catherine sofort ein Taxi, das sie zurück zum Hotel brachte. Sie brachten die Sachen auf das ungerichtete Zimmer und schlossen sie vorsichtshalber im Safe ein, damit nicht irgendeine Reinigungskraft über sie stolperte. „Wir sollten am besten gleich wieder Touristen spielen, damit wir noch ein paar Photos machen können.“ meinte Catherine und zog sich bequemeres Schuhwerk an. „Bist du gar nicht neugierig? Kannst du jetzt einfach so durch Edinburghs Untergrund spazieren?“ „Neugierig… Das ist gar kein Ausdruck für das, was ich gerade empfinde.“ gab Catherine zu und kämmte sich noch einmal ihr Haar. „Trotzdem dürfen wir unsere Tarnung nicht vernachlässigen und ich nehme an, die Führung dauert nicht so lange. Wir schaffen es ja auch auf die um 13:15 Uhr und danach kommen wir gleich wieder hierher und können anfangen.“ „Überredet. Warte, ich will mir auch noch schnell wieder meine Blasen bekleben.“ meinte Lea, setzte sich auf das Bett und verarztete sich. Catherine stand bei der Tür und wartete, bis sie fertig war. Auf dem Gang sahen sie, dass die Reinigungskräfte gerade unterwegs waren, und Catherine meinte: „Gut, dann sind sie auf jeden Fall fertig, bis wir wieder kommen.“ „Das sollte man annehmen, ja. Trotzdem: Ich finde, du bist ganz schön cool, dafür dass wir gerade eine ziemliche Ausbeute gemacht haben.“ stellte Lea fest und drückte auf den Aufzugknopf. „Ich vermute, ich habe mich schon zu sehr daran gewöhnt, alles vor meiner Nase zu haben und doch nicht nachzuforschen.“ „Wegen dem, was in der letzten Zeit geschehen ist?“ fragte Lea, da sie ihr nicht ganz folgen konnte. Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, aber als ich noch bei der Bruderschaft war, war das auch meistens so: mein Vater und meine Mutter kümmerten sich um die Recherche, mein Bruder wurde allmählich auch darin integriert, aber von mir erwartete man das nicht so. Es war selten, wenn ich stundenlang über Büchern saß. Das hat sich so wirklich erst vor einigen Wochen geändert und auch nur deshalb, weil ich eben nun ohne meine Familie nach etwas suche.“ erklärte sie und trat nach unten aus dem Aufzug und durch die Halle. „Und du wolltest nie richtig in den Büchern suchen und Dinge herausfinden?“ fragte Lea unverständig und fügte hinzu: „Ich liebe Bücher, musst du wissen.“ Catherine nickte. „Das dachte ich mir… Nein… Das heißt, ja. Am Anfang wollte ich schon mehr erfahren in den Büchern und habe viel gelesen, aber als mir dann klar wurde, dass das ganze mit der Bruderschaft und den Dämonen, Hexen und Geistern eben nicht nur eine schöne Abwechslung vom Alltag ist, wollte ich nur noch das Nötigste mit solchen Dingen zu tun haben. Als ich ein Teenager war, wollte ich so normal wie möglich sein und habe nur noch das Nötigste gemacht. Ich habe mich auf die Schule konzentriert und habe versucht, möglichst oft mit Freunden etwas zu machen.“ „Du hast dir also innerhalb deiner Bestimmung ein normales Leben aufgebaut?“ „Ja, so könnte man das sagen. Und das Nötigste war eben die Ausführung von Aufträgen. Das habe ich gemacht.“ schloss Catherine nachdenklich. Und dann hatte langsam begonnen, dass sie nicht einmal mehr die Aufträge richtig ausgeführt hatte. Irgendetwas hatte sich tief in ihr verändert und es war, als sei sie aufgewacht. Sie hatte aufgehört, Befehle zu befolgen, obwohl man sie dazu erzogen hatte. Sie hatte sich ihre eigenen Gedanken gemacht. Und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde es: ab diesem Zeitpunkt hatte es für sie kein Zurück mehr gegeben, ob nun Daniele zur Villa gekommen war oder nicht. Kapitel 52: Samstagnachmittag in Edinburgh ------------------------------------------ Samstagnachmittag in Edinburgh Obwohl die Tour durch die unterirdischen Gänge unter Edinburgh atemberaubend und interessant war, dachte Catherine nur an eines: das Tagebuch. Lea schien es ähnlich zu gehen, denn nach der Tour kürzten sie ihren Einkaufsbummel extrem ab, sodass Lea lediglich einige Photos in der Fußgängerzone aufnahm, schnell durch einen Buchladen eilte und drei Bücher, von denen sie schon viel gehört hatte, kaufte, während Catherine sich damit begnügte, ein Paar Schuhe zu kaufen. Lea zog zwar die Augenbrauen hoch, doch als Catherine erklärt hatte, dass sie für alles andere länger brauchte als für ein Paar Schuhe, gab sie sich einverstanden. Tatsächlich fand Catherine gleich, was sie sich vorgestellt hatte: ein Paar schwarze Lederstiefel mit hohen Pfennigabsätzen. „So ähnliche hast du doch die ganze Zeit an.“ „Eben. Die Absätze gehen langsam kaputt und außerdem ist das Leder teilweise abgeschabt.“ „Was machst du nur mit deinen Schuhen?“ „Die hatte ich nicht erst seit diesem Winter. Ich glaube, die hatte ich schon drei Jahre.“ meinte Catherine und zog sich ihre Schuhe wieder an, ehe sie zahlte. „Außerdem hatte ich die alten auch öfter bei Konfrontationen mit irgendwelchen… Wesen... an, was ihnen auch nicht gerade gut getan hat.“ „In Schuhen, mit denen andere nicht einmal gehen können, rennst und kämpfst du? Ist das auch das Blut aus Paris in dir?“ fragte Lea kopfschüttelnd, worauf Catherine lachen musste. „Nein! Das ließ sich nur nicht vermeiden. Ich wurde angegriffen.“ entgegnete sie und sie riefen sich ein Taxi, mit dem sie zurück zum Hotel fuhren. Seit Stunden saßen Catherine und Lea mit dem Inhalt des Schließfaches auf dem gemachten Doppelbett im Hotelzimmer und sortierten die Unterlagen. Einige waren tatsächlich für ihre Sache völlig irrelevant, andere schienen etwas damit zu tun zu haben, wieder andere schienen wichtig dafür zu sein. „Konnte dein Großvater nicht irgendwo zusammenfassen, was er herausgefunden hat?“ beklagte sich Lea und ging immer wieder die geschmierten Notizen durch, ohne irgendwo auf einen roten Faden zu stoßen. „Ich denke, er hatte nicht mehr allzu viel Zeit.“ entgegnete Catherine nüchtern, worauf Lea aufsah und sie musterte. „Du weißt mehr, als du mir bisher gesagt hast, nicht wahr?“ Catherine blickte auf und begegnete Leas fragendem Gesichtsausdruck. Sie seufzte, dann meinte sie: „Ich habe doch vor einigen Tagen einen Brief erhalten.“ „Was für einen Brief?“ „Der Brief, von dem ich dir erzählt habe. Der Brief, der uns hierher geführt hat.“ „Ja, klar! Was ist mit diesem Brief?“ fragte Lea und wartete ab. Catherine zögerte, dann meinte sie: „Er hatte den Verdacht, dass er vergiftet wurde. Von irgendjemandem auf Thirlestane Castle. Es ist nur ein Verdacht und er… es kann auch sein, dass er einfach krank war, aber…“ „Du willst mir doch nicht erzählen, dass du das glaubst!“ unterbrach Lea sie, doch Catherine nickte. „Ich habe dir gesagt, dass ich dir in deine Entscheidung, was deine Familie angeht, nicht hineinreden möchte. Und ich kann nicht beweisen, dass er die Wahrheit geschrieben hatte und der Verdacht richtig war. Deshalb habe ich nichts gesagt. Ich glaube es, Lea, aber du… musst selbst wissen, was du glaubst und für möglich hältst.“ fuhr Catherine fort. „So meinte ich das nicht. Ich wollte wissen, ob du es tatsächlich für möglich hältst, dass dein Großvater nur krank war. Ich… Oh, mein Gott, ich traue es ihr zu!“ meinte Lea und griff sich an ihre Stirn. „Wem?“ „Meiner Großmutter. Elizabeth.“ flüsterte Lea und hob wieder den Blick. „Es tut mir leid, was mit deinem Großvater passiert ist. Meine Großmutter hat ihn umgebracht. Da bin ich mir sicher.“ „Und was macht dich so sicher?“ „Ich hatte immer wieder Visionen, Cate. Das ist nichts Besonderes. Ich sehe immer wieder irgendetwas, und das wenigste hat eine größere Bedeutung. Ich habe den Geheimgang gesehen, in Ordnung, aber ansonsten sind meine Visionen eher uninteressant. Bis auf diese eine, die ich vor Jahren einmal hatte.“ „Was hast du gesehen?“ fragte Catherine und lehnte sich ein Stück vor. So wie es aussah, hatte nicht nur Catherine Geheimnisse, sondern auch Lea mehr als man annehmen mochte. „Ein alter Mann lag in einem Bett und schlief. Meine Großmutter stand daneben, stellte ein Tablett auf den Nachttisch neben dem Bett und hielt schließlich inne.“ „Und dann? Hattest du nicht gesagt, du könntest dich in deinen Visionen relativ frei bewegen? Bist du im Raum herumgelaufen?“ Lea hob die Hand und schüttelte den Kopf. „Dass ich mich frei bewegen konnte, kam erst mit steigendem Alter. Das ist erst seit ungefähr drei Jahren der Fall. Ich war jünger, als ich diese Vision hatte, aber ich konnte mir nie einen Reim darauf machen.“ „Und jetzt kannst du es?“ „Nach dem, was du gerade erzählt hast, ist es völlig klar. Meine Großmutter hielt also, wie gesagt, inne und dann drehte sie sich herum und ich konnte sehen, wie sie ein kleines Fläschchen zurück in ihre Tasche steckte. Ich vermute, dass darin das Gift war.“ „Ja, das könnte sein.“ stimmte Catherine zaghaft zu. „Das ist wahrscheinlich so. Es gibt kaum einen Zweifel, findest du nicht?“ fragte Lea. Sie war niedergeschlagen. Auch wenn sie es ihrer Großmutter zutraute, was musste es von ihr abverlangen, darüber auch noch mit Catherine zu sprechen? Wie sah es in ihrem Inneren nur aus, wo Vernunft und Wunschdenken gegeneinander kämpften und an ihrer Seele rissen und an ihren Nerven zerrten. Catherine atmete langsam durch und meinte: „Du hast damit nichts zu tun, Lea. Unsere Familien können wir uns nicht aussuchen. Lass’ uns weiterarbeiten. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns darüber den Kopf zerbrechen.“ Lea blickte auf und nickte langsam. „Kannst du das so einfach übergehen? Wie kannst du Elizabeth unter die Augen treten, ohne dass sie bemerkt, dass du es weißt? Kannst du dich so gut verstellen?“ Catherine schwieg eine Weile, dann nickte sie. „Es ist geschehen und es ist nicht mehr zu ändern. Das klingt hart, aber es ist die Wahrheit. Ich habe mir geschworen, mir nichts anmerken zu lassen und dann…“ „Ja, das ist schön und gut, aber du kannst doch wohl nicht mit der Mörderin deines Großvaters weiter unter einem Dach wohnen wollen.“ ging Lea dazwischen und Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, das will ich nicht. Ich werde aber so lange bleiben, bis ich alles weiß, was Thirlestane Castle und seine Bewohner mir sagen können. Solange bleibe ich und danach werde ich gehen.“ „Und wohin gehst du? Was machst du dann?“ fragte Lea weiter. „Lea, ich habe keine Ahnung. Vielleicht zurück nach Paris. Vielleicht verschlägt es mich aber auch woanders hin. Vielleicht bekomme ich einen neuen Hinweis und ich muss diesem nachgehen. Ich weiß nur eines und das ist mir plötzlich so klar wie nichts anderes: Ich muss das hier zu Ende bringen, da ich sonst auf keinen Fall etwas Neues beginnen kann.“ Catherines Augen füllten sich beinahe mit Tränen und sie verfluchte sich dafür. Warum war sie in letzter Zeit so entsetzliche nahe am Wasser gebaut? Sie sah, dass Lea nickte und schluckte die Tränen hinunter. Tränen führten zu nichts. Tränen halfen ihr nicht. „Okay, dann machen wir am besten weiter.“ schlug Lea vor, worauf Catherine nickte. „Ja, was hast du da drüben für einen Stapel?“ „Dienstpläne von der Bruderschaft. Namen von Mitgliedern und die durchgeführten Aufträge.“ gab Lea Auskunft. Catherine zog die Augenbrauen hoch. „Das hört sich nicht wirklich wichtig an, oder?“ „Nein, ganz und gar nicht, oder… Warte mal, gib’ mir die bitte einmal herüber!“ meinte Catherine und studierte wenig später die Seiten, doch schließlich legte sie die Seiten wieder beiseite und schüttelte den Kopf. „Das ist wirklich nichts. Ich dachte, es wären vielleicht Auflistungen von irgendwelchen Regelverstößen dabei.“ „Und das wäre wichtig gewesen?“ fragte Lea ungläubig. „Nicht für den Fall, aber es hätte mir zeigen können, dass es immer Widerspruch gegen die Bruderschaft gab und nicht ich die einzige Ungehorsame und Eid-Brecherin bin.“ meinte Catherine halb im Ernst, halb im Scherz. Lea gab nur ein amüsiertes Geräusch von sich und zog die nächste Akte hervor. „Das hört sich interessanter an.“ meinte sie nach einigen Augenblicken. „Aber das scheint dein Großvater selbst geschrieben zu haben.“ fügte sie hinzu. „Was denn?“ fragte Catherine und Lea las vor: „Also, hier steht: ‚Zusammenfassung, Kardinal Giacomo Sarola, Juli 1620: Einer wird kommen, der zu Ende bringt, was auserwählter Seele diesen Tags nicht gelingt. Wut und Verzweiflung in des Todes Angesicht – das Blut der Flamme den herrschenden Bann endlich bricht. Wer nach Antworten suchet, der möge beginnen, wo Land und Meer sich gänzlich verschlingen. Dort werden sie hören, wenn sie es wagen, was ihnen die Runen des Kreuzheeres sagen…. Sagt dir das etwas?“ Catherine nickte. „Ja, diesem Ruf sind Lestat und ich gefolgt. Wir haben die Runen abgeschrieben, doch niemand scheint sie übersetzen zu können. Diese Antwort bleibt uns also noch verwehrt. Es ist zum Verrücktwerden! Wir treten einfach nur auf der Stelle.“ entgegnete Catherine, doch Lea schüttelte den Kopf. „Das war noch nicht alles.“ meinte sie, was Catherine hellhörig werden ließ. Kapitel 53: Sanguis Ignis ------------------------- Sanguis Ignis „Diese Zusammenfassung aus dem 17. Jahrhundert ist die Zusammenfassung eines Textes, der ursprünglich in gälischer Sprache verfasst war. Für die Herkunft dieses Urtextes, gilt Irvine in Schottland als gesichert, da die wenigen Fragmente, die uns erhalten sind, eine lokale, eng begrenzte Dialektform des Gälischen aufweisen, die nur in Irvine und der Umgebung bezeugt ist. Dann gibt es noch Fragmente, die eine frühere lateinische Fassung des Textes wiedergeben.“ las Lea weiter vor. Catherine versuchte irgendetwas daraus herauszuziehen, doch schließlich hob sie die Hand. Lea verstummte. „Wir haben also den Urtext, dann die Zusammenfassung, die uns zu den Runen geführt hat, aber die Runen haben wir nicht. Wir brauchen die Runen. Steht da irgendetwas über die Runen des Kreuzheeres? Crossbost. Oder etwas Ähnliches?“ fragte Catherine und stützte sich auf ihren Ellbogen ab. Lea überflog die Skizzen weiter, schließlich meinte sie: „Nein. Hier steht nichts über irgendwelche Runen, zumindest nicht darüber, dass er sie gefunden hätte.“ Catherine nickte und entgegnete: „Was steht da noch?“ Lea nahm das Blatt wieder auf und meinte: „Dein Großvater hat mit diesen Fragmenten gearbeitet und verschiedene Übersetzungen bearbeitet… Uninteressant, aber das Ergebnis klingt seltsam. Hör’ zu! Auf einigen Fragmenten steht: sanguis ignis…“ „Das Blut der Flamme.“ warf Catherine ein, worauf Lea nickte. „Ja, so weit kann ich Latein auch noch.“ entgegnete Lea. „Und weiter?“ Lea seufzte. „Hm, dein Großvater hat eine andere Möglichkeit in Betracht gezogen.“ „Welche denn?“ „Nimm’ doch wie dein Großvater an, dass die Worte der Zusammenfassung aus dem 17. Jahrhundert auch schon auf einem Übersetzungsfehler des Gälischen basieren…“ „Wie kommst du jetzt auf das Gälische? Hast du das etwa?“ fragte Catherine. „Dein Großvater hat mit den gälischen Fragmenten gearbeitet und offenbar noch eindeutigere gefunden und seine Deutung ist… interessant.“ Lea machte eine Pause und Catherine forderte sie auf, weiter zu sprechen. Lea schüttelte den Kopf und reichte Catherine das Blatt. Sie überflog, was Lea bereits erzählt hatte und erreichte dann den Punkt, an dem sie gestoppt hatte. „Sanguis ignis… wurde verglichen mit den gälischen Worten… fuil is…“ Catherine stockte nun ebenfalls. Sie schluckte und sah noch einmal nach, doch es stimmte. „…lasair.“ flüsterte Catherine. Lea blickte sie an und Catherine las weiter. „Was steht da noch?“ fragte Lea nach einer Weile. „Eine Herleitung seiner Deutung. fuil is lasair… Er übersetzt also nur fuil, was Blut bedeutet und is ist der Genitivartikel zu lasair. Lasair deutet er als Eigenname.“ „Womit er Recht hat, da Lasair auch im 17. Jahrhundert ein Frauenname war.“ warf Lea ein. „Und dann schreibt er noch, dass – wer immer Lasair ist – sie geschützt werden muss und dann… wem er darüber berichtet hat, dass er es als ‚Blut der Lasair’ deutet. Blut der Lasair. Also mein Blut?“ Lea nickte und meinte: „Es wäre möglich, nach allem, was dir schon passiert ist.“ „Er hat dem Rat berichtet und … Salieri, aber so wie es aussieht, hatte er keine Ahnung, dass ich Lasair bin.“ „Logisch. Wie sollte er wissen, dass du jemals einen anderen Namen außer Catherine Valérie führen würdest?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Nachdem er herausgefunden hat, dass unsere Familie nicht seit dem 16. Jahrhundert, sondern erst seit dem 17. Jahrhundert in Frankreich beheimatet ist, und nach allem, was die Bruderschaft getan hat, hätte er vorsichtiger sein müssen. Das ist meine Meinung.“ widersprach Catherine indirekt, worauf Lea zaghaft nickte. „Und dann hatte er ja noch das Tagebuch.“ „Wenn er daraus nicht mehr gezogen hat, dann wird es wohl nichts Relevantes enthalten.“ „Dann hätte er es nicht aufbewahrt.“ entgegnete Catherine sicher. „Vielleicht hat er es auch nur aufbewahrt, weil es ein Vorfahre von euch geschrieben hat.“ „Meinst du?“ „Es wäre möglich.“ entgegnete Lea. Catherine nickte. „Das können wir erst sagen, wenn wir es lesen… Aber das mit meinem Blut beunruhigt mich jetzt mehr. Was soll mein Blut bewirken? Gib’ mir bitte noch einmal die Zusammenfassung.“ Lea reichte ihr das Blatt nicht, sondern meinte: „Einer wird kommen, der zu Ende bringt, was auserwählter Seele diesen Tags nicht gelingt. Wut und Verzweiflung in des Todes Angesicht – das Blut der Lasair den herrschenden Bann endlich bricht. Wer nach Antworten suchet, der möge beginnen, wo Land und Meer sich gänzlich verschlingen. Dort werden sie hören, wenn sie es wagen, was ihnen die Runen des Kreuzheeres sagen.“ Sie machte eine Pause und überlegte. „Viel Sinn macht das noch nicht, oder?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Nein. Es hört sich an wie eine Prophezeiung, aber einen Reim kann ich mir auch noch nicht darauf machen.“ stimmte Catherine zu. Lestat fühlte ihre Finger auf seiner Haut und dieses heiße Gefühl breitete sich erneut in ihm aus. Flammen, die seinen Körper verzehrten, wie sich sein Inneres nach ihr verzehrte. Er wollte sie. Blut benetzte ihre Lippen – sein Blut. „Catherine.“ Ihre bebenden Lippen legten sich auf seine und er schmeckte sein eigenes Blut kalt gegen seine Zunge. Plötzlich hörte ein leises Lachen, das nicht von ihr kam, sondern von diesem jungenhaften Mann mit dem rotblonden Haar, der hinter Catherine aufgetaucht war. Seine Zähne blitzen kurz auf, dann streckte er die Hand nach ihr aus. Lestat ergriff sie fester und zog sie zu sich, doch sie schüttelte den Kopf. „Lass’ das!“ meinte sie mit ungewohnt harter Stimme und wich einen Schritt zurück. Lestat wollte sich bewegen, er wollte sie zurück, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Er konnte sich nicht bewegen und Catherine näherte sich Armands Umarmung. „Mistkerl!“ zischte Lestat, worauf Armand nur noch einmal den Blick wandte und den Kopf schüttelte. „Du bist nicht gut für sie.“ flüsterte er, was Catherine nicht zu hören schien. Lestat schüttelte vehement den Kopf. „Tu’ ihr nichts! Armand!“ Doch Armand wandte sich nur um und ging hinter Catherine her. Langsam umfing er sie mit seiner Umarmung und die Umgebung um sie änderte sich. Sie spazierten in irgendeiner nächtlichen Stadt – nebeneinander und im Gespräch. Und Catherine war so blass und schön mit ihrem wallenden, seidigen Haar. Lestat erhob sich langsam, zog die dichten Vorhänge auf und starrte in das letzte Rot des Sonnenuntergangs über das Meer. Armand… nahm ihm Catherine! Er sprach mit ihr – Armand wollte mehr. Er wollte ebenfalls mehr. Es verlangte ihn nach ihrem Blut, doch vielleicht lag das auch nur daran, dass er seit seiner Ankunft in Venedig nicht getrunken hatte, und er es vermisste. Seine Hände fuhren durch sein Haar und pressten für einen kurzen Moment gegen seine Schläfen. Die Träume von Catherine häuften sich beängstigend. „Das ist dein schlechtes Gewissen.“ meinte eine Stimme hinter ihm. „Marius. Es ist Armand. Armand wird sie zu einer von uns machen und deshalb wird sie auch mein Blut trinken.“ „Das ist Unsinn, Lestat. Armand gab unsere Gabe niemals leichtfertig weiter und in letzter Zeit überhaupt nicht mehr. Daniel – ja, aber der wurde als Sterblicher beinahe wahnsinnig, da er von unserer Existenz wusste.“ „Ich weiß, was ich sehe, Marius.“ beharrte Lestat. „Und ich glaube nicht, was du träumst.“ gab Marius zurück und setzte sich auf das Bett, in dem Lestat geruht hatte. Lestat schüttelte den Kopf. „Ich will sie nicht an ihn verlieren.“ „Du hattest schon immer ein Problem damit, wenn jemand dir nicht …“ „Hör’ auf!“ rief Lestat und drehte sich entschlossen um, nur um Marius distanziertem Blick zu begegnen. „Das ist das einzige, das Sinn ergibt.“ murmelte Lestat leise und wollte es so gerne glauben, doch sich selbst konnte er nicht täuschen. Catherine hatte schon von ihm getrunken. Und das machte ihm nun Sorgen, auch wenn es ihm damals – in dieser Nacht – egal gewesen war. Es war nicht normal. Catherine und Lea saßen weiter auf dem Bett. Catherine dachte darüber nach und hielt das Tagebuch in der Hand, in dem sie aber nicht las, während Lea weiter die Sachen durchforstete. „Sieh’ mal!“ meinte Lea plötzlich und zog ein Blatt heraus, auf dem etwas in Handschrift stand. „Was steht da?“ „Es sieht aus wie ein Spruch… magische Worte. Hat sich dein Großvater in Magie versucht?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Kannst du sie gefahrlos vorlesen oder passiert dann etwas?“ Lea schüttelte ungeduldig den Kopf und meinte: „Obwohl wir Hexen sind, messen wir Worten relativ wenig Bedeutung zu. Sie gehören zum Ritual und geben eine bestimmte Atmosphäre, aber…“ Catherine nickte und Lea unterbrach ihre Ausführungen und begann zu lesen: „In deinen unschuldigen Augen funkelt die Glut des Unheils. Dein Leib und deine Seele gehören schon längst nicht mehr dir. Heillos ist die Botschaft vom Tag deiner Geburt, dem verfluchten, an dem es Besitz von dir ergriff.“ Kapitel 54: Ermüdendes Unterfangen ---------------------------------- Ermüdendes Unterfangen Catherine blickte Lea einen Augenblick entsetzt an, dann meinte sie: „Diese Worte kenne ich! Ich kenne sie!“ „Woher?“ fragte Lea und Catherine schüttelte den Kopf. „Es scheint alles so weit weg zu sein. Ich weiß es nicht genau, aber es war noch in Paris und bei diesem Angriff auf Salieri und mich. Eines von diesen Wesen muss sie gesagt haben.“ „Wieso erinnerst du dich eigentlich nicht mehr deutlich an diesen Angriff? Hast du es aus Schock verdrängt?“ Catherine zuckte die Schultern. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du etwas aus Schock verdrängst, bei allem, was du wegen der Bruderschaft schon erlebt hast… Ist das logisch?“ Catherine antwortete nicht, sondern dachte nach. Sie hatte danach gefragt, wer diese Typen gewesen waren und Salieri hatte gemeint, es seien Wesen, die mehr wüssten. Wesen, die zweifellos mehr wusste, was sie betraf. Wieso hatte sie sich nie größere Gedanken darum gemacht, wenn… es so wichtig war und selbst ihr Großvater diesen Spruch gefunden hatte? Wer waren damals ihre Gegner gewesen? Geister-Wesen? Menschen offenbar nicht, da es keine Wirkung gezeigt hatte, wenn sie einen mit ihrem Degen getroffen hatte. Catherine sah auf und blickte in Leas Gesicht. „Was ist? Du siehst so seltsam aus.“ meinte sie, die Catherine die gesamte Zeit beobachtet hatte. „Ich erinnere mich langsam wieder deutlicher an vieles, was ich ignoriert hatte. Ich konnte diese Wesen nicht verletzen. Und daher kenne ich mit Sicherheit auch diese Worte. In deinen unschuldigen Augen funkelt die Glut des Unheils. Dein Leib und deine Seele gehören schon längst nicht mehr dir. Heillos ist die Botschaft vom Tag deiner Geburt, dem verfluchten, an dem es Besitz von dir ergriff. Kannst du diese Worte in irgendeinen Zusammenhang bringen?“ Lea schüttelte den Kopf. „Auf Thirlestane Castle gibt es einige Bücher, in denen dieser Spruch stehen könnte, doch er scheint mir nicht allgemein gültig zu sein, sondern nur auf dich zu passen.“ meinte sie schließlich. „Die Glut des Unheils… Glut und Feuer liegen nicht allzu weit auseinander und offenbar hat etwas von dir Besitz ergriffen.“ fuhr sie fort. Catherine kniff die Augen zusammen und dachte weiter nach. Plötzlich meinte sie: „Ich muss mich an alles genau erinnern, was ich getan oder gesehen oder gehört habe, Lea. Ich habe eine Zeit lang eine Stimme gehört, die mit mir gesprochen hat.“ „Wie bitte?“ fragte Lea entsetzt und starrte Catherine an. „Was hast du?“ „Stimmen zu hören ist bei uns etwas sehr Schlechtes. Es gilt bei uns als Zeichen dafür, dass man selbst nicht mehr handeln kann, sondern die Stimme und die Macht allmählich die Kontrolle über uns übernimmt. Spricht sie noch zu dir?“ erklärte sie und Catherine schüttelte den Kopf. „Wie bist du sie losgeworden?“ „Ich weiß es nicht…. Ich habe sie ignoriert und dann ist sie irgendwann verstummt.“ „Und was hat sie gesagt?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Lass’ mich überlegen. Es war so viel und…“ Catherine brach ab und richtete sich ein wenig auf. „Zuerst riet sie mir, ich sollte vorsichtiger mit meinen Hexenkräften umgehen.“ begann Catherine wieder. Lea nickte. „Und dann hielt sie mir vor, dass ich mir den einfachsten Weg suche und so weiter… Wir haben uns immer so ein bisschen gestritten. Zumindest war ich genervt von ihr.“ erzählte Catherine weiter. „Das hört sich alles nicht so besonders wichtig für unsere ganze Sache an. Vielleicht hast du es deshalb auch nicht als wichtig erachtet. Ist dir so etwas schon einmal passiert?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, zumindest nicht in der Art…“ „Was soll das heißen?“ fragte Lea und Catherine seufzte auf. „Ich hatte schon immer ab und zu das Gefühl, dass ich höre, was Menschen um mich herum denken. Einige Male ist es geschehen, dass ich auf ungestellte Fragen meines Bruders oder meines Vaters geantwortet habe, was die beiden dann ziemlich verwirrt hat. Daran erinnere ich mich.“ erklärte Catherine und erinnerte sich, dass sie sich am Anfang einen Spaß daraus gemacht hatte, bis ihr Vater sie einmal zu sich geholt hatte und ihr erklärt hatte, dass es gefährlich sei, solche Gaben recht öffentlich auszuleben. „Sie wussten, dass mit mir etwas nicht stimmt.“ flüsterte Catherine. „Wie kommst du darauf?“ fragte Lea und Catherine erzählte von diesem einen Gespräch mit ihrem Vater, nach dem sie nie wieder absichtlich Gedanken gelesen hatte. „… Und hätte sich mein Vater mit meinem Großvater über dessen Ergebnisse unterhalten, hätten sie vielleicht beide gewusst, dass mit mir nicht nur irgendetwas nicht stimmt, sondern ich diese ‚Lasair’ bin! Und dann hätte er wohl auch nicht dem Rat davon berichtet und ich hätte nicht in Unwissenheit fliehen müssen.“ endete Catherine wütend. Lea nickte zaghaft. „Findest du nicht, dass das zu einfach ist?“ „Doch, aber ich musste meinem Ärger Luft machen. Mir ist klar, dass es nicht ganz so gewesen sein kann und das nicht die Lösung dafür gewesen wäre.“ gab Catherine zu und beruhigte sich wieder. Nach einem Moment des Schweigens fuhr sie fort: „Salieri war damals im Rat und war mein Mentor, Lea. Ich habe ihm viel anvertraut – vielleicht sogar so viel, dass er es wusste.“ „Dass du Lasair bist?“ „Vielleicht das, oder eben, dass ich Fähigkeiten habe, die ich nicht haben sollte. Ich bin mir sicher, er hat mich nicht grundlos nach Schottland geschickt. Ich nehme an, er wusste irgendetwas und er hat damit etwas Bestimmtes bezweckt.“ „Er könnte sich mit Elizabeth und Elatha verbündet haben.“ Catherine nickte und bemerkte, dass Lea aufgehört hatte, die beiden mit ‚Großmutter’ und ‚Mutter’ zu benennen. „Er ist in ihre Pläne eingeweiht und hat dich also hierher geschickt, um sie verwirklichen zu lassen.“ Catherine nickte. „Möglich, doch was sind seine Pläne? Und vor allem: welche Pläne hat die Bruderschaft, wenn er unabhängig von ihr handelt?“ „Könnte es nicht sein, dass die Bruderschaft hinter Salieri steht?“ fragte Lea, worauf Catherine den Kopf schüttelte. „Dann müsste die Bruderschaft die ‚Hilfe’ von Hexen angenommen haben und das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Darauf würde sie sich niemals einlassen - nicht unter Danieles Leitung.“ „Gut. Hier kommen wir also nicht weiter. Was hat die Stimme noch gesagt?“ fragte Lea und Catherine dachte wieder angestrengt nach. Schließlich meinte sie: „Ich hoffe, dass ich es noch wörtlich weiß…“ „Bei deinem guten Gedächtnis habe ich da keine Bedenken.“ warf Lea ein. „Hm. Es war ungefähr so: ‚Du, die du dies hörst, bist noch am Leben, aber ich bin schon im Reich der Unsichtbaren. Ein Bleigewicht lastet auf mir, ein Gefühl wie das Ersticken in Macht. Nichts hält es zurück, bis die Aufgabe vollbracht.’ Sagt dir das etwas?“ Lea reichte Catherine einen Zettel und etwas zu schreiben und meinte dann: „Schreib’ alles auf, was dir wieder einfällt. Jeder Spruch, jede Wortverbindung. Dann können wir in Thirlestane Castle weiter danach suchen.“ Catherine nickte und schrieb die Worte schnell nieder. „Deine Gesprächspartnerin ist also schon tot – und nimmt Kontakt zu dir auf, weil sie will, dass du etwas vollendest. Sie selbst konnte es vielleicht nicht vollenden, als sie noch lebte. Und sie findet keine Erlösung, bis es getan ist.“ fasste Lea zusammen, worauf Catherine nickte. „Ja, aber sie nie eine Aufgabe genannt. Ich weiß es nicht. Elizabeth meinte, es sei eine Hexe, aber mehr konnte sie auch nicht sagen.“ „Und sie hat natürlich auch nichts Näheres dazu gefunden oder gesagt… Sie wusste trotzdem mehr, denke ich.“ „Ja, sie hat so viel Rätselhaftes gesagt und wahrscheinlich auch mehr preisgegeben, aber ich… damals habe ich ihr noch vertraut und nicht sonderlich viel darauf geachtet.“ gab Catherine zu und fuhr fort: „Und das letzte, was die Stimme noch zu mir gesagt hat, war der Beginn einer Prophezeiung von Nostradamus…“ „Woher weißt du das?“ fragte Lea, die schon damit gerechnet hatte, wieder etwas Unsicheres zu hören zu bekommen. Catherine schüttelte den Kopf, dass das unwichtig war. Wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht, woher sie es wusste, aber sie hatte es irgendwo wahrscheinlich schon einmal gehört. „Le lion jeune le vieux surmontera en champ bellique par singulier…“ meinte Catherine und blickte darauf in Leas fragendes Gesicht. „Bis dahin hat es dir Stimme gesagt, aber diese Zeilen gehen weiter. „…par singulier duelle. Dans cage d’or les yeux crevera, deux classes une puis mourir mort cruelle.“ „Aha. Und was heißt das? Und wie deutest du es?“ „Der junge Löwe wird den alten überwinden, auf kriegerischem Feld im Einzelkampf. Im goldenen Käfig wird er ihm die Augen ausstechen, von zwei Brüchen wird ihn einer einen grausamen Tod sterben lassen.“ übersetzte Catherine etwas freier. „Und was hat Nostradamus mit dir zu tun? Moment, von der Bruderschaft hieß es, deine Familie gäbe es seit dieser Schwester von Ludwig II. Das war dann so ungefähr 1500 bis 1515, oder?“ Catherine nickte. „Und wir haben herausgefunden, dass deine Familie erst 1619 das erste Mal in Frankreich auftaucht… oder?“ Catherine nickte wieder. „Und wo ist Nostradamus zeitlich zu setzen?“ „Von 1503 bis 1566.“ entgegnete Catherine und Lea schüttelte den Kopf. „Doch.“ „Ja, schon, aber es gibt keinen Sinn. Ich werde noch wahnsinnig.“ meinte Lea zerknirscht. Catherine schrieb die französischen Zeilen ebenfalls auf und holte sich dann ein frisches, leeres Blatt. „Was hast du vor?“ „Ich werde jetzt alles aufschreiben, was wir wissen und dann versuchen unsere Ergebnisse zu ordnen.“ „Das dauert ewig.“ „Ja, mein Großvater hat mit Sicherheit auch nicht nur einige Stunden mit seinen Nachforschungen verbracht.“ Lea stöhnte auf. Es interessierte sie, keine Frage, doch sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. „Es ist schon drei Uhr morgens. Schlaf’ ruhig. Ich kann jetzt sowieso nicht schlafen.“ meinte Catherine noch, worauf Lea nickte und sich umzog, während Catherine einen Teil des Bettes für sie frei räumte. Kapitel 55: Aufschlussreiche Lektüre ------------------------------------ Aufschlussreiche Lektüre Catherine schrieb die gesamte restliche Nacht Informationen und Fakten auf, sah die Unterlagen ihres Großvaters durch und fand so heraus, was sie beide unabhängig voneinander herausgefunden hatte, wo er ihr einen Schritt voraus war und was er nicht gewusst hatte. Sie ging die Sache langsam an, da auch sie langsam müde würde und nichts übersehen wollte. Auch ihr Großvater war darauf gekommen, dass die Wurzeln ihrer Familie in Schottland lagen, doch auch er hatte nur den Titel, nicht den Namen, herausgefunden und er kannte ebenfalls die Gründe für die Reise nach Frankreich nicht, vermutete aber, dass ein Unglück geschehen war. Natürlich, um darauf zu kommen, musste man nicht sonderlich intelligent sein, wenn eine Adelsfamilie ihr Gebiet verließ, um in einem fremden Land neu Fuß zu fassen. Sie seufzte und las weiter. Schließlich stieß sie auf die französischen Zeilen von Nostradamus, über die ihr Großvater ebenfalls einige Notizen gemacht hatte. Erst listete er einige Literaturstellen auf, dann die allgemeine Deutung der Worte: Die Interpreten meinten, dass Nostradamus mit diesen Worten seinen Ruf als Wahrsager begründet hatte, da er den Tod des Königs Heinrich II vorausgesagt habe… Diesem sei bei einem Zweikampf 1559 durch einen Lanzenstich, der vorher das vergoldete Visier des Königs zerbrochen hatte, das rechte Auge ausgestochen worden, woran er wenige Tage später qualvoll gestorben sei… Andere allerdings führen die ‚gewaltsamen Brüche’ nicht auf physische Gebiete zurück, sondern deuteten sie so, dass das Königshaus de Valois, aus dem auch Heinrich II stammte, zwei gewaltsame Brüche erleben würde, ehe es endgültig unterging und eine neue Dynastie in Frankreich herrschte. Catherine drehte sich auf die andere Seite und ließ das Blatt sinken. War das irgendwie relevant? Mit hochgezogenen Augenbrauen las sie weiter und stieß auf eine Notiz, dass ihr Großvater es als gesichert ansah, dass diese Weissagung erst 1614 das erste Mal abgedruckt worden war, weshalb er es als fraglich ansah, dass die Weissagung vor Heinrichs Tod bekannt war… Somit war es auch keine Weissagung, sondern irgendetwas anderes und zum Großteil belanglos. Catherine musste sich einen Wutausbruch verkneifen – wozu hatte sie sich gerade mit dieser Diskussion beschäftigt, wenn es nun nicht von Belang war? Ihr zorniger Blick fiel auf den Rand der Aufzeichnungen und verengte sich. Dort stand ‚Catherine d.M, Bewunderin von Nostradamus’ Jacques, Clarisse…’, doch sonst nichts und viel weiter unten fand sich noch eine Notiz darüber, warum Catherine von Jacques und Clarisse wohl Catherine getauft worden war. War das nicht auch unwichtig? Catherine d.M. deutete Catherine als Catherine de’ Medici, die Frau von Heinrich II, aber das war wohl nicht der Grund für ihren Namen. Catherine drehte das Blatt um und entdeckte einen ziemlich verschnörkelten Stammbaum, bei dem es sich zweifellos um eine unerlaubte Kopie in schlechter Qualität aus irgendeinem alten Buch handelte, doch sie sah den Namen des Königs Ludwig XII, der ein Großvater des Königs Heinrich II war. Dann war als Frau Heinrich II Catherine de’ Medici eingezeichnet, dann ihre Söhne und ihre jüngste Tochter… Marguerite, über der mit Handschrift etwas verzeichnet war, was Catherines Aufmerksamkeit erregte. Marguerite, mehrmals verheiratet und wegen diverser Liebhaber nicht gerade eine wirkliche Dame, wurde 1586 endgültig verhaftet und bis zu ihrem Lebensende im Chateau d’Usson festgehalten. Ihr letzter Liebhaber wurde exekutiert und ihr Kind, das sie 1587 in der Gefangenschaft gebar… Catherine stockte. Hatte das niemand bemerkt? …das Kind wurde nach Schottland zu einem gewissen Duke of Irvine in Sicherheit gebracht, da ihr Bruder Francois II die schottische Königin Maria I geheiratet hatte und wurde später mit dem Sohn des alten Dukes verheiratet… Catherine schüttelte den Kopf. Komplizierter ging es wirklich nicht mehr! Catherine lehnte sich zurück gegen das Kopfende des Bettes und versuchte, zusammenzufassen, was sie mit Hilfe ihres Großvaters erfahren hatte. Marguerite de Valois, eine Urenkelin von Ludwig XII und Tochter von Heinrich II und Catherine de Medici und hatte eine Tochter, die die spätere Duchess of Irvine wurde… Ja, soweit stimmte das. Catherine schloss die Augen und legte den Kopf gegen die Wand. Und was hatte sie nun von diesen wirren Verwandtschaftsbeziehungen? Sie hatte französisches Königsblut in den Adern – das hatte sie davon, aber nützen konnte ihr das auch nicht. Sie lachte leise. In ihrem Kopf drehte sich noch immer alles, doch eines war nun wenigstens klar: Warum die Familie ausgerechnet von Schottland nach Frankreich zurückgekehrt war. Catherine dachte noch eine Weile über die Notiz am Rand nach: hatten ihre Eltern das alles gewusst, hatten aber geschwiegen und auch Vincent nichts gesagt? Hielten sie ihr Schweigen für die einzige Möglichkeit, Catherine vor der Bruderschaft zu schützen? Und nur, weil sie Catherine hieß, würde niemand darauf kommen, dass sie es wussten – auch niemand aus der Bruderschaft. Oder war das alles zu weit hergeholt? Catherine wusste es nicht, zerbrach sich noch eine Weile den Kopf und gab schließlich ihrer Müdigkeit nach. Am nächsten Morgen wachte Catherine noch vor Lea auf und nahm sich das Tagebuch vor, in dem sie schon am Tag zuvor begonnen hatte zu lesen. Sie überflog noch einmal die Stelle, die sie bereits kannte und las dann weiter: ‚Ich sitze allein in meinem Zimmer und blicke immer wieder hinaus. In der Ferne sehe ich das Osterfeuer lodern, doch die Stimmen und Gesänge der Dorfbewohner verklingen, bevor sie mich erreichen. Vater sitzt am Kamin und starrt schweigend vor sich hin, während der Arzt immer noch bei Mutter ist. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann sie krank wurde. Es scheint mir schon immer so… Vater ist deshalb sehr betrübt, aber auch das gesamte Personal huscht nur mit leisen Schritten und gedämpften Stimmen an ihrem Zimmer vorbei, um sie nicht zu stören. Trotz ihrer Fürsorge werde ich das Gefühl nicht los, dass sie ihnen immer unheimlicher wird, da die Blicke, die sie sich untereinander zuwerfen, von Angst und Verzweiflung erfüllt scheinen. Ich denke, sie haben Angst. Ich habe auch Angst, aber nicht vor Mutter, sondern vor dem, was noch kommen wird.’ Catherine las einen Eintrag nach dem nächsten, ohne auf Namen oder auf etwas Neues zu stoßen. Mary schrieb über die Krankheit ihrer Mutter, die schon länger dauerte, als sie sich selbst erinnert konnte und die Ärzte hatten ihr verboten, sie zu besuchen, damit sie sich nicht ansteckte. ‚… Vater sorgt noch immer dafür, dass wir zur Heiligen Messe gehen, doch allmählich verliere ich das Vertrauen in einen guten Gott. Was tat meine Mutter, damit er sie mit dieser schweren Bürde strafte? In welcher Hinsicht verfehlte sie? Die Bewohner des Dorfes beäugten unsere Familie beim Kirchgang argwöhnisch, doch Vater will es nicht gesehen haben und züchtigte mich zu Hause für meine Bemerkung, als ich ihm davon berichtete… Catherine schüttelte bei sich den Kopf und las dann weiter. Irgendetwas schien zu passieren, was das kleine Mädchen bemerkt hatte, doch den Vater interessierte es nicht. ‚… Morgen wird Vater den benachbarten Höfen einen Besuch abstatten und sich mit den Vorstehern der umliegenden Dörfer über die Engländer unterhalten, die immer unverschämter werden. So sagte er das nicht, doch Anne spricht so. Mutter geht es sogar noch schlechter. Die Ärzte sind bei ihr und machen düstere Gesichter.’ Catherine stellte sich einen Moment vor, wie sich das Mädchen gefühlt haben musste. Sie hatte seit Jahren ihre Mutter nicht sehen dürfen und das einzige, was sie über sie erfuhr war, dass es ihr schlechter ging. Dabei wohnte sie Tür an Tür mit ihr. Sie hatte doch bestimmt nicht verstanden, was im Haus ihres Vaters geschah… Catherine verstand es ja selbst nicht. Sie schüttelte leicht den Kopf und las dann weiter. ‚Anne erzählte mir heute, dass Mutter viel Schlimmes erlebt habe, und erzählte mir von meinem Bruder, der in dem Jahr starb, in dem ich geboren wurde. Darauf sei sie zwei Jahre niedergeschlagen und kränklich gewesen, doch sie habe ihre Pflichten als Lady wahrgenommen. Dann war klar, dass sie erneut schwanger war, und es ging ihr wieder sehr gut, doch als sie ein totes Kind auf die Welt brachte, brach sie zusammen. Seit diesem Ereignis sei sie krank. Ich erinnere mich nicht, denn ich muss noch jünger gewesen sein. Sie hat mir außerdem gesagt, dass die Ärzte nie eine ernsthafte Möglichkeit gesehen hatten, meine Mutter wieder genesen zu lassen. Ein totes Kind zur Welt zu bringen ist ein Zeichen für Besessenheit durch den Teufel, aber meine Mutter ist nicht besessen. Die Ärzte lassen sie weiter zu Ader, weil Vater sie bezahlt, so scheint es hier allen. Hoffnung hat keiner von ihnen mehr. Vater ist noch nicht von seinen Terminen zurück…’ Catherine schüttelte den Kopf. Wie konnte der Mann unterwegs sein und seine Frau allein lassen und seine Tochter über überhaupt nichts aufklären? Catherine schauderte bei der Vorstellung der medizinischen Methoden und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die nächsten Einträge, die insgesamt spärlicher wurden. Sie erfuhr, dass Mary am 25. Januar 1608 sieben Jahre alt geworden war, man ihr aber auch an diesem Tag nicht erlaubte, ihre kranke Mutter zu sehen. Außerdem berichtete Mary weiter von feindseligen Blicken der Dorfbewohner und von Gerüchten, die in der Stadt kursierten, von denen der Vater nichts hören wollte. Die Situation schien Catherine überaus brenzlig. Kapitel 56: Die letzten Stunden in Edinburgh -------------------------------------------- Die letzten Stunden in Edinburgh Die Sonne stand schon hoch am blauen Himmel und strahlte in das Hotelzimmer, als Lea aufwachte. Sie blinzelte einige Male, drehte sich wieder auf die andere Seite und blickte Catherine an, die noch immer wie in der Nacht auf dem Bett saß und las. „Hast du überhaupt nicht geschlafen?“ fragte sie mit müder Stimme und schloss die Augen wieder. „Doch, ein wenig.“ entgegnete Catherine und sah weiter in die Unterlagen. Das Tagebuch hatte sie eine Weile weggelegt, da die folgenden Einträge nichts Neues enthalten hatten. Sie blickte noch einmal auf den Stammbaum und verstand einen Schritt nicht, den ihr Großvater getan hatte: Wieso hatte er in dem Brief von schottischen Wurzeln gesprochen, wenn ihre Wurzeln doch in Frankreich lagen. Oder war er darauf etwas später gestoßen und hatte den Brief nicht mehr ändern können? Möglich war das, aber Catherine konnte sich nicht recht vorstellen, dass ihr Großvater noch große Recherchen angestellt hatte, nachdem das Gift langsam aber sicher seinen Körper immer mehr geschwächt hatte. Lea stand vom Bett aus und trat zum Fenster. „Es ist wolkenlos.“ bemerkte sie und blickte auf die Straße hinunter. Catherine nickte. „Dann müssten wir schöne Bilder vom Schloss machen können.“ meinte sie, worauf Lea sich umdrehte. „Du willst wirklich zum Schloss? Eine Schlossführung machen und so tun, als wäre das Schließfach leer gewesen?“ fragte sie ungläubig. Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, aber wenn wir in Edinburgh waren und nicht das Schloss gesehen haben, erscheint bestimmt nicht nur mir das etwas seltsam, sondern auch Elizabeth.“ „Gut, dann machen wir die Schlossführung, aber dann machen wir weiter, oder?“ Catherine schüttelte wieder den Kopf. „Du kannst weiter machen, aber ich denke, dass ich danach etwas Schlaf brauche, wenn ich zurückfahren soll.“ „Wegen mir können wir gerne noch bleiben!“ meinte Lea und lachte. „Hast du nicht wieder Unterricht morgen?“ fragte Catherine, was Lea zu einem angewiderten Nicken bewegte. „Dann werden wir heute auch zurück nach Irvine fahren.“ „Spielverderberin.“ grummelte Lea, wusste aber, dass Catherine gar keine andere Wahl hatte. Und Catherine wusste, dass sie es nicht so meinte, also ließ sie die Betitelung unkommentiert. „Ich gehe duschen.“ meinte Lea noch und verschwand dann mit unzerknitterter und frischer Kleidung im Bad, während Catherine die Beine vom Bett nahm und aufstand. Sie musste zugeben, dass sie froh war, nun bald etwas anderes zu sehen. Die Unterlagen waren interessant und wichtig, das wusste sie und sie empfand die pure Aufregung, wenn sie in diesem alten Tagebuch las, doch irgendetwas war anders als bei allen Recherchen sonst. Catherine trat ebenfalls zum Fenster und blickte hinunter auf die Straße, wo sich träge Autos aneinander vorbei schoben und Fußgänger zwischen parkenden und fahrenden Fahrzeugen herumliefen. Viel war nicht los an diesem späten Sonntagmorgen in diesem Teil von Edinburgh. Catherine versuchte, ihr seltsames Gefühl zu verstehen, doch konnte es nicht ergründen. Bisher waren es Namenlose und Gesichtslose gewesen, fremde Menschen, deren Pläne sie auf Geheiß der Bruderschaft durchkreuzt hatte. Nun gehörte sie - wie es das Schicksal so wollte - selbst zu den Gejagten. Sie lachte leise und nickte. Das Schicksal. Nein, sie glaubte nicht richtig an Schicksal… auch wenn es seit ihrer frühen Kindheit geheißen hatte, der Dienst für die Bruderschaft sei vom Schicksal für sie vorgesehen. Catherine schüttelte den Kopf. Nein, es war nicht das Schicksal und nicht Gottes großer Plan – es war nur das Werk von Menschen. Und vielleicht machte es das so schlimm. Sie hatte gewusst, dass Familien auseinander gerissen und getötet wurden. Sie hatte es gewusst, auch wenn sie selten bis zum Äußersten gegangen war, aber ihr Wissen riss sie mit in die Schuld und diese Schuld würde sie vielleicht nie wieder loslassen. Catherine griff sich an die Stirn und schloss die Augen. „Gott, warum?“ flüsterte sie tonlos und war über sich selbst erstaunt, denn es hatte ihr seit ihrer Kindheit widerstrebt, mit Gott ‚in Kontakt zu treten’. Dazu hatte die Bruderschaft sie nicht zwingen können, auch wenn sie die obligatorischen Messen besuchen hatte müssen. Sie glaubte nicht – er konnte nicht existieren, wenn es so viel anderes gab, was die Kirche und das Christentum ablehnte. Zumindest nicht als christlicher Gott, vielleicht als universelle Macht, aber… Schluss! Catherine schüttelte den Kopf. Theologische Diskussionen mit ihr selbst brachten sie nicht weiter. Sie seufzte und lenkte ihre Gedanken wieder zurück auf das Tagebuch. Es war unglaublich, dass eine siebenjährige so schrieb, doch es war eine andere Zeit gewesen – ein Wunder war schon, dass sie überhaupt schreiben konnte. Dieses Tagebuch war ein großer Glücksfall und Catherine war sich sicher, dass so viel mehr in ihm stand. Sie betrachtete es vom Fenster aus und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Jetzt wusste sie, was sie fühlte, was sich die gesamte Zeit mit ihrer Aufregung und ihrer Neugier vermischt hatte, als sie das Tagebuch in den Händen gehalten hatte. Es gehörte jemandem, dessen Namen sie kannte und den sie beinahe zu kennen glaubte, nachdem sie schon einen großen Teil gelesen hatte. Und sie – Mary – schrieb über ihre Verwandten, die gleichzeitig Catherines eigene waren. Und daraus entstand für Catherine eine gewisse Scheu und Mitgefühl für das kleine Mädchen, das seine Mutter nicht sehen durfte, und für die Mutter, die zwei ihrer Kinder verloren hatte und nun ihr letztes Kind auch noch allein zurücklassen würden. War Mary demnach diejenige, die das Blut in Catherines Familie weitergegeben hatte? Wenn es keine weiteren Geschwister gab, war dies die einzige Möglichkeit. Lea riss Catherine aus ihren Gedanken, indem sie zurück aus dem Bad kam und die Tür etwas laut schloss. Sie packten ihre Sachen zusammen und verstauten den Inhalt aus den Schließfächern gut zwischen Catherines Kleidern und verließen dann das Zimmer, nachdem sich auch Catherine frisch gemacht hatte. Sie checkten aus und deponierten ihr Gepäck bei der Rezeption, da sie noch eine touristische Tour vor sich hatten, die dann wider Erwarten beide recht erfrischend fanden. „Ich glaube, ich bin für Schreibtischarbeit nicht recht gemacht.“ meinte Lea, da Catherine sie prüfend ansah, als sie voller Elan und recht vergnügt der Führerin durch den Park des Schlosses hinterher eilte. Catherine nickte und blickte noch einmal zurück in den Park, den sie zuerst besichtigt hatten. Nun war das Schloss selbst an der Reihe. Nach zahlreichen wichtigen Gemächern mit reicher Ausstattung und geschichtsträchtiger Atmosphäre, führte sie die Angestellte des Schlosses in eine Galerie, in der sie zwei Gemälde erklärte. Sie schloss mit einer kleinen Anekdote aus dem Leben in diesem Schloss. Dann wurde ihr für die Führung noch ein kleiner Applaus spendiert. Catherine wollte sich gerade nach Lea zum Gehen wenden, da fiel ihr Blick auf ein kleineres Gemälde, das ihre Aufmerksamkeit völlig auf sich zog. Es zeigte eine Frau. Ihre rechts Hand stützte sich an einem Baumstamm ab, während die linke mit einem ungeordneten Strauß aus Wiesenblumen ihr Kleid hochhob, damit sie in dem hohen Gras nicht stolperte. Sie trug ein rotes Kleid mit engen Ärmeln und darüber ein blaues Gewand mit etwas kürzeren und weiter werdenden Ärmeln, dessen Ausschnitt und Saum mit goldgewirkten Stickereien verziert waren. Ihre Haut war weiß, ihr Gesicht ebenmäßig, ihre Glieder zierlich und in ihrem rotbraunen Haar steckten vereinzelt ebenfalls Blumen. „Ah, Sie haben die Lady entdeckt.“ meinte die Führerin, der nicht entgangen war, dass Catherine wie gebannt auf das Gemälde sah. „Die Lady?“ flüsterte sie beinahe tonlos. Ihre Stimme kratzte und sie zitterte leicht. Die Führerin nickte und erklärte: „Es ist beinahe nichts über sie bekannt. Die Darstellungsweise dieses Bildes ist so untypisch, dass viele sogar bestreiten, es handle sich um eine Angehörige des Adels. Viele sehen auch eine Nymphe in ihr.“ Sie wartete, bis Catherine nickte, dann fuhr sie fort: „Auf der Rückseite ist ein Wappen angebracht, allerdings konnte es keinem schottischen Adelshaus zugewiesen werden und auch sonst keinem der größeren europäischen Adelshäuser. Deshalb nimmt man an, dass es sich um die Fantasie des Malers handelt. Sie sehen, dass der Name der Dame nicht erhalten ist, aber es handelt sich auch nicht um ein Porträt. Es wurde lediglich ein Titel begonnen, dann aber wieder übermalt.“ „Wer ist der Maler?“ „Das ist nicht bekannt.“ „Und wie sieht das Wappen aus?“ „Es enthält drei übereinander gesetzte bourbonische Lilien, rechts ein gekreuztes Schwert und Szepter und links einen Löwen, unter dessen Pranke eine Krone liegt.“ „Oh, mon dieu.“ flüsterte Catherine, da es sich der Beschreibung nach um das Familienwappen der Familie du Ravin handelte. „Verzeihung?“ fragte die Führerin verwirrt. „Nichts, es ist alles in Ordnung.“ meinte Catherine schnell und blickte wieder auf das Bild. Kapitel 57: Zukunftsgedanken ---------------------------- Zukunftsgedanken Lea hatte ebenfalls bemerkt, dass Catherine an dem Gemälde verweilte, doch da hatte sich Catherine schon wieder abgewandt und kam auf sie zu. „Hast du etwas entdeckt?“ fragte sie und Catherine erzählte von dem Gemälde, vom Wappen, vom unbekannten Maler und von ihrer Vermutung, dass dieses Gemälde irgendeine Vorfahrin von ihr zeigen konnte. Da die Führerin den Saal hinter ihnen schloss, konnte Lea nicht mehr selbst einen Blick auf dieses geheimnisvolle Gemälde werfen, was sie aber auch schon beinahe wieder vergessen hatte, als sie mit Catherine das Schloss über die Terrasse und dann durch den Park verließ. „Ich bin doch froh, dass wir hier waren. Es war schön.“ meinte Lea und ging schon ein Stückchen vor. Die meisten anderen Teilnehmer der Führung hatten sich für denselben Weg entschieden und wandelten nun in einiger Entfernung auf das schmiedeeiserne Tor zu. Catherine nickte, doch das sah Lea nicht, und blickte noch einmal zurück zur Schlossfassade und ließ dann ihren Blick über den Park streifen. Das satte Grün und der blaue Himmel taten Catherines Augen gut und das Gezwitscher der Vögel berührte sie ebenfalls. Es war schön in diesem Park und irgendwie erinnerte sie das alles an den Park in der heimatlichen Villa in Paris. Sie schloss wieder zu Lea auf und meinte: „Wenn das alles vorbei ist und sich alles gut klären und lösen sollte…“ „Hast du daran Zweifel? Was meinst du?“ fragte Lea und Catherine schüttelte leicht den Kopf, damit sie leiser war. „Sie wollten mich töten – nicht nur einmal, Lea. Ich rechne mit allem, aber das ist jetzt egal…“ „Egal? Du spinnst ja! Wie kannst du da so gleichgültig sein?“ „Pssst!“ zischte Catherine und warf ihr einen bösen Blick zu.“ „Entschuldige… Was ist, wenn alles gut geht?“ fragte Lea wieder leise. „Wenn alles gut geht, kehre ich nach Paris zurück, stelle mich den wartenden Fragen und beginne ein neues Leben in der Villa meiner Vorfahren – ohne Bruderschaft und ohne Übersinnliches…“ „Und ohne Lestat?“ fragte Lea, worauf Catherine stockte. Schließlich meinte sie leise: „Lea, es war klar, dass Lestat nie Teil meines Lebens werden würde. Er ist tot.“ Lea schwieg betreten und auch Catherine sagte nichts mehr, bis sie den Park verlassen hatten und zurück am Hotel waren. Sie hatten sich entschieden, nur schnell einen Kaffee zu trinken und dann zurück nach Thirlestane Castle zu fahren. Ein gutes Stück des Weges lag bereits hinter ihnen. Das Radio spielte, um das Schweigen von beiden Seiten etwas zu mildern, doch keiner von beiden fiel etwas ein, worüber sie sprechen konnten. Lea dachte über das nach, was Catherine gesagt hatte: Lestat würde nie Teil ihres Lebens werden können, da er tot war. So einfach die Worte waren und so scheinbar flach die Folgerung aus diesen zwei Bestandteilen auch war, machte sie trotz allem Sinn – obwohl Lea nicht wollte, dass sie Sinn machte, denn sie hatte so sehr gehofft, noch einige Male mit Louis sprechen zu können. Bei ihm hatte sie sich wohl gefühlt, obwohl sie nicht genau wusste, wie es dazu gekommen war. Er hatte viel geschwiegen und sie reden lassen. Er hatte kaum eine Regung gezeigt und sie toben und verzweifeln lassen, aber irgendwie hatte sie gespürt, dass in seinem Inneren aus irgendwelchen anderen Gründen ähnliche Verzweiflung empfand. Catherine und Lestat waren sich viel näher gekommen, aber sie hatte offenbar verstanden, dass Sterbliche nicht mit Unsterblichen zu tun haben sollten… Sie hatte sich so geärgert über Elathas Aussage, dass es immer ein Problem gibt, wenn Sterbliche und Unsterbliche zusammen kommen, und nun dachte Lea, dass Catherine selbst so ähnlich dachte! „So ist es nicht.“ meinte Catherine plötzlich, was Lea sehr erschreckte. „Ich habe bei Lestat Dinge getan, die ich nicht verstehe.“ „Was für Dinge?“ fragte Lea nach, nachdem sie sich wieder gefasst hatte. „Ich habe von seinem Blut getrunken…“ „Was?! Bist du dann jetzt Vamp… Nein, Schwachsinn! Das bist du nicht, aber … Man kann doch nicht einfach Blut trinken!“ Catherine nickte. „Ich weiß nicht, warum ich es getan habe.“ „Warum du es getan hast? Er wird dir Blut von sich gegeben haben! So einfach ist das!“ Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte es und ich habe es mir genommen. Es war meine Entscheidung, auch wenn mein Hirn in dieser Situation ziemlich umnebelt sein musste, aber es war mein Tun und nicht seines.“ stellte Catherine die Sache richtig. Lea schwieg eine Weile, in der sie ihre Gedanken versuchte zu ordnen. „Was hat er gemacht?“ fragte sie schließlich. „Ich… Und das ist nun seltsam: Tief in meinem Inneren meinte ich, es sei normal – und er hat nicht darauf reagiert.“ „Das verstehe ich nicht.“ „Ich auch nicht.“ „Wie kann man darauf nicht reagieren? Ich meine…“ Lea brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es nicht.“ fügte sie noch einmal hinzu. Catherine nickte und schwieg, da sie auch keine Erklärung für die ganze Sache hatte. Ob Lestat eine Erklärung hatte? Sie schüttelte in Gedanken den Kopf. Sie sollte endlich aufhören, an ihn zu denken. Sie wandte den Kopf zu Lea und sah, dass sie still zum Fenster hinausschaute. Catherine presste die Lippen aufeinander und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. „Was wirst du tun, wenn wir in dieser Sache nie zu einem Ergebnis kommen?“ brach Lea schließlich das Schweigen. „Das kann ich mir inzwischen nicht mehr vorstellen, aber…“ begann Catherine. „Hast du heute Nacht etwas Wichtiges entdeckt, während ich geschlafen habe?“ fragte Lea dazwischen. „Später.“ meinte Catherine und fuhr fort: „Wenn wir diese Sache nicht beenden können, werde ich ebenfalls nach Paris zurückkehren.“ „Aber die Bruderschaft…“ „Ja, die Bruderschaft wird eine Gefahr sein, aber wenn ich in Paris bin, können sie mich nicht so einfach töten. Dort bin ich nicht unbekannt. Nicht so unbekannt wie hier.“ „Dann war es nicht so wie Salieri gesagt hat, oder?“ vermutete Lea, worauf Catherine den Kopf schüttelte. „Ich habe ihm geglaubt, dass die Hexen mich hier schützen werden. Der Angriff an Imbolc ging aber nur so glimpflich aus, weil Marius und die anderen da waren. Die Hexen konnten mich nie schützen.“ Lea nickte. „Wenn ich es mir recht überlege, dann war ich hier immer gefährdeter als in Paris, aber das habe ich damals nicht gesehen.“ fügte Catherine hinzu. „Ja, hier könnten sie dich verschwinden lassen. Vielmehr deine Leiche und wenn du dann nach Tagen oder Wochen gefunden würdest – wenn überhaupt – könnte man bestimmt nicht mehr feststellen, wer oder was dich getötet hat.“ meinte Lea und Catherine nickte leicht. „Weißt du, was mich etwas wundert?“ „Was denn?“ fragte Catherine und unterdrückte einen Wutausbruch wegen des Autos vor ihr, das sehr langsam vor ihr her fuhr. „Die Bruderschaft hat schon lange keinen Versuch mehr unternommen, dich zu finden…“ „Sie weiß ja auch, wo ich bin.“ warf Catherine ein. „… oder dich zu töten.“ vollendete Lea ihren Satz. Catherine nickte. „Da hast du Recht. Ich bedauere es natürlich nicht, aber es stimmt mich auch nachdenklich.“ „Vielleicht bist du nicht mehr wichtig für sie. Vielleicht lassen sie dich gehen.“ „Das wäre sehr untypisch. Die Mitglieder der Bruderschaft dürfen nicht aus dem Orden scheiden. Darauf steht der Tod. Das ist so… Das war immer so.“ Lea seufzte und meinte dann: „Dann bist du wohl immer noch so etwas wie vogelfrei.“ Catherine lachte wegen des Ausdrucks und nickte. Früher hatten Dämonen und sonstige Kreaturen sie gejagt, nun waren es ‚ihre eigenen’ Leute. Schicksal. „Du wolltest mir noch erzählen, was du in den Unterlagen Wichtiges entdeckt hast.“ Catherine nickte und begann von dem Stammbaum und den anderen Aufzeichnungen zu erzählen und grob den Inhalt des Tagebuchs zusammen zu fassen. Als sie durch das Tor zur Auffahrt nach Thirlestane Castle fuhren, hatte Catherine Lea alles klar gemacht, was sie selbst inzwischen verstanden hatte. Leas Gesichtsausdruck schwankte zwischen Verwirrtheit und Neugier wegen so vieler neuer Informationen. Immer wieder hatte sie Catherines Worte in ihren eigenen wiederholt und gefragt, ob sie das nun richtig verstanden hätte, worauf Catherine meistens genickt hatte. „Da hast du ja richtig viel herausgefunden.“ „Wohl eher mein Großvater.“ korrigierte Catherine sie und lächelte. „Entschuldige, aber ich finde es weitaus schwieriger, viele kleine Informationen zu nehmen und daraus eine zu basteln, als eben Fragmente zu sammeln.“ widersprach Lea. „Das kommt dir nur so vor. Wenn ich mir vorstelle, dass mein Großvater nichts hatte außer dem relativ starken Gefühl, dass mit der Bruderschaft etwas nicht stimmt, dass es mit unserer Familie zu hat und andere solche Dinge, dann empfinde ich schon Respekt für seine Arbeit, die einfach nur für seine Sturheit spricht.“ „Er war stur?“ „Sehr.“ antwortete Catherine und erinnerte sich an einige Momente zurück, in denen sie als Kind verbale Auseinandersetzungen zwischen ihrem eigenen Vater und Großvater mitbekommen hatte. Ob es bei manchen von ihnen auch darum ging, was er herausgefunden hatte? Kapitel 58: Zurück auf Thirlestane Castle ----------------------------------------- Zurück auf Thirlestane Castle Elizabeth und Elatha fragten Lea und Catherine erst gemeinsam über ihre touristischen Aktivitäten aus, dann würden sie Lea allein befragen. Was sollten sie auch sonst gemacht haben? Was tut man sonst so, wenn man in einer Stadt ist? Man geht Essen, Trinken, Einkaufen, schaut sich die Sehenswürdigkeiten an und geht regelmäßig viel zu spät ins Bett. Und dasselbe musste Lea noch einmal über sich ergehen lassen – mit etwas abgewandelten Fragen natürlich. Catherine nutzte die Zeit, um ihre Sachen auszuräumen und sich einen geeigneten Platz für die Unterlagen zu suchen, doch sie fand nichts anderes, als den Zwischenraum zwischen Lattenrost und Matratze für die Unterlagen ihres Großvaters und das ‚Irgendwo’ zwischen ihren Kleidern für das kostbare Tagebuch, das sie vorsichtiger behandeln musste. Catherine legte es zwischen mehrere Pullis und schloss dann die Schranktür. Dort würde es zumindest sicher sein, wenn sie im Zimmer war und sonst vermutlich auch. Wenn Elatha und Elizabeth der Meinung waren, dass Lea ihnen nichts verheimlichte, dann hatten sie keinen Grund, Catherines Sachen zu durchwühlen. Wichtig war, ihnen perfekt die harmlose Catherine vorzuspielen, was ihr gelingen dürfte, da sie zum Lügen und Täuschen von wahren Meistern der Unwahrheit und des Undurchsichtigen ausgebildet worden war. Und Lea würde ihre Sache ebenfalls möglichst gut machen, indem sie immer nur darauf beharrte, dass Catherine nicht einmal die kleinste Andeutung gemacht habe und sie nicht wisse, was Catherine vorhatte. Es würde gut gehen, doch nun wollte sich Catherine erst einmal ausruhen, da die Müdigkeit nun an ihr zerrte. Lea hatte gemeinte, sie würde nach dem Verhör eh nicht gleich zu Catherine kommen, da das viel zu auffällig war, also konnte sie sich beruhigt hinlegen. Und das Tagebuch rannte ihr nicht weg… Kaum lag Catherine auf ihrem Bett, war die Müdigkeit aus ihren Knochen verschwunden, allerdings fühlte sich ihr Geist und Verstand immer noch wie Matsch an, weshalb sie einfach liegen blieb und an die Decke starrte. Sie wollte gerade nicht denken und schloss die Augen. Catherine redete sich ein, dass nun nicht nachdenken musste und sich beruhigt einige Ruhe gönnen konnte. Marguerite de Valois hatte eine Tochter und diese Tochter hatte ebenfalls eine Tochter. Und diese Enkelin von Marguerite de Valois war mit allergrößter Wahrscheinlichkeit Mary – eigentlich war es unlogisch, von etwas anderem auszugehen. Catherine nickte bei sich. Und die Lady auf dem Gemälde hatte vielleicht einmal diese namenlose Tochter dargestellt. Sie schien der Schlüssel zu sein. Sie schien die Verbindung zwischen der ganzen Sache und Catherine selbst zu sein. War sie die Mutter, die George zu sich genommen hatte und vor dem Vampir mit dem schwarzen Haar und den schwarzen Augen geschützt hatte? Was hatte George zuvor gesummt? Catherine legte sich die Unterarme über die Augen und versuchte, sich an die Worte zu erinnern, doch sie konnte lediglich die Melodie leise nachsummen. Sicher war sie sich absolut nicht, ob sie die Töne dabei traf. Die Worte fielen ihr nicht ein – doch sie waren gälisch, das wusste sie noch, da es so ein Kontrast zu dem französischen Gespräch der Frau und des Vampirs war. Catherine drehte sich auf die Seite und öffnete die Augen wieder. Sie konnte überhaupt nicht anders, als darüber nachzudenken. Da konnte sie noch so müde und erschöpft sein. Es ging einfach nicht, dass sie stumm vor sich hinstarrte und an nichts dachte. Ihre Neugier war einfach zu groß, dass sie sich auch nicht vornehmen konnte, an etwas anderes zu denken: es interessierte sie nichts mehr als das! Sie lachte leise und fuhr sich mit den Fingern über die Augen. Das grenzte schon beinahe an Besessenheit. Lea ärgerte sich immer noch über die Begriffsstutzigkeit ihrer Verwandten und erklärte inzwischen zum scheinbar tausendsten Mal, dass sie dies und das besichtigt hatten, einmal außerhalb gegessen hatte und dann noch einen Einkaufsbummel gemacht hatten. Catherine hatte sich neue Schuhe gekauft, sie selbst Bücher und noch einmal Bücher. Elatha lehnte am Schreibtisch, während Elizabeth auf ihrem gewohnten Platz der Sitzgruppe saß. Dann zeigte sie ihnen die Fotos, die sie gemacht hatten und erzählte noch dies und das. Sie erzählte von kleineren Problemchen, die die Geschäfte mit Catherines französischen Kreditkarten gehabt hatten. Das Treffen mit Armand gestaltete sie in eine Begegnung mit einem ungehobelten Kerl um, während sie von der Führerin im Schloss meinte, dass sie über die Gemäldegalerie fast überhaupt nichts gesagt hatte, was Catherine dann etwas schade fand, da sie sich ja so für Gemälde und Kunst interessierte. Sie erzählte von dem arabischen Bistro, indem Lea ihre Liebe für die arabische Küche entdeckt hatte und meinte beiläufig, dass es auf Thirlestane Castle ruhig auch Kouskous auf dem Speiseplan stehen konnte, anstatt immer nur Kartoffeln und Bohnen… Lea wusste nicht, was sie sich sonst noch aus den Fingern saugen sollte und schwieg schließlich. „Dir ist also nichts auffällig vorgekommen?“ fragte Elatha, worauf Elizabeth Lea nicht einmal antworten ließ, da sie meinte: „Gut, dann kannst du jetzt deine Sachen auspacken und dich ausruhen. Morgen solltest du nicht völlig müde und neben der Spur sein.“ Lea nickte, erhob sich und verließ schnell das Büro, bevor sie sich es anders überlegen konnte. Catherine lag noch immer auf ihrem Bett, doch sie hatte das Tagebuch wieder an sich genommen und die Tür abgeschlossen. Schon lange blätterte sie wieder in ihm, bis sie auf eine Stelle stieß, die wieder etwas Neues zu Tage zu bringen schien. Es war nur wenige Wochen nach dem letzten Eintrag, den Catherine noch in Edinburgh gelesen hatte, und die namenlose Mutter war immer noch krank. ‚Nun verstehe ich, weshalb ich Mutter nicht sehen durfte, doch ich sollte am Anfang beginnen. Vater brach heute bereits am frühen Morgen zu einem Geschäftstermin nach Edinburgh auf, da seine Anwesenheit dort unerlässlich ist. Außerdem wird er versuchen, eine neue Kinderfrau für mich zu finden, da Anne um ihre Entlassung gebeten hat. Ich weiß allerdings nicht, was sie zu diesem Entschluss geführt hat – sie hat keine Familie, kennt kaum jemanden und ist außerdem nicht mehr in dem Alter, in dem man eine Ehe eingeht, doch um Anne soll es mir nun nicht gehen. Die Bediensteten waren wie üblich alle beschäftigt und wenn mein Vater nicht im Haus ist, bekomme ich für gewöhnlich niemanden zu Gesicht, deshalb habe ich Anne, doch sie war mit den letzten Vorbereitungen für ihre Abreise beschäftigt. Ich ging allein durch das Haus und die Gänge entlang und kam schließlich zur Tür zu den Gemächern meiner Mutter. Ich wusste, dass mich niemand sah, und ich wusste, dass keine Ärzte und auch keine Schwestern bei ihr waren, doch trotzdem hörte ich Stimmen von drinnen. Ich wollte nicht lauschen, doch ich presste vorsichtig mein Ohr an die Holztür und versuchte, etwas zu verstehen. Ich bemerkte, dass es nur die Stimme meiner Mutter war und diese so schwach und verzweifelt klang, dass ich meinte, sie benötigte etwas, und so drückte ich leise die Klinke nach unten. Zuerst sah ich nur ihr Bett mit den Bettpfosten und den schweren Stoffen, die auf der einen Seite – der Seite zur Tür - zugezogen waren, doch als ich um das Fußende herumtrat, erblickte ich sie und schreckte zurück. Ich erkannte sie nicht mehr als meine Mutter. Sie war nicht viel mehr als ein Knochengerüst mit etwas Haut, die schon gelblich schimmerte. Der Anblick war furchtbar und ihr Blick voller Entsetzen, dass ich im Zimmer war, voller Ekel vor sich selbst und voller Leid und Verzweiflung. Ich glaube, ich habe geschrieen. Sicherlich habe ich kehrt gemacht, rannte aus dem Raum und in mein Zimmer. Ich weinte und auch jetzt kann ich die Tränen kaum zurückhalten. Ich zittere immer noch und kann zeitweise nur einen Gedanken fassen: Das ist nicht meine Mutter! Das ist nicht meine Mutter! Nichts mehr ist von ihr übrig – ihr volles rotbraunes Haar klebte kraftlos auf ihrem verschwitzten Körper, ihre lachenden Augen sind tot und ihre Haut erinnert an ranziges Fett. Es ist furchtbar…’ Catherine hielt inne und zog ihre Beine näher an ihren Körper. Nach den Beschreibungen, die Mary verfasst hatte, war anzunehmen, dass ihre Mutter nicht mehr allzu lange leben würde. An was sie erkrankt war, konnte Catherine nicht sagen – sie hatte keine Ahnung von damaligen Krankheiten und Seuchen. Die Pest war es offenbar nicht, sonst hätte sich das Umfeld anders verhalten, aber mehr konnte sie nicht sagen. Catherine vertiefte sich wieder in die Lektüre und fand in diesem Eintrag lediglich noch zwei Entschlüsse, die Mary gefasst hatte: wenn niemand sie schreien gehört hatte, würde sie niemandem etwas davon erzählen, dass sie verbotenerweise im Zimmer ihrer Mutter gewesen war. Und außerdem würde sie nie wieder ihre Mutter aufsuchen. Kapitel 59: Nächtlicher Besuch ------------------------------ Nächtlicher Besuch Catherine lag auf ihrem Bett und hatte das Tagebuch in ihre Nachttischschublade gelegt, als sie bemerkt hatte, dass sie sich nun wirklich nicht mehr länger wach halten konnte. Das Sonnenlicht fiel in dunklen, warmen Strahlen über das hölzerne Parkett in das Zimmer und beschien Catherines rotbraunes Haar, sodass es noch mehr schimmerte. Ihr Atem ging regelmäßig, aber flach und vermochte es kaum, ihre Brust zu heben und zu senken. ‚héo naefre wacode dægréd tó bisig mid dægeweorcum, ac oft héo wacode sunnanwanung thonne nihtciele créap geond móras...’ Unruhig warf Catherine den Kopf auf die andere Seite und gab ein murrendes Geräusch von sich. ‚héo naefre wacode dægréd tó bisig mid dægeweorcum, ac oft héo wacode sunnanwanung thonne nihtciele créap geond móras...’ Catherine schlug die Augen auf und richtete sich auf. Die Sonne schien noch immer in das Zimmer und ein leichter Nebel aus winzigen Staubkörnern zeichnete sich gegen das Licht ab. Es war still im Schloss. Catherine konnte nicht einen Laut hören. Gemächlich erhob sie sich und trat zum Fenster. Der Park lag still unter ihr und das Licht spielte mit den spärlichen Blättern in den großen Bäumen bei den Gräbern. Catherine stützte sich auf dem Fensterbrett ab und schärfte ihren Blick. Mit den Gräber stimmte etwas nicht, doch sie wusste nicht, was sie an ihrem Anblick störte. Sie waren heller und - so wie sie es sehen konnte – nicht teilweise abgesenkt und schräg. Das war es: sie waren zu ordentlich und daher zu neu! Catherine wich erschrocken einige Schritte zurück. Was war nun schon wieder los? Plötzlich hörte sie, wie die Tür hinter ihr geöffnet wurde, doch es klang wie eine alte Holztür, die man nur mühsam und trotzdem versucht leise, öffnen konnte. Catherine fuhr herum und blitzartig waren der Himmel und das Zimmer bis auf wenige Kerzen dunkel. Draußen lag Schnee. „Zögere nicht!“ flüsterte eine Stimme, die Catherine nicht kannte. Sie sah einen Schatten, der sich von der Wand löste und zu Bett schlich. „Nimm’ es an.“ flüsterte der Mann wieder. Nun war es eindeutig ein Mann, der sich dem Bett näherte. Catherine bewegte sich ebenfalls vorsichtig vom Fenster zur anderen Seite des Bettes und erblickte nun eine Frau, wie Mary sie im Tagebuch beschrieben hatte. „Der Preis für deine Gesundheit ist nicht dein Leben.“ drang wieder das Flüstern zu Catherine. Obwohl die Worte nicht an sie gerichtet waren, blickte sie unsicher auf und blickte wieder zu der kranken Mutter hinunter, die keine Regung zeigte. „Du wirst leben.“ flüsterte der Mann und beugte sich ein Stück hinunter. „Leben!“ Catherine stieß einen leisen Schrei aus, als er seine langen Finger nach der Stirn der Kranken ausstreckte und ihre Wange nach unten entlang strich, der ihn scheinbar innehalten ließ. Doch das war unmöglich – er wusste nicht, dass sie im Zimmer war. Sie war nicht im Zimmer, das wusste sie. Entweder ihre Sinne spielten ihr wieder einen Streich oder sie träumte wieder, doch das war im Moment egal. Der Mann zog seine schlanken Finger zurück und blickte direkt in Catherines Richtung. Sein schwarzes Haar fiel in wenigen Strähnen in seine Stirn, der größte Teil jedoch war mit einem Band zurückgenommen. Der Blick aus seinen schwarzen Augen traf Catherine wie ein Messer in ihr Innerstes. Erschreckt fuhr Catherine hoch und blickte sich verwirrt um. Ihre Hand legte sich unwillkürlich an ihren Hals, obwohl er sich in ihrem Traum nicht ihr genähert hatte, sondern der kranken Mutter von Mary. Hatte der Vampir sie zu seiner Gefährtin durch die Ewigkeit gemacht? Catherine schüttelte den Kopf, stand auf und trat zum Fenster. Prüfend blickte sie hinaus und stellte fest, dass die Gräber nun ihrem Alter entsprechend überwuchert und eingesunken waren. Erleichtert atmete sie auf: es war alles in Ordnung. Dieser Traum erschreckte sie immer noch, da sie fest annahm, dass er wie die meisten ihrer Träume nicht nur einfach ein Traum war, den man einfach so vergessen konnte, sondern ihr viel mehr etwas zu sagen versuchte. War es so gewesen? Natürlich hatte sie in ihrer Version in Georges Körper schon diesen Vampir gesehen und natürlich war es möglich, doch war es tatsächlich so, dass dieser Vampir die kranke Mutter zu einem Vampir gemacht hatte? Catherine dachte angestrengt nach und kam zu dem Schluss, dass es sein konnte und sie die Ereignisse, die im Tagebuch beschrieben waren, nun endgültig vor denen der Vision ansetzen musste. Die Mutter war krank und Mary war das einzige Kind. Dann war die Mutter genesen und George war noch da. Catherine ging zum Schreibtisch, nahm sich einen Zettel und einen Stift und setzte sich dann wieder auf ihr Bett, wo sie das Tagebuch wieder aus der Nachttischschublade nahm. Mit zitternden Fingern versuchte sie, eine grobe Übersicht über die Ereignisse zu machen und ihnen eine Zeit, ein Jahr oder auch einen Monat zuzuweisen. ‚1587 – Geburt der Tochter von Marguerite de Valois.’ Catherine stutze einen Moment und überlegte, wie sie diese Tochter benennen sollte und entschied sich dann für ‚Madame X’, da es das Einfachste war und sie so nicht immer ‚Tochter von Marguerite de Valois’ schreiben musste. ‚1600 – Geburt des ersten Kindes/Sohnes (namenlos) von Madame X.’ Catherine blätterte im Tagebuch, rechnete kurz und verzeichnete dann das Geburtsdatum des zweiten Kindes Mary. ‚1601, 25. Januar – Geburt des zweiten Kindes (Mary).’ Im selben Jahr hatte Mary vom Tod ihres älteren Geschwisters gesprochen. ‚1601 – Tod des ersten Kindes/Sohnes (namenlos).’ Dann kam eine Zeitspanne von zwei Jahren, in der die Mutter depressiv gewesen war. Catherine verzeichnete sie ebenfalls. ‚1601-1603 – Depression von Madame X.’ Catherine las sie nächsten Zeilen bis zu der Stelle, an der Mary über die Todgeburt geschrieben hatte, bevor sie den nächsten Punkt niederschrieb. Das Jahr allerdings konnte sie nicht genau sagen. ‚1603/1604 – Todgeburt des dritten Kindes (namenlos).’ Catherine hielt inne und ging die einzelnen Punkte noch einmal durch. Ihr erstes Kind gebar sie also mit dreizehn, das zweite mit vierzehn, wobei sie mit vierzehn ihr erstes Kind zu Grabe tragen musste, und die Todgeburt erlebte sie mit ungefähr siebzehn Jahren. Sie schauderte. So viel Grausamkeit in so einem jungen Leben! Kein Wunder, dass sie keine Kraft mehr besaß, um gegen ihre Krankheit anzukämpfen – zumal die ständigen Aderlass-Prozeduren ihren Körper zusätzlich zu ihrem gebrochenen Herzen und niedergeschlagenen Geist noch schwächten. Das Tagebuch begann im April 1607 und reichte in das Jahr 1608 hinein. Das bedeutete, dass Madame X ungefähr zwanzig Jahre alt gewesen war – so alt wie Catherine nun. Sie schüttelte den Kopf wegen dieser zufälligen Übereinstimmung und zum ersten Mal fiel ihr auch auf, dass sie genau vierhundert Jahre nach Madame X geboren war, nahm den Stift erneut auf und schrieb den letzten Punkt auf die Liste dazu. ‚1604-1608 (?) – schwere Krankheit Madame X.’ Catherine blätterte bis zum Ende des Tagebuchs und klappte es dann zu. Es reichte nur noch bis zum März 1608. Was danach geschehen war, würde sie anhand des Tagebuchs also nicht herausfinden können. Danach war irgendwann noch George geboren, woraus Catherine schloss, dass Madame X doch noch genesen war. Und danach hatte sie noch Besuch von dem Vampir mit dem schwarzen Haar und den schwarzen Augen bekommen, doch wo war die Verbindung zwischen ihnen? Madame X war zumindest nicht gleich zum Vampir gemacht worden, sonst hätte sie George nicht mehr zur Welt bringen können. So viel war sicher, doch über alles andere war sich Catherine noch im Unklaren. Am späten Abend trafen sich Catherine und Lea bei Catherine im Zimmer und brachten sich gegenseitig auf den neusten Stand. Lea war zuversichtlich, dass Elizabeth und Elatha nicht weiter nach den Geschehnissen in Edinburgh fragen würden, nachdem sie erst einmal die Fotos gezeigt hatte, und Catherine erzählte ihr das Neuste aus dem Tagebuch und legte ihr das Papier mit der stichwortartigen Übersicht hin. Lea sah sich das Papier an und ging die Stichpunkte durch. „Es ist unglaublich, dass ein Kind das alles schreibt, nicht wahr?“ „Ja, stimmt. Ich denke aber, wir sollten uns vor Augen halten, dass das damals andere Zeiten waren. Madame X – wie auch immer sie wirklich hieß – war ungefähr zwölf, als sie geheiratet hat, und hat mit dreizehn Jahren ihr erstes Kind geboren. Ich denke, da kann man auch von einer siebenjährigen kleinen Adligen erwarten, dass sie so etwas schreibt, wenn sie schon einmal schreiben kann.“ „Da hast du Recht. Es ist ungewöhnlich, dass sie schreiben kann.“ bemerkte Lea, worauf Catherine nickte. „Ich bin froh, dass sie es konnte, sonst würden wir noch weiter im Dunkeln tappen.“ „Was wissen wir nun mehr als dein Großvater? Hat er nicht schon so einen Zeitplan gemacht?“ „Nein. Ich vermute nun auch, dass er dazu nicht mehr gekommen ist.“ Lea nickte zähneknirschend. „Ja, weil meine Verwandtschaft Gift in sein Essen geträufelt hat.“ meinte sie leise. Catherine nickte. „Du solltest dir eines merken, Lea.“ entgegnete sie. „Und was ist das?“ fragte Lea und blickte Catherine an. „Ich glaube, ich habe es schon einmal erwähnt… Wir definieren uns nicht durch Verwandtschaft, Familie oder die Situationen, in die wir ohne unser direktes Zutun hineingeraten, sondern durch die Entscheidungen, die wir treffen und für unser Leben durchsetzen.“ Kapitel 60: Im Rahmen des Möglichen ----------------------------------- Im Rahmen des Möglichen Catherine und Lea blieben lange auf, besprachen dies und das, jonglierten mit Möglichkeiten hin und her, bis Lea Catherine erneut auf die Deutung ihres Großvaters zu sangius ignis ansprach. Catherine wollte nicht darüber sprechen und weigerte sich, auch nur im Entferntesten jetzt schon darüber nachzudenken. „Lea, wir haben einfach zu wenig, um zu sehen, was es mit meinem Blut auf sich hat. Und ehrlich gesagt, will ich mich damit nicht unbedingt aufhalten, da mir seine Deutung etwas weit hergeholt erscheint.“ „Er war dein Großvater!“ „Deshalb kann er trotzdem irren. Und ich bin mir ebenfalls nicht sicher, ob er sich sicher war. Hätte er sonst nicht meine Eltern eingeweiht, wenn er so etwas Wichtiges entdeckt hat?“ „Er wusste ja nicht, dass es sich bei Lasair um dich handelt.“ warf Lea ein, die dem Ganzen nachgehen wollte. „Schön, da hast du Recht.“ gab sich Catherine in dieser Hinsicht geschlagen, doch meinte gleich darauf: „Wenn du deine Zeit in diese Nachforschungen investieren willst, tu’ das, aber ich werde mich an das Tagebuch halten und versuchen, mehr über die Geschehnisse auf Thirlestane Castle herauszufinden… Vor allem interessiert mich natürlich, warum eine Adelsfamilie ihre Heimat verlassen musste.“ „Ist das so selten?“ „Nein, vielleicht nicht, aber es ist selten, dass alle Namen ausgelöscht wurden, sodass kaum jemand darüber Bescheid weiß. Und deshalb müssen die, die darüber Bescheid wissen, auch irgendein Interesse daran gehabt haben, dass es verschleiert wird und geheim bleibt.“ „Wen meinst du? Die Bruderschaft?“ fragte Lea. Catherine nickte nur. „Selbst wenn das stimmt… Wissen wir mit Sicherheit, dass die Bruderschaft Bescheid weiß?“ Catherine nickte und Lea fuhr fort: „Was willst du tun? Die Bruderschaft zur Rede stellen? Das kann nicht dein Ernst sein.“ „Natürlich nicht, aber es wird andere Dinge zu tun geben.“ „Wie meinst du das?“ „Wenn wir mit den Unterlagen meines Großvaters durch sind und hier nichts Neues erfahren können, muss ich andere Quellen heranziehen.“ „Von welchen Quellen sprichst du?“ „Die Archive der Societas.“ „Das kannst du jetzt aber auch nicht Ernst meinen!“ „Doch. Ich habe überhaupt keine Wahl.“ „Das ist doch Wahnsinn! Wie willst du dort hineinkommen oder auch wieder hinaus? Ich denke, die Bruderschaft ist in ihren Katakomben abgesichert wie eine Festung!“ Catherine nickte. „Richtig, aber ich gehörte zu ihnen.“ „Das ist Wahnsinn.“ wiederholte Lea, was Catherine dazu verleitete zu lächeln. „Das ist nicht witzig.“ „Nein, das ist es wirklich nicht.“ gab Catherine ihr Recht und entspannte ihre Mundwinkel. „Hast du denn schon einen Plan, was dieses wahnsinnige Vorhaben angeht?“ „Keine Sorge, du sollst nicht mitkommen, wenn es soweit ist.“ „Und wenn ich will?“ unterbrach Lea sie. Catherine zögerte und meinte dann: „Ich gebe dir in einem Punkt Recht, Lea: es ist gefährlich. Und ich ziehe dich da bestimmt nicht mit hinein.“ „Aber dich selbst wirfst du so einfach in die Höhle des Löwen. Du spinnst wirklich!“ Catherine entgegnete nichts, sondern schien nachzudenken. „Hast du nun einen Plan oder nicht?“ „Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es wirklich nötig ist, in die Archive zu gelangen.“ „Ich hoffe, es geht auch anders.“ gestand Lea und blickte Catherine an, bevor sie wieder auf die Unterlagen vor sich blickte, die allerdings nur wiederum bestätigten, was sie längst wussten. „Bevor die Archive der Bruderschaft relevant werden, muss ich auch noch einmal in Paris suchen.“ meinte Catherine leise und wandte sich wieder dem Tagebuch zu. Nachdem sie die Einträge der nächsten Tage gelesen hatte, ließ sie das Buch sinken und meinte plötzlich: „Lea, gibt es eine Möglichkeit, Träume zu provozieren?“ „Du meinst, einen Trank, sodass du träumst?“ fragte Lea nach und ließ ebenfalls ihre Unterlagen sinken. „Ja. Gibt es so einen Trank?“ „Es gibt eine Reihe von bewusstseinserweiternden pflanzlichen Mixturen…“ „So wie die, die du mir an Ostara gegeben hast?“ unterbrach Catherine und blickte sie prüfend an. „Das waren wirklich keine Drogen. Ich musste sie dir geben, sonst hätte das Elizabeth misstrauisch gemacht.“ „Das war auch kein Vorwurf. Was waren das für Bestandteile?“ „Salbei, Baldrian, Tollkirschen, etwas zerstampfter Mohn und Mondkraut.“ „Tollkirschen? Sind die nicht giftig?“ fragte Catherine nach. „In kleinen Mengen ist sie völlig unbedenklich. Der Trank war außerdem noch mit Wasserblatt und Kreuzgarbe angesetzt. Diese Kräuter neutralisieren zusätzlich bestimmte pflanzliche Gifte, nehmen ihnen die betäubende Wirkung aber nicht.“ „Dieser Trank hat mich in Trance versetzt und mein Bewusstsein erweitert. Das stimmt.“ überlegte Catherine laut. „Was hast du gesehen?“ „Lestat und Marius in Venedig.“ „Deshalb konntest du Armand also sagen, du wüsstest, wo sie sind.“ schloss Lea. Catherine nickte. „Könntest du einen Trank beschaffen, der mir hilft….“ begann Catherine, doch Lea hob die Hand und schüttelte den Kopf. „So etwas gibt es nicht. Es gibt zwar Tränke, die dich in Trance versetzen oder dich einschläfern können, doch keinen Trank, der sich etwas Bestimmtes träumen lässt. Es gibt auch keinen Trank, der dich eine bestimmte Vision haben lässt. Das liegt nicht in unserer Macht.“ klärte Lea sie auf. „Schade.“ meinte Catherine und wollte sich wieder in das Tagebuch vertiefen. Sie hatte so gehofft, dass es solch einen Trank geben würde, sodass sie weiter vorwärts kamen, denn immerhin träumte sie scheinbar Wichtiges. Erst vor kurzer Zeit und dann erinnerte sie sich dunkel an einen Traum, in dem sie verfolgt und schließlich gefangen worden war, und ihr gesamtes Inneres schrie ihr zu, dass der Inhalt dieses Traumes ebenfalls von Relevanz war, doch da war offenbar nichts zu machen. Und wenn es auch keine Tränke gab, die Visionen herauf beschwören konnten, fiel diese Möglichkeit ebenfalls weg und sie würde nicht noch einmal hören, was George gesungen hatte oder worüber sich der Vampir und die Frau unterhalten hatten. „Es gibt eine Möglichkeit, aber erwarte dir nicht zu viel von ihr.“ sprach Lea unvermittelt und legte ihre Unterlagen weg. „Welche?“ fragte Catherine sofort und blickte sie gespannt an. „Sie wird dir vielleicht nicht gefallen.“ „Welche? Es ist mir egal, ob sie mir gefällt oder nicht.“ „Da wäre ich mir nicht so sicher.“ „Muss ich dich auf Knien anflehen, dass du mir endlich mehr erzählst?“ fragte Catherine im Spaß, worauf Lea leise lachte. „Das wäre eine neue Erfahrung für mich und sie könnte mir gefallen, also lassen wir das lieber.“ meinte sie und blickte sich im Zimmer um. „Hast du noch die Tür abgeschlossen?“ „Sicher. Was hast du vor?“ erwiderte Catherine und sah Lea nach, die sich vom Bett erhob und in die Mitte des Raumes ging. „Du kannst lernen, dein Bewusstsein selbst zu erweitern.“ „Das hört sich doch schon einmal sehr gut an.“ warf Catherine ein und erhob sich ebenfalls von ihrem Bett. „Es ist nicht leicht, aber wenn ich deine mentalen Fähigkeiten bedenke, könntest du es vielleicht sogar schaffen.“ „Das empfinde ich als noch etwas Positives. Was genau soll mir an dieser Möglichkeit nun nicht gefallen?“ „Du musst dich selbst in einen Zustand versetzen, in dem du dich völlig öffnest. Da du von dir aus deine Gedanken und deine gesamte Aura kontrollierst…“ „Das mache ich nicht absichtlich.“ „Genau! Das wird auch das Schwierigste sein für dich. Du musst deinen automatischen Schutzschild, der dich seit Jahren umgibt, langsam auflösen.“ „Oh, das klingt wirklich nach einem kleinen Problem. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll.“ „Das dachte ich mir, aber dabei kann ich dir vielleicht helfen.“ entgegnete Lea und nickte bei sich. Sie schritt im Zimmer auf und ab und blickte immer wieder zu Catherine. Sie beobachtete Lea, die angestrengt nachdachte. „Gut, fangen wir an!“ meinte Lea schließlich und kam auf das Bett zu. „Was muss ich tun?“ „Du musst dich entspannen. Setz’ dich einfach bequem hin und schließe die Augen.“ Catherine folgte den Anweisungen, setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett und schloss die Augen. „Und jetzt?“ „Du darfst an nichts denken.“ sagte Lea, worauf Catherine wieder die Augen öffnete. „Ich kann nicht an nichts denken.“ widersprach Catherine. „Doch.“ Catherine zog die Augenbrauen hoch, schloss die Augen wieder und bemühte sich. Nach einer Weile meinte sie: „Wenn ich versuche, an nichts zu denken, denke ich daran, dass ich an nichts denken soll.“ Lea stöhnte auf, setzte sich neben Catherine. „Sieh’ mich an!“ Catherine öffnete wieder ihre Augen und Lea nickte. „Du entspannst dich jetzt und denkst einfach an nichts, was deine Konzentration beeinträchtigt. Okay?“ Catherine nickte, machte die Augen wieder zu und lockerte ihre Schultern. „Gut. Und jetzt konzentrierst du dich auf dich allein. Auf deine Atemzüge, auf deinen Herzschlag – ganz egal. Und du vergisst, dass ich hier bin.“ „Ich meditiere also.“ „Du kannst meditieren?“ fragte Lea, denn dann hätte sie sich das ganze Erklären sparen können. „Es war Teil des Trainings bei der Bruderschaft und sollte zur Leistungssteigerung dienen.“ erklärte Catherine, worauf Lea ein zustimmendes Geräusch von sich gab. „Noch etwas solltest du wissen.“ meinte Lea, worauf Catherine ein Auge wieder leicht öffnete. „Ich werde während dieser Zeit immer wieder überprüfen, ob du den Zustand erreicht hast oder ihm näher gekommen bist. Ich werde in dir lesen wie in einem Buch und werde dann auch auf Dinge aus deinem Leben stoßen, die mich nichts angehen.“ „Ist das notwendig?“ fragte Catherine, da ihr nicht wohl dabei war. Lea nickte. „Ja, erst wenn du einen Zustand erreichst, in dem du alles offen darlegst, kannst du einen Schritt zurückgehen und dich selbst den Träumen und Visionen öffnen. Es geht nicht anders.“ versicherte Lea, worauf Catherine zögernd nickte. „Gut, aber erschrick’ nicht. Du wirst auf viel stoßen, was du nicht erwartet hast.“ meinte sie schließlich und schloss die Augen wieder ganz, um mit der Meditation zu beginnen. Kapitel 61: Wandeln auf verworrenen Pfaden ------------------------------------------ Wandeln auf verworrenen Pfaden Lea saß gegenüber von Catherine, die völlig ruhig im Schneidersitz verharrte, ruhig atmete und die Augen geschlossen hielt. Sie wusste, dass Catherine den Zustand der vollständigen Meditation beinahe erreicht hatte, doch sie wollte noch ein wenig warten, bis sie versuchte, in ihre Gedanken und ihre Seele einzudringen. Sie machte sich auf viel gefasst, wenn Catherine ihr gesamtes Leben einfach so einen Schutzschild aufrechterhalten hatte, den nicht einmal die Vampire mit ihren gesteigerten mentalen Fähigkeiten durchbrechen konnten. Lea konzentrierte sich ebenfalls auf sich und schloss die Augen. Sie musste selbst in sich gefestigt sein, wenn sie den Vorstoß wagen wollte, sonst würde Catherine sie sehr leicht abwehren. Catherines Worte schwirrten ihr immer noch in ihren Gedanken umher. Sie solle nicht erschrecken. Sie würde auf vieles stoßen, was sie nicht erwartet habe… Was hatte Catherine alles schon erlebt? Was hatte sie schon alles angestellt? Hatte sie gemordet und… Nein, das hielt sie nicht für möglich. Trotzdem musste es viel geben, das Catherine lieber für sich behalten hätte, aber wem ging das nicht so? Lea war erstaunt, dass sie nicht länger darüber nachgedacht hatte, sondern schnell zugestimmt hatte, Lea in ihren Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen herumwühlen zu lassen. Lea war nicht neugierig und die Tatsache, dass sie Catherine bald in einem Zustand haben könnte, in dem sie alles preis gab, löste in ihr kein Gefühl der Überlegenheit und Macht aus, sondern eher ein bisschen Unbehagen. Sie hatte Catherine stets als eine undurchsichtige Persönlichkeit gesehen, die ihr in so vielem voraus war und dabei hatte sie nie gesehen, dass sie auch Catherine in vielem überlegen war, weil es ihr so unwichtig erschienen war. Catherine war diejenige, die Pläne hatte und sagte, was getan wurde. Catherine war diejenige, deren Vorfahren ihr ein unwillkommenes Erbe hinterlassen hatten, das im Moment nur für Schwierigkeiten sorgte – sie selbst konnte da mit ihrer Familie aus Mördern und Betrügern nicht wirklich mithalten. Lea atmete tief durch. Sie wollte nicht übertreiben. Das brachte sie nicht weiter. Sie musste ruhig bleiben und sich konzentrieren. Vor allem musste sie ein bisschen von der Scheu abbauen, die sie überfiel, wenn sie nur daran dachte, Catherines Inneres bald nach ihrem eigenen Belieben studieren und erforschen zu können. Lea wartete noch einen Augenblick und wagte dann, als sie sich selbst gefestigt hatte, ihren ersten Versuch, zu Catherine hindurch zu dringen. Sie konzentrierte sich gleichzeitig auf sich und Catherine, löste dann ihre Konzentration auf ihren eigenen Körper etwas und bemühte sich, irgendwelche Schwingungen, die von Catherine ausgingen, zu erfassen. Sie spürte etwas. Sie spürte förmlich, dass Catherine vor ihr saß und ihre Gedanken und Empfindungen konnte sie scheinbar schon undeutlich wahrnehmen, doch plötzlich wurde sie von Catherine wieder zurückgestoßen und ihr der Zugang verwehrt. Lea atmete tief durch und sammelte sich wieder. Sie hatte doch gewusst, dass es nicht leicht sein würde, also sollte sie nun nicht aufgeben. Sie würde es eben wieder und wieder versuchen und irgendwann würde Catherine sich selbst zurückhalten und ihr den Zugang erlauben. Catherine hatte immerhin in das Unternehmen eingewilligt. In den nächsten zwei Stunden änderte sich nichts an der äußerlichen Situation: Catherine und Lea saßen weiterhin gegenüber auf dem Bett und rührten sich nicht. Lea hatte weitere Versuche unternommen und ein paar Mal war sie kurze Zeit in Catherines Gedanken ‚herumspaziert’, doch hatte sich nicht lange dort aufhalten können. Sie hatte Fetzen von unwichtigen und belanglosen Gesprächen gehört, die sie nicht zusammensetzen konnte, doch darum ging es auch nicht. Lea wusste, dass Gespräche nicht reichten. Wenn sie erfolgreich in Catherines Gedanken eingedrungen war, würde sie zuerst nur Bilder sehen, dann Empfindungen fühlen und schließlich konnte sie wirklich in Catherines Erinnerung herumspazieren wie sie wollte. Skeptisch zog Lea eine Augenbraue hoch, da sie das nicht so recht glauben konnte. Bisher hatte sie nur darüber gelesen und sie hatte, als sie diese Kunst gelernt hatte, immer vorher aufhören müssen, damit sie nur theoretisch wusste, wie es zu sein hatte. Sollte sie auch jetzt besser die Finger davon lassen? Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Catherine wollte ihr Bewusstsein erweitern und das war im Moment das einzige, wobei Lea ihr wirklich helfen konnte. Alles andere konnte sie auch allein. Lea warf ihre letzten Bedenken über Bord und konzentrierte sich wieder. Immer länger wurden die Aufenthalte in Catherines Gedanken und nach anfänglichen Gesprächsfetzen und Bildern, die nach und nach privater wurden, gelang es Lea auch, einige Bildersequenzen wie kleine Filmchen aus Catherines Erinnerung zu sehen. Sonnenschein und Sommer. Die letzten Klausuren. Catherine und ihre Freunde von der Schule. … Abends in einem Club. Die Freunde hatten Spaß. Catherine mit einem Mann, der etwas älter war als sie, beim Tanzen. Sie kannte ihn gut. Sie standen sich nah, obwohl er nicht wusste, was sie tat. Das Handy klingelte. Catherine musste gehen. … Catherine und Lucien und ihr Streit. Wieder Gesprächsfetzen über Pflichterfüllung und den Schwur der Societas, den Catherine brach. Lucien war verzweifelt. Er liebte sie doch! Sie konnte ihn nicht verlassen. Lea schüttelte den Kopf. Wenn du deine Schwester so liebst, wärst du ihr lieber gefolgt, als bei dieser Bruderschaft zu bleiben, die ihr nach dem Leben trachtet. Catherine mit Freunden, die nicht verstanden, dass sie nicht mitkommen konnte. Lügen über eine entfernte Tante, die im Krankenhaus lag und besucht werden wollte. … Lea hielt inne und machte eine Pause. Es kostete sie Kraft und noch ließ Catherine nicht zu, dass sie jeden Winkel durchsuchte. Sie musste sich Zeit lassen und auch Catherine nicht durch ihre Ungeduld in einen Zustand bringen, in dem sie sich fühlte, als müsse sie sich verteidigen, sodass sie Lea wieder ausschloss. Sie musste behutsam vorgehen und einfach noch eine Weile ansehen, was aus Catherines Erinnerungen auf sie zukam. Filmsequenz reihte sich an Filmsequenz und Lea unterbrach immer wieder ihre Touren durch Catherines Inneres, um dann erneut den Faden wieder aufzunehmen. Catherine war ein Mädchen und wollte ängstlich die Hand ihrer Mutter ergreifen, die ihr verwehrt wurde. Sie hatte Angst vor den Männern in den schwarzen Anzügen und vor ihren Worten. Sie verstand sie nicht. Lea schüttelte in Gedanken den Kopf. Catherine stand mit vielen andern Kindern, die dennoch älter als sie zu sein schienen, in Kellergewölben. Sie trug eine schwarze Kutte mit Kapuze und einer Kordel um die Taille. Dort war auch ihr Bruder in derselben Kutte. … Catherine und ihr Bruder. Teenageralter. Sie verbrachten jede freie Minute miteinander. Sie standen sich unglaublich nahe und kannten sich in - und auswendig. … Das Warten auf die Eltern. Catherine zweifelte an ihrem Tun für die Bruderschaft. … Die Bruderschaft. Gesichter. Wieder Gesichter. Salieri. Er lächelte und meinte, sie sei etwas Besonderes. ‚So jung wie du, war bisher noch keiner meiner Schützlinge, Catherine.’ Catherine war jünger als alle anderen, als sie von der Bruderschaft in Anspruch genommen wurde. Ihr Bruder begann erst nach ihr mit seinem Dienst. Lea stutzte wieder kurz und tauchte dann wieder ein. Wann würde endlich der Augenblick kommen, in dem sie nicht mehr auf diese wirre Reihenfolge angewiesen war, die Catherine ihr gewährte? Das machte sie noch völlig wahnsinnig. Es war einfach nur verwirrend. Zumindest konnte sie an Catherines Alter immer die etwaige Reihenfolge bestimmen. Catherine und Lestat. Der kleine Streit im Trainingsraum und die fliegende Sai-Gabel, die sich neben Lestat in die Tür bohrte. Spannung und Interesse auf Catherines Seite. Lestats Augen, die ebenfalls für sich sprachen. … Lestat und Crossbost. Die Kälte, die Runen, die Küsse und Catherines Gefühlschaos zwischen Vernunft und Verlangen. Es war falsch, aber es fühlte sich zu gut an, um falsch zu sein. Lestat fühlte sich an wie das einzige Reale in ihrem unlogischen und verwirrenden Leben. Lestat. Lestat. Gott, du tötest mich, wenn du gehst. Liebe. Abhängigkeit. Catherine hasste Abhängigkeit, doch sie liebte ihn. Sie würde alles geben, um ihm nahe sein zu können. Auch sich selbst. Nein, sie war wahnsinnig. Ein entsetzlicher Kampf in Catherine zwischen ihm und ihr. Wissen und Glauben. Vernunft und Verlangen. Leben und Tod. Es war einerlei. Lea stockte. Wusste Catherine, was sie fühlte? War es das, was sie nicht erschrecken sollte? Kapitel 62: Ein Leben für die Bruderschaft ------------------------------------------ Ein Leben für die Bruderschaft Lea verlor Catherines Gedanken und Empfindungen und wurde weitergetrieben. Sie konnte immer noch nicht entscheiden, was sie sah und erfuhr und was vor ihr verschlossen blieb. Lea wusste, dass Catherine sie ebenfalls nicht mehr vor bestimmten Erinnerungen fernhalten konnte, doch sie konnte ihr auch keinen längeren Aufenthalt in ihren gewähren. Das brauchte noch Zeit. Lea zog sich einen Moment aus Catherines Bewusstsein zurück, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie atmete schwer. In anderer Leute Innerem zu stöbern, war nicht leicht und schon gar kein Sonntagsspaziergang. Lea betrachtete Catherine, die immer noch ruhig und konzentriert dasaß und keine äußeren Anzeichen der Erschöpfung auswies. Sie schloss daraus, dass sie alles unter Kontrolle hatte und alles richtig machte. Sie sollte sich entspannen und das tat sie. Lea hatte trotzdem nicht erwartet, dass sie so schnell einen Erfolg verzeichnen konnten. Stumm schüttelte Lea den Kopf und schloss die Augen wieder, um erneut in die Erinnerungen einzutauchen. Sie vermutete fast, dass es ein Glücksfall war, etwas zu sehen, das mit Lestat zusammenhing, da das mit Sicherheit tief in ihrem Inneren vergraben war. Sie rechnete damit, nun wieder kleine unwichtigere Szenen zu sehen, doch das musste sie eben in Kauf nehmen. Catherine stand nur in Hose und einem Top in einem weißen Zimmer vor einem Schreibtisch und griff nach ihrer Jacke. Eine Trainingsjacke. Überhaupt war sie in Trainingskleidung. Das Haar hatte sie in einem hohen Pferdeschwanz und sie schwitzte leicht. Catherine war jünger. Sechzehn. Beinahe siebzehn. Ein Mann saß hinter einem Schreibtisch und studierte eine Akte. Catherine kannte ihn. Emmanuel Bruyard. Arzt und Freund ihres Vaters Jacques. Er war eingeweiht. Keine Gefahr. Catherine schlüpfte in ihre Jacke und setzte sich in einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch. ‚Was ist mit deiner Verletzung?’ ‚Nichts. Sie ist geheilt.’ Der Arzt nickte und wandte den Blick immer noch nicht von der Akte ab, die er in den Händen hielt. ‚Stimmt etwas nicht?’ fragte Catherine und lehnte sich ein Stück weiter nach vorne. Lea fühlte sich plötzlich anders – ein wenig wie in ihren Visionen – und bemerkte, dass sie nicht mehr an die Erinnerung gebunden zu sein schien. Es war, als ob ein Gewicht von ihren Schultern genommen war, das sie vorher überhaupt nicht bemerkt hatte. ‚Deine Werte sind in Ordnung, aber ….’ Bruyard brach ab und Catherine zog die Augenbrauen hoch. ‚Ich möchte gerne noch einige Tests machen.’ ‚Wieso? Was stimmt mit meinen Werten nicht?’ ‚Die Blutwerte sind eigenartig.’ Catherine stockte und konnte sich das nicht erklären. ‚Das verstehe ich nicht. Ich trainiere wie üblich und ernähre mich nicht anders.’ ‚Es könnte trotzdem ein kleiner Eisenmangel sein… Wann sagtest du, hast du dir die Fleischwunde am Schienbein zugezogen?’ ‚Letzte Woche am Donnerstag.’ antwortete Catherine. ‚Vor neun Tagen also. Darf ich sie sehen?’ Catherine stellte ihren Fuß auf den Stuhlrand und zog ihr Hosenbein etwas nach oben. Bruyard lehnte sich erstaunt nach vorne und blickte prüfend die Hautpartie an, an der er die Verletzung in der vorigen Woche genäht hatte. Es war nichts zu sehen. Keine Wunde, keine Naht, kein Schorf, keine Rötung und keine Narbe! Absolut nichts! ‚Wer hat die Fäden gezogen?’ ‚Sie sind von alleine aufgegangen und dann habe ich…’ Catherine erntete einen strengen Blick von seiten des Arztes. ‚Ich musste wirklich nicht mehr sehr ziehen!’ meinte sie. ‚Und es ist doch verheilt.’ fügte sie hinzu, worauf er nickte. Das alles bereitete ihm ein wenig Kopfschmerzen, doch dass es ihr gut ging, war tatsächlich die Hauptsache. Wieder warf er einen Blick auf die Akte. Lea entschloss sich, um den Tisch herum zu gehen, um dem Arzt über die Schulter zu blicken, was so Seltsames in der Akte stand, das seinen Blick immer wieder auf das Papier bannte, doch sie wurde enttäuscht. Sie konnte nur mehrere unbeschriebene oder unbedruckte Seiten sehen. Natürlich! Catherine wusste schließlich auch nicht, was ihn so verwirrte, deshalb konnte auch Lea es nicht sehen und lesen. Trotzdem machte sich eine gewisse Enttäuschung in Lea breit. Sie blickte sich weiter im Sprechzimmer um und stellte fest, dass alles, was nicht in Catherines Blickfeld lag, in ihrer Erinnerung ebenfalls nur weiße, undefinierte Flächen waren, es sei denn, sie wusste, wo sich ein bestimmter Gegenstand befand – wie etwa das Waschbecken hinter einem Bücherregal, das sie von ihrem Stuhl sicherlich nicht sehen konnte. Catherine erhob sich, verabschiedete sich von dem Arzt und verließ das Zimmer. Draußen am Empfang ließ sie sich einen neuen Termin geben, verließ dann die Praxis. Auf der Straße wartete Lucien, der sie nach Neuigkeiten fragte, doch sie schüttelte den Kopf. Dann begannen sie, die Straße entlang zu joggen. Lea nahm sich aus dieser Erinnerung zurück. Sie hatte keine sonderliche Lust, ihnen hinterher zu joggen, zumal sie bemerkt hatte, dass es sich real angefühlt hatte, als sie in der Praxis gewandelt war. Sie wunderte sich, dass sie joggten, denn Catherine musste eine schlimmere Verletzung gehabt haben. Wusste Lucien nichts davon? Unwahrscheinlich, denn sie hatte sich diese Verletzung mit allergrößter Wahrscheinlichkeit bei irgendeinem Auftrag oder im Training zugezogen. Lea zuckte die Schultern und machte erneut eine kleine Pause. Sie fragte sich einerseits, wie lange Catherine diese Situation noch aushielt, andererseits lag die anstrengende Arbeit auch bei Lea, weshalb sie die Frage überhaupt nicht als beantwortenswert empfand. Lea konzentrierte sich wieder und wollte demnächst die Erforschung von Catherines Erinnerungen abschließen. Catherine war soweit, dass sie Lea suchen ließ, wonach sie wollte, das hatte Lea bemerkt, nachdem sie sich frei bewegen konnte. Aber wie durchsuchte man menschliche Erinnerungen? Da waren keine verzweigten Gänge, die von Nebelschwaden durchzogen waren, und immer wieder Türen, die in bestimmte Erinnerungen führten. So etwas gab es nicht. Vielleicht musste Lea sich vorstellen, was sie sehen wollte. Vielleicht hätte sie auch hinter Catherine und ihrem Bruder her rennen müssen, damit sie sie nicht verlor. Konnte es sein, dass sie sie nun verloren hatte und deshalb nicht mehr sehen konnte. Nein. Ruhig. Sie musste ruhig bleiben und ihre Konzentration auf Catherine aufrechterhalten. „Komm schon, Cate. Hilf mir ein bisschen.“ flüsterte sie nun zu sich und drang wieder in Catherines Erinnerungen ein. Zunächst waren es wieder Worte, Gespräche, Bilder, dann wieder Filme. Catherine und ein Mann. Okay, was sie taten, war wirklich privat. Lea schien es, als würde sie sich selbst umwenden. Sie wollte da nicht unbedingt zusehen. Zunächst kamen nur Worte, dann erschienen auch das Bild und schließlich die Umgebung dazu. Catherine stritt sich mit diesem Mann, doch es war später. Catherine war… 19. ‚Ich kann nun einmal nicht dauernd vorbeikommen, wenn du anrufst!’ ‚Das ist es doch überhaupt nicht. Du willst nicht. Du willst auch nicht, dass ich unangemeldet bei dir vorbeikomme. Das ist nicht normal.“ ‚Willst du damit sagen, dass ich verrückt bin?’ ‚Ich will damit sagen, dass ich dir nicht so wichtig bin wie deine bescheuerte Familie!’ ‚Meine Familie ist nicht bescheuert! Und ja, ich habe Verpflichtungen gegenüber meiner Familie, die ich erfüllen muss!’ ‚In welchem Jahrhundert lebst du?’ ‚Du wirst ungerecht. Ich sagte dir, dass ich … dass mir meine Familie über alles geht. Das wusstest du von Anfang an. Und trotzdem wolltest du mit mir zusammen sein. Was ist nun anders? Warum kannst du es nun nicht mehr hinnehmen?’ ‚Ich dachte, es legt sich. Ich dachte, du wirst merken, dass du aus deiner Familie weg musst! Dass es nicht normal ist, dass du noch zu Hause wohnst und nach Hause eilst, sobald dein Handy klingelt! Was wollen sie immer?’ Catherine sagte nichts. ‚Nichts? Catherine, sie kontrollieren dich. Sie rufen doch nur an, dass du kein eigenes Leben führen kannst. Sie gönnen dir nicht, dass wir glücklich sind…’ ‚Wir sind nicht glücklich, Sebastien. Das sind wir schon lange nicht mehr.’ ‚Und wessen Schuld ist das? Ist das auch noch meine? Nur weil ich möchte, dass wir so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen. Nur weil ich will, dass du 100%ig hinter mir stehst und du keine Geheimnisse vor mir hast?’ ‚Geheimnisse…’ ‚Woher hast du manchmal diese Verletzungen - blaue Flecke, Schrammen, Kratzer, tiefere Schnitte?’ Catherine blieb stumm. ‚Siehst du? Du hast Geheimnisse, die dir zu schaffen machen… Und ich darf nicht einmal fragen, warum du verletzt bist. Ich dachte, du brauchst Zeit, bis du mir vertraust, aber gegen deine Familie wirst du wohl nie etwas sagen. Wer ist es? Dein Vater?’ ‚Lass’ meine Familie aus dem Spiel! Es ist nichts in diese Richtung.’ ‚Catherine, ich will, dass wir uns nahe sind, aber dazu musst du mir eben vertrauen. Und wenn du mir nicht sagen kannst, was dich beschäftigt…’ Er brach ab. Catherine nickte und blickte ihn an. Tränen flackerten in ihren Augenwinkeln. Sie wollte ihn heranziehen und ihm alles sagen, doch es ging nicht. ‚…ist es besser, wenn wir uns trennen.’ beendete sie seinen Satz, griff blitzschnell nach ihren Sachen und verließ seine Wohnung. Kapitel 63: Massive Nebenwirkungen ---------------------------------- Massive Nebenwirkungen Ein lautes und energisches Klopfen an der Tür ließ Lea zusammenzucken und sich einen Moment lang verdutzt in Catherines Zimmer umblicken. Ja, das war Thirlestane Castle und nicht irgendwo sonst. Und das Klopfen… Das war auch wirklich da. Lea stolperte vom Bett, rüttelte an Catherine und verstaute gleichzeitig die restlichen verräterischen Unterlagen unter dem Bett und im Schrank, wobei sie versuchte, kein Geräusch von sich zu geben oder zu erzeugen, was nicht so leicht war. „Catherine, jetzt komm’ schon!“ zischte Lea und rüttelte weiter an Catherine, die langsam aber sicher aus der Meditation zu sich kam. „Was ist?“ murmelte sie dumpf und schüttelte den Kopf. Ihr war schwindlig, aber sie konnte unmöglich sagen, dass es an Leas Schütteln lag. Matsch… Ihr Hirn war Matsch. Das hatte sie nun davon. Catherine blickte sich um, blickte dann zu Lea und hörte dann ein erneutes Klopfen. Lea nickte ihr zu und Catherine erhob sich, um langsam zur Tür zu gehen, diese aufzuschließen und zu öffnen. „Ich suche Lea.“ meinte Elatha und drängte sich an Catherine vorbei ins Zimmer. „Ich suche dich schon seit gut einer Stunde! Wieso bist du nicht auf deinem Zimmer?“ „Catherine und ich wollten Edinburgh ein bisschen würdig ausklingen lassen… Wir haben uns nur unterhalten.“ entgegnete Lea und versuchte dabei, glaubhaft zu wirken. „Unterhalten? Ja? Lea, morgen musst du früh zur Schule und es ist weit nach Mitternacht! Was denkst du dir?“ wetterte Elatha weiter und blickte nun vorwurfsvoll zu Catherine. „Wir…“ begann Lea, doch Elatha ließ sie nicht zu Wort kommen. „Und wieso dauert es so lange, bis jemand die Tür öffnet? Wieso ist sie überhaupt abgeschlossen?“ „Wir…“ begann Lea wieder, doch dieses Mal schaltete sich Catherine ein: „Wir haben ein bisschen geredet und sind dann eingeschlafen. Deshalb hat es so lange gedauert.“ „Und wieso war abgeschlossen?“ fragte Elatha noch einmal. Catherine betrachtete sie mit einem Anflug von Wut, dann meinte sie: „Ich bin ein Gewohnheitsmensch. Ich habe mich so daran gewöhnt, die Hotelzimmertür abzuschließen, dass es hier beinahe als Reflex betrachtet werden könnte.“ „Ein Reflex? Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“ entgegnete Elatha laut. „Gut, man könnte auch sagen, ich gönne mir ein bisschen Privatsphäre und verhindere so, dass unwillkommene Personen in meinem Zimmer stehen und mich in ihrer unverschämten Art wagen anzuschreien.“ antwortete Catherine beherrscht und hielt Elathas Blick stand. Lea musste sich ein Lachen verkneifen, doch eigentlich war es auch beängstigend, wie gut Catherine mit ihrer Kühle doch ihrer brennenden Wut Ausdruck verleihen konnte. Ihr Blick wanderte von Catherine zu ihrer Mutter und wieder zurück und wieder zu ihrer Mutter. Keine von beiden wollte noch irgendetwas sagen, doch Catherine hatte auch von sich gegeben, was sie loswerden wollte, und hatte damit Elatha wie mit der Hand ins Gesicht getroffen. „Ich gehe dann ins Bett.“ meinte Lea, ging an den beiden vorbei und verließ das Zimmer. Sie hörte, dass Elatha ihr folgte und beschleunigte ihren Schritt. „Du wartest, Fräulein!“ rief Elatha ihr hinterher, schloss zu ihr auf und hielt sie am Arm fest. „Das war nicht lustig!“ meinte sie und blickte Lea prüfend an. „Ich erinnere mich nicht, gelacht zu haben.“ stellte Lea fest und machte ihren Arm los. „Du sprichst schon so frech und vorlaut wie sie! Sie ist kein Umgang für dich! Du wirst nur noch die nötigsten Gespräche mit ihr führen. Ist das klar?“ Elatha war wirklich verärgert. „Oh, nur noch die nötigsten Gespräche soll ich mit ihr führen? Dann frage ich mich ernsthaft, wie ich sie dann noch ausspionieren soll! Und jetzt werde ich schlafen gehen. Immerhin muss ich morgen zur Schule!“ zischte Lea, machte auf dem Absatz kehrt und rauschte den Gang entlang in ihr Zimmer. Catherine blickte sich unschlüssig in ihrem Zimmer um. War ihr Bewusstsein nun erweitert? Sie schüttelte den Kopf und bemerkte, dass ihr immer noch schwindlig war. Sie fühlte sich anders, aber nicht besser. Catherine zog die Augenbrauen hoch. Lea hatte auch nicht gesagt, dass sie sich besser fühlen würde. Lea hatte aber auch nicht gesagt, dass sie sich fühlen würde, als hätte man ihr mit einem Holzprügel öfter auf den Kopf geschlagen. Catherine stöhnte und richtete sich schnell wieder auf, als sie bemerkte, dass es in ihrem Zustand überhaupt nicht förderlich war, sich nach den Sachen unter ihrem Bett zu bücken. Ihre Hand griff nach einem der Bettpfosten, da das schnelle Aufrichten auch nicht gut war. Sie schwankte und erlangte schließlich ihr Gleichgewicht zurück. Sie musste sich einfach auf die einfachsten Dinge konzentrieren: Stehen. Gehen. Atmen… Nein, Atmen klappte auch so. „Ist irgendetwas mit dir passiert?“ ertönte eine bekannte Stimme hinter ihr. Catherine fuhr erschrocken herum, sodass ihre Beine unter ihr nachgaben. Beinahe im selben Moment fühlte sie zwei starke Arme um sich, die ihren Fall abfingen. „Ich weiß, dass ich umwerfend aussehe, aber du solltest das nicht wörtlich nehmen, Catherine.“ Sie sagte nichts. Sie konnte nichts sagen. Sie blickte nur stumm in seine blauen Augen, die leicht violett schimmerten. Das Lächeln um seine Mundwinkel verschwand und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Was ist passiert? Was hat Armand dir angetan?“ fragte er und hielt Catherine ein Stück von sich weg. Sie schüttelte den Kopf, da sie ihn nicht verstand. Was war ihr passiert? Was hat Armand getan? Was hatte Armand damit zu tun? Was sollte er ihr oder noch jemandem angetan haben? Catherine schüttelte nur noch einmal den Kopf. Sie war im Moment nicht in der Lage, diese Fragen zu beantworten. Sie konnte sie nicht einmal einordnen… Die Fragen waren so kompliziert…. und seltsam gestellt. Hatte er gerade überhaupt gesprochen? Sie blickte ihn an. Was machte er hier? Nein! Diese Frage war eindeutig zu kompliziert. „Verstehst du überhaupt, was ich sage?“ fragte er und betrachtete sie genauer. „Oder hast du deinen Verstand verloren?“ fragte er weiter und studierte ihren Gesichtsausdruck weiter. Sie hatte sich doch gerade noch mit dieser Elatha gestritten und da war sie zurechnungsfähig gewesen, was sie nun offenbar nicht mehr war. „Ich bin fuzechnungsrähig.“ murmelte sie und versuchte, sich loszumachen. „Zurechnungsfähig heißt das… Und lass’ das gefälligst!“ entgegnete er und setzte sie auf ihrem Bett ab. Sie blickte ihn nur etwas verwundert an. Lestat schüttelte den Kopf Sie hatte wirklich den Verstand verloren. Und Armand musste etwas damit zu tun haben. „Weißt du…“ Catherine rutschte gegen den Bettpfosten und schlug sich den Ellenbogen an. „Autsch… Du hast ein echtes Problem.“ „Es scheint so… Und es sitzt auf dem Bett.“ presste er zwischen den Zähnen hindurch. Catherine drehte sich um und suchte mit den Augen die zerknautschte Bettdecke ab. „Wo?“ fragte sie und begegnete dann wieder fragend seinem Blick. Lestat griff sich an die Stirn. „Am besten, ich gehe wieder…“ murmelte er vor sich hin und schaute zum Fenster hinüber. Catherine nickte sofort eifrig. „Ja, das kannst du gut...“ bemerkte sie. Lestat fuhr herum und zwang Catherine, ihn anzusehen. „Darum geht es also? Und nur darum?“ „Nein, darum geht es nicht. Um was eigentlich? Bei was eigentlich? Ich verstehe dich nicht.“ gab sie zurück und blickte ihn befremdet an. „Was du nicht sagst…“ meinte er und kniete sich mit gesenktem Blick vor sie auf den Boden. Ihre Augen folgten seinen Bewegungen. „Geht es dir nicht gut? Ist etwas?“ fragte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter. Er lachte leise. „Und das fragst du… Das ist wirklich witzig.“ entgegnete er und hob den Blick. Sie presste die Lippen aufeinander und legte den Kopf schief. „Weißt du was?“ „Nein, was denn?“ fragte er und war froh, dass überhaupt etwas vor ihr kam, außer seltsamen Antworten. „Deine Augen sind… beinahe violett.“ bemerkte sie, als sei diese Feststellung die Entdeckung des achten Weltwunders. „Was du nicht sagst… Tatsächlich…?“ Sie nickte mit einem Hauch von Stolz. Sie schien zu nichts anderem mehr in der Lage zu sein, außer zu seltsamen Äußerungen – ob in Frage- oder Aussageform. „Ich geb’s auf.“ meinte er und erhob sich, doch ohne den Gegendruck von seiner Schulter auf Catherines Hand, kippte sie vornüber und landete unsanft auf dem Boden. „Autsch. Findest du das gut? Du kannst doch nicht so einfach… weggehen… Das ist doch nicht die feine englische Art!“ „Ich bin Franzose, falls du dich nicht erinnerst.“ „Ach, echt? Und ich… Ja, ich bin auch aus Frankreich… Oder?“ erwiderte sie verwirrt. Lestat nickte. „Deine Augen sind…“ begann sie wieder, doch er unterbrach sie: „…beinahe violett, ich weiß! Na, komm’ schon hoch!“ Lestat griff unter ihre Arme und zog sie zu sich. Er legte sich ihre Arme um die Schultern und blickte sie an. „Das wollte ich überhaupt nicht sagen… violett… pfff! Obwohl du Recht hast, sie sind beinahe violett…“ „Was wolltest du dann sagen?“ fragte Lestat etwas ungeduldig und nahm sie mit sich zum Fenster. „Ich wollte sagen, dass sie nicht schwarz sind… Ja, sie sind nicht schwarz.“ „Ja, sie sind auch nicht braun und nicht grün.“ stimmte er ihr zu und öffnete das Fenster, durch das er gekommen war. „Stimmt. Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch auf… Was machst du?“ „Wir gehen spazieren. Ich denke, etwas Nachtluft wird deiner momentanen geistigen Umnachtung vielleicht entgegenwirken.“ „Du bist so garstig! Ich denke überhaupt nicht daran, mit dir zu kommen…“ „Was du willst, zählt im Moment nicht. Du bist nicht fuzechnungsrähig!“ meinte er und kletterte mit Catherine in seinen Armen auf das Fensterbrett, um das Schloss und den Park schnell hinter sich zu lassen. Kapitel 64: Ein verlockendes Angebot ------------------------------------ Ein verlockendes Angebot Catherine wehrte sich gegen Lestats Griff, da sie überhaupt keine Veranlassung sah, mit ihm das warme Zimmer zu verlassen. Sie schlug mit den Fäusten gegen seine Brust, doch er war davon sichtlich unbeeindruckt. Wenn sie sich nur genau erinnern könnte, woher sie ihn kannte. Im Augenblick wusste sie nur, dass sie ihn kannte… „Hörst du jetzt endlich auf mit deinen Fäusten gegen meine Brust zu trommeln? Das nervt!“ Catherine blickte auf. „Dann lass’ mich los!“ „Hier und jetzt?“ fragte Lestat amüsiert und blickte nach unten, wo sich das dunkle Wasser eines Meeresarms erstreckte. Catherine zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. „Du wirst mich ja wohl irgenwo auf dem Land absetzen können…“ „Ich setz’ dich gleich am Nordpol ab, wenn du so weiter machst, oder auf den Shetland-Inseln oder in Feuerland. Wohin willst du?“ „Ich will überhaupt nirgends hin.“ „Dann bist du jetzt still, weil es hier nicht nach deinem Kopf geht. Du bist im Moment nicht ganz richtig im Kopf.“ meinte er und blickte wieder von ihr weg. „Ich finde die Art, in der du mit mir redest, sehr… vertraut, um nicht zu sagen respektlos!“ entgegnete Catherine und reckte sich etwas. „Das ist dein gutes Recht. Sag’ mal, weißt du eigentlich, wer du bist? Und wer ich bin?“ „Ich bin… Du bist… Franzose. Warst du doch, oder? Ja, das hast du zumindest gesagt. Ich bin das auch, aber ich bin schon lange in Schottland.“ „Nein. Du bist erst seit ein paar Monaten in Schottland.“ verbesserte er sie und erblickte in der Ferne eine Küste. „Nein. Ich bin schon so lange in Schottland, dass man nicht einmal mehr sagen kann, dass ich aus Frankreich bin.“ widersprach sie, worauf Lestat nichts mehr erwiderte, bis er festen Boden unter den Füßen spürte. „Kann ich dich loslassen, ohne dass du umfällst?“ „Ich bitte darum.“ meinte sie und er zog seine Arme zurück, doch sie taumelte sofort und fiel gegen Lestat. Er hob sie hoch und trug sie einen Abhang hinunter. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist betrunken, aber…“ „Das ist unerhört!“ entgegnete Catherine und hob den Blick. „So mit mir zu reden! Unerhört!“ „Irgendwie bist du nicht du selbst…“ bemerkte er überflüssigerweise und setzte Catherine auf einem Felsen ab. Sie betrachtete ihn. „Erkennst du das hier wieder?“ fragte er und blickte sich um. Sie blickte sich ebenfalls um. Um sie herum waren unregelmäßige Steine in regelmäßigen Abständen verteilt. Sie nickte. „Ich war schon einmal hier.“ „Ja! An was erinnerst du dich noch?“ „Ich war nicht allein.“ Lestat nickte. „Und ich war glücklich.“ fügte sie leise hinzu. Lestat blickte sie an. „Du brauchst mir nicht…“ begann er, doch sie hob die Hand und blickte sich weiter um. „Da waren Fackeln und viele Menschen – die meisten waren Frauen. Und ich habe bei irgendetwas zugesehen.“ meinte sie und stützte sich auf ihren Handflächen ab. Ihr war immer noch schwindlig. Lestat lehnte sich gegen den Felsen und verschränkte resignierend die Arme vor der Brust. „Du glaubst mir nicht.“ stellte sie fest, worauf er nur mit den Schultern zuckte. „Das ist genau euer Problem! Männer und Vertrauen. Männer und Treue… Das geht einfach nicht Hand in Hand miteinander! Männer und Gewalt. Männer und Untergang. Männer und Ungerechtigkeit… Ja! Das passt perfekt!“ meinte sie und begegnete dann seinem Blick. Er sagte nichts. Er wusste nicht, was mit ihr los war, doch er nahm an, dass sie ihre Worte nun darauf bezog, dass er sich nicht verabschiedet hatte… Wenn sie überhaupt kontrollieren konnte, was sie von sich gab. „Deine Augen sind nicht schwarz…“ „Das weiß ich nun wirklich.“ gab er zurück und sah, dass sie den Kopf senkte. „Seine waren es.“ murmelte sie kaum hörbar und drehte sich ein Stück weg. „Wessen? Wessen Augen waren schwarz, Catherine.“ fragte er und drehte sie an den Schultern wieder zu sich. „Ich bin nicht Catherine.“ meinte sie, schüttelte den Kopf und sah ihn verwundert an. „Wer bist du dann? Wie soll ich dich nennen?“ „Ich weiß es nicht… Ich dachte, du weißt, wer ich bin! Nimmst du immer irgendwelche fremde Frauen mit zu irgendwelchen Steinkreisen?! Was hast du eigentlich vor? Willst du mich opfern oder… Geh’ weg von mir!“ Catherine stieß ihn von sich und krallte ihre Finger in den großen Felsen, auf dem sie saß. Lestat zog langsam seine Hände von ihren Schultern zurück und ging einige Schritte rückwärts. Sie blieb sitzen, während er in einigem Abstand überlegend auf- und abging und mit einem Auge immer zu ihr hinüberschielte, ob sie nicht vom Felsen fiel. Zumindest schien sie wieder in der Lage, sich sitzend zu halten, aber was ging mit ihr vor sich? Lestat hob den Blick in den Himmel und sah die grauen Wolken vorbeiziehen. Er hatte in Venedig versucht, sie zu lokalisieren – wie er es schon so oft versucht hatte, doch dieses Mal… war es plötzlich geglückt. Da hatte sie gesessen. Ruhig und mit geschlossenen Augen. Und nicht so verwirrt. „Ich bin nicht verrückt!“ meinte sie, schwang die Beine von dem Felsen und wollte heruntergleiten, doch er stellte sich schneller vor sie, sodass sie oben sitzen blieb. „Das kommt mir irgendwie bekannt vor.“ murmelte sie und blickte ihn an. „Du hast vorhin von schwarzen Augen gesprochen. Was hast du damit gemeint? Wer hat schwarze Augen?“ „Schwarze Augen und schwarzes Haar… Ein Alchimist und… er war unheimlich, aber er hat mir das Leben gerettet. Versprechungen hat er gemacht und dann… gefordert, was ihm nicht zustand.“ antwortete sie mit zusammengekniffenen Augen, als würde sie aus ihren vielen Erinnerungen an diesen Mann die deutlichsten heraussuchen. „Er wollte ihren Sohn.“ flüsterte sie und blickte Lestat an. „Ihren Sohn? Welchen Sohn? Wovon sprichst du?“ fragte Lestat weiter, doch sie schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts von einem Sohn gesagt.“ meinte sie und blickte ihn an. Lestat atmete tief durch. Er durfte die Geduld nicht verlieren, aber inzwischen beschlichen ihn Vorstellungen, die ihn dabei zeigten, wie er Catherine in eine psychische Klinik brachte. Es war alles seine Schuld. Nein, war es nicht, das wusste er. Seufzend rieb er sich die rechte Schläfe und blickte dann wieder in Catherines Gesicht. Sie hielt seinen Blick und betrachtete ihn aufmerksam. Schwarzes Haar und schwarze Augen. Schwarze Augen und schwarzes Haar… Konnte sie sich an keinen Namen erinnern? Catherine schüttelte den Kopf und er nickte. „Du bist nicht Archibald.“ stellte sie fest. „Nein, ich bin nicht Archibald. Ich bin…“ Ihre Finger bewegten sich zu seinen Lippen und hinderten ihn mit sanftem Druck am weitersprechen. Vorsichtig strichen sie über seine Unterlippe und hielten dann zärtlich seine Wange. Ihre andere Hand wanderte ebenfalls nach oben, ohne dass Catherine ihren Blick von ihm nahm. Sie strich durch sein Haar, wartete einen Moment und zog ihn dann dicht zu sich. Er stand vor ihr… wie schon einmal, sie wusste es. Ihre Beine schlangen sich um ihn und sie streckte sich nach oben zu seinen Lippen. Er wich zurück und hielt sie an den Schultern fest. „Das solltest du nicht.“ meinte er beherrscht, worauf sie den Kopf schüttelte. „Sollte ich nicht? Haben wir so etwas nicht schon getan?“ fragte sie und betrachtete ihn. Er zog die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Das war etwas anderes.“ „Oh… Ja, gut. Wenn du meinst… Ich dachte nur…“ „Du dachtest was?“ fragte er mit gepresster Stimme. Sie hatte ihren Griff nicht gelöst. Sie hatte sich nicht ein Stückchen weiter von ihm entfernt und diese Nähe versuchte ihn, doch sie ließ sich nicht wegstoßen. Trotzdem oder gerade deshalb konnte er nicht abschätzen, inwiefern sie ein bisschen mehr wieder sie selbst war. Catherine. „Ich kann mich nicht an den Namen dieses… Alchimisten erinnern, aber du könntest ihn sehen.“ flüsterte sie. Er verstand nicht sofort, was sie meinte, also zog sie ihre eine Hand zurück, während die andere an seinem Hinterkopf liegen blieb, und schob etwas unsicher den Kragen ihres Shirts zur Seite, um den Blick auf ihren Hals frei zu geben. „Trink!“ flüsterte sie, worauf er den Kopf schüttelte. „Tu’ es!“ bat sie und suchte seinen Blick. Er weigerte sich noch immer. Langsam ließ sie den Kragen ihres Shirts wieder an seine ursprüngliche Position rutschen und wob ihre Finger in sein Haar. Sie zog ihn dichter zu sich und spürte seinen Atem auf ihren Lippen, bevor sie knapp voreinander im Stillstand verharrten. Sein Körper war gegen ihren gepresst, doch dagegen wehrte er sich nicht. „Catherine, ich kann nicht. Deine Situation… Du bist wahnsinnig… Im Moment, meine ich. Du kannst das nicht wirklich wollen.“ beharrte er auf seiner Meinung, doch Catherine lachte nur leise und bedeutete ihm, still zu sein. Ihre Finger fuhren langsam seinen Nacken entlang und blieben an seiner Brust liegen. Sie lockerte ihre Beine um ihn und entließ ihn schließlich. Lestat bemerkte es, doch er zögerte und blieb bei ihr stehen, als ob sie sich nicht geregt hätte. Sie streckte sich ein Stück weiter nach oben und berührte seine kühlen Lippen mit ihren, ehe sie zurücksank und ihn wieder von unten anblickte. „Dann bring’ mich bitte zurück.“ meinte sie und strich ihm noch einmal mit zwei Fingern über seine Lippen. Lestat entgegnete nichts, sondern nickte nur. Er zog Catherine zu sich und hielt sie während der Reise gegen sich gepresst. Catherine war benommen, doch ihre Hände gruben sich in den Stoff seiner Jacke. Sehnsucht. Wenig später erkannte sie den Park von Thirlestane Castle und stellte fest, dass er sie wieder direkt in ihr Zimmer brachte. „Ich bin so müde…“ murmelte sie und er legte sie auf ihr Bett. Ihr Kopf kippte zur Seite und ihre Augen fielen zu. Lestat zog ihr Schuhe, Hose und Shirt aus und deckte sie dann bis unter das Kinn zu. Sein Blick fiel auf ihr Haar. Vorsichtig ließ er seine Hand über die Locken streicheln und beute sich zu ihr hinunter. „Catherine, mach’ mir nie wieder so ein verlockendes Angebot.“ flüsterte er gegen ihre Lippen und küsste sie dann sanft. Kapitel 65: Nachwirkung: leichte Amnesie ---------------------------------------- Nachwirkung: leichte Amnesie Lestat betrachtete Catherine noch eine Weile, ehe er spürte, dass er gehen musste. Die Sonne würde bald aufgehen und er musste auch noch ein Stück nach Osten. Würde sie sich erinnern, was sie gesagt hatte? Würde sie sich erinnern, dass er bei ihr gewesen war? Zweifel beschlichen Lestat, weshalb er schließlich einen Zettel und einen Stift nahm und einiges niederschrieb, indem er versuchte, Catherines Schrift so gut wie möglich nachzuahmen. Sie brauchte nicht wissen, dass er hier gewesen war. Es würde sie nur ärgern, dass er wieder weg war. Er schrieb auf den Zettel ‚Archibald?’; ‚schwarze Augen’ und ‚schwarzes Haar’ und ‚Alchimist’, las dann noch einmal darüber und legte ihn auf den Boden vor das Bett, dass sie ihn am nächsten Morgen gleich sehen würde, sollte sie wieder normal sein. Sie würde ihn auch sehen, sollte sie immer noch übergeschnappt sein, aber… Nein, daran wollte er nicht denken. Er legte den Stift auf das Blatt und verließ dann ungesehen und unbemerkt Catherines Zimmer. Große Bäume tauchten die Gegend in erdrückende Dunkelheit. Der Wind wehte durch ihr offenes Haar und trug leise geflüsterte Worte zu ihr. ‚héo naefre wacode dægréd tó bisig mid dægeweorcum’ Unsicher drehte sie sich um, da sie Stimme hinter ihr zu sein schien, doch sie blickte ins Leere. Hinter ihr lag nur Dunkelheit und Stille. ‚ac oft héo wacode sunnanawanung thonne nihtciele créap geond móras’ Sie wandte sich der Stimme zu, doch erblickte wieder niemanden. Langsam ging sie weiter. Ihre Füße sanken in dem von Nässe aufgeweichten Weg ein und hinterließen tiefe Spuren. Regentropfen berührten sanft ihre Haut und perlten zuerst zaghaft an ihrem Haar nach unten, doch bald zitterte sie vor Kälte. Sie zog ihren schwarzen Umhang dichter um sich und stiefelte weiter. Sie musste weg von hier. Sie war hier in Gefahr – ihre gesamte Familie war es. Sie fror und gleichzeitig loderte die Wut in ihr. Wie hatte sie ihnen je Glauben schenken können? Wieso?! Sie konnte nicht mehr. Zu lange schon bahnte sie sich ihren Weg durch die schlammige, kalte Erde, doch ihre Todesangst trieb sie weiter. Sie spürte nichts mehr – keinen Schmerz, keine Wut, kein Leben. Erschöpft sank sie zu Boden und schloss die Augen. „Da ist sie! Fasst sie!“ Hände. Überall Hände. Ein dumpfer Schlag und dann nichts mehr. Erst später wieder Dunkelheit und Nässe. Und pochender Schmerz. „Es ist Zeit, dich schuldig zu bekennen!“ Stimmen. Scharfe Stimmen und Schläge. Folter. „Gestehe! Sag’ jetzt und hier die Wahrheit!“ Folter. Schmerzen und erstickte Tränen, die ihre Unschuld beteuerten. Doch dann brachen die Männer sie. „Ich gestehe! Ich bekenne mich schuldig!“ Alles, nur die Schmerzen... die sollten aufhören. Lange kam keine Antwort, doch dann durchbrach sie die Dunkelheit. „Wer mit dem Feuer spielt, wird brennen…“ Sie schloss die Augen nicht. Sie behielt sie offen und blickte den Mann an. Sie blickte von einem Mann zum anderen. „Möchtest du Gott um Vergebung bitten?“ Sie blieb stumm und man brachte sie fort. Geschrei. Lautes Geschrei und immer wieder Schläge gegen ihre Beine, sodass sie strauchelte. „Des Teufels Ausgeburt!“ „Brennen soll sie!“ Die Leute waren aufgebracht, bespuckten und bewarfen sie, doch kein Laut kam über ihre Lippen. „Verdammt bis in die Ewigkeit!“ schrie ihr einer wütend entgegen. Angst. Tiefe, entsetzliche Angst erfasste ihre Seele, als sie den Scheiterhafen hinaufgeführt wurde. „Mylady, Duchess of Irvine, Ihr wurdet als Hexe und Ketzerin überführt und werdet deshalb an diesem Tag bei lebendigem Leib im Namen der Heiligen römischen Kirche verbrannt.“ Das Feuer wurde entzündet und dicker Rauch stieg auf. Die Menschen grölten. „Möge Gott Eurer Seele gnädig sein!“ leierte der Vorstand. Die hohen Flammen umzüngelten sie und sie musste zu husten beginnen. „Im Morgenrot, beim ersten Sonnenschein, wirst du bereits Asche sein!“ Plötzlich verspürte sie eine unbändige Wut in sich und rief gegen die knisternden Flammen an: „Der Tag wird kommen - und mögen Jahre vergeh’n – da jemand erscheint, der vom Schicksal auserseh’n, doch ihm sollen dreimal sieben gewesen sein, zu erfüllen des enttäuschten Herzens wütende Rache, zu beenden der gebrochenen Seele folternde Pein, indem schweres Blut sich ergieße und Feuer entfache, indem das Rad des Schicksals erneut dreht das Sein…“ Husten. Grässlicher Husten. Catherine schreckte aus ihrem Traum hoch und legte ihre Hand an die trockene Kehle. Sie verspürte immer noch einen Hustenreiz. Alles in ihrem Rachen war so trocken! Das Schlucken war ihr kaum möglich. Sie richtete sich auf und hustete noch einige Male. Es begann zu schmerzen. Ihr Zimmer war dunkel. Und keine Stimme drang zu ihr, die ihr mitteilte, dass auf ihrem Nachttisch ein Glas Wasser stand. Catherine lachte leise. Dort stand auch keines. Und niemand stand in ihrem Zimmer. Sie war allein und es war nur ein Traum gewesen. Der Traum. Genau der Traum, von dem sie gehofft hatte, er würde ihr einige Antworten auf ihre Fragen geben, wenn sie ihn nur ein Stückchen weiter träumte - und nicht vorher geweckt wurde. Nun war sie von selbst aufgewacht und konnte niemand dafür verantwortlich machen. Sie blickte zum Fenster. Dort stand kein Mann, von dem sich nur ein schwarzer Schatten abzeichnete, doch draußen wurde es bereits Tag. Der Himmel schimmerte in dunklem Grau. Catherine drehte sich zur Seite, um die Lampe auf dem Nachttisch anzuknipsen. Irgendwo auf der anderen Seite stand eine Wasserflasche, das wusste sie. Sie angelte mit der Hand nach ihr und trank endlich die wohltuende Flüssigkeit. Skeptisch und nachdenklich zugleich betrachtete sie die Flasche, während sie langsam die letzten Schlücke Wasser ihre Kehle hinunterrinnen ließ. Das Wasser gefror nicht. Catherine schraubte die Flasche wieder zu und stellte sie auf den Boden zurück. Diese Kräfte hatte sie nun unter Kontrolle. Und da war zum Glück keine Stimme, die ihr das Gegenteil oder eine andere Neuigkeit weismachen wollte. Nein, alles um sie herum war still und friedlich. Hexerei und Ketzerei. Die Verurteilung der Duchess of Irvine… Immer noch kannte sie keinen Namen. Mylady, Duchess of Irvine. Vielleicht war sie die Gattin vom Duke of Irvine. Wahrscheinlich. Es war wahrscheinlich, dass sie die Gattin vom letzten Duke of Irvine gewesen war. Bestimmt war ihre Verurteilung der Grund, dass der letzte Duke wirklich der letzte gewesen war. Catherine rieb sich die Stirn. Ihre Gedanken drehten sich, doch sonst fühlte sie sich gut. Sie wandte den Blick und sah, dass ihre Kleidung am Ende des Bettes lag… Sie konnte sich nicht erinnern, sich umgezogen zu habe. Überprüfend hob sie die Bettdecke und stellte fest, dass sie nur Unterwäsche trug. Also hatte sie sich nur ausgezogen. Catherine rollte mit den Augen und richtete sich auf. Vielleicht war es auch Lea gewesen oder… Nein, das hatte sie wahrscheinlich auch nur geträumt. Zerstreut schüttelte sie den Kopf, stand auf und ging schnell ins Bad, um zu duschen. Irgendwie fühlte sie sich doch nicht so wohl, wie sie geglaubt hatte, als sie noch zwischen den Kissen und Decken gelegen hatte. Dieses Gefühl war ein bisschen mit dem Gefühl zu vergleichen, das sie immer gehabt hatte, wenn sie mit ihren Freunden zelten gewesen war – was in allen vergangenen Sommerferien insgesamt drei Mal vorgekommen war. So ein gewissen dreckiges, unausgeschlafenes und schwer zu beschreibendes Gefühl… einfach, als hätte sie die Nacht draußen irgendwo verbracht. Wieder schüttelte sie den Kopf, ließ das warme Wasser über ihren Körper rinnen und tapste wenig später einigermaßen erfrischt wieder in ihr Zimmer. Sie suchte sich neue Kleider aus dem Schrank heraus, stellte fest, dass im Schrank und unter dem Bett irgendwelche Unterlagen verstreut waren und warf schließlich einen genauen Blick auf sie, um festzustellen, dass sie sie kannte, sie nur sehr durcheinander waren. Innerhalb weniger Augenblicke hatte sie die Papiere wieder geordnet und vorsichtig sicher verstaut, ehe sie bemerkte, dass in ihren gestrigen Kleidern Moos und Blätter hingen. Sie hoffte, sie war nicht irgendwie durch den Park gerannt und hatte sonst etwas angestellt… Sie musste Lea fragen! Vor allem musste sie fragen, ob diese Blackouts etwas mit dem Bewusstsein-Erweitern zu tun hatten. Kopfschüttelnd legte sie ihre Kleidung zu der schmutzigen Wäsche, wobei ihr Blick auf den Boden und einen kleineren Zettel fiel. Sie hob ihn auf und las die Stichworte. Schwarzes Haar. Schwarze Augen. Alchimist. Archibald. Catherines Augenbrauen zogen sich zusammen. Archibald… Archibald. Den kannte sie nicht. Oder? Sie schüttelte den Kopf. Wer immer versucht hatte, ihre Schrift zu imitieren, würde ihn kennen, allerdings erkannte Catherine den Schrift-Fälscher nicht. Und sie selbst konnte sich nicht erinnern, es aufgeschrieben zu haben… Vielleicht hatte sie gestern Nacht aber tatsächlich so krakelig und krumm geschrieben. Darum würde sie sich später kümmern. Schulterzuckend schob sie den Zettel ein, schüttelte ihr Bett auf und lüftete ihr Zimmer, während sie frühstücken ging. Kapitel 66: Krisengespräch am Morgen ------------------------------------ Krisengespräch am Morgen In der Küche herrschte reges Treiben, denn bald würden die ersten zum Frühstück im Saal erwartet. Catherine setzte sich an den Tresen und begnügte sich mit einem Kaffee und einem Croissant, lehnte aber etwas anderes als Butter als Aufstrich ab. Das war ein richtiges französisches Frühstück. Catherine biss in das Croissant und dachte über den Traum nach. Sie musste später unbedingt aufschreiben, woran sie sich noch erinnerte. Am Schluss schien so eine Art Prophezeiung gesagt worden sein… Die war bestimmt wichtig. Und dann wollte sie unbedingt noch weiter im Tagebuch der kleinen Mary lesen, doch auch die Runen wollte sie sich noch einmal ansehen. Es war so viel zu tun, dass sie kaum wusste, wo sie anfangen sollte. In Gedanken versunken nahm sie einen Schluck Kaffee und bemerkte überhaupt nicht, dass Lea sich neben sie setzte. „Morgen, wie geht es dir?“ fragte sie und blickte Catherine prüfend an. „Morgen. Es ging mir schon besser, aber im Großen und Ganzen… eigentlich gut. Und dir?“ Lea atmete erleichtert aus. „Ein Glück!“ presste sie durch ihre Lippen und dankte der Angestellten, die ihr Brötchen, einen Tee und eine riesige Auswahl an Aufstrich, Käse und Wurst vor die Nase stellte. „Ich habe gestern noch so Panik bekommen!“ „Wieso das? Hast du so etwas Schlimmes in meinen Erinnerungen gefunden?“ fragte Catherine mit gedämpfter Stimme und nahm sich doch noch ein Brötchen von Leas Teller. „Das auch… Aber darüber wollte ich mit dir nicht sprechen… Die Sache mit Sebastien ist aber schon heftig… Na, egal. Du willst mit Sicherheit nicht darüber reden, nicht wahr?“ Catherine nickte und Lea fuhr fort: „Nein, gut. Also: ich habe gestern Abend noch in den Büchern nachgeschaut, in denen solch ein Vorgang dargestellt ist, und bin dann über eine kleine Notiz gestolpert…“ Catherine zog die Augenbrauen hoch und nickte. „Über was für eine Notiz?“ Lea rieb sich die Stirn und wirkte leicht verlegen. „Nun, ja. Ich wollte noch einmal nachlesen, ob ich überall war, wo man in deinem Kopf herumspazieren konnte… Insgesamt hat sich für mich übrigens kein abgeschlossenes Bild gezeigt… und ich habe festgestellt, dass es wohl fast soweit war.“ „Nur fast? Ich hatte den Traum wieder… Darauf kam es mir ehrlich gesagt vor allem an.“ meinte Catherine und schenkte sich noch Kaffee nach. Lea nickte. „Richtig, aber ich habe einen schweren Fehler gemacht. Ein Fehler, der bei einer schwachen Person zu gewissen Veränderungen führen kann… Damit will ich nicht sagen, dass du eine schwache Person bist, aber: naja…“ „Du siehst, es ist alles in Ordnung. Was hast du also falsch gemacht?“ „Ich hätte dich nicht einfach so aus der Meditation holen dürfen. Ich hätte dich langsam und in deinem Kopf darauf vorbereiten müssen, dass ich fertig bin, dass du nicht länger in Meditation bleiben musst… Und dann hätte ich abwarten müssen, bis du selbst bereit bist.“ Lea nickte und fuhr dann fort: „Aber dann hat meine Mutter geklopft. Nein, da wusste ich ja noch nicht, dass sie es ist, aber es hat geklopft. Und da bin ich in Panik geraten und hat dich geschüttelt und an dir gezogen.“ „Stimmt. Daran kann ich mich erinnern. Und? Habe ich danach irgendwie seltsam auf dich gewirkt?“ „Seltsam? Nicht wirklich, aber du warst etwas anders. Du bist meiner Mutter mit kalter Wut ziemlich hasserfüllt begegnet…“ „Deshalb brauchst du dir keine Sorgen zu machen: Das war nicht das erste Mal.“ „Nicht?“ fragte Lea noch einmal nach, worauf Catherine den Kopf schüttelte. „Okay, sagen wir: du warst gleich nach dem Aufwachen du selbst…“ Catherine nickte. „…Wo warst du heute Nacht?“ Lea biss in ihr Brötchen und verschluckte sich fast, als sie Catherines überraschten Blick sah. Einen Moment lang sagte sie nichts und reagierte auch nicht auf Leas Fragen und Erklärungen, die sie noch zusätzlich in den Raum warf. Dann meinte sie leise: „Zelten…“ „Hä?“ Lea ließ ihr Brötchen nun endgültig sinken und fasste Catherine an die Stirn. „Lass’ das, mir geht es wirklich gut. Du warst also, nachdem du diese Notiz über das Aufwecken und die Gefahren gelesen hast, noch einmal in meinem Zimmer… Und ich war nicht da?“ Lea nickte. „Und das Fenster?“ „Das Fenster war verschlossen. Deine Schuhe waren noch da und deine Jacke, aber du warst weg.“ „Tja, ich kann mich nicht erinnern, wo ich war. Ich erinnere mich nicht einmal, dass ich weg war, aber… Was sind eigentlich die Veränderungen?“ „Unzurechnungsfähigkeit. Wahnsinn. Und … Amnesie.“ fasste Lea zusammen und blickte Catherine prüfend an. „Cate, bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Ich verzeihe mir das nie, wenn ich dich in die Klapsmühle gebracht habe.“ „Bis auf eine leichte Amnesie konnte ich bisher nichts feststellen. Wirke ich irgendwie verrückt auf dich?“ Lea schüttelte den Kopf. „Siehst du? Es ist alles halb so schlimm.“ Lea nickte und Catherine überlegte eine Weile, bevor sie weitersprach. „Wie kommst du darauf, dass es nur beinahe soweit gewesen ist?“ fragte sie schließlich. Lea trank von ihrem Tee und nickte. „Nun, es ist… eigentlich nur so ein Gefühl. Vor allem war das Ende zu abrupt, dass dein Geist mit der veränderten Einstellung abschließen konnte. Es ist aber wahrscheinlich, dass du es immer noch nicht kontrollieren kannst. Ich denke, dass du gestern Nacht ein wirklich erweitertes Bewusstsein hattest und Dinge gesehen hast, die dich dazu veranlasst haben, dein Zimmer zu verlassen. Ich habe wirklich keine Ahnung, was du alles getan hast.“ Catherine nickte. „Du sagtest, schwache Personen würde es in den Wahnsinn treiben. Was ist mit stärkeren? Was geschieht mit denen, wenn sie bei so etwas unterbrochen werden?“ fragte sie und Lea erklärte: „Da du heute wieder völlig normal zu sein scheinst, wird sich dein Schutzschild wieder erholt haben. Das ist gut für dich, allerdings war dann das Training gestern Abend umsonst.“ Catherine nickte wieder nur und blieb stumm. „Wir könnten das wiederholen, Cate. Das ist, denke ich, kein Problem.“ „Nein. Zumindest nicht gleich. Es gibt noch so viel anderes zu tun. Das Tagebuch. Ich kenne ein weiteres Stück des Traumes, das mir auch schon viel mehr sagt. Die Runen… Ja, die Runen lassen mir auch keine Ruhe. Und dann habe ich gestern Nacht noch Anhaltspunkte aufgeschrieben. Zwei oder sogar drei von ihnen sagen mir etwas, der vierte nicht. Dem werde ich auch nachgehen. Ich denke, damit sind wir in der nächsten Zeit ausreichend beschäftigt… Zumal wir beim nächsten Versuch, den wir in dieser Bewusstseins-Sache starten, richtig dafür sorgen sollen, dass uns niemand stören kann.“ verkündete Catherine und Lea stimmte ihr zu. „Du musst allerdings leider allein anfangen. Ich muss zur Schule, sonst bekommt Elatha einen Anfall.“ schränkte Lea das weitere Vorgehen ein. „In Ordnung. Wann kommst du wieder?“ „Gegen halb fünf heute Abend.“ meinte Lea zähneknirschend. „Und das nur, weil wir noch Schwimmen haben…. Wer braucht schon Schwimmen. Ich kann ja schwimmen, aber wer braucht schon Delphinschwimmen oder Kraulen auf Zeit? Ich jedenfalls nicht!“ Catherine nickte geistesabwesend. „Sag’ mir doch noch einmal bitte, wo die Bücher stehen, in denen du diese Notiz gefunden hast!“ „In Reihe B4 ab Nummer 1756. Bis… pfff... ungefähr Nummer 1788. Es lässt dir keine Ruhe, oder?“ „Vielleicht komme ich noch dazu.“ meinte Catherine und verabschiedete sich kurz darauf von Lea, die schon spät dran war. Catherine saß schon lange mit einigen der Unterlagen in ihr Zimmer und schrieb den Traum nieder. Der grobe Verlauf. Die Folter und dann die Verurteilung und der Beginn der Hinrichtung. Catherine war klar, dass der Traum noch nicht zu Ende war. Sie blickte auf. War er wirklich noch nicht zu Ende? Er endete mit Husten. Mylady erstickte. Ende. Einfach so. Catherine lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Prophezeiung war nicht vollendet worden… vielleicht doch, aber nicht in ihrem bisherigen Traum. Sie musste die Worte aufschreiben, um sie nicht zu vergessen. Nachdenkend lehnte sie sich wieder nach vorne und ließ ihre Feder über das Blatt gleiten. ‚Der Tag wird kommen – und mögen Jahre vergeh’n/ da jemand erscheint, der vom Schicksal auserseh’n/ Doch ihm sollen dreimal sieben gewesen sein/ zu erfüllen des enttäuschten Herzens wütende Rache/ zu beenden der gebrochenen Seele folternde Pein/ Indem schweres Blut sich ergieße und Feuer entfache/ Indem das Rad des Schicksals erneut dreht das Sein…’ Catherine las die Worte immer und immer wieder durch und blieb bei der dritten Zeile immer wieder hängen. ‚Ihm sollen dreimal sieben gewesen sein.’ Das konnte alles bedeuten. Und nichts. Catherine atmete tief durch und konzentrierte sich. Zeile für Zeile ging sie die Worte noch einmal durch. Die erste Zeile war klar: Ein Tag würde kommen… egal, wie lang es dauerte. Die zweite Zeile verstand sie auch: An diesem bestimmten Tag kam ein Auserwählter. Die dritte Zeile…. übersprang sie schnell und ging weiter zur vierten und fünften: Dieser Auserwählte sollte Rache erfüllen und Schmerzen beenden – höchstwahrscheinlich die Rache und Schmerzen der Myady. Die letzten beiden Zeilen empfand Catherine auch als etwas verwirrend. Das alles sollte geschehen, indem schweres Blut sich ergoss und Feuer entfachte und das Rad des Schicksals gedreht wurde und das Sein veränderte. Das Rad des Schicksals. Catherine ließ ihren Füller sinken und erhob sich. Das Rad des Schicksals… Sie erinnerte sich an ihre Namensgebung und blickte noch einmal hinunter auf das Blatt. Schweres Blut und Feuer. Schweres Blut. Sie lächelte unwillkürlich, doch gleichzeitig beschlich sie ein schockierender Gedanke: War das alles nun der Beweis, dass sie der… die Auserwählte war? Kapitel 67: Ein unvollständiges Schriftstück -------------------------------------------- Ein unvollständiges Schriftstück Catherine hatte alles aufgeschrieben und hatte sich ein Bild über alle Quellen gemacht, die irgendetwas mit Blut und Feuer zu tun hatten, und war zu dem Schluss gekommen, dass ihr Großvater zu Recht ‚das Blut der Lasair’ angenommen hatte. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Sie begrüßte diese Möglichkeit nicht, aber es schien sich alles zu dieser Lösung zu verdichten. Sie lehnte sich zurück, legte die Unterlagen beiseite und suchte nach dem Tagebuch, das nicht auf ihrem Schreibtisch lag. Catherine erhob sich, schichtete die Unterlagen von einer Seite auf die andere, doch fand es nicht. Aufgeregt ging sie zum Schrank und durchwühlte ihre Kleider, doch auch dort war es nicht. „Verdammt.“ murmelte Catherine und biss sich auf die Lippen. Sie konnte sich das nicht erklären. Es musste hier irgendwo sein! Es war in ihrem Zimmer gewesen – in ihrem Schrank unter den Kleidern, in ihrem Nachttisch, auf dem Schreibtisch bei den Unterlagen und… Catherine sah sich suchend um, doch natürlich lag es nirgends offen da. Sie zog den Schreibtisch ein Stück von der Wand weg, ließ sich auf die Knie nieder und sah nach, ob es hinuntergefallen war. Fehlanzeige. Zuletzt hatte sie es auf ihrem Bett gesehen und dann hatte alles schnell gehen müssen. Es musste in der Nähe des Bettes sein. Darunter wahrscheinlich. Catherine beugte sich hinunter, hob die Tagesdecke hoch und erblickte es. „Gott sei Dank!“ stieß sie erleichtert aus, angelte nach dem Tagebuch und presste es an ihre Brust. Verwundert schüttelte sie den Kopf. Wo sollte es sonst gewesen sein? Wieso hatte sie sich so aufgeregt? Dazu gab es keinen wirklich Grund – es war von Anfang an unwahrscheinlich, dass es jemand gefunden hatte. Wann war sie schon einmal nicht in ihrem Zimmer gewesen? Kein Grund zur Aufregung. Sie beugte sich noch einmal nach vorne, um nachzusehen, ob auch sonst nichts mehr unter ihrem Bett lag außer ihrer Reisetasche, und stellte fest, dass keine Papiere und auch sonst nichts in die Richtung, aber ein kleines, weißes, rundes Ding dort lag. Sie streckte ihre Hand danach aus und zog es hervor. Ein Knopf. Catherine zog die Augenbrauen hoch. Ein Knopf, der nicht von ihrer Kleidung kannte. Das konnte sie mit Sicherheit sagen, da sie keine Kleidungsstücke mit solchen weißen Knöpfen besaß. Sie betrachtete ihn genauer und stellte fest, dass es der Knopf eines Hemdes war. Augenblicklich schoss ihr Lestats weißes Hemd durch den Kopf, aber das war unmöglich: Seit Lestat das letzte Mal hier gewesen war, war Catherines Zimmer etliche Male geputzt worden – und die Reinigungskräfte auf Thirlestane Castle waren gründlich. Lea kam gegen Abend erst wieder zurück und wurde von Elatha abgefangen, sodass Catherine ihr nur ein Zeichen gab, später zu ihr zu kommen, und gleich wieder die Treppe hinauf verschwand. Es dauerte nicht sehr lange, bis Lea tatsächlich an die Tür klopfte und eintrat. „Ist alles klar? Hast du noch etwas Seltsames bemerkt?“ fragte Lea nach der Begrüßung und setzte sich auf die Tagesdecke des Bettes. „Ich habe den Traum aufgeschrieben und diese… weissagenden Worte…“ Lea schüttelte den Kopf, worauf Catherine verstummte. „Nein, das meinte ich nicht.“ erklärte sie. „Ist dir an dir selbst noch etwas Seltsames aufgefallen?“ fragte sie. Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin völlig normal. Allerdings kann ich mich nicht an gestern Nacht erinnern. Der Streit mit Elatha… Ja, der ist noch präsent. Alles danach ist weg.“ „Hast du in den Büchern gelesen, nach denen du mich gefragt hast?“ „Nein. Kannst du dich später darum noch kümmern? Dann lese ich weiter im Tagebuch.“ Lea nickte. Es war zwar langweiliger, in diesen theoretischen Büchern nach Nebenwirkungen und Problemen zu suchen, aber Catherine hatte den Anfang des Tagebuchs gelesen und war somit eingelesen, und deshalb brachte es sie nicht weiter, wenn sie nun die Aufgaben tauschten. Und immerhin war es wahrscheinlich auch Catherines Vorfahrin, die das Tagebuch geschrieben hatte. Innerhalb der nächsten zwei Stunden hatte Lea alles vorwärts und rückwärts durchgeblättert, jeden Erfahrungsbericht fünfmal gelesen und war schließlich sicher, dass die Schäden, die Catherine erlitten hatte, nicht dauerhaft sein würden. „Ja… und die Erinnerung an die letzte Nacht müsste irgendwann auch zurückkommen.“ schloss sie ihre Ausführungen ab und nickte noch einmal. „Gut.“ entgegnete Catherine einsilbig und klappte das Tagebuch zu. „Fehlanzeige.“ fügte sie hinzu, als sie Leas fragendem Blick begegnete. „Wie? Das kann doch nicht sein!“ rief Lea völlig perplex. „Es stimmt aber.“ versicherte Catherine und hielt ihr das Tagebuch hin, doch Lea schüttelte den Kopf. „Irgendetwas muss doch aber noch passiert sein!“ beharrte Lea. Catherine seufzte, nahm sich das Tagebuch noch einmal vor und begann dann, den Inhalt des kleinen, wertvollen Buches zusammenzufassen: „Im April 1607 schreibt die sechsjährige Mary, dass ihre Mutter krank ist und ihr nicht erlaubt wird, sie zu sehen. Der Vater ist deprimiert und die Ärzte hüllen sich in Schweigen. Die Situation ist ernst. Erinnerst du dich?“ „Klar! Natürlich! Wie kannst du nur so etwas fragen…“ meinte Lea entrüstet, da ihr Erinnerungsvermögen ernsthaft angezweifelt wurde. „Schon gut!“ beschwichtigte Catherine sie und blätterte weiter. „Es folgen kürzere Einträge, die eigentlich nur mitteilen, dass sich der Zustand der Mutter nicht bessert…. Die Abstände zwischen den einzelnen Einträgen werden unregelmäßig und größer. Der nächste Eintrag, der etwas Neues mitteilt ist vom September 1607. Und zwar… Ach, ja: Sie besuchen noch die Messe und Mary hadert mit Gott… Du weißt, was ich meine, oder?“ Catherine hielt erneut inne und Lea nickte. „Gut… Dann steht in demselben Eintrag noch etwas über die argwöhnischen Blicke der Bevölkerung.“ „Ja, es scheint etwas vor sich zu gehen. Der Meinung waren wir doch, oder?“ fragte Lea dazwischen. „Ja, die Situation schien sehr angespannt.“ stimmte Catherine zu und suchte nach einem weiteren Eintrag. „Kurz darauf, nämlich im Oktober 1607 muss der Vater geschäftlich weg… Das ist eigentlich unwichtig, allerdings berichtet ein weiterer Eintrag im Oktober 1607 von diesem Gespräch mit Anne, der Amme, indem Mary erfährt, dass ihre Mutter ein totes Kind zur Welt gebracht hat. Und so weiter.“ „Ja, die Besessenheits-Geschichte. Ich erinnere mich auch daran.“ meinte Lea, wobei sie damit nichts betonen wollte. Catherine lächelte flüchtig und nickte, ehe sie weitersprach: „Genau. Die Ärzte… machen weiter, wofür sie bezahlt werden. So: und im Dezember hat Mary diese Horror-Begegnung mit ihrer Mutter, weil sie Stimmen aus dem Zimmer hört.“ „Okay, das wusste ich ja schon so ungefähr. Wie geht es weiter?“ fragte Lea und lehnte sich auf die Ellenbogen zurück. „Dann geht es weiter, dass sie nicht mehr hingeht, sich aber natürlich immer noch Sorgen um ihre Mutter macht… Immerhin ist sie ja ihre Mutter. Ihr Vater kommt irgendwann zurück… Das muss um Weihnachten gewesen sein. Mary schreibt irgendetwas von heidnischen Bräuchen der Dorfbewohner. Ich nehme an, sie meint das Schmücken mit Tannenzweigen um die Weihnachtszeit.“ Lea nickte. „Das ist möglich… Nein, das wird schon gemeint sein. Etwas anderes ergibt keinen Sinn.“ stimmte sie zu und ließ Catherine weitersprechen. „Der Vater bringt einen Freund mit. Einen Forscher, schreibt sie. Sie vermutet, dass er aber auch Arzt ist. Und dann… warte mal!“ Catherine las noch einmal den Abschnitt genauer durch und meinte dann: „Das hätte mir vorher auffallen müssen!“ „Was denn?“ wollte Lea wissen und beugte sich zu ihr nach vorne. „In diesem Eintrag vom Dezember steht: ‚Vater ist gesund aus Edinburgh zurückgekehrt und brachte einen Gast mit in das Haus. Er ist ein Forscher, ich aber denke, dass er auch Arzt ist und wegen Mutter hier ist. Die Bediensteten sind froh, dass erneut ein kultiviertes Abendessen mit einem vornehmen Bürger einer großen Stadt abgehalten wird. Es scheint, so können sie meine Mutter und ihre Krankheit vergessen.“ „Und? Ist das etwas Besonderes?“ fragte Lea, da Catherine eine kleine Pause eingelegt hatte. „Nein, aber jetzt kommt es: ‚Seine Person zieht sehr viel Aufmerksamkeit auf sich. Sein Erscheinen ist unglaublich. Alle sind von ihm fasziniert, doch ich fürchte ihn. Er ist unheimlich. Seine Haut strahlt weiß glänzend wie Perlmutt und seine Augen sind rabenschwarz.’ Weißt du, was ich denke?“ „Dieser Forscher oder Arzt…“ „Ein Alchimist.“ flüsterte Catherine und griff nach dem Zettel in ihrer Tasche. Alchimist. Schwarzes Haar. Schwarze Augen. Archibald. „Was auch immer. Von mir aus auch Alchimist. Er ist der Mann, den du in deinen Visionen gesehen hast. Die Visionen, von dem Jungen George und von der Kranken im Bett, meine ich. Dachtest du das?“ Catherine nickte. „Ja. Der Mann, den ich in meinen Visionen gesehen habe. Er ist Forscher, Arzt, Alchimist und Vampir.“ Sie schwieg eine Weile, um ihre Gedanken zu ordnen. Lea biss auf ihren Lippen herum und dachte ebenfalls nach. „Ich frage mich, ob irgendeiner der Vampire ihn kennt oder kannte.“ murmelte Lea. Catherine schüttelte den Kopf, doch es war ihr durchaus bewusst, dass es sein konnte, weshalb sie dann doch nickte und schließlich die Schultern zuckte. „Was war das jetzt? Nein? Ja? Keine Ahnung?“ fragte Lea und zog die Augenbrauen hoch. Catherine lächelte angespannt. „Ich weiß es nicht.“ „Und was spricht gegen die verschiedenen Möglichkeiten?“ „Nun. Wenn sie ihn kennen oder kannten, dann hätten sie auch etwas über Thirlestane Castle, über meine Familie und die allgemeinen Vorgänge in Vergangenheit und Gegenwart wissen können. Wenn sie ihn nicht kennen oder kannten, dann verstehe ich immer noch nicht, warum sie je hier waren und sich für diese Vorgänge interessiert haben. Und daraus folgt: Ich weiß nicht, was ich denken soll.“ erklärte Catherine, was Lea etwas verwirrte. „Soll ich das Ganze noch komplizierter machen?“ fragte sie, nachdem sie noch einmal über Catherines Worte nachgedacht hatte, wartete aber keine Antwort ab. „Was ist, wenn sie ihn damals nicht kannten, inzwischen aber kennen?“ fragte sie. Catherine stöhnte auf. „Das ist egal. Sie sind eh nicht hier, um uns tatkräftig zur Seite zu stehen.“ lehnte es Catherine ab, darüber ernsthaft nachzudenken. „Wenn sie ihn aber kennen würden….“ begann Lea wieder. „Lea! Das bringt uns nicht weiter!“ „Lass’ mich doch! Wenn sie ihn kennen würden, dann könnte man sie nach ihm fragen. Vielleicht wussten sie nur nicht, dass er damit etwas zu tun hat… Ja, genau: Wer sagt dir, dass sie etwas über die Vorgänge auf Thirlestane Castle wissen müssen, wenn sie ihn kennen?“ Catherine schüttelte den Kopf. „Niemand, aber überleg’ einmal: Wenn wir sie fragen, ob sie ihn kennen – abgesehen davon, dass sie weg sind und wir sie also nicht fragen können, dann sagen sie uns: Ja, den kennen wir oder kannten wir… Oder was auch immer, aber dann wissen sie immer noch nichts, was uns in dieser Sache weiterhilft. Deshalb ist es egal, ob sie ihn kennen oder nicht. Wichtig ist das Wissen über die Vorgänge und das haben sie auf jeden Fall nicht. War das jetzt richtig oder habe ich mir selbst widersprochen?“ Catherine wusste es wirklich nicht mehr genau, nickte aber schließlich. Lea nickte auch. Sie hatte Recht. „Und das war alles, was das Tagebuch hergibt? Wirklich alles?“ fragte Lea. Catherine hätte es selbst nicht geglaubt, wenn sie es nicht gesehen hätte, also nahm sie Lea ihre Zweifel nicht übel, sondern übergab ihr das Tagebuch, dass sie sich selbst überzeugen konnte. Nach einer Weile ließ Lea das Buch sinken und meinte: „Tatsächlich. Die folgenden Einträge bis zum März 1608 handeln von belanglosen Dingen… und die letzten Seiten sind herausgerissen. Und das bedeutet…“ „Dass sie entfernt wurden, weil sie entweder wertlos waren oder etwas sehr Wichtiges enthielten.“ schloss Catherine. „Letzteres ist meiner Ansicht nach wahrscheinlicher… Wer hat sie entfernt? Und wo sind sie jetzt? Was stand noch im Tagebuch?“ fragte Lea, doch richtete diese Fragen nicht an Catherine. „Das werden wir wohl nie erfahren.“ vermutete Catherine leise. Kapitel 68: Wer sucht, der findet? ---------------------------------- Wer sucht, der findet? Sie fühlte eine entsetzliche und unerträgliche Leere in sich, die dafür sorgte, dass ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Enttäuschung. Traurigkeit. Ratlosigkeit. Angst. Sie schloss die Augen und schluckte die Tränen hinunter. Catherine fühlte sich seit mehreren Tagen schlecht. Seit dem Tag, an dem ihr bewusst geworden war, dass sie wiederum an einem Punkt angelangt war, von dem aus sie nicht einmal in der Ferne ein winziges Licht entdecken konnte. Lea ging wie üblich zur Schule und brachte kleine, ermunternde Anekdoten aus einem Schulalltag mit, der für Catherine selbst sie unüberwindbarer Entferntheit lag – ähnlich dem Alltag an der Universität in Paris und ihrem gesamten Leben in Paris, so abartig es auch gewesen war. „Wir sollten weiter meine tolle Familie belauschen, meinst du nicht?“ fragte Lea eines Abends, als sie sich nach dem Essen in Catherines Zimmer trafen. „Ob das noch etwas bringt?“ „Versuchen müssen wir es.“ entgegnete Lea, worauf Catherine nur ein unwilliges Geräusch von sich gab. „Was willst du sonst tun?“ Catherine zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. „Schon gut. Wechseln wir uns ab oder sollen wir immer zu zweit in diesem Gang sitzen und warten, dass sich eine von ihnen verplappert?“ „Ein bisschen Begeisterung könntest du schon zeigen. Ich würde sagen, wir installieren irgendetwas – wie eine Wanze oder so…“ „Kannst du das? Ich muss nämlich zugeben, dass ich technisch ziemlich unbegabt bin.“ „Oh… War das nicht in deiner Agentenausbildung enthalten?“ fragte Lea und musste leise lachen. „Nein.“ „Dann geht das nicht. Ich bin nämlich auch nicht so das Technik-Ass.“ „Wir können aber nicht die gesamte Zeit hinter der Wand sitzen. Das fällt zu sehr auf…“ Lea nickte und blieb stumm. „Vielleicht müssen wir einen Schritt weiter gehen.“ murmelte Catherine und presste die Lippen aufeinander. „Wie meinst du das?“ „Ich sollte vielleicht ankündigen, dass ich nach Paris zurück möchte, da schon so lange nichts mehr geschehen ist. Ich könnte andeuten, auf jeden Fall zu gehen, weil ich nicht mehr daran glaube, dass irgendetwas passieren wird.“ erklärte Catherine, worauf Lea sie ungläubig anstarrte. „Du willst mich mit diesen Verrückten allein lassen? Bist du wahnsinnig?“ brach es plötzlich aus ihr heraus. „Hast du einen besseren Vorschlag, Elizabeth und Elatha aus der Reserve zu locken? Lea, ich nehme an, sie werden mich nicht gehen lassen, aber ich will sehen, wie sie das anstellen wollen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Ich möchte ihnen einfach ein bisschen Probleme machen und sie ins Schwitzen bringen und hoffe, dass sie dann einen Fehler machen werden. Und darauf müssen wir beide warten.“ „Ja, sie sind zu gerissen, um irgendwelche Beweise oder Hinweise offen liegen zu lassen. Selbst der Tresor im Büro wird uns kaum weiterhelfen könnnen….“ „Es gibt einen Tresor im Büro?“ fragte Catherine nach, da sie hellhörig geworden war. Lea nickte. „Schlüssel oder Zahlenkombination?“ „Zahlenkombination…“ „Zum Eintippen oder mit einem Rad zum Drehen?“ „Mit einem Rad. Wieso? Willst du versuchen, den zu knacken?“ fragte Lea halb im Scherz und war umso mehr überrascht, als Catherine ihr mit einem Nicken antwortete. „Was denkst du, wann es am leichtesten ist, an den Tresor heranzukommen?“ „Nachts. Die Schlafzimmer der beiden sind im anderen Flügel und dann dürften sie nicht bemerken, dass jemand im Büro ist.“ gab Lea Auskunft. „Dann werden wir das heute Nacht machen.“ beschloss Catherine. Sie wollte aus irgendeinem Grund nicht noch mehr Zeit verlieren, auch wenn sie sich kaum etwas Nützliches vom Inhalt des Tresors versprach. Lea schluckte. Das Ganze war ihr immer noch nicht geheuer, doch sie sagte nichts. In Catherines Augen sah sie, dass es sowieso nichts an ihrem Entschluss geändert hätte. „Sagen wir, wir treffen uns ungefähr um halb drei heute Nacht. Da dürften beide schlafen, oder?“ fuhr Catherine fort, worauf Lea wieder nur nicken konnte. Es war stockdunkel, als Catherine sich unabhängig von Lea hinunter in die Eingangshalle schlich. Sie hatten beschlossen, sich dort zu treffen, denn falls sie auf dem Weg erwischt wurden, konnten sie sich alleine besser aus der Affäre ziehen, indem sie irgendetwas über großen Durst oder ein Geräusch, das sie gehört hatten, sagten. Lea würde später nachkommen. So war es sicherer. Langsam und vorsichtig schritt Catherine den Flur entlang und erreichte die Holztreppe, die sofort unter ihrem ersten Schritt leise knarrte. Das Knarren durchbrach die nächtliche Stille wie das lauteste Geräusch, der denkbar war. Unsicher biss sie sich auf die Lippen und rollte die Augen. Wo war sie mit ihren Gedanken? Das hatte sie sich denken können. Catherine hielt inne und bewegte sich ganz an den Rand zum Geländer, um ein weiteres Geräusch zu vermeiden. Katzenähnlich vorsichtig bewegte sie sich weiter durch die Eingangshalle und erreichte die unverschlossene Tür zu Elizabeths Büro, die sie nach sich verschloss und einen Moment mit dem Rücken gegen sie lehnte. Erleichtert atmete sie tief durch und blickte sich dann im Zimmer um. Es hatte sich nichts verändert: noch immer stand der Schreibtisch zentral, sodass man mit dem Rücken zu den drei Fenstern sitzen und der Blick auf denjenigen fallen würde, der zur Tür hereinkam. In der Ecke standen ein kleiner Tisch, ein kleines Sofa und zwei Sessel, während die holzvertäfelten Wände auf der einen Seite fast vollständig mit hohen Regalen mit Büchern und Karteikästen zugestellt und auf der anderen Seite zwei Landschaftsgemälde angebracht waren. Catherine nickte bei sich und trat an den Schreibtisch. Lea hatte gemeint, es gäbe Schubladen auf der einen Seite und eine Schranktür auf der anderen, hinter der sich der Tresor verbarg. Soweit hatte sie Recht, doch die Schranktür war abgeschlossen. Catherine zog die Augenbrauen hoch, setzte sich geräuschlos auf den Schreibtischstuhl und öffnete nacheinander die Schubladen, in denen sich aber nur Unterlagen und Schreibutensilien wie neue Bleistifte, Kugelschreiber, Radiergummis, Tintenpatronen, ein Locher, eine Schere und ein Klebstoff, Reißzwecken, Büroklammern und weitere solche Dinge befanden. „Komm’ schon, wo ist der Schlüssel?“ flüsterte sie und tastete auf den Boden der Schubladen nach einem zweiten Boden, der nicht vorhanden war, dann entlang der Unterseite der einzelnen Fächer und der Schreibtischplatte – ohne Erfolg. Catherine lehnte sich zurück und blickte sich suchend um. Logik… Nein, mit Logik konnte sie den Schlüssel nicht finden. Sie musste sich fragen, wo Elizabeth einen Schlüssel versteckte, wenn sie ihn nicht gar bei sich trug. Catherine schüttelte den Kopf, da sie an letztere Möglichkeit überhaupt nicht denken wollte. In den Regalen standen mehrere Vasen aus Porzellan… Das war zu offensichtlich. Die Lampenschirme der Stehlampe würden abends zu warm sein, um einen Schlüssel darin zu deponieren, zumal er durchscheinen würde, sollte die Lampe zufällig noch einmal angeknipst werden… So weit würde Elizabeth auch denken. Lea wusste bestimmt auch nicht, wo der Schlüssel war, also brachte es auch nichts, wenn sie einfach wartete, bis sie in einer halben Stunde kam. Catherine erhob sich und begann, systematisch das Zimmer zu durchsuchen. Sie fuhr mit den Fingern die Bücher entlang, sah hinter sie in die Regale, öffnete jeden Karteikasten und schaute zwischen die einzelnen Unterlagen, warf doch einen Blick in die Lampenschirme und durchsuchte den Inhalt der Schubladen, ehe sie prüfend die Holzvertäfelung an der Wand absuchte, doch keinen Hinweis auf einen Hohlraum entdeckte. „Verdammter Mist!“ fluchte sie, zog die Augenbrauen zusammen und griff nach einer der Vasen. Was hatte sie übersehen? „Vielleicht hilft es, wenn du dir Licht machst.“ schlug eine Stimme hinter ihr vor. Catherine fuhr erschrocken herum und ließ dabei fast die Vase fallen, die sie soeben auf den Kopf gedreht hatte. „Herr Gott…!“ fluchte sie und blickte ihn wütend an. „Lestat genügt völlig.“ meinte er, worauf sie wieder den Blick abwandte, in ihre Hosentasche griff und ihm etwas Kleines zuwarf, das er dank seiner Reflexe natürlich fing. „Was ist das?“ fragte er, bevor er hinunter in seine Hand blickte. „Den musst du verloren haben, als du vor einigen Tagen hier warst.“ gab sie ihm Auskunft und suchte weiter das Regal ab. Sie erinnerte sich seit einer Weile an jene Nacht, jedoch nicht an alle Einzelheiten. Sie erinnerte sich an Lestat und daran, dass sie gemeinsam Thirlestane Castle verlassen hatten, aber ansonsten nur an wenige Fetzen eines verwirrten Gesprächs, durch das sie auch nun gedanklich nicht stieg. Und genau deshalb hatte sie Lea noch nicht gesagt, dass sie sich erinnerte, und war froh, dass Lea nicht weiter nach dieser Nacht gefragt hatte. „Was suchst du?“ fragte Lestat, ohne näher auf die Unwichtigkeit des Knopfes einzugehen. „Einen Schlüssel für den Tresor hinter der Schranktür im Schreibtisch.“ erklärte Catherine sachlich und unterbrach ihre Suche nicht. Unmittelbar nach ihrer Auskunft, hörte sie ein leises Knacken vom Schreibtisch und blickte zu Lestat, der dort stand. „Sie ist offen.“ meinte er und trat einen Schritt beiseite. „Danke.“ murmelte Catherine und trat näher zum Tresor, um sich an das Zahlenschloss zu machen. Sie hatte von seinen mentalen Fähigkeiten gehört, mit denen er Schlösser öffnen konnte, ohne sie zu beschädigen. „Es kommt jemand.“ informierte er sie und sie nickte. Sie hörte ebenfalls, dass sich jemand durch die Halle schlich, und meinte: „Das ist Lea. Du solltest jetzt gehen, Lestat.“ „Ich warte bei den Grabmälern auf dich.“ „Ich denke, ich werde hier lange brauchen.“ „Ich warte dort.“ meinte er nur noch einmal und verschwand dann über eines der Fenster in den dunklen Park hinaus. Kapitel 69: Fragen über Fragen ------------------------------ Fragen über Fragen Lea hatte messerscharf bemerkt, dass Catherine noch nicht sehr weit war, doch sie wusste auch nichts davon, dass Lestat schließlich das Türchen ohne Schlüssel geöffnet hatte beziehungsweise überhaupt ein Schlüssel von Nöten gewesen war. Catherine kümmerte sich bei absoluter Ruhe um das Drehschloss mit der Zahlenkombination und öffnete schließlich den kleinen Tresor. „Lernt man das auch bei der Bruderschaft?“ „Nein, ich hatte sehr viele kriminelle Freunde in Paris…“ meinte sie ironisch. „Natürlich habe ich das von der Societas.“ fügte sie amüsiert über Leas Gesicht hinzu und warf dann einen prüfenden Blick hinein. „Können wir Licht anmachen?“ „Das fällt zu sehr auf.“ meinte Catherine. „Du siehst doch überhaupt nichts.“ „Ich sehe gut. Schau’ mal in der untersten Schublade nach. Ich glaube, da habe ich vorhin eine kleine Taschenlampe entdeckt, aber fuchtel’ nicht unnötig mit ihr herum, damit niemand etwas sieht – auch nicht von draußen.“ Lea öffnete die Schublade und betrachtete die Taschenlampe. „Meine Großmutter macht es dem Einbrecher ganz schön leicht. Vielleicht hat sie doch nichts allzu Wichtiges im Tresor liegen.“ mutmaßte Lea, worauf Catherine den Kopf schüttelte. „Wozu dann überhaupt ein Tresor? Meinst du, der war bei der Standardausstattung ‚Büro’ dabei?“ „Was erwartest du zu finden?“ „Hinweise… Keine Ahnung. Ich will einfach sicher gehen, dass wir hier nichts unversucht lassen.“ erklärte Catherine und reichte Lea dann einen Stapel mit Unterlagen aus dem Tresor. Sie selbst nahm ebenfalls einen Stapel an sich und bemerkte, dass er sich in der Mitte hochwölbte, als läge etwas zwischen den Papieren. „Also das hier sind nur Rechnungen und geschäftliche Verträge.“ „Bist du sicher, Lea?“ „Ja, aber ich schau’ sie noch einmal genauer an.“ Catherine nickte und gelangte schließlich zu dem Gegenstand, der den Hügel in den Unterlagen verursachte: Ein Portemonnaie. Sie drehte es ein paar Mal in ihrer Hand herum und es öffnete schließlich, um zu sehen, ob es einen Ausweis oder zumindest einen Führerschein in ihm gab. Es war leer und enthielt weder Münzgeld noch Scheine, allerdings schien sonst noch alles vorhanden zu sein: Kreditkarten, Führerschein und Ausweis – alles auf den Namen ‚Vincenzo Salieri’. Der Mann auf dem Passbild blickte Catherine aufmerksam an und plötzlich fühlte sie sich zurückversetzt in ihre Zeit als Mitglied der Societas, in der sie so oft vertrauensvolle Gespräche mit ihrem ‚Ersatz-Großvater’ geführt hatte. Trotzdem war sie schon einmal zu dem Schluss gekommen, dass er nicht vertrauenswürdig gewesen war. Und nun lagen seine Papiere in Elizabeths Tresor und das bedeutete, dass er nirgendwo war, dass er nicht abgereist war – nicht ohne Ausweis, Kreditkarten und Führerschein, nicht mit dem Flugzeug nach New Orleans, wo Passkontrollen unumgänglich waren. Catherine war sich sicher, dass es Thirlestane Castle nicht verlassen hatte – zumindest nicht lebend oder freiwillig. Und deshalb auch die Familienchronik noch hier sein musste oder zumindest nicht bei ihm sein konnte. „Was hast du da?“ fragte Lea, nachdem Catherine sich eine Zeit lang nicht gerührt hatte. „Salieris Papiere. Ausweise. Kreditkarten. Einfach alles, was jemand zum verreisen braucht.“ erklärte sie, was Lea nicht verstand. Catherine dachte weiter nach. Was Lea nicht verstand oder ihr gerade nicht in den Sinn kam, war was sich längst in Catherines Gedanken festgesetzt hatte: Elizabeth hatte Salieri verschwinden lassen. Und Elatha wusste vielleicht… nein… sicher davon. „Wo ist Salieri dann jetzt? Ich meine, ohne Papiere kommt man in unserer Welt nicht mehr weit.“ ergriff Lea wieder das Wort. „Ich denke, er wurde beseitigt. Eine andere Erklärung kann ich dir nicht geben.“ sprach Catherine es schließlich aus. „Nein… Nein! Das kann nicht sein.“ „Lea, beruhige dich! Sei leise!“ raunte Catherine ihr zu. „Ich soll mich beruhigen? Du sagst mir ins Gesicht, dass meine Familie…“ „Lea, dafür fehlen mir jetzt eindeutig die Nerven. Ich dachte, das Thema Familie sei für dich durch. Sie haben auch meinen Großvater getötet… Warum sollten sie vor Salieri Halt machen?“ „Du meinst das ernst.“ bemerkte Lea und blickte Catherine noch eine Weile prüfend an. „Natürlich.“ gab Catherine zurück. Lea nickte und erhob sich. „In den Unterlagen hier ist nichts zu finden. Du kannst gern noch einmal selbst nachschauen, wenn du mir nicht glaubst…“ „Warum sollte ich dir nicht glauben? Lea, ich finde, es reicht nun wirklich.“ „Stimmt. Mir reicht es schon lange.“ meinte Lea und verließ das Büro. Catherine nickte bei sich. Das hatte soweit kommen müssen – irgendwann. Die ganze Sache war zu frustrierend, als dass irgendein normaler Mensch nicht irgendwann überreagieren würde, wobei Lea nicht überreagierte, sondern vielleicht einfach nur wie jeder normale Mensch. Catherine seufzte leise, blickte noch einmal die Unterlagen durch und legte dann schließlich alles wieder zurück in den Tresor. Sie hatte nicht mehr erfahren, als dass es etwas Seltsames mit Salieris Verschwinden auf sich hatte, doch erneut musste sie sich fragen, was sie eigentlich gesucht hatte. Die letzten Seiten des Tagebuchs? Sie lachte leise und schloss den Tresor wieder ab. So viel Glück oder Fügung gab es wohl nicht. Catherine schlich aus dem Büro, nachdem sie sich versichert hatte, dass alles so war, wie sie selbst es vorgefunden hatte, und durchquerte wieder leise die Halle, um dann über eine der Türen an der Gartenfront in den Park hinauszuschlüpfen. Ihre Augen waren inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt und machten in der Ferne bei den Gräbern eine Gestalt aus, die gelassen an einem der hohen Bäume lehnte. Unwillkürlich musste Catherine an die Frau denken, die an einem der Grabmäler gelehnt hatte. Die Frau im Nebel und die Frau in ihren Träumen und Visionen… Es war dieselbe und sie sah ihr sehr ähnlich, wenn es auch winzige Unterschiede gab. Catherines Haar war nicht ganz so rot. Catherines Augen waren grün und nicht blau. Catherines Gestalt war etwas schlanker und größer… Langsam schüttelte sie den Kopf. Es war nicht die Frau, die dort lehnte – es war Lestat. Was wollte er hier? Hatte er nicht genug angerichtet? Sie schüttelte wieder den Kopf. Das war nicht fair. Sie wollte sich zumindest anhören, was er zu sagen hatte, beschloss sie und wunderte sich gleichzeitig über ihre Nüchternheit und Gefühlskälte. War das wirklich sie? Oder waren ihre Gefühle von damals die Gefühle ihres wahren Ich? Sie wusste es nicht. Es war alles so verwirrend. Lestat nur anzusehen, war verwirrend, stellte sie fest, als sie näher bei ihm stand und ihn im Mondlicht beinahe deutlich sehen konnte. „Du erinnerst dich?“ fragte er angespannt. Sie nickte nur. „Und an was erinnerst du dich? Was war los?“ Catherine ignorierte die erste Frage und erzählte von ihrer bewusstseinserweiternden Sitzung mit Lea, während Lestat ihr mit skeptischem Blick zuhörte. „War sie erfolgreich?“ Catherine zuckte die Schultern. „Das ist schwer zu sagen. Ich vermute, dass Lea viel in meiner Vergangenheit entdeckt hat, was ich schon vergessen hatte, aber darum ging es nicht. Ich wollte diesen Traum wieder träumen, aber… hm… irgendwie… nein, es war eigentlich nicht erfolgreich. Ich weiß immer noch keinen Namen und das Tagebuch… frag’ nicht!“ meinte sie und trat ein Stück weiter zwischen die Grabsteine. Das keltische Kreuz warf einen verschwommenen Schatten auf den mit Gras und Efeu überwucherten Boden. Lestat stand in einigem Abstand hinter ihr und rührte sich nicht. Es war nicht möglich, dass sie sich ihn gerade nur einbildete. Da brauchte sie keinen Kopf als Beweisstück. Lestat sagte nichts, doch seine Anwesenheit war beruhigend, obwohl sie nicht wahrgenommen hatte, dass sie beunruhigt gewesen war. Er verwirrte sie. Sie wusste nicht, was sie fühlte. In ihr herrschte ein seltsamer Zustand: Sie erinnerte sich nicht genau an den Abend nach der bewusstseinserweiternden Sitzung. Er war da gewesen, sie hatte mit ihm gesprochen, sie hatten zusammen das Schloss verlassen und waren an den Runen gewesen. Die Runen, deren Übersetzung sie noch nicht hatte. Vielleicht waren sie nicht so wichtig, aber das Tagebuch, dessen letzte Seiten fehlten. Das Tagebuch… Er hatte sie nicht gefragt, was sie für ein Tagebuch meinte. „Du weißt von dem Tagebuch?“ fragte sie erstaunt, als sie es wirklich realisiert hatte, und drehte sich zu ihm um. „Was wollte Armand?“ antwortete er mit einer Gegenfrage. „Was geht dich das an?“ „Wieso machst du ein Geheimnis daraus?“ „Wieso willst du es wissen?“ „Hat er von dir getrunken?“ „Was würdest du dann tun?“ „Was sollte ich tun?“ „Was würdest du zu mir sagen?“ „Dir bedeutet das zwischen uns überhaupt nichts, oder?“ „Gibt es überhaupt etwas zwischen uns?“ „Wieso nicht?“ „Wieso bist du dann gegangen, ohne ein Wort zu sagen?“ „Bist du immer noch wütend deshalb?“ „Kannst du Wut und Enttäuschung nicht unterscheiden?“ „Weißt du selbst überhaupt, was du gerade fühlst?“ „Weißt du es denn?“ fragte sie zurück. Kapitel 70: Ein voreiliges Urteil --------------------------------- Ein voreiliges Urteil Sie biss sich auf die Lippen und wandte den Blick ab. Wozu hatte sie sich hinreißen lassen? Sie wollte nichts darüber sagen, doch es war einfach aus ihr heraus gebrochen. Sie wollte nicht mit ihm streiten. Sie war doch so froh, dass er einfach nur da war, obwohl er offenbar keinen besonderen Grund dafür hatte und er nicht von David geschickt worden war, um ihr irgendeine Hiobsbotschaft zu überbringen. Sie wollte auch keine Hiobsbotschaft von ihm erfahren. Catherine spürte seinen Blick auf ihrer Haut, auf ihrem Nacken und zitterte leicht. Was würde weiter geschehen? Würde er sie fragen, was sie noch Neues wusste? Würde er ihr anbieten, ihr zu helfen und ihr beiseite zu stehen, egal was kommen würde? Oder würde er wieder einfach gehen? Letzteres schien ihr passend, doch insgesamt war sie der Meinung, dass er schnell tun sollte, was er tun wollte. So würde auch der eventuelle Schmerz darüber schneller vergehen, denn ein rascher Schnitt mit einer Klinge war leichter zu ertragen, als ein langsam bohrendes Messer, das sich immer tiefer in ihr Fleisch schob. „Wir haben Fehler gemacht.“ gab er schließlich zu und durchbrach das Schweigen. Catherine nickte. „Es hätte alles nicht so kommen sollen, aber nach dem, wie wir uns verhalten haben, konnte es nur dazu kommen… Logisch, nicht wahr?“ fragte sie und ging einige langsame Schritte auf und ab. Sie sah nicht, ob er nickte, doch sie vermutete es. „Wir haben Kardinal Salieri gefunden.“ meinte er. „Tot, nehme ich an.“ entgegnete Catherine, worauf er nun nickte. „Wie kommst du darauf?“ „Sein Portemonnaie lag im Tresor und es passt gut zu Elizabeth.“ erklärte sie. „Es sieht leider überhaupt nicht danach aus, dass Elizabeth ihn ermordet hat.“ teilte er ihr mit und wartete auf ihre Reaktion. Er hatte also doch einen Grund gehabt, zurück nach Thirlestane Castle zu kommen. Catherine verstand erst nicht, was er gesagt hatte, dann fragte sie verwundert: „Wieso nicht? Und wieso ‚leider’?“ „Sein Körper war blutleer… beinahe blutleer zumindest.“ erwiderte er und begegnete ihrem erschrockenen Blick. Langsam schüttelte er den Kopf. „Von uns war es niemand und auch sonst können wir ausschließen, dass es jemand unserer… Fähigkeiten war.“ „Ich verstehe das nicht. Niemand eurer Fähigkeiten?“ „Ja, sagen wir es so: wir hätten das nicht so unsauber und schlampig gemacht. Wir sind inzwischen mehr darauf bedacht, keinen Verdacht aufkommen zu lassen und all unsere Spuren unkenntlich zu machen… Louis kommt das alles bekannt vor, doch er kann auch nichts Genaues sagen. Wir haben alle versucht, den Mörder aufzuspüren, jedoch ohne Erfolg.“ „Was vermutet Louis?“ „Es gibt außer uns noch scheinbar eine andere Art von Vampiren… ‚Gedankenlose’ nennen wir sie, aber nicht, weil sie sich keine Gedanken über etwas machen, sondern weil sie eher überhaupt nichts denken. Verstehst du, was ich meine?“ Catherine nickte. „Ich hatte nur ein paar Mal mit solchen Geschöpfen zu tun, aber…“ Catherine brach ab. „Was?“ „Es hieß, sie seien beinahe vernichtet. Es war äußerst selten, wieder einen von ihnen jagen zu müssen. Und nun tauchen sie wieder auf.“ erklärte Catherine und Lestat nickte nachdenklich. „Wir beobachten das weiter, keine Sorge.“ meinte er schließlich und Catherine nickte. „Denkst du, das alles hängt irgendwie zusammen?“ „Elizabeth und die ‚Vampire’… Ich denke nicht. Vielleicht indirekt, aber sonst nicht. Was plant Elizabeth? Hast du etwas Neues herausgefunden?“ Catherine schüttelte den Kopf, zuckte die Schultern und begann zu erzählen, was sie bisher über Elizabeth und Elatha herausgefunden hatte, was in der Tat nicht viel war. Lestat hörte ruhig zu und fragte, nachdem sie geendet hatte: „Fühlst du dich hier sicher?“ Catherine schnaubte verächtlich. „Natürlich nicht, aber…“ „Dann komm’ mit mir.“ „… irgendetwas gibt es hier noch herauszufinden.“ beendete sie ihren Satz. Seine Worte drangen erst langsam in ihr Bewusstsein vor. Er wiederholte seine Worte nicht, sondern sah sie nur an. „Ich kann nicht.“ meinte sie leise. „Doch, du kannst.“ widersprach er ihr, doch sie schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“ flüsterte sie und senkte den Blick. Der Wind fuhr durch ihr Haar und sie meinte, dass seine Hand über ihre Wange strich, doch als sie aufblickte, war sie allein und um sie herum war alles still bis auf die raschelnden Blätter der Bäume, die der Lufthauch der Nacht sanft hin und her wiegte. Catherine blieb noch eine Weile stehen und lauschte dem Wind, der immer noch durch die Blätter rauschte, als ob nichts geschehen sei. Es war auch nichts geschehen. Catherine schüttelte leicht den Kopf und lächelte flüchtig. Warum sie lächelte, wusste sie selbst nicht genau. Salieri war tot – nun wusste sie es mit Sicherheit… Vampire und nicht Elizabeth… Nachdenklich griff sie sich an die Stirn und blickte zum Schloss, das sich mächtig und dunkel in einiger Entfernung vom flachen Gelände der Parkanlage abhob. Thirlestane Castle. Catherine nickte. Sie würde das hier auch wieder hinter sich lassen, doch wann es so weit sein sollte, konnte sie nicht sagen. Langsam verließ sie den sicheren Schatten der Bäume und spazierte über das Gras auf das Gebäude zu. Was war das für ein Gefühl, das sie hier hielt? Gab es hier tatsächlich noch etwas herauszufinden oder verrannte sie sich in ihrer Sturheit in einer Sackgasse, ohne es zu bemerken oder bemerken zu wollen? Woher kam dieses Gefühl, nicht einfach gehen zu können – abgesehen davon, dass sie sich vielleicht vor den Aufgaben drückte, die sie in Paris endlich bewältigen musste. Es waren so viele Angelegenheiten zu bereinigen und endgültig aus dem Weg zu schaffen, das ihr beinahe schwindelig wurde, wenn sie nur daran dachte. In der Nacht schlief Catherine nicht besonders gut, doch sie träumte nicht, sondern wachte nur einige Male ohne besonderen Grund auf. Ihr Frühstück nahm sie wie gewohnt alleine zu sich, um darüber nachzugrübeln, womit sie an diesem Tag ihre Zeit verbringen würde. „Hast du Lea heute schon gesehen?“ fragte die Köchin. „Nein. Sie müsste doch schon in der Schule sein, oder nicht?“ fragte Catherine. Es war Donnerstag und ein normaler Schultag. „Dann ist sie heute bestimmt ohne Frühstück aus dem Haus.“ vermutete die Köchin und ging weiter ihren Aufgaben nach. Catherine nickte, beendete ihr Frühstück, trank schnell ihren Kaffee aus und verließ dann die Küche. Lea hatte sich auch angewöhnt, in der Küche zu essen, zum einen weil sie morgens noch ihre Ruhe haben wollte, zum anderen weil sie morgens sehr gut auf ihre Großmutter verzichten konnte. Catherine dachte an die vorige Nacht, in der Lea sich nicht so verhalten hatte, wie es für sie typisch war. Sie war sonst ruhig und duldsam… vernünftig eben, aber nicht so zickig und aufbrausend wie in der vergangenen Nacht im Büro. Catherine biss sich auf die Lippen. Irgendetwas musste vorgefallen sein… Sie hätte ihr nachgehen sollen, statt Lestat zu treffen. Langsam ging sie die Treppe nach oben. Ihr ungutes Gefühl wuchs mit jeder Stufe an, doch erklären konnte sie es sich nicht. Ihre Schritte waren auf dem Teppichläufer im Flur nur dumpf zu hören. Das Schloss war um diese Zeit bereits wieder still: die Mädchen waren in der Schule, Elizabeth im Büro und Elatha woanders. Hoffentlich bemerkte Elizabeth nicht die kleinste Veränderung in ihrem Büro, sonst… Nein, ihr konnte niemand etwas nachweisen und Elizabeth hatte selbst zu viel zu verbergen, sodass sie wegen eines Einbruchs nicht so einfach die Polizei rufen konnte. Catherine blieb plötzlich stehen und wandte sich zu der Tür um, die sie gerade passiert hatte. Leas Zimmer lag dahinter. Catherine hob die Hand zum Klopfen, ließ sie wieder sinken und hob sie wieder. Sie war wahrscheinlich sowieso in der Schule, oder nicht? Catherine klopfte, doch natürlich bat niemand sie herein. Zögernd legte Catherine ihre Hand auf die Türklinke und ließ sie unsicher noch eine kleine Weile dort liegen, blickte den Gang in die eine und die andere Richtung hinunter und öffnete dann mit angehaltenem Atem die Tür zu Leas Zimmer. Das Zimmer war leer. Kühle Morgenluft wehte durch das offene Fenster und bewegte auch die zurückgeschlagene zartgelbe Bettdecke. Catherine blickte sich um und schloss die Tür hinter sich. Es war falsch, was sie da machte, das wusste sie. Sie wollte Lea nicht nachspionieren. Heftig schüttelte sie den Kopf: Sie spionierte ihr nicht nach. Sie hatte lediglich sehen wollen, ob sie verschlafen hatte, wo sie doch ihr Frühstück verpasst hatte, doch sie war nicht hier. Sie musste doch zur Schule gegangen sein. Catherine nickte bei sich. Diese Erklärung war logisch, doch das ungute Gefühl regte sich immer noch in ihrer Magengegend. „Jetzt gib’ dich endlich damit zufrieden! Sie sitzt bestimmt in der Schule und ärgert sich über ihren nervigen Mathe-Lehrer…“ murmelte Catherine und schloss das Fenster energisch. „Warum sollte irgendetwas nicht stimmen… Gespenster zu sehen, war noch nie dein Ding, also nimm’ dich etwas zusammen und hör’ auf zu spinnen!“ schalt sie sich weiter. Sie atmete tief durch, ließ noch einen letzten Blick über das Bücherregal gleiten und unterdrückte das rebellierende Gefühl in ihrem Inneren. Missmutig rollte sie mit den Augen. Nun führte sie auch schon Selbstgespräche! Wohin sollte das alles noch führen? Kapitel 71: Unbemerktes Verschwinden ------------------------------------ Unbemerktes Verschwinden Catherine wartete geduldig und unauffällig in der Bibliothek auf Lea, da von dort aus am besten zu hören war, wenn die Halle betreten wurde. Vor ihr lagen die Unterlagen über die Runen, doch sie arbeitete nicht konzentriert an ihnen, sondern tat nur so, kritzelte vereinzelt eine Bemerkung an den Rand und schaute sich immer wieder um, ob die drei Mädchen, die aus irgendwelchen Gründen nicht in der Schule waren, sie beobachteten, doch niemand interessierte sich für Catherine oder ihre Anwesenheit. Ab und zu horchte sie auf, doch stellte dann fest, dass unter den Stimmen der Mädchen, die miteinander redend und lachend aus der Schule zurückkamen, Leas Stimme nicht dabei war. Sie gingen die Treppe nach oben in ihre Zimmer und es wurde wieder still. Eigentlich war es seltsam, dass die Bibliothek in einem Winkel des Schlosses so dicht der Eingangshalle lag… andererseits bestand diese Bibliothek bestimmt schon länger und die Tatsache, dass hier so viele Leute ein- und ausgingen. Catherine schüttelte leicht den Kopf und wartete weiter. Gegen Abend traten Lilly und Sandy in die Bibliothek und suchten sich einen freien Platz an der Fensterfront. Catherine hob den Blick und nickte ihnen freundlich zu, als sie die Hand zum Gruß hoben. Wahrscheinlich würden sie sich jetzt um ihre ‚überirdische’ Ausbildung kümmern, nachdem sie mit den weltlichen und sachlichen Schulaufgaben fertig waren. Allmählich kamen weitere Mädchen, die ebenfalls die Regale durchsuchten und sich mit dicken Büchern auf die Tische verteilten, um zu lernen. Catherine schüttelte leicht den Kopf. Kannten die Mädchen etwas anderes als Bücher? Wahrscheinlich nicht. Nach Leas Aussage, war ja auch sie noch zu jung, um wirklich praktisch unterrichtet zu werden. Wann setzte dieser Teil der Ausbildung ein? Ob die Volljährigkeit dabei eine Rolle spielte oder die seelische Reife? Wahrscheinlich wurde das nach demselben Kriterium entschieden, wie der Termin der offiziellen Namensgebung. Bei Catherine hatte Elizabeth nicht lange gewartet, doch es war zu Zwischenfällen gekommen, und sie hatte ihren Namen doch erst später erhalten. Wieder einmal schoss Catherine der Gedanke durch den Kopf, dass sie in irgendeiner Weise wichtig für Elizabeth sein musste, doch schob ihn vehement beiseite. Das spielte keine Rolle für die kommenden Entscheidungen, die sie treffen musste und würde. Bevor die Bibliothek allzu voll wurde, erhob sich Catherine und ging hinüber zu Lilly und Sandy, zu denen sich vor einer guten halben Stunde Jessy gesellt hatte. Die Mädchen blickten hoch, als sie sich zu ihnen über den Tisch beugte, und fixierten sie. „Hallo.“ flüsterte Catherine und wartete auf ein begrüßendes Nicken, das auch nicht lange auf sich warten ließ. Sie hatte wenig mit den Mädchen zu tun – sie hatte mit niemandem außer Lea wirklich viel zu tun. Das lag höchstwahrscheinlich am Altersunterschied und bei Lea war das etwas anderes. Lea war allein schon durch ihr Wissen reifer und in die gesamte Sache integriert. Und es hatte sich so ergeben. Catherine zögerte einen Moment, dann fragte sie: „Wisst ihr, wo Lea ist?“ Die Mädchen blickten sich an, dann schüttelten sie stumm den Kopf. Catherine zog eine Augenbraue hoch und wartete. „Sie war nicht in der Schule.“ erklärte Sandy flüsternd. „Sie war nicht in der Schule?“ fragte Catherine noch einmal nach. Die Mädchen schüttelten wieder den Kopf. „Das ist überhaupt nicht ihre Art. Sie schwänzt nicht, auch wenn sie sich noch so sehr über unsere bescheuerten Lehrer, unnötige Hausaufgaben und unfaire Klassenarbeiten aufregt. Das tut sie nicht.“ fügte Jessy hinzu. Die drei Mädchen schienen sich Sorgen zu machen, doch das konnte Catherine nicht mit Sicherheit sagen. Sie konnte sich auch irren, da sie die Mädchen nicht so gut kannte. „Habt ihr sie heute schon gesehen?“ ergriff Catherine wieder das Wort. Sie bemerkte, dass ihre Stimme leicht zitterte, überspielte es aber mit einem leisen Räuspern. Jessy schüttelte gleich den Kopf. Sandy und Lilly zögerten erst, dann meinten auch sie, Lea an diesem Tag noch nicht gesehen zu haben. „Sie isst ja immer alleine… Und wir gehen auch nicht immer gemeinsam zur Schule. Lea war in der letzten Zeit eher verschlossen und wir haben sie nicht mit Fragen bedrängt, aber es konnte doch keiner ahnen, dass sie…“ „Halt, halt, halt!“ unterbrach Catherine Lilly und schüttelte den Kopf. Lilly schaute sie verstört an und biss sich auf die Lippen. „Was glaubst du, wo sie ist? Hast du einen Vorschlag?“ raunte Sandy Catherine zu und erhob sich. Catherine schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht… Was machst du?“ fragte sie verwundert, als Sandy ihre Sachen zusammen packte. „Wir sollten uns draußen weiter unterhalten, sonst bekommen wir noch mit sämtlichen Büchern auf den Kopf geschlagen.“ meinte sie und räumte ihre Bücher zurück in das Regal, aus dem sie diese geholt hatte. Catherine blickte sich um. Obwohl sie die gesamte Zeit des Gesprächs geflüstert hatten, begegnete sie wütenden und abweisenden Augenpaaren, die nur allzu deutlich machten, dass sie verschwinden sollten, wenn sie sich schon unterhalten mussten. Catherine nickte, ging zu ihrem Tisch, packte ebenfalls ihre Sachen zusammen und verließ mit den drei Mädchen die Bibliothek. „Kommt, wir gehen auf mein Zimmer.“ meinte Catherine und ging voran. Die Mädchen folgten ihr willig und wenig später saßen sie auf der Fensterbank und dem Schreibtischstuhl, während Catherine langsam im Zimmer auf und ab wanderte und sich schließlich doch hinsetzte. „Und sonst hat niemand eine Ahnung, wo sie jetzt sein könnte?“ fragte sie und blickte von einer zur nächsten, doch alle schüttelten den Kopf. „Wir waren in unserem Lieblingscafé, im Park und sogar im Einkaufszentrum.“ meinte Lilly, worauf Sandy fortfuhr: „Und in der Kirche.“ „In der Kirche?“ „Ja, in der verfallenen Kirche am Waldrand. Dort haben wir uns immer getroffen, wenn uns Saerlaith oder jemand anderes auf die Nerven gegangen ist.“ erklärte Jessy. Catherine hatte nicht für möglich gehalten, dass sich alle vier Mädchen des Öfteren hier nicht wohl gefühlt hatten, doch darüber konnte sie jetzt auch nicht nachdenken. Wo konnte Lea sein? Catherine brauchte die Mädchen überhaupt nicht fragen, wer Lea zum letzten Mal wo gesehen hatte, denn mit sehr, sehr großer Wahrscheinlichkeit war das sie selbst gewesen, als sie mit ihr in Elizabeths Büro eingebrochen war, den Tresor durchsucht und sich gestritten hatten… Sie biss sich auf die Lippen. „Was denkst du?“ fragte Sandy unsicher. Catherines Gesichtsausdruck gefiel ihr überhaupt nicht. „Denkst du, ihr ist etwas zugestoßen?!“ fragte Lilly und sprang vom Fensterbrett hinab, eilte zur Tür, hielt dann aber inne, da ihr bewusst wurde, dass Catherine weder ‚ja’ noch ‚nein’ gesagt hatte. „Wir müssen ruhig bleiben…“ begann Catherine. „Das beantwortet meine Frage nicht!“ rief Lilly und fuchtelte verzweifelt mit beiden Händen herum, ehe sie diese wieder sinken ließ und sich beruhigte. „Ich weiß nicht, ob ihr etwas passiert ist. Sie ist vielleicht weggelaufen und kommt noch heute Abend zurück.“ „Glaubst du das wirklich? Ich kann mir das bei Lea so schlecht vorstellen… genauso wenig wie das Schwänzen.“ warf Jessy ein und Catherine nickte. „Wir müssen abwarten, denke ich, und…“ „Abwarten? Worauf sollen wir warten? Dass sie wieder vor der Tür steht und sagt ‚Hallo, hier bin ich wieder. Sorry, dass ihr euch Sorgen gemacht habt, aber ich hab’ das irgendwie gebraucht.’… Darauf?“ fragte Sandy und Jessy stimmte ihr zu. Catherine schüttelte den Kopf. „Nein, aber die Polizei sucht erst nach ihr, wenn sie 48 Stunden verschwunden ist. Vorerst können wir nur ihre Großmutter informieren und selbst nach ihr suchen.“ erklärte Catherine. Es gefiel ihr nicht, dass sie Elizabeth informieren sollte, doch es ging nicht anders. Sie konnte nicht ausschließen, dass Lea etwas passiert war oder sie sich in Schwierigkeiten befand. Die Mädchen nickten zögerlich, dann immer überzeugter, bis Catherine sich erhob und zur Tür ging. Sie folgten ihr mit fragenden Blicken und Catherine meinte, als sie sich in der Tür noch einmal umdrehte: „Ich gehe jetzt zu Elizabeth. Ihr könntet euch überlegen, ob es nicht doch noch einen Ort gibt, an dem Lea sich aufhalten könnte, damit wir dort mit dem Suchen anfangen können.“ Lilly nickte und Catherine verließ das Zimmer. Sie war es also noch gewohnt, Befehle zu erteilen und ruhig und überlegt zu handeln. Während sie das dachte, zog sie zweifelnd eine Augenbraue hoch. Sie wusste nicht, ob es klug gewesen war, die Möglichkeit auf Suchtrupps in Aussicht zu stellen. Vielleicht war sie erfolgreicher, wenn sie allein nach Lea suchte. Vielleicht konnte Lestat ihr etwas sagen. Vielleicht hatte er eine Spur. Vielleicht konnte er ihr dabei helfen, wenn er noch in der Nähe war… Ja, wenn er noch in der Nähe war. Elizabeth war schnell informiert. Natürlich hatte sie in ihrem Büro über irgendwelchen Unterlagen gebrütet und natürlich nahm sie die Nachricht nicht gerade gut auf. „Bist du sicher? Ich meine, kann sie nicht irgendwo hingegangen sein, weil sie… allein sein will?“ fragte sie. Catherine bemerkte, dass sie Elizabeth die entsetzte und sorgenvolle Rolle der Großmutter abnahm. Sie sollte misstrauisch bleiben, ermahnte sie sich. „Ihre Freundinnen haben schon nach ihr gesucht. Ich habe sie gebeten, noch einmal genau zu überlegen, ob ihnen nicht noch ein Ort in den Sinn kommt, an dem sie sein könnte…“ „Wieso sind die Mädchen nicht zu mir gekommen?“ fragte Elizabeth. Sie hatte sich inzwischen erhoben und kam um den Schreibtisch herum auf Catherine zu. „Ich war es, die nach Lea gesucht hat.“ erklärte sie schnell. Elizabeth nickte und schien in Gedanken mit gewissen Möglichkeiten herumzuspielen. „Ihr ist etwas zugestoßen.“ meinte sie schließlich. Catherine dachte, sich verhört zu haben, doch es schien Elizabeth durchaus ernst zu sein. „Wie kommst du darauf?“ „Gestern Nacht wurde hier eingebrochen.“ teile Elizabeth ihr mit. „Was?!“ entfuhr es Catherine heftig, bevor ihr Atem stockte und ihr Herz stehen blieb. „Ja, ich habe Lea gestern Nacht auf der Treppe gehört und dachte, sie wolle sich etwas zu trinken holen. Vielleicht hat sie die Einbrecher überrascht und… Ich wage nicht, es auszusprechen.“ entgegnete Elizabeth. „Nein, das glaube ich nicht. Das kann nicht sein. Wie kommst du darauf, dass eingebrochen wurde? Fehlt etwas?“ __________________________________________ @ Tiergesicht: Vielen Dank für deine regelmäßigen Kommentare! @ Isabelle: Schön, dass dir meine Geschichte gefällt. Hoffe, ich treffe weiterhin deinen Geschmack! @ Engel: Vielen Dank für dein Interesse, aber leg' dich nicht mit deinem Chef an *g* Euch allen noch schöne Feiertage und einen guten Rutsch ins Neue Jahr! Elena. Kapitel 72: Wie vom Erdboden verschluckt... ------------------------------------------- Wie vom Erdboden verschluckt… Catherine biss sich nervös auf die Innenseite ihrer Unterlippe und wartete auf Elizabeths Antwort. Wie kam Elizabeth darauf, dass irgendjemand in das Büro eingebrochen war? Was für Anhaltspunkte hatte sie oder waren das nur Vermutungen? Bisher hatte Catherine nie das Gefühl gehabt, dass Elizabeth in ihren Fähigkeiten als Hexe auch die Gabe der Weissagung oder Visionen hatte… Wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte sie niemals eine einzige Fähigkeit bei Elizabeth bemerkt, doch das musste nichts heißen. Sie hatte lediglich das Ritual an Imbolc geleitet und bei allen anderen Problemen Bücher zurate gezogen, mit denen sie dann doch zu keinem Ergebnis kam. Elizabeth Stimme riss Catherine aus ihren Gedanken. „Wie bitte? Was hast du gesagt?“ fragte Catherine nach, da sie sie nicht verstanden hatte. „Ich sagte, dass meiner Meinung nach nichts fehlt, aber dass ich mir sicher bin, dass jemand hier war. Die Unterlagen im Tresor sind sehr durcheinander… So habe ich sie nicht zurückgelassen.“ wiederholte Elizabeth. Catherine nickte. Sie war sich sicher, dass sie die Unterlagen genauso wieder eingeräumt hatte, wie sie sie vorgefunden hatte – nicht sehr unordentlich, aber auch nicht besonders akkurat aufgeräumt. Elizabeth ging wieder zu ihrem Platz hinter dem Schreibtisch und öffnete den Tresor. Catherine zitterte innerlich. Sie musste hinaus aus dem Büro! „Wir sollten schnell handeln… Was Lea betrifft. Vielleicht ist sie doch noch irgendwo in der Nähe.“ „Das glaube ich nicht.“ gab Elizabeth resignierend zu und Catherine hatte das Gefühl, dass sie ihr bei weitem nicht alles sagte, was sie vermutete. „Irgendjemand war hier.“ wiederholte Elizabeth noch einmal murmelnd und sank in ihrem Schreibtischstuhl zusammen. Catherine schüttelte den Kopf. Sie war hier gewesen. Sie hatte den Tresor durchsucht, aber das würde sie natürlich nicht sagen. Elizabeth konnte es doch wahrscheinlich selbst nur vermuten und hatte nichts Handfestes vorzuweisen. Vermutungen und Gefühle… Gefühle! Ungute Gefühle! „Ich schlage vor, wir suchen jetzt nach Lea. Wir sollten kleinere Trupps bilden und auch an den Häusern klingeln. Wenn du willst, übernehme ich die Zusammenstellung und die Koordination. Und du solltest die Polizei einschalten, auch wenn sie erst in zwei Tagen etwas tun wird. Sie müssen Bescheid wissen, falls ein Anruf von einem Bürger eingeht, er hätte Lea gesehen. Und du solltest…“ Elatha informieren, hatte Catherine fortfahren wollen, doch sie stockte. Wo war Elatha überhaupt? „Wo ist Elatha? Ich habe sie heute überhaupt noch nicht gesehen.“ meinte sie deshalb. Elizabeth nickte. „Sie muss etwas in London erledigen. Bei der Arbeit gibt es offenbar Probleme, die sie auch etwas angehen.“ erwiderte Elizabeth und nahm den Telefonhörer auf. „Es wäre gut, wenn du die Suchtrupps und ihre Routen organisierst. Ich informiere die Polizei und versuche, auch Elatha zu erreichen.“ fuhr sie fort und Catherine nickte, ehe sie schnell das Büro verließ. Elatha war also in London bei der Arbeit. Sie arbeitete bei der Talamasca, das wusste Catherine. Hatte Elizabeth das Ernst gemeint oder nur so gesagt? Gab es überhaupt Probleme bei der Talamasca? Catherine schüttelte den Kopf. Das war nun wirklich nebensächlich. Sie mussten Lea finden. Sie hatte schon viel zu viel Zeit vergeudet. Catherine eilte zurück zu den Mädchen, die bereits viele andere informiert hatten, teilte die Suchtrupps den Gebieten zu, die abgesucht werden sollten. „Und wo gehst du mit?“ fragte Lilly und drehte sich noch einmal in der Tür um. „Ich werde allein suchen. Ich habe noch einiges mit Elizabeth zu klären und… ja, geht’ schon!“ antwortete sie bestimmt und sah den Mädchen-Gruppen nach bis es immer stiller im Schloss wurde, ehe sie in ihrem Schrank nach einer Taschenlampe griff und das Zimmer ebenfalls verließ. Leas Verschwinden hatte hier einen riesigen Schock und eine wirkliche Bestürzung ausgelöst, die langsam einer lauten Unruhe und vielen Fragen gewichen waren. Sandy, Lilly und Jessy hatten so viele Helfer wie möglich aufgetrieben, sodass sie nun in Gruppen von drei bis vier Leuten die Stadt und die nähere Umgebung absuchen konnten. Vielleicht erhielten sie auch irgendwelche Hinweise von Einwohnern der Stadt, die Lea gesehen hatten. Catherine nickte und ging hinunter in die Halle. Durch die offene Bürotür hörte sie, wie Elizabeth mit der Polizei telefonierte, die offenbar tatsächlich noch nichts unternehmen wollte. Catherine schüttelte den Kopf. Es stimmte schon: oft tauchten Kinder wieder auf. Oft waren sie weggelaufen… Aber wie oft taten sie das nicht? Wie oft war ihnen wirklich etwas geschehen? Energisch schob Catherine die Gedanken beiseite und schlich leise in den Keller hinunter. Sie wollte erst die Geheimgänge absuchen, die Lea ihr gezeigt hatte, aber glaubte sie wirklich, dass Lea sich hier unten versteckte, wenn oben alles nach ihr suchte... Catherine zuckte die Schultern. Es war eine Möglichkeit, wenn auch eine sehr unwahrscheinliche. Bisher glaubte sie noch nicht daran, dass Lea etwas geschehen war. Wie sollte das geschehen sein? Vielleicht war sie aus irgendeinem Grund weggelaufen. Vielleicht aus demselben, aus dem sie im Büro so seltsam zickig reagiert hatte. Catherine drückte die Tür zu dem Raum auf, in dem Elizabeth die Vampire unterbringen lassen hatte, und knipste die armselige, nackte Glühbirne an, die an einem Kabel von der Decke hin. Nichts hatte sich hier in den letzten Wochen verändert, bemerkte Catherine und schloss die Tür hinter sich. Wahrscheinlich war in den letzten Wochen auch niemand mehr hier gewesen. Sie tastete nach dem Eingang des geheimen Tunnels, der bis zu den Gräbern führte, und zwängte sich durch die schmutzige Öffnung hinein. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das spärliche Licht, das die Taschenlampe verbreitete, und Catherine begann langsam ihre Suche. Die Suche in der kleinen Stadt Irvine war so erfolglos wie Catherines Suchen im Keller und den Geheimgängen. Catherine saß auf einem Baumstumpf bei den Gräbern, schaute immer wieder auf den Ausgang des Ganges und dachte nach. Sie musste nachdenken und die bestürzten Mädchen im Schloss, die zahllose Fragen stellten oder in Schweigen versunken bereits um Lea trauerten, als sei sie gestorben, halfen ihr dabei überhaupt nicht. Unsicher biss sie sich auf die Lippen. War Lea doch etwas zugestoßen? In Catherine tobte ebenfalls bereits diese störende Unruhe, die jeglichen klaren Gedanken verhinderte und nur Verzweiflung säte. Langsam ließ sie ihren Blick über den dunklen Park streifen und zwang sich zur Ruhe. Die kühle Abendluft ließ sie leicht zittern. Es war bereits der zweite Abend nach Leas Verschwinden. Die Polizei würde am nächsten Morgen aktiv werden und endlich etwas tun. Catherine lehnte sich an einen Baumstamm und legte den Kopf zurück. „Das ist doch verrückt!“ flüsterte sie und stützte das Kinn in ihrer Handfläche ab. „Was ist verrückt?“ fragte eine Stimme hinter ihr und ließ sie herumwirbeln, sodass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. „Du solltest dich nicht immer so anschleichen.“ meinte sie, als sie Lestat erkannte. „Irgendwann bekomme ich noch einen Herzinfarkt.“ fügte sie hinzu und erhob sich. Lestat trat auf sie zu und schüttelte den Kopf. „Bei deiner psychischen Konstitution kann ich mir das nicht recht vorstellen. Du bist ziemlich hart im Nehmen.“ meinte er und trat auf sie zu. „Und wenn du dich irrst? Wenn ich im Moment kurz vor einem Zusammenbruch stehe? Angenommen…“ fragte Catherine. „Angenommen, das wäre so… und du würdest gleich kurzatmig in meinen Armen zusammenbrechen, würde ich dich nicht in meinen Armen sterben lassen.“ entgegnete Lestat ehrlich und berührte mit seinen warmen Fingern sanft Catherines Wange. Ihre Finger tasteten nach seiner Hand und hielten sie, während sie den Blickkontakt mit ihm suchte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch im selben Moment kehrten die klaren Gedanken zu ihr zurück. Vorsichtig schob sie seine Hand weg und trat einige Schritte zurück. Lestat nickte und räusperte sich. „Es sind weitere Leichen aufgetaucht, die auf dieselbe Weise umgekommen sind wie Salieri. Ich dachte, das solltest du wissen.“ meinte er und blickte sie an. Sie war so zerbrechlich. So unglaublich verführerisch. Ihr Haar bewegte sich leicht, als ihr Kopf sich zu einem zaghaften Nicken neigte, und ihre Haut schimmerte im Mondlicht, als sei Catherine wie er selbst. Ihr Blick war gesenkt und er konnte nur ihre Lider und Wimpern zucken sehen. Seine Augen glitten über ihre Lippen und ihr Kinn hinab zu ihrem Hals, an dem die Hauptschlagader fiebrig pulsierte. „Weißt du, dass Lea verschwunden ist?“ fragte sie schließlich und hob den Blick. „Ich habe es gerade in der Stadt gehört, ja.“ antwortete er und streckte seine Hand nach Catherine aus. „Louis sucht bereits nach ihr. Wir halten alle die Augen und Ohren offen.“ fügte er hinzu. „Wo warst du die letzten beiden Tage?“ fragte Catherine und blickte auf seine Hand, die er noch nicht zurückgezogen hatte. „Ich habe nichts mit Leas Verschwinden zu tun.“ meinte er heftig und ließ seine Hand sinken. „Das meinte ich doch überhaupt nicht!“ erwiderte Catherine sofort und schüttelte den Kopf. „Das meinte ich nicht.“ wiederholte sie leise und senkte den Blick. „Wir haben versucht, die blutleeren Leichen verschwinden zu lassen.“ meinte er düster. Mit seiner Hand stützte er sich an der moosüberzogenen Rinde eines Baumes ab und blickte hinüber zu der Stelle, an der Catherine stand. „Ihr seid wieder zusammen? Ich meine, ihr wart doch einzeln oder zu zweit, nachdem ihr von Thirlestane Castle abgereist seid, oder nicht?“ „Wir müssen die Spuren beseitigen, die nicht von uns stammen. Blutleere Leichen sind schwer zu erklären und sind deshalb nicht gerade für die Öffentlichkeit geeignet. Trotz ihrer Technik, ihrem Fortschritt und ihrer so aufgeklärten Denkweise, sind die heutigen Menschen abergläubig wie eh und je und äußerst zugänglich für ‚Übernatürliches’ und ‚Satanisches’… Es könnte eine Hysterie geben, die in eine Hetzjagd ausufert.“ Lestat machte eine kleine Pause und schien über seine Worte nachzudenken. „David und Marius meinen eben, wir sollten sicher sein, dass nichts davon an die Öffentlichkeit dringt. Vielleicht hat er Recht, vielleicht machen wir uns umsonst die Hände schmutzig.“ meinte er und grub seine Finger in das Moos, das den Baumstamm überwucherte. „Ja, ihr solltet euch schützen.“ überlegte Catherine und begegnete wieder seinem Blick. Er war klar und ungetrübt und warf flackernd das wenige Licht der Nacht zu Catherine herüber. „Ich möchte, dass du mit mir kommst.“ sagte er deutlich und trat wieder auf sie zu. „Lea…“ „Lea? Hör’ zu, ich weiß nicht, wo sie ist, aber sie ist nicht mehr hier.“ „Ich kann nicht so einfach gehen, solange ich nicht weiß, was mit ihr ist.“ „Wir werden sie finden - und zwar unverletzt.“ entgegnete Lestat beharrlich. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“ entgegnete Catherine. „Louis spürt, dass sie lebt… Vertrau’ ihm einfach, wenn du mir nicht vertrauen kannst.“ „Du weiß genau, dass ich dir vertraue. Ich würde dir - so paradox das auch klingen mag – sogar mein Leben anvertrauen!“ gab Catherine zurück und hielt seinem Blick stand. Er nickte langsam und strich ihr eine Haarsträne aus der Stirn. „Ich weiß. Das hast du bereits mehrmals getan.“ meinte er leise und küsste vorsichtig ihre rechte Schläfe. Catherine konnte sich nicht rühren. Zu fesselnd war die Nähe, in der er nun bei ihr stand und sie berührte. „Was hält dich sonst noch hier?“ flüsterte er. Catherine spürte den Hauch seines Atems gegen ihr Haar und schloss die Augen. „Die…“ „Die Nachforschungen? Catherine, glaubst du nicht, dass du dich nur vor dem nächsten Schritt fürchtest?“ unterbrach er sie und zog sie noch dichter zu sich. „Habe ich nicht schon einmal gesagt, dass ich mich vor nichts fürchte?“ erinnerte sie ihn leise lachend. Er nickte. „Richtig. Das hast du gesagt. Ich habe dir das nie geglaubt.“ gab er zu und fuhr fort: „Hier gibt es nichts mehr herauszufinden.“ „Welcher ist der nächste Schritt, von dem du gesprochen hast?“ flüsterte sie und spürte, dass er seine Finger auf ihre Lippen legte. „Komm’ mit mir!“ wiederholte er und blickte sie an. „Ich kann dir helfen.“ entgegnete er in einem Tonfall, der Catherine ungeachtet seiner Worte vermittelte, dass Lestat mehr wusste, als bei seinem letzten Besuch. Kapitel 73: Bekannte mit großen Fähigkeiten ------------------------------------------- Bekannte mit großen Fähigkeiten Catherine blickte Lestat an und überlegte nicht lange, ehe sie nickte. Sie war sich nun sicher, dass er mehr wusste. Sie war sich auch sicher, dass sie mit ihm gehen wollte, wohin auch immer. Darüber hatte er eben noch nichts gesagt. Es schien so einfach zu sein, von Thirlestane Castle wegzugehen, aber das war es nicht. Langsam schüttelte Catherine den Kopf und meinte: „Es gibt so viel zu tun. Ich kann jetzt nicht einfach verschwinden.“ Lestat schnaubte und schüttelte unwillig den Kopf. „Ich kann es kaum glauben, wie stur du bist! Hast du immer noch nicht eingesehen, dass du hier…“ „Darum geht es nicht.“ unterbrach sie ihn und fuhr dann fort: „Findest du es nicht auffällig, wenn ich einfach gehe. Lea ist verschwunden und dann komme ich: ‚Ach, Entschuldigung, ich bin dann auch mal weg!’ Wie stellst du dir das vor?“ Ein Lächeln huschte über Lestats Gesichtszüge. Prüfend legte er den Kopf schief und entgegnete: „Dein Ticket ist gebucht, die Bediensteten in der Villa in Paris informiert, dass du zurückkommst, die Polizei davon unterrichtet, dass du nun endlich deine Angelegenheiten in Paris regeln willst, da du dich nun in der Lage dazu fühlst und Elizabeth…“ Lestat machte eine kleine Pause, da Catherine ihn entsetzt ansah. „Hast du das alles eingefädelt?“ ließ er sie fragen und nickte. „Natürlich, aber ich hatte Hilfe von Marius. Elizabeth wird sich erinnern, dass du schon angesprochen hast, nach Paris zurückzukehren. Du wirst schon sehen.“ „Wie ist das möglich? Ich weiß, dass ihr mentale Fähigkeiten habt, die unsere weit übertreffen…“ „Fähigkeiten, die eure meistens übertreffen.“ verbesserte er sie, ließ sie dann aber fortfahren. „… meistens übertreffen, aber wie könnt ihr mehrere Menschen von ein- und derselben Tatsache überzeugen, ohne dass ihnen Zweifel kommen?“ „Was denkst du, warum ich nun erst komme? Wir mussten langsam vorgehen. Langsam und gründlich haben wir immer wieder verschiedene Gedanken in ihre Köpfe eingesät… auch bei Elizabeth, wobei ich zugeben muss, dass sie schwer zu beeinflussen war.“ Catherine schaute Lestat immer noch prüfend an und sagte nichts. „Du kannst zu Elizabeth gehen und ihr sagen, dass du gehst. Sie wird dich nicht aufhalten, weil sie denkt, das sei schon lange dein Plan gewesen, von dem sie gewusst hat. Und wenn sie Zweifel hat, wird sie feststellen, dass sie selbst vor zwei Wochen dein Flugticket gebucht hat.“ fuhr Lestat zufrieden und ein wenig stolz fort. „Das ist unglaublich.“ flüsterte Catherine, doch sie glaubte, dass es möglich war. Immer noch etwas zaghaft nickte sie und blickte zum Schloss. Sie konnte gehen. Und Lea würden sie finden. Egal wo sie nun war, solange sie am Leben war, konnten sie erfolgreich sein. Es würde gut gehen…. „Wann geht der Flug?“ fragte Catherine mit trockener Kehle. „In sechs Stunden.“ gab Lestat zurück und sah, dass Catherines Augen von Überraschung funkelten. „Ich gebe zu, dass das wenig Zeit ist, aber ich hätte niemals gedacht, dass du vor zwei Tagen noch überhaupt nichts von einer Abreise wissen wolltest.“ meinte er entschuldigend. „Werde ich auch beeinflusst?“ fragte Catherine vorsichtshalber, da sie unsicher wurde. „Nein.“ entgegnete Lestat schlicht und kramte in seiner Jackentasche nach einem länglichen Umschlag, den er Catherine reichte. Dann verschwand er in der Nacht. Catherine öffnete den Umschlag und stellte fest, dass er ein Flugticket und ein gefaltetes Blatt Papier enthielt. Während sie langsam zurück zum Schloss schritt, entfaltete sie das Blatt und versuchte, das Geschriebene in der Dunkelheit zu lesen, was ihr aber nicht gelang. So gut waren ihre Augen dann doch nicht, wie sie feststellte. Sie schob das Blatt zurück in den Umschlag und hielt ihn mit verkrampften Fingern fest. Wohin war Lestat nun verschwunden? Warum war er überhaupt verschwunden? Wahrscheinlich würde er sie in Paris erwarten, da das Flugzeug erst nach Sonnenaufgang überhaupt in Paris landen würde, was sehr ungesund für ihn wäre. Ihr Herz raste. Sie konnte es immer noch kaum glauben, dass sie noch in dieser Nacht in einem Flugzeug nach Paris sitzen würde, aber um dieses nicht zu verpassen, musste sie sich beeilen. Sie eilte in ihr Zimmer, holte die Tasche unter dem Bett hervor und schichtete ihre Kleidung, ihre Waschsachen und die Unterlagen hinein, zog den Reißverschluss hektisch zu und durchsuchte noch einmal das gesamte Zimmer nach Dingen, die noch ihr gehörten. In einer Schreibtischschublade fand sie noch zwei Bücher, von denen sie überhaupt nicht mehr gewusst hatte, dass sie sie aus Paris mitgenommen hatte. Sie stopfte sie in ihr Handgepäck und verließ dann ihr Zimmer, um Elizabeth Bescheid zu geben, dass sie ging. Es war ihr immer noch etwas mulmig zumute, als sie an die offene Tür klopfte und ihre Tasche draußen vor der Tür stehen ließ, als Elizabeth sie hereinwinkte. „Die Polizei beginnt morgen mit der Suche.“ meinte Elizabeth, worauf Catherine nickte. „Ja, ich weiß. Saerlaith, ich möchte gerne gehen.“ entgegnete sie und unterdrückte ihre Nervosität. „Ich wusste, dass du das sagen würdest – abgesehen davon, dass ich dein Gepäck gesehen habe.“ Elizabeth lächelte fast. „Es tut mir leid, dass ich gerade jetzt…“ begann Catherine, da sie das Gefühl hatte, unbedingt etwas in diese Richtung sagen zu müssen, doch Elizabeth hob die Hand und sie verstummte. „Ich bitte dich. Wir haben schon viel zu lange von dir verlangt, hier zu bleiben. Du möchtest nach Hause, deine Angelegenheiten regeln und dein Leben leben. Das verstehen wir.“ „Da bin ich froh.“ gab Catherine zu, doch gleichzeitig wusste sie, dass Lea der einzige Grund war, weshalb sie geblieben wäre. Und nun hätte sie lediglich das Misstrauen der Polizei über ihr plötzliches Verschwinden davon abhalten können, doch hier hatten Lestat und Marius dafür gesorgt, dass es kein Misstrauen geben würde. Catherine musste sich ein erleichtertes Lächeln verkneifen und hielt Elizabeths Blick stand. „Dann sollten wir uns jetzt verabschieden. Das Taxi wartet bereits vor der Tür, habe ich gesehen.“ „Wirklich?“ „Ja, ich nehme an, dass du es schon vorhin bestellt hast. Oder nicht?“ fragte Elizabeth und erhob sich von ihrem Stuhl hinter dem Schreibtisch. „Doch, ja. Natürlich.“ versicherte Catherine schnell. Wahrscheinlich hatte Lestat das gemacht oder Elizabeth selbst, wenn sie noch unter seinem Einfluss stand, wobei sie nicht so aussah. Sie sah aus, als wüsste sie genau, was sie sagte und tat. Catherines Gedanken allerdings rasten in ihrem Kopf herum und sie war nicht der Lage irgendeinen klaren zu fassen oder auch zu Ende zu denken. „Ich möchte, dass wir in Kontakt bleiben, Lasair. Du bist ein Mitglied unseres Kreises und das wirst du bleiben, obwohl du deine Ausbildung sträflich vernachlässigt hast.“ „Ich wusste nicht, dass du darauf so großen Wert legst.“ gab Catherine zurück. Sie hatte sich tatsächlich niemals dazu angehalten gefühlt, mehr aus ihren Fähigkeiten zu machen, und war nur froh gewesen, nicht wild und wahllos irgendwelche Leute zu verbrennen. „Wir drängen niemanden und vielleicht ist deine Zeit doch noch nicht gekommen.“ meinte Elizabeth geheimnisvoll. Catherine betrachtete sie nur, dann sprach Elizabeth weiter: „Du bist Lasair. Und das darfst du niemals vergessen. Wenn du Fragen hast, werden wir da sein. Wenn du Hilfe brauchst, werden wir da sein. Wenn du Verbündete brauchst, werden wir da sein.“ Elizabeth legte ihre Hände aus Catherines Schultern und blickte ihr in die Augen. Catherine hielt ihrem forschenden Blick wieder stand und rührte sich nicht. „Sei vorsichtig, Lasair. Pass’ auf dich auf und lass’ mich wissen, wenn du gut in Paris angekommen bist.“ Catherine nickte und trat einen Schritt zurück. „Wenn Lea wieder da ist…“ Catherine brauchte nicht zu Ende zu sprechen, denn Elizabeth nickte. „Ich lasse dich Neuigkeiten sofort wissen.“ versprach sie und Catherine nickte. Sie ahnte zwar, dass Lea doch eher von Louis als von der schottischen Polizei gefunden würde, doch es schien ihr angebracht, Elizabeth darum zu bitten. Und wenn es nur dazu diente, keinen Verdacht zu erwecken, wo Lestat und Marius alles so durchgeplant hatten. „Ich muss nun gehen.“ meinte sie noch und reichte Elizabeth die Hand, die sie länger hielt als nötig und schließlich doch entließ. Catherine drehte sich um, nahm ihre Tasche vom Boden auf und schaute noch einmal zu Elizabeth zurück, die an ihrem Schreibtisch stand und ebenfalls zu ihr blickte. Dann nickte sie Elizabeth noch einmal kurz zu und verschwand durch die Halle. Der Taxifahrer lehnte am Wagen, eilte allerdings sofort auf Catherine zu und verstaute das Gepäck im Kofferraum. Während Catherine die Tür öffnete, schaute sie sich noch einmal um. Die Auffahrt zum schmiedeeisernen Tor wurde nur von den Scheinwerfern des Taxis erleuchtet, da die Straßenlaternen ihr Licht nicht so weit trugen. Die Grasflächen zu beiden Seiten waren leer, doch bei den hohen Mauern, die einen riesigen Schatten über den Rand des Rasens legten, erspähte Catherine eine schemenhafte Gestalt. Ihr Herz sprang wieder. „Lestat.“ flüsterte sie und die Gestalt bewegte sich an der Mauer entlang, blieb wieder stehen und blickte sie an. Catherine nickte flüchtig und hob vorsichtig die Hand, damit der Taxifahrer nichts bemerkte, doch er war eh schon eingestiegen und startete den Motor. „Haben Sie etwas vergessen?“ rief er aus dem Inneren, was Catherine verneinte, und schnell in den Wagen stieg. Das Taxi setzte sich langsam in Bewegung. Der Kies unter den Reifen knirschte laut. Catherines Blick heftete sich an die Mauer, doch Lestat war verschwunden. Suchend blickte sie sich um und schaute zurück zum Schloss, das langsam kleiner wurde. Nur die mittleren Fenster des Erdgeschosses waren erleuchtet, denn hinter ihnen lag die Eingangshalle. Trotzdem erkannte Catherine die gesamten Umrisse des Gebäudes und wandte den Blick nicht ab. Es kam ihr seltsam vor, nun zu gehen. Seltsam und fremd, als ließe sie ein Stück von sich auf diesem Schloss zurück. Lasair. Würde sie Lasair zurücklassen? Catherine schüttelte stumm den Kopf. Lasair war in ihrem Wesen verankert. Das Taxi erreichte das Tor und hielt, um einem vorbeifahrenden Wagen die Vorfahrt zu gewähren. „Verreisen Sie für länger, Miss?“ fragte der Taxifahrer und blickte in den Rückspiegel. Catherine nickte und wandte sich um. „Ich fliege nach Hause.“ meinte sie. Lächelnd blickte sie noch einmal zum Schloss zurück. Sie hatte sich nicht von den Mädchen verabschiedet. Elizabeth sollte sehen, wie sie die Abreise erklärte. Das war von nun an nicht mehr ihr Problem. Kapitel 74: (Ein-)Geständnis einer Schwäche ------------------------------------------- (Ein-)Geständnis einer Schwäche Catherine stieg aus dem Taxi und ließ sich von dem Fahrer ihr Gepäck reichen. Niemand hatte sie vom Flughafen abgeholt. Kein bekanntes Gesicht war ihr begegnet. Die Fassaden der Häuser hatten sie auf ihrer ruhigen Fahrt hierher gleichgültig aus der Dunkelheit angestarrt. Seltsam weit weg erschienen Catherine die Erinnerungen aus ihrer Kindheit, die Erinnerungen von vor wenigen Monaten. Paris schien ihr in diesen vergangenen Monaten fremd geworden zu sein. „Sind sie sicher, dass wir hier richtig sind, Mademoiselle? Meiner Meinung nach sieht es hier ziemlich verlassen aus.“ meinte der Fahrer und stellte die Tasche auf den Boden. „Das hat schon seine Richtigkeit, Monsieur.“ versicherte sie schnell. „Gut, dann einen schönen Abend… guten Morgen. Wie auch immer.“ murmelte der Fahrer und stieg wieder ein, nachdem sie ihm das Geld gegeben hatte. Catherine nahm ihre Tasche vom Boden und ging langsam die breiten Stufen zur Haustür hinauf. Das Taxi schlich die Auffahrt hinunter und bog schließlich nach links auf die Straße hinaus. Mit zitternden Fingern öffnete Catherine die Haustür und trat in die dunkle Villa. Unsicher tastete sie nach dem Lichtschalter für die wenigen Wandleuchten auf ihrer rechten Seite und knipste das Licht an. Ein scharfer Atemzug entwich ihren Lungen, als sie sah, dass sich nichts verändert hatte. Was hatte sich auch verändern sollen? Catherine stellte ihre Tasche ab, schloss die Tür und ging in den Salon. Sie wusste nicht, wie lange sie schon allein in diesem Raum saß und aus dem Fenster in die Dunkelheit im Park starrte. Dieses Mal bewegte sich kein Schatten draußen. Es war still. Es war niemand hier. Es tat gut, allein zu sein. Irgendwie. Langsam erhob sie sich, verließ den Salon wieder und warf einen kurzen Blick in die anderen Räume des Erdgeschosses, ehe sie ihre Tasche wieder vom Boden aufnahm und ruhig die Treppe nach oben stieg. In ihrem Zimmer hatte sich nichts verändert. Catherine sah sich noch einmal um und nickte dann bei sich. Es war alles, wie sie es zurückgelassen hatte – zumindest soweit sie sich erinnerte. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich noch Bücher über Psychologie und schienen ihr wie ein Überbleibsel aus einem längst vergangenen Leben. Catherine spürte die Tränen aufsteigen und presste die Augen zusammen. Gott, sie hatte einmal mehr allen Grund dazu, doch sie hatte doch gelernt, sich zusammenzureißen! Catherine packte ihre Tasche aus, warf ihre sauberen Kleider in den Schrank und eilte dann hinüber ins Badezimmer, wo sie sich ein Bad einließ. Ihre Eltern waren tot. Ihr Bruder verloren. Die Villa leer. Verlassen. Tot. Diese Erkenntnis traf sie nun da sie wieder zu Hause war, viel stärker als jemals zuvor. Die Vergangenheit hatte sie nun doch endlich eingeholt. Die Vergangenheit und die immer noch nicht bewältigte Trauer um ihre Eltern, die wie sie in ihr altes Leben gehörten, in dem ihr immer ein älterer Bruder zur Seite gestanden hatte. Catherine zog sich langsam und schwerfällig aus und stieg in die Wanne. Kaum berührte ihr Körper das heiße Wasser, entspannten sich ihre Muskeln und ihr Herz löste sich aus der starren Umklammerung ihres Verstandes. Sie konnte den Schmerz nicht länger zurückhalten, der tief in ihr gegen sie und ihre vernunftbetonte Kontrolle aufbegehrte. Tränen brachen heftig an die Oberfläche und erschwerten ihr das ruhige Atmen. Ihre Kehle brannte feurig. Ihre Lider spannten. Ihre Lippen bebten. Starke Finger schienen sich um ihr Herz gelegt zu haben und pressten es mit aller Kraft zusammen, ehe sie es gänzlich auseinander rissen. Viele kleine Stücke – achtlos in ihrem Körper verteilt… Oder achtlos weggeworfen und mit den Schuhen zertreten. Sie wusste es nicht. Es machte keinen Unterschied. Sie wusste überhaupt nichts mehr. Ihre Hände bedeckten ihre Augen und pressten sich fest gegen sie. Wenn sie nur wüsste, was sie eigentlich gerade fühlte! Wenn sie das Gefühl doch nur klar einordnen könnte! Trauer. Schmerz. Erleichterung. Hoffnung. Ruhe. Unruhe… Alles zusammen. Schwäche. Schwäche. Sie war schwach. Nicht stark. Sie wollte, dass es aufhörte. Sie wollte nicht mehr. Sie konnte nicht mehr. Gott, es tat gut, sich das einzugestehen! Sanft legten sich warme Finger auf ihre nassen Hände und führten sie weg von den Augen. So sanft, dass Catherine nicht einmal erschrecken konnte. Sie war nur überrascht und zog scharf die Luft durch ihre Zähne, bevor sie in ein ruhiges Gesicht sah, das sie gelassen betrachtete. Lestat. Sie war unfähig zu sprechen. Nicht einmal sein Name kam ihr über die Lippen. Sie ließ ihre Hände sinken und sah seiner nun freigewordenen rechten Hand entgegen, die langsam nach ihrem Gesicht tastete und einige Tränen abwischte. Er strich über ihre Wange und über ihre Stirn, an ihrer Schläfe und ihrer Kieferlinie entlang und betrachtete sie schweigend. Catherine sank etwas tiefer in die Wanne. Der Badeschaum bedeckte sie nur dürftig, aber er hatte sie eh schon nackt gesehen. Im Moment schien er sich auch nicht für ihren Körper zu interessieren – sein Blick suchte ihre Augen. Wie aus Reflex ließ sie die Lider sinken und betrachtete die Schaumhügel auf der Wasseroberfläche. Seine Hand legte sich, ohne dass er ein Wort sprach, an ihr Kinn und hob es leicht an. Mit der federartigen Führung seiner Finger gegen ihre Haut zwang er sie, ihn anzusehen. Tränen klebten noch immer in ihren vollen und langen Wimpern. Ihre Augen schimmerten unbeständig und zeigten ihm, dass sie ihren Blick unruhig über seine Gesichtszüge wandern ließ. Ihr Atem streichelte unwillkürlich über die Innenseite seines rechten Handgelenkes, das nur etwas unterhalb ihres Kinns zur Ruhe gekommen war. Noch nie war sie zerbrechlicher gewesen. Noch nie bezaubernder. Catherine hielt seinem Blick nun stand und wartete. Ein anderes Gefühl breitete sich wärmend in ihr aus. Ruhe. Geborgenheit. Und ein Hauch von Leidenschaft. Langsam ließ er seine Hand sinken und brachte etwas mehr Abstand zwischen sie, indem er auf dem Badwannenrand ein Stück nach hinten rutschte. „Wie kann ich dir helfen? Was kann ich für dich tun?“ brach er schließlich das Schweigen. Seine Stimme klang rau und beinahe unwirklich. Nein, er war wirklich hier, bei ihr… in ihrem Badezimmer. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich denke, du hast schon genug für mich getan, Lestat. Gerade eben.“ flüsterte sie ehrlich und sank mit dem Kopf gegen die Wand. „Ist etwas geschehen? Ich meine… Warum…? So habe ich dich noch nie gesehen.“ entgegnete er. „Einmal… im Keller, als ich mich erinnerte, was ich getan habe, dass ich… dass ich auf Lucien eingestochen habe.“ „Damals hast du nicht geweint.“ stellte er fest, doch er nickte. „Bist du schon lange da? … Ich meine, wie viel von meinem Gefühlsausbruch hast du mitbekommen?“ fragte Catherine mit zittriger Stimme. „Ist das wichtig?“ fragte Lestat und Catherine nickte. „Ich habe eine Weile gezögert, bevor ich... dich wissen lassen konnte, dass ich da bin.“ gestand er und blickte sie ernst an. „Das tut mir leid.“ „Was denn?“ „Dass du das eben mitbekommen hast. Ich denke, du solltest mich so nicht sehen.“ erklärte sie, worauf er ein verächtliches Geräusch von sich gab. Er näherte sich ihr wieder und beugte sich über sie. Sie musste den Blick heben, um seine Augen zu sehen, dann verschwanden sie über ihr. Sein Oberkörper näherte sich ihrem Gesicht, während seine Lippen den Ansatz ihrer Haare und ihre Stirn berührten. Genüsslich zog er ihren Duft ein. „Wie kommst du darauf, dass das eine Seite an dir ist, die ich nicht sehen will?“ fragte er. „Sie hat dich anscheinend überfordert… du hast gezögert und wusstest nicht, was du tun solltest…“ begann Catherine und bemerkte selbst, dass das keine wirklichen Gründe waren. „Falsch.“ meinte er schlicht und ließ seine Lippen zu ihrer Schläfe wandeln. „Wie ‚falsch’?“ wollte Catherine verwundert wissen. „Ganz falsch.“ flüsterte er an ihr Ohr. Catherine jagte seine Stimme so dicht an ihrem Ohr einen wohligen Schauer über ihren gesamten Körper. Sein Mund sank weiter nach unten, folgte der Linie ihres Halses und blieb auf ihrer Schulter liegen. „So geht das nicht weiter.“ meinte er plötzlich und Catherine hob den Kopf. Verdutzt versuchte sie, sein Gesicht zu sehen, doch er hatte seine Lippen noch immer gegen ihre Schulter gepresst und schien auch nicht das geringste Verlangen zu haben, ihr mit einem Blick zu begegnen. Lag es am heißen Dampf des Badewassers, dass sie seinen Gedankensprüngen nicht folgen konnte? Oder konnte man das auch so nicht? „Wie geht was nicht weiter?“ fragte sie vorsichtig und hob ihre Hand an seinen Oberarm. Seine Lippen nahmen den Weg zurück über ihren Hals und über ihren unteren Kieferknochen, während seine Hand über die Wölbung ihres Schlüsselbeins fuhr und ihr Dekolleté hinab strich. Knapp oberhalb der Wasseroberfläche hielt er inne und hob den Kopf. Er musste sie nun ansehen. Nur Zentimeter trennten sie voneinander. Catherines Augen brannten auf ihm. „Willst du wissen, weshalb ich gezögert habe?“ fragte er leise. „Ja, sag’ schon… Du warst überfordert. Gib’s zu!“ hauchte sie gegen seine Lippen. „Falsch… Ich wollte nur sicher gehen, dass du dieses Mal nichts nach mir wirfst. Es war keine Sai-Gabel in Sicht, aber der Schwamm oder die Shampooflasche wäre sicher nicht angenehm gewesen.“ grinste er, worauf Catherine leise lachend den Kopf schüttelte. „Ich habe dich nicht getroffen. Um Haaresbreite.“ erinnerte sie ihn. „Das ist wahr. Nicht mit der Waffe…“ überlegte er scheinbar laut. Nachdenklich legte sie den Kopf schief. Es fühlte sich so gut an, ihn so dicht bei sich zu haben. Niemals hatte sie diese Momente in Frage gestellt, aber diese Situation war anders… Sie spürte es. „Was geht so nicht weiter?“ wiederholte sie ihre Frage und bemerkte, dass er zusammenzuckte. „Es ist mir egal, ob es Seiten an dir gibt, die du selbst nicht gerne zulässt. Ich will sie sehen. Ich will sie kennen, Catherine.“ meinte er zögernd. „Gott, ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich sage!“ Catherine blickte ihn nur schweigend an. Sie war auf ein solches Geständnis nicht vorbereitet – nicht im Geringsten. Es fühlte sich gut an, keine Frage, doch… „Vielleicht hattest du doch Recht und ich war überfordert… Ich bin Wesen wie dich nicht gewohnt.“ Er lachte leise und schüttelte leicht den Kopf. „Ich bin es leid, mir etwas anderes einzureden. Ich will dich. Catherine, ich will alles von dir.“ brach es schließlich aus ihm heraus. Ein Kribbeln breitete sich in ihr aus. Hatte er das wirklich gesagt? Sie wusste, dass sie ihn liebte, auch wenn sie sich genau wusste, warum das so war. Sie wusste es, seit er ohne ein Wort verschwunden war. Sie wusste, dass sie ihn begehrte, selbst wenn er sie nur ansah… Weiter kam sie nicht. Seine Lippen fanden fiebrig und drängend ihre und raubten ihr den letzten, verbleibenden Funken von klarem Verstand und die letzten Zweifel. Ihre Hände tasteten nach seinem Oberkörper und legten sich um seinen Hals, an seinen Nacken, als er sie aus dem Wasser zog und ihren nackten, nassen Körper an seinen presste. Kapitel 75: Gesucht und gefunden -------------------------------- Gesucht und gefunden Er fühlte sich so gut an! Seine Hände schienen überall zu sein. Seine Arme hielten sie und ließen ihr sanft bestimmend nicht die Möglichkeit, sich auch nur etwas von ihm zu entfernen. Sie wollte es auch überhaupt nicht. Catherine sog die Luft über ihre Lippen, als sie seine Lippen leicht gegen ihren Nacken und dann ihr Schlüsselbein spürte, während seine Finger in ihre Haar fuhren und sich in ihren verbargen. Sein Oberkörper presste fester gegen sie – sein Hemd war eh schon nass…. Gott, wenn interessierte jetzt gerade sein Hemd?! Sie duftete so unglaublich gut. Ihr Herz schlug so laut, dass er sich sicher war, dass er es auch nur mit einem menschlichen Gehör hätte vernehmen können. Zu lange hatte er sich zusammengerissen. Zu lange war ihm dieser Genuss entgangen. Die Hitze, die von ihr ausströmte, brachte ihn um den Verstand. Sie genoss, was er ihr geben konnte… ließ ihn nehmen, was er wollte. Es wollte alles. Ihre Seele. Er wollte in jedem ihrer Gedanken sein. Er wollte verantwortlich für jedes Gefühl sein, dass sie bewegte. Ihren Körper. Jede Faser in ihm sollte sich daran erinnern, dass es ihn gab, und sich ständig nach ihm sehnen. Ihr Blut… es sollte fließen und sie in ihrer atemberaubenden Schönheit erhalten. Obwohl er auch ihr Blut wollte, dessen Geruch selbst nun, da sie unverletzt war, so süßlich und schwer gegen seine Sinne strömte, scheute er sich davon, es zu nehmen, würde er doch damit zerstören, was er beinahe schon vergötterte. Wie seltsam und merkwürdig diese Gefühle waren. So eigenartig. So fremd. Niemals hatte er so empfunden - niemals in seinen sterblichen Jahren – und doch war es bestimmt dieses Gefühl, was so viele Dichter priesen und so viele Menschen suchten. Süßer Schmerz. Angenehmer Schmerz. Alles erschien unwichtig. Nur sie, sie teilte diese Gefühle mit ihm. Sie machte ihn menschlicher, als er es jemals für möglich gehalten hatte. Ein stürmisches Klopfen riss Catherine und Lestat aus ihren innigen Berührungen und ihren leidenschaftlichen Küssen. Lestat murmelte etwas, das Catherine nicht verstand. Dann begegneten sich ihre Blicke wieder. „Du bist nicht allein?“ brachte sie schließlich heraus. „Nein, leider nicht.“ gab er zu und fuhr über ihr nasses, langes Haar. „Wer ist noch da? Solltest du mich holen?“ „Louis und Armand. Lea wartet auch unten. Marius ist unterwegs.“ antwortete er. „Lea ist unten? Habt ihr sie…“ Erneutes Klopfen. „Ich habe dir versprochen, dass wir sie finden. Wir sind eben klüger als die schottischen Polizisten.“ „Oder einfach nur schneller… Wo war sie? Warum jetzt erst? Ich meine, wieso hast du mir nicht gleich gesagt, dass sie da ist?“ Lestat grinste und legte ihr seine Finger leicht auf die Lippen. „Ich hatte Besseres zu tun.“ flüsterte er und zog sie wieder ein Stück zu sich. „Du nicht auch?“ fügte er hinzu, worauf Catherine langsam nickte. „Trotzdem… sollten wir jetzt zu ihren gehen.“ „Wirklich? Sollten wir das? Bist du sicher?“ gab Lestat zurück. „Verwirr’ mich nicht! Ich brauche nur noch…“ Seine Finger strichen an ihrem Hals entlang und ließen sie immer noch nicht los. Catherine schloss einen Moment die Augen und atmete tief durch. Lea war da. In Sicherheit und… ein wohliger Schauer lief erneut über ihre Haut, als sie seine Lippen an ihrer Halsbeuge und dann unterhalb ihres Ohres spürte. „Was brauchst du?“ fragte er sie, ohne sein zärtliches Spiel längere Zeit zu unterbrechen. Was tat er mit ihr? Es war beinahe unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, aber sie musste zu Lea. Ihr ging es gut… Alles war in Ordnung, aber sie musste sie trotzdem sehen. Wieder das energische Klopfen an der Tür. Bald würde sich derjenige irgendwie Zutritt verschaffen, aber Lestats Arme waren einfach zu besitzergreifend, seine Zärtlichkeiten zu fesselnd. Irgendwie musste Catherine die Kraft aufbringen, sich von Lestat zu lösen – es würde wahrscheinlich nicht für lange sein, das wusste sie doch! „Ein Handtuch… und dann… Kleidung.“ hauchte sie zwischen zwei Küssen. „Sehr schade.“ murmelte er, angelte nach einem weißen Handtuch und blickte sie an, als sie sich von ihm löste und das Handtuch um ihren Körper schlang. Sie steckte den einen Handtuchzipfel vorne im Dekolleté fest und strich sich dann die Haare zur Seite. Lestat presste seine Lippen aufeinander. Am liebsten hätte er ihr das Handtuch wieder entrissen. Catherine tapste über die Badfliesen, schloss die Tür auf und öffnete nur einen winzigen Spalt. „Armand!“ stieß sie überrascht aus. Eigentlich war sie nicht überrascht… nicht mehr, als wenn Louis oder Marius geklopft hätten, aber sein Grinsen irritierte sie. „Ausgerechnet.“ hörte sie Lestat murren, wandte aber nicht den Blick von Armand ab, der die Situation durchaus amüsant zu finden schien. „Tu’ nicht so, als ob du allein im Bad wärst…“ meinte Armand nun und ließ seinen Blick über ihren makellosen Hals hinunter zu ihrem Schlüsselbein wandern. „Es kann ja sein, dass ihr etwas Besseres vorhabt, aber wir warten nur auf euch.“ fügte er hinzu und legte den Kopf schief. „Ich… wir kommen sofort.“ entgegnete Catherine mit trockenem Hals und presste ihre Arme vor ihren Körper. Armand stand immer noch da und betrachtete sie. Catherine nickte noch einmal zur Bekräftigung und starrte ihn dann an. Sein Blick war ihr unangenehm. Noch unangenehmer waren ihr seine Gedanken, die er hatte. Und am meisten Sorgen machte ihr, dass sie genau wusste, dass die Sache mit Lestat wahnsinnig war. Lestat näherte sich ihr – vor Armand von der Tür verdeckt - und strich ihr mit seinen Fingern sanft über den Nacken, fuhr ihre Wirbelsäule entlang und wieder an ihr nach oben. Er war wahnsinnig, das jetzt zu tun! Catherine zitterte. Was dachte er sich dabei? Was würden die anderen sagen… Er war nun einmal unsterblich und sie war nur ein Mensch! Armand hob den Blick und grinste. „Wir sind unten im Salon.“ meinte er nur noch und ging davon. Lestat zog Catherine wieder zu sich und schloss die Badezimmertür. Seine Finger ruhten gegen ihre Wangen und streichelten sie sanft. Seine Augen suchten ihre und verdunkelten sich etwas, als sich ihre Blicke begegnen. „Was ist mit dir?“ fragte er und neigte den Kopf gegen ihre Stirn. „Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst… Das mit uns, meine ich.“ flüsterte sie und schloss die Augen. „Ich kann nicht anders. Ich will nicht anders. Reicht das nicht?“ entgegnete er und küsste ihre Schläfe, dann ihr Ohrläppchen und ihren Hals. „Ich kann mir vorstellen, dass die anderen…“ „Vergiss’ die anderen!“ erwiderte er und hielt sie ein Stück von sich weg. Prüfend betrachtete er sie, als sie leicht nickte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Es ist ausreichend.“ murmelte sie. „Zumindest für den Augenblick.“ Sie lächelte und löste sich endgültig von ihm, um sich anzuziehen. Lestat lehnte sich gegen die Tür und betrachtete sie. Sie kämmte ihr Haar und warf ihm dann einen fragenden Blick zu. „Ich würde mich gerne anziehen.“ meinte sie und wies ihn mit einer flüchtigen Handbewegung darauf hin, dass er das Bad verlassen sollte. „Wieso? Es gibt an dir nichts, was ich nicht schon gesehen hätte.“ erinnerte er sie mit einem zufriedenen und gleichzeitig schelmischen Grinsen. „Hinaus jetzt!“ lachte sie. „Wenn du bleibst, lenkst du mich nur ab, und die anderen warten noch länger!“ fügte sie lächelnd hinzu und schob ihn zur Tür hinaus, als er keine wirklichen Anstalten machte, ihrer Aufforderung nachzukommen. Er ließ sich schieben und drängen, drehte sich auf der Schwelle noch einmal um, verwickelte sie noch einmal in einen Kuss und ließ sie dann die Tür schließen. Lestat hatte im Gang auf sie gewartet und auf dem Weg nach unten seinen Arm um sie gelegt. Vor der Tür in den Salon entließ er sie aus seinem Griff und nickte ihr nur kurz zu. In Ordnung, den anderen offiziell zu bestätigen, was sie sowieso schon wussten, würde noch etwas Zeit in Anspruch nehmen. Catherine nickte ihm zu und trat in Jeans und einer Bluse mit noch nassem, offenem Haar vor Lestat in den Salon. Marius stand am Kamin, in dem allerdings kein Feuer brannte. Louis saß in einem Sessel. Armand stand am Fenster und warf nur einen kurzen Blick herüber, als sie eintraten. Lea saß auf dem Sofa und sah müde und abgekämpft aus. Catherine stockte einen Moment lang der Atem, dann eilte sie zu ihr und schloss ihre Arme um sie. Lea zuckte zusammen und verbarg ihr Gesicht an Catherines Schulter. Die Worte fehlten beiden. Catherine hielt sie einfach nur fest. Leas Tränen rollten geräuschlos in den Stoff ihrer Bluse. Was war Lea nur zugestoßen? Nur eines war sicher: sie war nicht weggelaufen. Aus dem Augenwinkel sah Catherine, dass Armand den Raum verließ. Ihr Blick wanderte zu Louis, der ihren Augen mit einem gequälten Ausdruck begegnete. Lea schluchzte nun leise und Catherine hielt sie ein Stück von sich weg. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Leas Kleidung blutig war und sich an Leas Hals Spuren von medizinischer Versorgung befanden. „Oh, Gott! Geht es dir gut? Lea, geht es dir gut? Was ist passiert?“ stieß Catherine aus. Lea schüttelte nur stumm den Kopf und vergrub ihr Gesicht wieder an Catherines Schuler. Sie konnte nicht darüber sprechen. „Ist schon gut. Lea, ist schon gut. Es ist vorbei. Du musst nicht darüber reden, was passiert ist. Keiner drängt dich. Alles ist gut.“ flüsterte sie leise und beruhigend auf Lea ein. Lea schien von den Worten kaum etwas zu hören. Catherine fühlte sich so hilflos. Unsicher suchte sie Marius’ Reaktion, doch er starrte nur wie versteinert in das nicht vorhandene Feuer im Kamin. Lea weinte und stand vor Erschöpfung kurz vor einem Zusammenbruch. Plötzlich fühlte Catherine einen Körper dicht hinter sich und wusste, dass es Lestat war. „Sie sollte versuchen, etwas zu schlafen. Bringen wir sie nach oben in dein Zimmer!“ meinte er leise. Catherine nickte und machte Lestat Platz, sodass er Lea mühelos hochheben konnte. Sein Blick streifte Louis, der sich nicht rührte, und etwas in diesem Blick verriet Catherine, dass auch noch sonst irgendetwas nicht stimmte. Lestat trug Lea in Catherines Zimmer und legte sie auf dem einzigen bezogenen Bett in der Villa ab. Catherine befreite Lea von ihrer Jacke und ihren Schuhen, deckte sie zu und strich ihr einige Haarsträhnen aus der Stirn. „Die Wunde ist gut versorgt.“ versicherte Lestat und Catherine glaubte ihm. „Vorhin war sie nicht so…“ wollte er fortfahren, doch Catherine hob abwehrend die Hand. „Sie stand wahrscheinlich noch unter Schock.“ murmelte sie und blickte hinunter in das blasse Gesicht. Lea zitterte, ihre Lippen bebten, ihr Gesicht glänzte nass vor Tränen. Catherine ergriff Leas Handgelenk und kontrollierte ihren Puls. Er schlug langsamer, doch stark und regelmäßig. „Weißt du, was geschehen ist?“ fragte Catherine und hob den Blick zu Lestat. Er nickte langsam und holte tief Luft, um ihr Auskunft zu geben. „Nein, nicht jetzt.“ wehrte Catherine gedämpft, erhob sich langsam und schloss an ihrem Schreibtisch eine Schublade auf. Kurze Zeit später kam sie mit einer Tablettenschachtel zurück, schenkte ein Glas Wasser ein und setzte sich wieder auf den Bettrand. Vorsichtig half sie Lea auf und schob ihr eine Tablettenkapsel zwischen die Lippen. „Das ist ein Beruhigungsmittel, Lea. Damit kannst du schlafen.“ erklärte Catherine und flößte Lea einen Schluck Wasser ein. Lea schluckte die Kapsel ohne versuchte Widerstandsaktionen. Catherine war sich nicht einmal sicher, ob sie ihr überhaupt hätte erklären müssen, was das Medikament war und bewirkte. Lea schien alles egal zu sein. Kapitel 76: Familienbande ------------------------- Familienbande Nachdem Lea eingeschlafen war, saß Catherine schweigend auf dem Rand des Bettes und beobachtete sie. Lestat lehnte gegen den Fenstersims und schaute immer wieder in den Garten hinaus. Ob Catherine wusste, dass er im Schneesturm dort unten gestanden hatte? Damals war es Zufall gewesen, dass er sie gefunden hatte. Heute wusste er, dass sie verbunden waren, doch er wusste nicht warum. Es war einfach so. Er fühlte es, wie er so vieles fühlte, das ihm unbekannt war, wenn er sich in ihrer Nähe aufhielt. Ein Rascheln der Bettdecke verleitete ihn dazu, den Kopf wieder zurück zum Bett zu wenden. Catherine war aufgestanden und kam langsam auf ihn zu. Sie blickte an ihm vorbei aus dem Fenster und blieb stumm. Ihre Gedanken nahmen im Moment keine festen Formen an. „Es tut mir leid.“ flüsterte Lestat und zog sie zu sich. „Lea wird sich erholen.“ meinte Catherine, da sie nicht ganz verstand. „Weißt du nicht mehr, was ich dir versprochen habe?“ fragte er und betrachtete sie. „Dass ihr sie findet.“ entgegnete Catherine, doch er schüttelte den Kopf. „Dass wir sie unverletzt zurückbringen.“ korrigierte Lestat. „Das ist uns sehr gut gelungen, das muss man schon sagen.“ knurrte er und begegnete Catherines Blick. „Sie wird sich erholen. Nur das zählt.“ sagte Catherine noch einmal und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Eine Weile schwiegen sie. Lestat lauschte ihren Atemzügen und ihrem Herzschlag. Beide waren flach und aufgeregt. „Was ist geschehen?“ flüsterte sie und hob den Blick. „Wer hat sie verletzt?“ Lestat schwieg eine Weile, legte ihr dann den Arm um die Taille und führte sie mit sich aus dem Zimmer. Er würde ihr alles erklären, ihr alles sagen, was er wusste. Sie traten in den leeren Salon und Lestat dirigierte Catherine zu einem der Sessel. Er selbst blieb stehen. „Dank Louis haben wir Lea mit ihrer Mutter Elatha ohne größere Schwierigkeiten in London gefunden. Wir haben uns eine Weile im Hintergrund gehalten. Lea ging es gut und alles sah nach einem Mutter-Tochter-Ausflug aus, doch dann tauchte dieser Daniele auf und nahm Lea mit sich. Armand hat gesehen, dass Elatha sich ziemlich gefügig zeigte – inzwischen wissen wir, dass Elatha und bestimmte Kreise der Bruderschaft dasselbe Ziel verfolgen.“ Lestat machte eine kleine Pause, doch Catherine fragte nichts dazwischen. Natürlich brannte ihr die Frage nach dem gemeinsamen Ziel auf den Lippen, oder auch, warum sie Lea einfach so hatten gehen lassen, doch sie schluckte sie wieder hinunter. „Daniele nahm Lea - wie schon gesagt - mit. Elatha blieb zurück, doch sollte selbst später nachkommen. Wir nehmen an, dass die Bruderschaft inzwischen auch in London einen Versammlungsort hat. Marius und David haben auf Elathas Verrat der Talamasca sofort die anderen Mitglieder der Talamasca überprüft, doch konnten zum Glück feststellen, dass niemand sonst involviert ist.“ „Nur Elatha.“ murmelte Catherine und lehnte sich ein Stück weiter nach vorne. „Ja. Louis folgte Lea und Daniele unauffällig. Marius und David waren anderweitig beschäftigt und ich war… ebenfalls mit etwas anderem beschäftigt. Am Ufer der Themse waren fünf Leichen aufgetaucht – alle blutleer. Die musste ich beseitigen, doch irgendetwas stimmte nicht. Das sagte mir mein Gefühl.“ Lestat hielt wieder inne, als ob er sich die Geschehnisse noch einmal konzentriert in das Gedächtnis rufen musste. Schließlich fuhr er fort: „Dann ging alles sehr schnell. Armand und ich stießen zu Louis, der berichtete, er habe mehrere vampirähnliche Wesen gesichtet, allerdings Lea nicht mehr. Er hat sie aus den Augen verloren, als er der falschen Gruppe von Vampirähnlichen gefolgt ist.“ Catherine atmete scharf ein. Sie sah die dunklen, feuchten Straßen von London vor sich. Die Vampirähnlichen, wie Lestat sie nannte, und Lea mitten drin – alleine. „Ich denke, wir haben sie in allerletzter Sekunde gefunden. Einer von ihnen war über sie gebeugt und trank ihr Blut. Ich erspare dir die Einzelheiten des Kampfes, ja? Wir konnten allerdings nicht alle vernichten. Es waren zu viele, um sie alle an ihrer Flucht zu hindern.“ „Sollte Lea verwandelt werden?“ fragte Catherine mit brüchiger Stimme. „Es sieht sehr danach aus. Er hat sorgfältig gebissen und war bemüht, ihr so wenig Schaden wie möglich zuzufügen.“ „Wer?“ fragte Catherine, obwohl die Frage nicht einmal für ihre Ohren sehr viel Sinn ergab, als sie ihre Lippen verließ. „Der Vampirähnliche.“ „So nennt ihr nun die, die scheinbar gedankenlos vor sich hin vegetieren, verstehe ich das richtig?“ „Zuerst war es so, ja, aber dann fiel uns auf, dass diese Wesen doch etwas mehr bei Verstand zu sein scheinen.“ antwortete Lestat sichtlich erleichtert, dass sie scheinbar nicht auf die Antwort ihrer ersten Frage beharrte. „Wer, Lestat?“ fragte sie wieder und hielt seinem Blick stand. „Ich weiß, dass du mir etwas verschweigst. Warum, Lestat?“ „Ich…“ begann Lestat, doch konnte nicht weitersprechen. Lestat wandte sich ab und hörte, dass Catherine sich erhob und zu ihm trat. Ihre Hände umfingen von hinten seine Brust, ihr Körper presste sich gegen seinen Rücken. Ihre Stirn ruhte in der Mitte zwischen seinen Schulterblättern. „Sag’ mir, was du weißt. Du brauchst mich nicht zu schonen.“ flüsterte sie und unterdrückte den angespannten Unterton in ihrer Stimme. „Du weißt nicht, was du da sagst.“ meinte Lestat rau und tastete nach ihren Fingern, die sich gegen seine Brust pressten. „Überlass’ die Beurteilung mir.“ entgegnete sie tonlos und drehte ihn zu sich um. „Wer?“ wiederholte sie ihre Frage und nickte ihm zu. Er schlang die Arme um sie und drückte sie so fest an sich, dass ihr beinahe die Luft zum Atmen fehlte. Worum bat sie ihn da? Darum, dass er ihr einen Dolch in ihr ohnehin schon blutendes Herz stieß und ihr lächelnd bei ihrem Todeskampf zusah. Er rang mit sich, doch langsam stellte sich das Bewusstsein ein, dass sie ein Recht hatte, alles zu wissen. Das betraf auch sie – leider! Wenn er sie doch nur aus all dem heraushalten konnte! Doch es ging nun einmal um ihre Familie – in erster Linie. Er strich ihr über den Hinterkopf und senkte seine Lippen an ihr Ohr. „Lucien.“ murmelte er und entließ sie nicht aus seinen Armen, als sie zurückschreckte und sich gegen ihn wehrte. Ihr Herz schlug wild und ihr Blut rauschte durch sie hindurch. Wenn er sie nun entließ, würde sie in sich zuammenbrechen, das wusste er. Alles in ihr sträubte sich gegen diese Wahrheit. Er wusste nicht genau, wie viel Zeit verstrichen war, ehe sie sich in seinen Armen entspannte. Ihr Körper sank schwach gegen seinen und wehrte sich nicht mehr. Catherines rasende Ungläubigkeit war betäubendem Schmerz gewichen, der aus der Gewissheit entsprang, dass Lestat die Wahrheit sagte. Lucien… nicht länger Lucien. „Warum?“ seufzte sie gegen seine Brust, erwartete jedoch keine Antwort. Niemand hatte darauf eine Antwort. Nicht sie. Nicht er. Wahrscheinlich nicht einmal ihr Bruder selbst. Catherine löste sich zaghaft aus seinen Armen und strich sich ihr Haar zurück, das strähnig in ihr Gesicht hing. Lestats misstrauische Blicke folgten jeder ihrer Bewegungen. „Es geht mir gut.“ versicherte sie tonlos und räusperte sich. Noch einmal fuhr sie sich mit den Fingern durch ihr offenes Haar und wandte sich dann von ihm ab. Sie wusste nicht, ob er ihr glaubte. Catherine atmete tief durch und ging einige Schritte in den Salon hinein. Sie musste sachlich bleiben – sofern das irgendwie möglich war. „Warum Lea? Habt ihr… hast du… habt ihr – wie auch immer - eine Vermutung?“ fragte sie deshalb und blickte weiter in die andere Richtung. „Wir sind uns nicht sicher.“ entgegnete er. „Und du? Bist du dir sicher?“ fragte Catherine und drehte sich wieder zu ihm um. Sie zitterte. „Als du bei Saerlaith eingebrochen bist und du vermutet hast, dass Salieri tot sein müsste, weil sein Portemonnaie und seine Papiere im Tresor liegen, hat Lea etwas anderes entdeckt.“ Lestat stockte kurz, dann fuhr er fort: „Sie hat Unterlagen gefunden, die sie verwirrt haben. Ihre Mutter Elatha offenbar das Kind eines unbekannten Mannes.“ Catherine sah ihn nur an, dann nickte sie. Plötzlich machte alles Sinn: Leas aufbrausendes Verhalten in jener Nacht. Ihre Wut und Unbeherrschtheit, als sie gerade herausgefunden hatte, dass ihre gesamte Familie ihr Dinge vorenthielt, die wichtig waren. Ihre Familie, die sich schon immer recht wenig um Wahrheit oder Moral gekümmert hatte. „Spielt das eine Rolle für das, was hier vor sich geht – was auch immer das genau ist?“ fragte Catherine und Lestat zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ist es aber. Sie hat ihre Mutter sofort damit konfrontiert. Daraufhin haben Elatha und Lea Thirlestane Castle in Richtung London verlassen. Das hat zumindest Lea gesagt, als sie noch ansprechbar war.“ „Ich denke, es gibt keinen Grund, ihre Aussage in Zweifel zu ziehen.“ überlegte Catherine laut. „Aber warum? Warum diese Eile? Warum das Treffen mit diesem verfl… diesem Daniele? Seit wann steckt Elatha mit dem unter einer Decke? Und dann die Vorgänge mit den Vampirähnlichen? Wie passt das alles zusammen?“ stellte sie nur einige der Fragen, die ihr gerade im Kopf herumschwirrten. „Catherine, beruhige dich.“ meinte Lestat sanft und ging wieder auf sie zu. „Ich bin ruhig. Ich versuche nur, das alles zu verstehen.“ erklärte sie und zwang sich zu einem weniger überzeugenden Lächeln. „Was wir mit Sicherheit wissen, ist das: Elatha steht im Bund mit der Bruderschaft. Die Bruderschaft plant etwas und Elatha hat das gleiche Ziel. Du scheinst dazu in irgendeiner Form von Nöten zu sein. Dass Lea von ihrer eigenen Mutter lebensgefährlich darin verwickelt wird, sehe ich in eurer Verbindung.“ erwiderte er und betrachtete sie prüfend. „Ja, natürlich. Beinahe jeder, der mit mir in Verbindung stand, wurde in diese Sache hineingezogen und wird dadurch in diese Gefahr gebracht…“ „Das meinte ich nicht.“ widersprach er und fügte dann hinzu: „Deine Bindung zu Lea ist eine andere, Catherine.“ Catherine blickte ihn fragend an. Worauf wollte er hinaus? Musste er sich so in Rästel hüllen, dass bei ihr auch noch die letzten Nerven anfingen, wie wild zu zucken und sie in den Wahnsinn zu treiben? Ihre Augen fixierten seine. Sie waren dunkel und verschlossen – als ob es schon nicht mehr nötig wäre, ihr überhaupt etwas zu sagen, als ob sie schon alles wüsste, was sie brauchte, um die Teile zusammen zu setzen. Ihr Hals begann zu krazen. Sie schluckte. „Dein Großvater, Catherine, war der Vater von Elatha. Elatha ist deine Tante, Lea deine Cousine. Es tut mir leid, dass wir das so lange nicht bemerkt haben.“ Kapitel 77: Rückkehr zum Wesentlichen ------------------------------------- Rückkehr zum Wesentlichen Catherine wusste nicht, was sie denken sollte. Im Moment war sie scheinbar unfähig dazu. Es war nicht so sehr die Erkenntnis, dass Lea ihre Cousine war, Elatha ihre Tante und Elizabeth ihre ‚Stief-Oma’, wobei es so etwas ja nun wirklich nicht gab. Vielmehr war es die heikle Seite der Angelegenheit, die ihr zu schaffen machte. Sie hatte immer angenommen, ihr Großvater Vincent sei seiner Ehefrau treu gewesen. Sie hatte immer angenommen, dass sie eine vorbildliche Familie waren, wenn man von der geheimen Nebenbeschäftigung absah. Und nun? Was blieb ihr denn übrig außer festzustellen, dass es nicht so war? Und wieviel schlimmer machte diese Erkenntnis die Tatsache, dass Elizabeth Vincent vergiftet hatte? Ihren Geliebten, den Vater ihrer einzigen Tochter… Naja, etwas schienen sie gemeinsam zu haben: sie, Catherine, hatte versucht, ihren Bruder zu töten. Sie wusste nicht, was schlimmer war. Catherine griff sich an die Stirn und presste ihre Finger gegen die Schläfen. Das waren Zustände wie an den Königshöfen der Medici oder der Valois! Sie stöhnte auf, als sie sich einer Sache erinnerte, die sie in Edinburgh herausgefunden hatte… Marguerite de Valois, eine Urenkelin von Ludwig XII und Tochter von Heinrich II und Catherine de Medici, hatte eine Tochter, die die spätere Duchess of Irvine wurde. Mit dem Vergleich lag sie also nicht schlecht. Lestat betrachtete Catherine achtsam. Noch immer war er sich nicht sicher, dass sie nicht doch noch von dem Gewicht der Wahrheit niedergedrückt würde und ihn dann brauchte. Seit mehreren Minuten ging sie im Salon auf und ab. Sie überlegte, das konnte er sehen. Er folgte ihren Schritten mit dem Blick und wartete… und wartete auf irgendetwas, das sie nicht nur dachte, sondern auch aussprach. „Weiß Lea, was Sache ist?“ fragte Catherine so plötzlich, dass Lestat einen Augenblick zweifelte, dass sie wirklich gesprochen hatte. „Ja. Sie weiß es.“ entgegnete er schließlich und sah, dass Catherine sich wieder auf das Sofa fallen ließ. Sie nickte bei sich, blieb aber stumm. Ihr Blick glitt in die Ferne und spiegelte keine gedankliche Bewegung mehr wider. Das Feuer schien erloschen, doch dann richtete sie wieder das Wort an ihn: „Wie geht es nun weiter?“ „Lea sollte hier bleiben, meinst du nicht?“ „Natürlich, das ist selbstverständlich.“ murmelte Catherine und lehnte sich zurück. Lestat setzte sich zu ihr. Er wollte sie berühren, doch er vermutete, dass sie das im Moment nicht brauchen konnte. Schweigend saß er da, betrachtete sie ab und zu von der Seite und wartete wieder ab. Seine Gedanken brachen von dem Thema los, um das sie in den vergangenen Stunden gekreist hatten, und öffneten sich Catherine. Er war gerne in ihrer Nähe. Er betrachtete sie gerne, liebte es, ihre Stimme zu hören oder ihr einfach nur zuzusehen, wenn sie nachdachte, wenn sie las, wenn sie schlief. Sie hatte keine Ahnung, wie oft er zumindest ihren Anblick gesucht hatte, als er gegangen war. Verschwunden, wie sie gesagt hatte. Warum hatte er nur auf Marius und David gehört, die sich Elizabeth gefügt hatten? Er hätte Catherine ergreifen sollen und ihr irgendwo zeigen sollen, wie das Leben mit ihm sein konnte… Wieder einmal war er unrealistisch. Ein Lächeln umspielte seine Züge. Er bezweifelte, dass sie es ihm jemals gestattet hätte. Nicht, wenn es noch etwas herauszufinden gab, das sie nicht bedachte hatte - doch war sie sich jetzt sicher, dass sie alles überprüft hatte? Er konnte es nicht sagen. Doch nun war sie hier – bei ihm. Sie saß neben ihm und begegnete seinem Blick, als er wieder aufsah. Ihr Blick war ruhig und auf ihn gerichtet – nur auf ihn. Sie lächelte und schob für einen Augenblick ihre Sorgen beiseite. „Ich bin froh, dass du hier bist, Lestat.“ gestand sie, strich ihm leicht über die Wange und erhob sich geschmeidig. Lestat folgte ihren Bewegungen mit seinem Blick und fühlte sich plötzlich so angenommen wie noch nie zuvor in seinem Leben. „Wohin gehst du?“ fragte er, als sie die Tür beinahe erreicht hatte. „Ich möchte noch einmal nach Lea sehen. Dann werde ich mir ein Bett beziehen. Ich bin ziemlich müde.“ erklärte sie wieder lächelnd. Lestat wartete auf ein Wort, auf eine Geste. In ihrer Gegenwart schien er nichts anderes zu tun als zu warten. Catherine blieb stumm. „Ich muss noch einmal… nach draußen.“ meinte er schließlich, doch er konnte die Enttäuschung wohl kaum ganz verbergen. Wie gerne wäre er zu ihr gestürmt und hätte sie in ein – gerne auch unbezogenes – Bett gezogen! Doch etwas in ihrem Blick sagte ihm, dass er es lassen sollte. Catherines Augen ruhten auf ihm, als ob sie selbst nachzudenken schien. „Ich möchte eine Weile mit Lea allein sein.“ sagte sie, als sie nach dem Türgriff tastete. Lestat verkrampfte sich innerlich. Sie wollte ihn gerade nicht dabei haben. Sie konnte ihn nicht brauchen. Sie wollte allein sein. Allein mit Lea, ihrer Cousine. Sie stieß ihn weg. Nein… Sie brauchte nur Zeit mit ihrer Cousine Lea. Das war alles. Er nickte langsam und versuchte, sich so normal wie möglich zu verhalten. „Ich bin mir sicher, du findest mich später, wenn du zurückkommst... Oder nicht, Lestat?“ wandte sie sich noch einmal an ihn, bevor sie ohne eine Antwort abzuwarten, durch die Tür verschwand. Sie sah sein perplexes Nicken nicht mehr – genauso wenig wie sein darauf folgendes, freudestrahlendes Lächeln. Catherine… manchmal war sie einfach zu viel für ihn, musste er zugeben. Er hörte, wie ihre Schritte in der Halle und auf den Treppenstufen verstummten und bemerkte, dass es ihm überhaupt nichts ausmachte, wenn sie ihm immer wieder kleine Lektionen in der Disziplin erteilte, die er am wenigsten beherrschte: Geduld. Catherine setzte sich an Leas Bett und betrachtete sie. Nun schlief sie ruhig – das Medikament wirkte noch, doch Catherine wusste nicht genau, wie lange das noch anhalten würde. Ihre Cousine. Es war seltsam, so von ihr zu denken, aber es fiel ihr leichter, als sie gedacht hatte. Sie musste leicht lächeln, als sie daran dachte, dass sie Lea in Edinburgh als ihre Cousine vorgestellt hatte, um unnötige Fragen zu verhindern. Freundinnen mit ihrem Altersunterschied hätten vielleicht mehr Aufmerksamkeit erregt als Verwandte. Nun war es wahr. Lea war ihre Cousine. Familie. Sie hatte eigentlich keine mehr. Sie hatte die verloren, die sie für sicher erachtet hatte. Sie hatte so etwas wie eine neue bekommen und nun erfahren, dass sie tatsächlich noch Verwandtschaft hatte – mit der sie nichts mehr zu haben wollte. Lea hatte ihre alte Familie ebenfalls verloren – sie wollte keinen Kontakt mehr, wollte ihn schon nicht mehr richtig, bevor ihre eigene Mutter sie einer solchen Gefahr ausgesetzt hatte. Catherine konnte sich nur vorstellen, dass Lea mit ihrer Familie endgültig fertig war. Beide hatten keine mehr, denn Lea und sie gingen wohl kaum als Familie durch. Catherine lachte wieder leise und schüttelte den Kopf. Es war so, wie es war. Nichts konnte daran etwas ändern. Am aller wenigsten sie. Sie war im Moment nur erleichtert, dass Lea nichts geschehen war. Geräuschlos erhob sich Catherine nach einer Weile, ging zum Schrank hinüber, um Bettzeug zu holen und machte sich dann in eines der Gästezimmer auf, wo sie sich wenigstens etwas hinlegen wollte. Sie war so unglaublich müde. Es schienen Stunden zu vergehen, ehe Catherine das leise Geräusch der Tür hörte, die sich öffnete. Sie wandte sich zur Tür und erblickte den, den sie die gesamte Zeit erwartet hatte. „Ich dachte, du bist müde?“ fragte er und schloss die Tür wieder hinter sich. Catherine nickte und betrachtete ihn, als er sich vorsichtig dem Bett näherte. „Weshalb schläfst du dann nicht?“ „Ich kann nicht.“ gab sie zu und rutschte ein Stück weiter in die Mitte des Bettes, sodass er sich setzen konnte. „Hast du auf mich gewartet?“ flüsterte er, beugte sich hinunter und presste seine Lippen sanft an ihre Stirn. „Ja, ich habe auf dich gewartet, aber mir geht auch so viel im Kopf herum, dass ich nicht einschlafen kann.“ „Was denn?“ wollte er wissen und rutschte wieder ein Stück zurück, sodass er sie ansehen konnte. „Das alles… Es ist so verwirrend im Moment, aber trotzdem habe ich schon lange nicht mehr so klar gesehen. Ich fühle mich zerrissen, aber trotzdem vollständig. Die Neuigkeiten über meinen Bruder Lucien sind so niederschmetternd, aber trotzdem fühle ich, dass ich endlich genug Kraft aufbringen könnte. Ist das nicht seltsam?“ Catherine richtete sich auf ihre Ellenbogen auf und blickte ihn an. „Genug Kraft aufbringen… wofür?“ fragte Lestat nach und strich mit seinen Fingern über ihren Handrücken. „Kraft, um mich wieder in die Nachforschungen zu stürzen. Kraft, um all das noch einmal – vielleicht zum tausendsten Mal – gedanklich durchzugehen. Kraft, wieder mit dem Training anzufangen…. All das… Kraft, all das endlich zu Ende zu bringen.“ erklärte sie mit ernsten Augen und suchte seinen Blick. „Ich verstehe.“ murmelte er sachte. „Ich will es zu Ende bringen – egal, was es ist und egal, wie es ausgeht. Ich bin ruhig bei den Gedanken an einen tödlichen Ausgang. Ich bin bereit dafür. Verstehst du das wirklich?“ „Verstehen… Hm, nein. Das verstehe ich nicht.“ gab er zu, während Catherine ihm nur zuhörte. „Ich will dich nicht verlieren, aber wenn es das ist, was du willst…“ „Ich kann nicht weiter davonlaufen. Ich kann nicht leben, wenn ich es nicht beende.“ unterbrach sie ihn. Er nickte und blickte sie an. Gerade als sie weiter erklären wollte, legte er ihr vorsichtig und sanft zwei seiner Finger auf die schon halb geöffneten Lippen. Ihre warme und weiche Haut pulsierte unter seinen Berührungen. „Ich verstehe es nicht, aber ich akzeptiere es. Vielleicht verstehe ich es bald, aber bis dahin sollte es mir reichen, dass es dein Wunsch ist. Und irgendwie ist es auch deine Aufgabe, also möchte ich dich um etwas bitten.“ Catherine nickte zaghaft. Konnte sie ihm geben, was er erbat? „Lass mich dir helfen. Lass deine Aufgabe meine werden.“ meinte er. Catherine nickte ruhig. Diese Bitte konnte sie ihm erfüllen. „Lass mich bei dir sein. Lass mich dich schützen, so weit es mir möglich ist.“ „Sicher. Ja. Wenn es das ist, was du willst…“ entgegnete Catherine und fühlte, dass ihr Herz sich scheinbar unglaublich weitete, sie wärmte und sie überflutete. „Das ist noch nicht alles.“ flüsterte er rau und beugte sich über sie. „Nicht?“ fragte Catherine, doch sie wusste, dass sie ihm nur zu gerne geben würde, was demnächst auf sie zukam. „Lass mich dich lieben, so gut ich kann.“ bat er fest und sah sie nur an. „Ich dachte, darüber seien wir uns schon vorhin einig gewesen?“ entgegnete Catherine und zog ihn ganz dicht an sich. „Ich will dich nicht verlieren – unter keinen Umständen.“ gestand er und sie nickte. „Ich werde nie von dir verlangen, dass du gehst, aber du kannst jederzeit gehen, wenn du es so willst.“ versprach sie ihm. „Jederzeit?“ „Jederzeit.“ wiederholte sie und nickte. „Dann also… niemals.“ hauchte er gegen ihre Lippen und führte seine Handlungen dort fort, wo Armand vor einigen Stunden gestört hatte. Kapitel 78: Ein neuer Anfang ---------------------------- Ein neuer Anfang Catherine war glücklich, obwohl sie alleine aufwachte, da Lestat bereits vor dem direkten Sonnenlicht Schutz gesucht hatte. Beschwingt stand sie auf, ging ins Bad, sah schnell nach Lea, die immer noch schlief, und ging hinunter in die Küche, um ein Frühstück für sie und sich selbst zu machen. Während sie den Saft ausschenkte und selbst in der Küche frühstückte, machte Catherine Pläne, was sie nun alles tun wollte. Sie wollte alles zusammen suchen, was sie über den Fall hatte. Sie wollte es endlich ordnen und katalogisieren, wie es ihr Großvater schon einmal gemacht hatte, doch sie würde ohne Vorurteile und ohne Beeinflussung an die Sache herangehen. Sie hatte viel durch ihn erfahren, doch auch das wollte sie noch einmal prüfen… Sie hatte noch Stunden Zeit, bis die Sonne unterging. Das musste reichen, um sich noch einmal einen guten Überblick zu verschaffen, noch einmal alle Möglichkeiten durchzuspielen und sich noch einmal klar zu machen, was ihr fehlte und was sie nicht wusste. Catherine brachte das Tablett nach oben in ihr Zimmer, in dem nun Lea lag, und stellte fest, dass Lea sich so bewegte, als würde sie bald aufwachen. Leise stellte sie das Frühstück ab und ging zum Schreibtisch hinüber, um nach etwas zu Schreiben und Ordnern zu suchen, ehe sie das Fenster leise öffnete und die frische Morgenluft hereinwehen ließ. Der Lärm der Stadt drang nur dumpf über den Park bis hierher. „Wie spät ist es?“ fragte Lea mit kratziger Stimme und versuchte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aufzurichten. „Bleib’ liegen!“ entgegnete Catherine und kam an das Bett. „Du brauchst noch Ruhe – viel Ruhe, also denk’ überhaupt nicht erst daran, du könntest hier herumspazieren als sei nichts gewesen.“ „Wie lange habe ich geschlafen? Ich komme mir vor, als seien Jahre vergangen.“ meinte Lea und ließ sich auf das Bett zurücksinken. „Nein, Lea. Du bist gestern erst hierher gekommen… und verpasst hast du auch nichts. Sei unbesorgt.“ antwortete Catherine und setzte sich auf ihr Bett. „Wo bin ich? Paris? Ich erinnere mich nicht mehr genau… Sind wir nach Paris gegangen oder nach…“ „Ssht! Ja, du bist in Paris. In der Villa meiner… in meinem Zuhause. In meinem Zimmer, um genau zu sein.“ erklärte Catherine und lächelte. „Du bist hier in Sicherheit.“ Lea nickte geschwächt und tastete nach der Verletzung an ihrem Hals. Catherine schauderte, als sie sich die Bisswunde unter dem riesigen, gepolsterten Pflaster vorstellte. Luciens Tat! Schnell schluckte sie ihr Unbehagen hinunter und meinte: „Du solltest etwas essen, wenn du kannst.“ „Ich habe keinen Hunger.“ „Du kämst schneller wieder zu Kräften.“ versicherte Catherine. „Wozu sollte das gut sein?“ flüsterte Lea und drehte sich auf die andere Seite. Catherine zögerte einen Augenblick. Sie hatte erwartet, dass der Umgang mit Lea nicht sofort wieder normal sein würde, doch nicht, dass Lea sich selbst wirklich so egal werden würde. Sie verweigerte das Essen… fragte nach dem Zweck ihrer Gesundheit… „Lea, ich weiß nicht, was in dir sagen soll. Ich kann mir bestimmt auch nicht wirklich vorstellen, was du empfindest und was du durchmachst, aber ich weiß, was dir geschehen ist.“ „Ach ja?“ „Ja, Elatha hat dich verraten. Elatha, von der du vielleicht noch am ehesten angenommen hast, du könntest ihr vertrauen, da du ihr Kind bist – ihr einziges Kind. Ihre Tochter, die sie bisher wie ihren Augapfel gehütet hat. Elatha, die dich deshalb in die Obhut deiner Großmutter gegeben hat, da sie sich selbst bei der Talamasca eingebracht hat. Elatha deine Mutter, die du nun nicht mehr als Mutter ansehen willst, die du am liebsten aus deinem Gedächtnis verbannen würdest. Tu’ es, wenn es dir hilft, aber irgendwann wirst du dich damit auseinandersetzen müssen, glaub’ mir. Ich weiß auch, was Lucien dir angetan hat. Er hat dein Leben bedroht. Du hattest Todesangst… Und, Lea, das war berechtigt. Dir sind schlimme Dinge wiederfahren, aber du hast sie durchgestanden. Hilfe zur rechten Zeit... Glück… Schicksal, nenn’ es wie du willst, aber nimm’ es an, dass dich irgendetwas vor noch Schlimmerem bewahrt hat. Und wenn das allein dir nicht Grund genug gibt, dich nun auch gegen das zu wehren, was das alles nach sich zieht, dich gegen diese Angst zu wehren, die noch immer in dir sitzt, dich den Alpträumen zu widersetzen und sie nicht an dich heranzulassen, und den gesundheitlichen Schäden zu trotzen, dann nutzt du diese Chance nicht, die dir jemand gegeben hat. Dann wirfst du dein Leben weg, obwohl Armand, Louis, Lestat und Marius und wer sonst versucht hat, es dir wiederzugeben, dein Leben zu retten und deine Zukunft sicherer zu machen.“ Catherine atmete tief durch, begegnete Leas entsetztem Blick und fügte hinzu: „Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass es mir nicht egal ist, wenn du nie wieder aus diesem Bett aufstehst. Ich möchte, dass du gesund wirst. Ich möchte, dass du wieder lachen kannst. Dass das nicht so schnell geht, ist mir klar, aber ist es vielleicht zu viel verlangt, wenn ich möchte, dass meine Cousine versucht, ihr Frühstück zu essen?“ Lea schüttelte den Kopf und richtete sich etwas auf. Catherine half ihr und schüttelte das Kopfkissen auf, lehnte Lea vorsichtig wieder zurück und stellte ihr das Tablett auf die Oberschenkel. „Was machst du jetzt?“ fragte Lea und nippte am Orangensaft. „Lestat hilft mir mit dieser Bruderschafts-Sache. Was die anderen machen, weiß ich nicht. Ich werde mich jetzt schon einmal wieder einarbeiten, bis ich Lestat dann heute Abend sehe… Das kann ja nicht schaden.“ „Dass du ihn siehst oder dass du schon einmal anfängst?“ fragte Lea und grinste. „Ich glaube, ich sollte dir öfter den Kopf waschen! Du hast gelächelt und bist schon wieder ein bisschen frech.“ stellte Catherine fest. „Das beantwortet meine Frage nicht.“ beharrte Lea, worauf Catherine seufzte. „Ich denke, es wird beides nichts schaden, aber ich meinte gerade das Einarbeiten.“ erklärte Catherine und ließ Lea wenig später, nachdem sie gefrühstückt hatte, noch einmal schlafen. Catherine bemerkte überhaupt nicht, wie schnell der Tag verging und langsam die Dämmerung einsetzte, als sie im Arbeitszimmer ihres Vaters saß. Ein paar Mal hatte sie nach Lea gesehen und ihr auch etwas zu Mittagessen gebracht, aber ansonsten hatte sie nur die Unterlagen studiert. Wieder einmal wurde ihr klar, was sie alles nicht hatte: die Übersetzung der Runen, die letzten Seiten des Tagebuchs, das Ende der Prophezeiung oder des Fluchs aus ihrem Traum – ob es eine Prophezeiung oder ein Fluch war, darüber war sich Catherine noch nicht sicher. Was sie hatte, war sehr beschränkt: die Verwandtschaftsbeziehungen, die erklärten, dass sie etwas mit den schottischen Adligen zu tun hatte, die aber wiederum auf die französische Königsfamilie zurückgingen, aber sonst? Sie wusste, dass die anfänglichen Worte ihres Traumes die Runen wiedergaben, doch übersetzen konnte sie trotzdem nicht. Die Ziele der Bruderschaft mussten etwas damit zu tun haben. Die Bruderschaft ‚beschäftigte’ Vampirähnliche, zu denen nun auch Lucien gehörte… „Wie weit bist du?“ fragte Lestat und setzte sich seitlich auf den Schreibtisch, an dem Catherine arbeitete. Sie blickte verstört auf, da sie nicht einmal gehört hatte, dass die Tür aufging, aber es draußen auch noch nicht völlig dunkel war. Nach kurzem Zögern klärte sie Lestat über alles auf, was sie wusste, fasste zusammen, was sie mit Lea in Edinburgh erfahren hatte, und blickte ihn dann erwartungsvoll an. „Das ist einiges, aber solange wir die Worte aus deinem Traum nicht vollständig erfahren, könnten wir kaum etwas machen. Wie siehst du das?“ entgegnete er. „Ja, ich kann mir zwar nicht mal einen Reim auf die machen, die wir haben, aber bin doch auch für Vollständigkeit.“ stimmte Catherine ihm zu und schielte zur Tür. „Ich bin der Frühaufsteher unter uns. Die anderen brauchen noch eine Weile.“ erklärte er und betrachtete sie. „Wer ist noch hier? Wer bleibt?“ „Armand hat Daniel zu seinem eigenen Schutz weggeschickt, und David ist noch bei Maharet, aber ansonsten ist alles unverändert.“ „Noch?“ „Er hat vor, zu uns zu stoßen, sobald er die Übersetzung der Runen hat.“ „Er arbeitet also wieder daran.“ stellte Catherine fest, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Immer noch. Er hat sich vor allem mit Jesse besprochen.“ erwiderte er und blickte sie prüfend an. „Wie geht es Lea?“ fragte er, als sie langsam und nachdenklich nickte. „Soweit geht es ihr ganz gut, und ich denke, in einigen Tagen erlaube ich ihr, das Bett zu verlassen, aber...“ Catherine brach ab und biss sich auf die Lippen. „Was ist?“ „Ich würde sie gerne von einem Arzt untersuchen lassen, bevor ich das erlaube. Sie konnte sich nicht aus eigener Kraft aufrichten, also vermute ich, dass ihre Rippen oder ihr Rücken irgendwie verletzt sind.“ „Kennst du einen Arzt, dem du vertraust? Du musst ihm irgendwie ihre Bisswunde erklären, das weißt du.“ erinnerte er sie, doch Catherine nickte. „Emmanuel Bruyard. Er ist derjenige, der immer unsere Wunden versorgt hat. Er wurde von meinem Großvater bereits in die Tätigkeiten und kleinen Geheimnisse meiner Familie eingeweiht – soweit es eben nötig war.“ antwortete Catherine und nickte. „Dann rufen wir ihn an.“ meinte Lestat und deutete auf das Telefon auf dem Schreibtisch. Catherine nickte wieder, hob den Hörer ab und rief den älteren Arzt an, der sofort vorbeikommen wollte und vor Freude, endlich wieder etwas von Catherine zu hören, kaum ein sachliches Wort herausbrachte. „Ein sehr gutes Verhältnis zwischen Arzt und Patient.“ stellte Lestat grinsend fest, als sie den Hörer wieder auflegte. „Er wird in etwa einer halben Stunde da sein. Kannst du den anderen Bescheid sagen, dass sie…“ „Dass sie sich zurückhalten?“ „Nein, einfach, dass sie Bescheid wissen.“ widersprach Catherine und griff sich an die Stirn. Sie erinnerte sich noch gut an das letzte Neujahr. 2007. Lucien hatte sie zurückgelassen. Ihre Eltern waren immer noch verschwunden. Und sie… sobald das Feuerwerk ertönte …. „Ah! Wieso habe ich daran nicht früher gedacht!?“ rief sie plötzlich und schüttelte energisch den Kopf. Kapitel 79: Den Stein ins Rollen gebracht... -------------------------------------------- Den Stein ins Rollen gebracht… Das Feuerwerk hatte den Himmel erhellt und die klare Luft mit rötlichem Rauch durchzogen. Rötlich. Lebendig. Ihr Herz… war auf einmal viel zu lebendig gewesen. Es hatte mehrere Male unregelmäßig und stark gegen ihren Brustkorb geschlagen, als wolle es ausbrechen. Ihr Atem war schwer gekommen und hatte sie kaum mit ausreichend Sauerstoff versorgt. Sie war getaumelt. Sie war gestürzt. Sie hatte sich verletzt. „Ich kann dir nicht folgen.“ gab er zu. „Silvester 2007. Da hat es begonnen. Um Mitternacht bin ich zusammengebrochen und habe mich verletzt. In meiner Ohnmacht hatte ich das erste Mal diesen Traum… Vision – wie auch immer!“ „Wie kommst du jetzt darauf?“ „Emmanuel war dort – mit Salieri – und hat meine Verletzungen versorgt.“ erklärte sie und fuhr gedankenverloren über die Innenseite ihres Handgelenks. Lestat erinnerte sich an ihre Verletzungen und an ihren Verband, unter den er seinen Fingern Zugang verschafft hatte. „Salieri wusste, dass etwas geschehen würde. Erstens waren meine Eltern verschwunden – tot, zweitens hat er schon damals gewusst, dass mit mir etwas passieren würde.“ „An Silvester 2007?“ „Ja, Silvester und… dreimal sieben.“ „Einundzwanzig.“ antwortete Lestat verwirrt, während Catherine nur kurz nickte und dann fortfuhr: „An Silvester 2007 war mein zwanzigster Geburtstag. Mein zwanzigster Geburtstag ist der Beginn meines einundzwanzigsten Lebensjahrs. Es war von Anfang an ich, um die es ging.“ „Das habe ich nie bezweifelt.“ „Ich habe gehofft, dass es nicht so ist.“ „Die Prophezeiung ist also auf dich anzuwenden.“ überlegte Lestat scheinbar laut. „Gibt es für dich Sinn?“ „Zeile für Zeile… Lass’ mal sehen!“ meinte Catherine und studierte die einzelnen Zeilen der Worte aus ihrem Traum. „Der Tag wird kommen – und mögen Jahre vergeh’n/ da jemand erscheint, der vom Schicksal auserseh’n.“ „Nehmen wir mal an, das bist wirklich du.“ erinnerte Lestat und sah Catherine über die Schulter, als sie weiter vorlas. „Doch ihm sollen jeweils dreimal sieben gewesen sein… dreimal sieben sind einundzwanzig. Ich wurde zwanzig.“ „Aber das ‚jeweils’ passt nicht.“ „Jeweils… jeweils…“ Catherine überlegte. „Es müssen Zeitabschnitte sein. Zeitabschnitte in meinem Leben, oder nicht?“ Lestat nickte stumm und ließ sie weiter überlegen. Da konnte er ihr nicht helfen. „Sieben… Ich stand im siebten Lebensjahr, als ich zur Bruderschaft gerufen wurde.“ „Das ist ein Anfang. Einmal sieben. Und das zweite Mal? Gibt es einen neuen Abschnitt… kannst du ihn mit der Bruderschaft in Verbindung bringen?“ Catherine schloss die Augen und überlegte fieberhaft. War das wirklich eine Lösung? War es richtig, so an das Rästel der Prophezeiung heranzugehen? Sie wusste es nicht, aber sie hatten im Moment keinen besseren Ansatz. „Ich wurde sieben Jahre lang ausgebildet, ehe ich in den wirklichen Dienst eintrat. Ich erinnere mich an den Tag. Salieri war mein Mentor und sagte, ich sei mit meinen dreizehn Jahren seit langer Zeit die jüngste Ritterin im Orden.“ „Dreizehn… Mein Gott!“ murmelte Lestat und blickte Catherine entsetzt an. „Wie konnten deine Eltern das zulassen?“ „Sie dachten, es sei das Richtige. Sie kannten es außerdem selbst nicht anders.“ beschwichtigte Catherine ihn und lächelte ihr an, bevor sie fortfuhr: „Gut, und dann… Silvester 2007 und mein zwanzigster Geburtstag als dritter Abschnitt.“ „Ja, jeweils sieben Jahre. Unwissenheit. Ausbildung. Dienst. Und dann der Bruch mit der Bruderschaft. Meiner Meinung nach passt das sehr gut.“ stimmte Lestat zu und las die nächste Zeile. „…zu erfüllen des enttäuschten Herzens wütende Rache.“ las sie vor und schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich die Rache der letzten Duchess of Irvine. Aber weshalb Rache und wieso sie ein enttäuschtes Herz hatte, weiß ich nicht.“ „Sie wurde verurteilt und hingerichtet. Vielleicht war sie auch nur enttäuscht von der Welt… Ich weiß es nicht.“ „Die nächste Zeile bringt uns auch nicht weiter.“ meinte er und las sie vor: „…zu beenden der gebrochenen Seele folternde Pein.“ „Was auch immer es ist, das ich tun soll… Meinst du, es soll sie aus irgendetwas erlösen? Kann es so etwas sein?“ „Möglich. Eine andere Erklärung fällt mir auch nicht ein. Am besten, wir lassen es offen.“ schlug er vor und sah, dass Catherine grinste. „Wie so vieles.“ murmelte sie und las die nächste Zeile leise vor sich hin. „…indem schweres Blut sich ergieße und Feuer entfache.“ „Schweres Blut?“ fragte Lestat nach und sah genauer hin. „Wie glaubst du, ist das gemeint? Du hast mir gesagt, mein Blut sei schwer, aber dass das schon die Lösung ist.“ „Vielleicht ‚schwer’ im Sinne von ‚alt’. Altes Blut. Ehrwürdiges Blut. So etwas in die Richtung.“ „Altes Blut… Ja, vielleicht. Denkt man an die Verwandtschaft zur Königsfamilie Valois kann man das auch nachvollziehen, oder?“ fragte Catherine und blickte ihn abwägend an. „Nehmen wir an, es ist dein Blut gemeint… Was ist dann mit dem Blut, das Feuer entfacht. Kannst du das auch?“ ging Lestat weiter und seine Augen weiteten sich plötzlich. „Tatsächlich! Du hast mich ja auch verbrannt.“ „Das tut mir immer noch leid.“ versicherte Catherine, da seine Worte wie eine Anschuldigung klangen. „Vielleicht müssen wir aber nicht einmal so weit gehen.“ „Dir tut es also nicht leid.“ „Das meinte ich nicht. Ich war wieder zurück an jenem Abend vor Neujahr. Ich habe dir gesagt, dass ich verletzt war. Mein Blut ist in das Feuer im Kamin geflossen. Vielleicht ist mit ‚entfachen’ auch ‚vermischen’ gemeint.“ „Das scheint mir nicht sehr glaubhaft.“ „Dennoch ist es möglich.“ „Sicher, aber bei der Auslegung dieser Zeilen ist fast alles möglich.“ ginste er, doch Catherine blieb ernst und kniff die Augen zusammen. „…indem das Rad des Schicksals erneut dreht das Sein. Das ist mit mir an Imbolc geschehen. Dort sollte ich meinen Namen erfahren, aber es ist schiefgegangen. Mein Sein, mein Wesen wurde allerdings tatsächlich gedreht! Ich habe Lucien angegriffen.“ „Und du warst nicht du selbst. Deine Augen waren eisblau und nicht mehr grün.“ erinnerte sich Lestat und nickte. „Das wolltest du mir also im Keller sagen, als Elatha uns gestört hat.“ „Ja… Wieso erinnerst du dich an diese Kleinigkeiten? Dein Gedächtnis ist wirklich unglaublich.“ „Hm, diese Kleinigkeiten haben mit dir zu tun. Vielleicht liegt es daran.“ entgegnete Catherine lächelnd und erblickte draußen die Scheinwerfer eines Wagens. „Das war Balsam für meine Seele, das weißt du, ja?“ „Sicher, und es war mir ein Vergnügen.“ versicherte sie, küsste seine Stirn und wollte das Arbeitszimmer verlassen, doch er verwickelte sie in einen leidenschaftlichen Kuss. „Ich sag’ ihnen gleich Bescheid, dass der Arzt da ist.“ versprach er zwischen mehreren Küssen und ließ schließlich zu, dass sich Catherine langsam von ihm löste. „Kannst du Marius und die anderen dann auch gleich auf den neusten Stand bringen? Ich komme wieder herunter, sobald Emmanuel geht.“ Lestat nickte und Catherine verließ das Arbeitszimmer, um den befeundeten Arzt hereinzulassen und zu begrüßen. Dann führte sie ihn in ihr Zimmer, wo Lea wach im Bett lag und nicht gerade begeistert schaute, als sie den Mann als Arzt identifizierte. Allerdings ließ sie sich seine Untersuchungen gefallen, wobei Emmanuel mit Catherine über die Auffälligkeiten und später seine Befunde sprach: „Die Blutergüsse an Oberarmen und über den Schulterblättern werden von alleine weggehen und machen mir keine Sorgen. Allerdings sind die Rippen auf jeden Fall geprellt. Ich nehme an, du willst sie nicht in ein Krankenhaus bringen.“ „Nein, das können wir uns in unserer Situation nicht leisten. Zumal ihre Verwandten… Ihr Aufenthalt hier ist nicht ganz legal. Wenn ihre Verwandten sie suchen sollten, müsste sie zurück.“ „Und das könntest du nicht vertreten?“ „Nein, ihre Mutter hat sie dieser Gefahr ausgesetzt.“ erklärte Catherine und der Arzt nickte. „In Ordnung. Ich lasse dir zwei Salben und noch zur Sicherheit ein Schmerzmittel da. Du weißt ja, wie du mit beidem umzugehen hast.“ „Danke.“ entgegnete Catherine und nahm die Medikamente entgegen. „Soweit ich sie aber verstanden habe, hat sie nicht allzu große Schmerzen.“ „Wie gesagt: du weißt, wann du sie anwenden musst. Wenn es so bleibt, braucht sie keine.“ stimmte Emmanuel zu und nahm seine schwarze Tasche vom Boden auf, nachdem er sich von Lea verabschiedet hatte. „Danke, dass du gekommen bist.“ „Das ist selbstverständlich. Sie sollte mindestens zwei Tage im Bett bleiben, aber ich würde morgen Mittag noch einmal nach ihr sehen, wenn dir das recht ist.“ „Natürlich.“ versicherte Catherine und wollte dann den Arzt hinaus geleiten. „Lass’ nur, Catherine, ich finde den Weg schon!“ wehrte Emmanuel allerdings ab und verabschiedete sich gleich in Catherines Zimmer. „Hat er noch etwas Wichtiges gesagt?“ fragte Lea und nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Nein, er hat nur noch einmal darauf hingewiesen, dass du unbedingt liegen bleiben sollst.“ „Das ist so unfair.“ murrte Lea und zog die Augenbrauen zusammen. „Es ist nötig, Lea.“ „Ich weiß, aber mir ist langweilig.“ „Versuch’ zu schlafen.“ schlug Catherine vor. „Was denkst du, was ich beinahe den ganzen Tag gemacht habe?“ Ein zaghaftes Klopfen ersparte Catherine eine Antwort, bei der sie hätte zugeben müssen, dass es für Lea nicht gerade angenehm war, den ganzen Tag herumzuliegen. Schnell erhob sie sich und öffnete die Tür. „Ich wollte nicht stören.“ meinte Louis schnell und wandte sich schon wieder halb um. „Ich wollte gerade gehen.“ erwiderte Catherine und sah zu Lea hinüber. „Ich denke, sie kann andere Gesellschaft gut gebrauchen.“ sagte sie leise und ging an Louis vorbei aus ihrem Zimmer hinaus. Kapitel 80: Ein Name für 'Madame X' ----------------------------------- Ein Name für ‚Madame X’ David war noch nicht zurück und die anderen waren schnell über das Neuste informiert, sodass sich ihre Wege bald wieder trennten. Armand und Marius hatten sich bereit erklärt, in dieser Nacht noch einmal nach Thirlestane Castle zu gehen und die Augen offen zu halten, wollten aber bis zum Morgengrauen zurück sein. Louis war überhaupt nicht zum Treffen gekommen. Lestat wollte ebenfalls in Paris bleiben, um die Stellung zu halten. Außerdem gefiel ihm die Vorstellung nicht, dass er Catherine allein lassen sollte, wo er ihr vor einigen Stunden erst zugesichert hatte, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Catherine gefiel der Gedanke nicht, dass sie im Moment nicht weiter arbeiteten, doch ließ Armand und Marius gehen. Was hätte sie auch tun sollen, um sie aufzuhalten? „Wir müssen auf jeden Fall auf David warten. Ohne ihn weiterzumachen, können wir uns sparen. Das ist Zeitverschwendung.“ flüsterte Lestat an Catherines Ohr, als die beiden anderen das Arbeitszimmer verlassen hatten. „Ich weiß.“ seufzte sie und ließ sich küssen. „Ich mag es nur nicht, wenn ich untätig herumsitze.“ gestand sie weiter und blickte ihn an. „Willst du noch einmal nach Lea sehen?“ fragte Lestat, hoffte aber, dass sie es nicht wollte. „Louis ist wahrscheinlich noch bei ihr, sonst wäre er hier wohl aufgetaucht.“ „Louis…“ begann Lestat, doch brach gleich wieder ab. „Was ist mit ihm?“ fragte Catherine, doch Lestat legte ihr zwei Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Komm’ mit!“ meinte er und zog sie aus dem Arbeitszimer. „Die Nacht ist lau und ich möchte einfach allein mit dir sein.“ „Ein Spaziergang im Mondschein?“ „Ja, unser letzter Ausflug ist schon etwas zu lange her, meinst du nicht?“ grinste er und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. Dann legte er ihr den Arm um die Schultern, öffnete die Tür für sie und führte sie nach draußen. Die Nacht war tatsächlich klar und warm, doch der Mond war noch nicht aufgegangen. Catherine lächelte. Ein Spaziergang mit Lestat. Ihre erste Reise nach Crossbost hatte der Sache dienen sollen. An ihre zweite dorthin konnte sie sich nicht gänzlich erinnern. Sie wusste nur, dass sie nicht völlig freiwillig von ihrer Seite aus gewesen war. Ein Spaziergang, der nicht der großen Sache diente, sondern nur ihnen und ihrer Zweisamkeit, war etwas völlig Neues… und Angenehmes. Catherine blickte zu ihm nach oben und bemerkte, dass sie leicht vergessen konnte, was sie seit langer Zeit beschäftigte, wenn sie bei ihm war. Mehrere Menschen kamen ihnen entgegen, aber sie kümmerten sich nicht um das Paar, das Arm in Arm gemächlich spazieren ging. Sie schlenderten eine Weile die Straßen entlang und schwiegen. Lestat lauschte Catherines Atemzügen und ihrem ruhigen Herzschlag. Ihr Blick glitt über die gegenüberliegende Straßenseite und über die Fassaden der mehrstöckigen Gebäude, die sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Wie war es wohl für Lestat, wieder durch die Straßen von Paris zu gehen. Hier in Paris hatte er als Sterblicher versucht, sein Glück zu finden, doch hatte denjenigen getroffen, der ihm dieses Leben aufgezwungen hatte. Catherine ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie froh sein konnte, denn sonst wäre sie ihm niemals begegnet. War sie zu egoistisch? Vielleicht, doch Lestat gab ihr keinen Anlass, ihn zu bedauern. Er bereute scheinbar nicht, dass er hier mit ihr war. Er nahm seine Existenz hin und formte sein Leben, wie er wollte. Zumindest versuchte er es und brach damit wohl immer wieder ungeschriebene Gesetze. Lestat wusste so viel und kannte diese Welt schon so lange… es fiel ihr schwer zu glauben, dass er noch durch etwas überrascht werden konnte, doch scheinbar war es so. Überraschte und überforderte ihn nicht ihr eigenes Wesen? Catherine schüttelte in Gedanken den Kopf. Auch das konnte sie kaum glauben, denn er musste mit einigen Individuen seiner Art mit starkem Charakter auskommen. Marius, der Lehrmeister und nach außen Besonnene, der ihn in der Vergangenheit schon des Öfteren belehrt hatte. Armand, der ihn provozierte ohne es vielleicht zu wollen. Catherine durchschaute ihr Verhältnis zueinander nicht, doch wie sollte sie auch? Wenn sie daran dachte, wie entsetzt Lestat sie gefragt hatte, ob Armand ihr etwas angetan hatte, schien es ihr nur sicher, dass Lestat Armand nicht vertraute. Hatte er vielleicht allen Grund dafür? David. David liebte Lestat und Lestat liebte David. Und Louis… „Was ist mit Louis?“ brach sie plötzlich das Schweigen und blickte ihn von der Seite an. „Wie kommst du jetzt auf Louis?“ fragte Lestat ohne einen Vorwurf in der Stimme. „Ich habe mir Gedanken über euch alle gemacht. Und vorhin wolltest du nicht weitersprechen, als ich ihn erwähnte. Sollte ich etwas wissen?“ „Es ist nichts.“ meinte Lestat und zog sie dichter zu sich. „Gestern Abend kam er mir so seltsam vor. Vielleicht habe ich mich aber auch getäuscht.“ entgegnete sie, doch glaubte nicht recht daran. „Catherine, Louis ist eine schwierige Person. Selbst ich verstehe ihn nicht immer – eigentlich verstehe ich ihn recht selten.“ weihte er sie ein und suchte ihren Blick. „Im Moment macht er sich hauptsächlich Vorwürfe, dass er Lea nicht beschützt hat.“ „Er hat doch getan, was er konnte.“ bemerkte sie verständnislos. „Das brauchst du mir nicht zu sagen. Es ist eben Louis’ Art, sich schnell Vorwürfe zu machen.“ „Ist das alles? Er war so… Ich weiß nicht! Ich kenne ihn kaum, das gebe ich zu, aber es schien mir, als bedrücke ihn etwas von größerem Ausmaß.“ Lestat zuckte die Schultern. Er wollte jetzt nicht über Louis sprechen, aber er wollte auch nicht, dass Catherine sich ausgeschlossen fühlte. Diese Frau machte sein Leben tatsächlich kompliziert! „Louis hadert wieder einmal mit sich und der Welt – vor allem aber mit uns.“ erklärte er. „Wie das? Das verstehe ich nicht.“ „In diesem Fall wünschte ich, ich würde es auch überhaupt nicht verstehen.“ gab Lestat zu und strich ihr mit der Hand den Oberarm entlang. „Erklärst du es mir? Oder möchtest du nicht? Dann ist das natürlich…“ „Louis zweifelt, dass wir uns so von denen unterscheiden, die wir Vampirähnliche nennen. Er meint, dass wir uns etwas vormachen, wenn wir denken, wir hätten einen Platz in der Welt. Seiner Überzeugung nach dürften wir nicht einmal existieren und außerdem schiebt er die Schuld für das, was hier geschieht, auf uns.“ „Das kann doch nicht sein!“ „Doch, er glaubt, Lea sei wegen ihm in Gefahr.“ „Wenn Lea wegen irgendjemand in Gefahr ist, dann bin das ich.“ „Jetzt fängst du auch noch an!“ stöhnte Lestat, blieb stehen und wollte sich von Catherine lösten, doch sie entließ ihn nicht ganz. „Nein, ich verspreche es dir. Egal wer schuld ist – und ich bin immer noch der Meinung, dass niemand an dieser Situation wirklich Schuld trägt, es ist nicht mehr zu ändern. Es ist, wie es ist. Und wir werden das Beste daraus machen.“ erklärte sie und zog ihn wieder ein Stück näher zu sich. „Ich verspreche es dir.“ murmelte er rau, als sich ihre Lippen schon berührten. Warm pressten seine Lippen gegen ihre. Leidenschaftlich verwickelte seine Zunge ihre in ein neckisches Spiel, das Catherine bewies, dass er – wie auch sie – nun doch lieber in einem Zimmer in der Villa wären. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals genug von ihm zu bekommen. Ihre Droge, die ihr die klare Sicht immer wieder nahm. Es war dunkel und neblig vor ihren Augen. Lestat. Lestat war Wirklichkeit. Er war hier bei ihr und… was er mit ihr tat – von ihr aus konnte er nehmen, was er wollte. Ihr Pulsschlag stieg fiebrig an und sie drohte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Eine Gestalt – sie selbst. Nein, unmöglich. Nur die Frau mit den roten Haaren, die ihr so ähnlich sah… Mehrere Gestalten in Kutten mit Kapuzen im Steinkreis von Crossbost. Fackeln. Rituale. Dunkelheit. Nebel. Sie waren fort. Lestats Körper presste hart gegen ihren. Sie konnte jede Linie seiner muskulösen Brust an sich spüren. Wieder die Frau… Sie hetzte durch einen Wald. Sie wurde verfolgt. Sie musste weg! Catherine fühlte sich plötzlich zwiegespalten. Ein Teil von ihr wusste, dass sie in Lestats Armen war, der andere entfernte sich langsam von ihm. Nein! Catherine klammerte sich an Lestat und konzentierte sich wieder auf ihn. Dann Schmerzen. Betäubende Schmerzen. Männer. Sie schnitten in ihre Haut. Sie verrengten ihre Gelenke. Sie lachten. Sie wollten etwas. Sie brachen ihre Knochen. Todesangst. Sie brachen ihren Willen. Sie erhielten, was sie wollten. Catherine fühlte Lestats Arme stark um sich und ließ sich von ihnen gegen seinen Körper pressen. Das war wirklich real, aber die Frau mit den roten Haaren, die ihr so ähnlich sah… Das rote Haar verlor sich in den Flammen. Catherine bekam keine Luft. Ihr Herz setzte scheinbar aus. Nein, noch nicht. Sie war wieder allein und an einem anderen Ort. Sie war nicht mehr sie. Sie war… plötzlich wieder fort, doch da hatte sie gestanden. Oder doch nicht? Doch. Dort hatte sie gelehnt. Im Nebel und, obwohl Catherine wusste, dass sie sich täuschen konnte, wusste sie - es war nicht so. Dort hatte sie sie schon einmal gesehen. Genau dort… bei den Grabmälern von Thirlestane Castle. Sie erkannte es. Ein keltisches Kreuz mit Knotenmustern und von Efeu überwuchert. Ihre Hände fuhren in Lestats weiche Haare und hielten sich an ihm fest. Sie konnte ihn nicht loslassen. Wenn sie losließ, kam sie niemals in die Wirklichkeit zurück. Diese Wirklichkeit, die sie wegen ihm so liebte! Ihre Kraft ließ nach. Nein! Ihre Hände bewegten sich wieder und schoben das Efeu zur Seite. Eine Inschrift. Eine verwitterte Inschrift aus eingravierten, kantigen Buchstaben und Zahlen, die kaum noch zu lesen waren, doch dort stand es. ‚Margaret Barcley 1587 – 1618’. „Lestat!“ brach Catherine heraus und schob ihn zurück. „Was ist?!“ rief Lestat und ergriff ihre Schultern, um sie in einen dunkleren Bereich in einem Hauseingang zu ziehen, um eventuellen Blicken zu entgehen, doch es war niemand auf sie aufmerksam geworden. Catherine zitterte und atmete flach. Ihr Puls raste immer noch. Während ihres Kusses hatte er ihren heftigen Pulsschlag gehört und gegen seinen gesamten Körper gespürt, doch sie hatte kein Anzeichen gegeben, dass sie das nicht wollte, was er mit ihr tat. Sie hatte ihn an sich gezogen, als zähle nur er… Was war nun mit ihr? Er fühlte, dass ihre Beine unter ihr nachgaben. Hatte er sie durch seine enorme Kraft verletzt? „Was ist mit dir? Was stimmt nicht?“ fragte er wieder, dieses Mal aber ruhiger und eindringlicher. Sie antwortete immer noch nicht, sondern schloss die Augen. Ihre Finger gruben sich in seine Unterarme. Ihr Atem verließ stoßweise ihre Lungen und rauschte gepresst über ihre Lippen. Sie war zurück. In Sicherheit. Bei ihm in Sicherheit. „Vision.“ hauchte sie, als ihr Atem es zuließ, und sank kraftlos gegen ihn. „Ssht, sprich’ jetzt nicht. Ich bringe dich zurück nach Hause.“ versicherte er und nahm sie in seine Arme. „Nach Hause.“ murmelte sie und sank dann mit der Stirn gegen seine Schulter. Kapitel 81: Die Wahrheit in wirren Worten ----------------------------------------- Die Wahrheit in wirren Worten Lestat brachte Catherine schnell zurück zur Villa, trug sie nach oben in ihr Zimmer, half ihr aus der Jacke und ihren Schuhen und legte sie dann auf das Bett, in dem sie die vergangenen Nächte verbracht hatte, da Lea in ihrem schlief. Vorsichtig setzte er sich neben sie und blickte sie prüfend an. „Wie geht es dir?“ fragte er und strich ihr mit den Fingerkuppen leicht über die Stirn und die Schläfe. Sie schloss die Augen und genoss seine Berührungen. „Besser.“ entgegnete sie schließlich und blickte ihn wieder an. „Was hast du gesehen? Erinnerst du dich?“ fragte er weiter und beugte sich etwas über sie, um ihr näher zu sein. „Ich sah die Frau aus meinen Träumen.“ „Die Frau, die dir so ähnlich sieht? Deine Vorfahrin?“ Catherine nickte und griff sich an die Stirn, um sich an die Reihenfolge der Szenen zu erinnern, doch es fiel ihr schwer. „Zuerst war ich mit ihr oder in ihr – ich weiß es nicht – in Crossbost bei den Runen. Dort waren Leute in Kutten versammelt und hielten verschiedene Rituale ab. Dann waren sie plötzlich verschwunden und ich habe etwas anderes gesehen.“ „Du hast schon einmal von den Ritualen bei Crossbost gesprochen. Erinnerst du dich daran?“ „Nein, nicht ganz. Ich weiß, dass du da warst, aber... das war dann auch alles.“ gab sie zu „Das wundert mich nicht.“ meinte er und schmunzelte, weswegen sie ihn fragend und mit einer hochgezogenen Augenbraue anblickte. „Du warst nicht du selbst.“ erklärte er mit ernster Stimme und fuhr fort: „Es war an dem Abend, als du mit Lea dieses bewusstseins-erweiternde Experiment unternommen hast. Ich habe nach dir gesehen…“ „Ja, das weiß ich. Ich habe deinen Knopf gefunden.“ warf sie ein, doch ließ ihn dann nach einem kurzen Nicken fortfahren. „Richtig. Wir haben Thirlestane Castle verlassen und ich habe dich zu den Runen nach Crossbost gebracht.“ „Wieso dorthin?“ „Ich muss zugeben, dass mir nichts Besseres eingefallen ist.“ meinte er. „Hast du den Zettel gefunden, den ich dir geschrieben habe?“ fragte er und musterte sie. Sie blickte ihn unsicher an. Er hatte den Zettel geschrieben? Nicht sie? Nachdenklich nickte sie und deutete auf ihre getragene Jeans, die über einer Stuhllehne hing. „Ich habe versucht, deine Schrift zu imitieren.“ erklärte Lestat, der ihre Verwirrung erkannte, und erhob sich vom Bett. „Das ist dir gelungen. Ich dachte, ich hätte lichte Momente gehabt und könnte mich am nächsten Morgen nur nicht daran erinnern.“ entgegnete sie kopfschüttelnd und sah ihm zu, wie er die Taschen ihrer Jeans durchsuchte. „Du hast in jener Nacht sehr energisch wiederholt, dass meine Augen beinahe violett sind, aber nicht schwarz. Das schien dir sehr wichtig zu sein. Du hast außerdem erwähnt ‚seine waren es’, allerdings konntest du mir nicht sagen, wen du meinst.“ erzählte Lestat weiter und hielt schließlich den Zettel in der Hand. „Du hast übrigens auch bestritten, dass du Catherine bist und aus Frankreich kommst – du hast behauptet, du seist schon so lange in Schottland, dass man deine Geburt in Frankreich überhaupt nicht mehr gelten lassen könne.“ Catherine schüttelte den Kopf und versuchte sich alles zu merken, was sie in ihrem verwirrten Zustand von sich gegeben hatte. „Schließlich konntest du mir doch mehr über die schwarzen Augen sagen. Ein Alchimist, sagtest du, mit schwarzen Augen und schwarzem Haar, der dein Leben gerettet habe, doch dann forderte, was ihm nicht zustand.“ „Was war das?“ fragte Catherine neugierig. „Das konntest du mir dann auch nicht sicher sagen. Plötzlich hast du von ‚ihrem Sohn’ gesprochen und in der nächsten Sekunde verneint, jemals etwas von einem Sohn gesagt zu haben.“ „George.“ flüsterte Catherine und richtete sich auf. „Wie bitte?“ fragte Lestat, der ihr nicht ganz folgen konnte. „Die Vision, die ich heute hatte, war nicht die erste meines Lebens.“ erklärte Catherine und fuhr fort, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, irgendetwas zu sagen. „Heute habe ich die Menschen mit Fackeln bei Crossbost gesehen. Danach waren es Szenen, die zwar nicht mit denen aus meinem Traum identisch sind, doch mit Sicherheit dasselbe Ereignis zeigen. Die Flucht durch den Wald. Die Folter. Die Hinrichtung. Danach habe ich die Grabmäler bei Thirlestane Castle gesehen. Dort habe ich schon einmal die Frau im Nebel gesehen, doch nun habe ich noch etwas anderes entdeckt.“ „Die Frau im Nebel… Betrachtest du sie als Geist einer Verstorbenen?“ fragte Lestat dazwischen, um ihren Gedanken wenigstens etwas folgen zu können. „Ich weiß nicht, was sie ist. Vielleicht ist sie so etwas Ähnliches. Ich denke, sie wollte mich an dem Tag im Park bereits zu etwas führen, doch konnte es nicht, da ich… von Lea gerufen wurde. Sie verschwand. Doch in der Vision heute… hat sie mir etwas gezeigt.“ Catherine biss sich auf die Lippen und meinte dann: „Eines der Grabmäler trägt eine Inschrift.“ „Und die hast du in der Vision gesehen? Müssen wir zurück nach Thirlestane Castle, um sie zu entziffern?“ Catherine schüttelte den Kopf. Sie hatten mehr Glück – viel mehr Glück, was nach all den vergeblichen Unternehmungen, die zu keinem Ende geführt hatten, unglaublich gut tat. „Nein, ich konnte sie lesen… Vielleicht sollten wir uns vergewissern, dass sie stimmt und doch nach Thirlestane Castle zurückkehren, aber…“ „Catherine, das ist überflüssig. Du hast gesehen, was du gesehen hast, und das wird im Endeffekt das sein, worauf wir uns verlassen werden. Wer weiß schon, ob die Inschrift inzwischen nicht zerstört ist? Also, was hast du gesehen?“ „Ihr Name war Margaret Barcley und sie lebte von 1578 bis 1618.“ „Ein ziemlich guter Anhaltspunkt.“ bemerkte Lestat. „Ja, genau. Deshalb sollten wir gleich…“ begann sie und richtete sich noch weiter auf, doch er versperrte ihr den Weg, sodass sie nicht vom Bett aufstehen konnte. „Wir müssen immer noch auf die anderen warten. Vor allem David sollte dabei sein, wenn wir die Neuigkeiten verkünden.“ „Es ist keine Neuigkeit… Eine Vision ist wohl kaum etwas Fundiertes, auf das man sich verlassen kann.“ widersprach Catherine und legte ihre Hände an seine Oberarme, um ihn etwas von sich weg zu schieben. „Das sehen wir Unsterblichen anders, glaub’ mir.“ entgegnete Lestat und ließ Catherine schieben und drücken, ohne dass er einen Zentimenter zurückwich. „Visionen sind…“ „Botschaften des Unterbewusstseins – vor allem. Was glaubst du, könnten wir besser gebrauchen?“ fragte er und begann, die zarte Linien ihres Kiefers und ihres Halses vorsichtig zu küssen. „Ich habe keine Erfahrungen mit Visionen.“ „Wir haben unsere Recherche sogar beinahe nur auf deinen Traum ausgerichtet.“ „Das macht es nicht einfacher.“ „Dass du dich so dagegen wehrst, macht es auch nicht einfacher.“ Catherine seufzte und blickte ihn an. „Erzähl’ mir von deinen Visionen, Catherine. Wie soll ich dich sonst verstehen?“ hauchte er gegen die Haut an ihrer Schläfe und blickte sie dann an. Sie hatte die Augen geschlossen, doch es schien ihm eher, als dachte sie fiebrig nach, nicht dass es eine Reaktion auf seine Küsse war. Catherine seufzte und nickte schließlich. „Ich weiß aber wirklich nicht, ob wir so darauf hören sollten…“ „Du bist eine Hexe, Catherine.“ „Ich hoffe, du meinst das wörtlich und nicht im übertragenen Sinn.“ lächelte sie, doch fügte hinzu: „Keine sonderlich gute.“ Lestat rollte die Augen, schob Catherine zurück auf das Bett und streckte sich neben ihr aus. Ihr fragender Blick begegnete seinem und er meinte: „Ich nehme an, es dauert etwas, bis du mir alles erzählt hast.“ „Ich soll dir alles erzählen?“ „Jede Kleinigkeit, an die du dich erinnerst, aus jeder Vision oder sonstigen Offenbarung, die du hattest. Und…“ „Ich finde, das ist genug.“ unterbrach Catherine ihn. Sie wusste nicht, warum es ihr so schwer fiel, mit ihm ihre Visionen zu teilen. Sie hatte sie bereits mit Lea geteilt – beziehungsweise bei ihren Recherchen auf Dinge vertraut, die sie nur durch ihre Visionen wusste. Es waren ja nicht viele gewesen. Catherine blickte ihn forschend an und nickte schließlich, als sie in seine ehrlichen Augen blickte. „In Ordnung, was soll ich dir noch erzählen?“ gab sie nach. Lestat lächelte und küsste ihre Stirn. „Jede Vermutung und jede Verbindung, die du siehst.“ „Und was tust du?“ fragte sie, da sie nicht gerade begeistert war, einen Monolog zu halten. „Ich höre dir zu und genieße den Klang deiner Stimme.“ meinte er und streckte die Arme nach ihr aus, sodass sie sich zurück sinken ließ und den Kopf auf seine Brust legte. „Das finde ich ziemlich wenig.“ neckte sie ihn, doch er schüttelte den Kopf. „Du ahnst gar nicht, was du für eine enorme Selbstbeherrschung von mir abverlangst.“ gestand er, worauf Catherine leise lachte. „Nun, gut. Die erste Vision, die ich hatte, war die der Frau bei den Grabmälern, doch aus ihr konnte ich nichts Neues erfahren. Ich habe nur gesehen, dass die Frau mein Gesicht hatte, doch ich vermute, das hat mein Verstand in Eigenregie gemacht.“ „Es ist durchaus möglich, dass du deiner Vorfahrin ähnlich siehst.“ „Ja, aber ich wusste damals noch nicht, dass irgendeine meiner Vorfahrinnen überhaupt wichtig ist.“ erklärte Catherine und fuhr fort: „Meine zweite Vision… ereilte mich, als ich über den Runen saß und angestrengt nachdachte. Ich fühlte mich plötzlich seltsam und als ich mich umblickte, war ich in einem Raum mit einem großen Kamin – mit Sicherheit irgendwo im Schloss, vielleicht war es auch die jetzige Bibliothek… Ist das unwichtig?“ „Nein, erzähl’ weiter.“ meinte Lestat und Catherine zuckte die Schultern. „Ich war nicht selbst anwesend, sondern steckte im Körper dieses Jungen, der die Hunde streichelte. Er war vielleicht sieben, schätze ich. Zwei Personen waren noch im Raum: eine Frau mit rotbraunem Haar, das mir bekannt vorkam, und ein Mann. Der Junge begann etwas zu summen, doch während der Vision interessierte mich das nicht. Ich versuchte, mich unabhängig von ihm zu bewegen und scheiterte kläglich. Der Mann kam herüber und fragte, was er singt. Er nannte ihn George.“ erzählte Catherine weiter, worauf Lestat nachdenklich nickte und dann ein zur Kenntnis nehmendes Geräusch von sich gab, da sie sein Nicken nicht sehen konnte. „Die Frau, deren Gesicht ich nicht sehen konnte, war sofort hinter dem Jungen und drohte dem Mann, dass ihr Sohn nichts mit der Sache zu tun hätte und er sich von ihm fernhalten solle. Sie hat sicherlich nicht übertrieben, denn der Mann hatte… Fangzähne.“ Lestat richtete sich ruckartig auf und starrte Catherine an, die in die Kissen zurückgefallen war. „Fangzähne? Bist du sicher?“ fragte Lestat und zog die Augenbrauen hoch. Kapitel 82: Dem Phantom auf der Spur ------------------------------------ Dem Phantom auf der Spur „Nein, ich bin nicht sicher. Es war nur eine Vision. Vielleicht habe ich da etwas hineingemischt, was mich selbst beschäftigt hat! Ich habe zwar Erfahrungen mit der Bruderschaft gesammelt, doch mit so vielen Vampiren hatte ich niemals zu tun. Es kann gut sein, dass ich überfordert war, ohne es überhaupt selbst zu bemerkten. Wir können uns bei meinen Visionen nicht sicher sein, dass sie nicht nur Hirngespinste sind. Davon rede ich doch die gesamte Zeit!“ erwiderte sie und stützte sich auf ihren Ellenbogen ab. „Fangzähne…“ murmelte Lestat und blickte Catherine mit einem Ausdruck in den Augen an, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte – beinahe mutlos und bekümmert. Catherine wartete ab, ob Lestat ihr erklären wollte, was in ihm vorging, doch er blieb stumm. Sie stützte ihr Kinn in ihre Handfläche und musterte ihn. „Erzähl’ weiter.“ meinte er schließlich leise, ohne irgendetwas zu erklären. „Bitte?“ „Das war nicht die einzige Vision, die du hattest, oder?“ „Nein, aber ich finde, du könntest mir jetzt genauso gut sagen, was du gerade denkst.“ warf Catherine ein. Lestat lehnte sich zu ihr und küsste sie leicht auf die Lippen, fuhr dann mit seinem Mund an ihrer Kieferlinie entlang und küsste ihren Hals. „Ich denke, ich habe die besseren Argumente.“ murmelte er an ihren Hals. „Du bist unmöglich.“ stöhnte sie und rollte mit den Augen. „In Ordnung.“ Lestat lehnte sich wieder zurück, doch Catherine legte sich dieses Mal nicht in seine Arme. Sie konnte ja immerhin nicht wissen, ob er sich noch einmal scheinbar ohne Grund – zumindest mit einem Grund, über den er nun nichts mehr sagen wollte – plötzlich aufrichtete. Catherine drehte sich auf den Bauch und stützte sich auf ihre Ellenbogen ab. „Bei der letzten Vision… in dieser Art – eigentlich war es eher ein Traum, aber ich hatte im Traum eine Vision. Geht das überhaupt?“ begann Catherine und sah Lestat zweifelnd an. „Catherine…“ seufzte Lestat und schüttelte den Kopf. „Ist ja schon gut!“ gab sie sich geschlagen und erzählte weiter: „Es war wieder im Schloss. Thirlestane Castle. Ich wachte auf und die Sonne schien noch. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, doch dann bemerkte ich, dass es nicht echt sein konnte. Die Grabsteine waren zu neu und ordentlich. Ich hatte nicht wirklich Zeit, darüber zu erschrecken, da die Tür zum Raum geöffnet wurde. Dann war es plötzlich Nacht – stockdunkel, bis auf ein paar Kerzen – und draußen lag Schnee. Ein Mann kam herein und bat der Frau, die nun im Bett lag, etwas an. Ich hielt die Frau für Marys Mutter, da sie im Tagebuch ihrer Tochter so ähnlich beschrieben wurde.“ Catherine biss sich auf die Lippen und schloss die Augen. „War das alles?“ fragte Lestat und Catherine schüttelte den Kopf. „Hast du das Tagebuch gelesen?“ „Nein, aber du hast doch erzählt, was dort drin geschrieben steht.“ entgegnete Lestat. „Der Mann war derselbe Mann wie in der Vision mit George. Der Mann mit den Fangzähnen. Er… meinte, der Preis für ihre Gesundheit sei nicht ihr Leben. Sie würde leben, versicherte er.“ Catherine brach wieder ab und meinte in Lestats Gesicht Anspannung zu sehen. „Was hat das mit dem Tagebuch zu tun?“ fragte er gepresst und Catherine nickte. „Mary hat einen Mann beschrieben. Einen Alchimisten, der ihr unheimlich war. Seine Haut weiß glänzend wie Perlmutt und rabenschwarze Augen. Ein Alchimist, Lestat. Und ich denke, er war oder ist ein Vampir.“ Lestat schwieg und dachte angestrengt nach. Catherine betrachtete ihn und dachte selbst noch einmal über ihre Worte nach. Dasselbe hatte sie bereits mit Lea angenommen, doch gegenüber Lestat diese Vermutung zuzugeben, war etwas anderes. „Kennst du ihn? Kennst du jemanden, auf den diese Beschreibung passt?“ fragte Catherine, doch Lestat blieb stumm und schüttelte leicht den Kopf. „Nein, ich kann es dir nicht mit Sicherheit bestätigen.“ „Aber du vermutest etwas, Lestat. Du hast gesagt, ich soll dir meine Vermutung mitteilen! Wieso gilt das nicht auch für dich!?“ „Ich will dich nicht…. beunruhigen.“ „Was ist das für ein Grund, bitteschön? Lestat, das ist… du brauchst mich nicht zu schonen.“ „Das denkst auch nur du.“ gab er zurück und Catherine stöhnte genervt auf. „Du treibst mich in den Wahnsinn, mein Liebster… Das ist dir klar, oder?“ entgegnete sie ironisch und hoffte, Lestats eisernen Willen so zumindest etwas zu lockern, doch er wich nicht von seinem Standpunkt ab. „Es spielt keine Rolle, ob du es weißt oder ich dir sage, was ich vermute. Es gibt nur eine Möglichkeit, sicher zu gehen.“ „Welche?“ fragte Catherine sofort und blickte ihn fordernd an. Lestat blieb stumm und sie fuhr fort: „Lestat, wenn es nur eine Möglichkeit gibt, dann sollten wir diese zumindest in Betracht ziehen.“ „Oh, mein Gott.“ flüsterte er und wandte sich ab. „Was? Lestat, was ist los?“ „Du tust es wieder.“ „Ich verstehe dich nicht.“ gab Catherine zu und schüttelte den Kopf. „Du hast es mir schon einmal angeboten.“ murmelte er entsetzt. „Wovon sprichst du?“ fragte Catherine verwirrt und setzte sich auf ihre Knie. Lestat schüttelte den Kopf und weigerte sich, irgendetwas Weiteres zu sagen, auch wenn Catherine ihn noch so sehr dazu zu bewegen versuchte. „Dann lass’ es eben!“ rief sie, erhob sich vom Bett und ging aus dem Zimmer. Lestat hielt sie nicht auf, sondern ließ sie gehen. Er hörte, wie sie mit schnellen Schritten den Gang entlang eilte und ihre Schritte schließlich verhallten. Lestat griff sich an die Stirn und schloss die Augen. Er hatte ein unglaubliches Talent, solche Situationen zu vermasseln, das wusste er, doch er wusste nicht, wie er ihr das begreiflichen machen sollte, was er einen Moment lang geahnt hatte. Es war völlig unmöglich, dass es wahr war. Oder? Lestat öffnete die Augen und erinnerte sich zurück an jene verhängnisvolle Winternacht, in der er vor über zweihundert Jahren seinem eigenen Schicksal begegnet war. Sein Schicksal, das ihm in Form eines Vampirs mit schwarzem Haar und schwarzen Augen, aufgelauert hatte. Catherine saß in der Küche im Keller und dachte nach. Was auch immer es war, das Lestat beschäftigte, wollte er anscheinend nicht mit ihr teilen. Sie lachte leise, wenn sie daran dachte, was sie in dieser Nacht alles mit ihm geteilt hatte! Träume. Visionen. Ahnungen. Gefühle. Müde schloss sie die Augen. Bei ihren Recherchen mit Lea war sie einmal soweit gewesen, den Alchimisten als Vampir anzusehen – lediglich aus der Beschreibung, die im Tagebuch zu finden war. Sie hatte ihn niemals bewusst mit dem Vampir in ihren Visionen verbunden, da ihr das immer klar schien. Lestats Reaktion verwirrte und ärgerte sie, doch langsam fühlte Catherine, dass der Ärger aus ihr wich und nur noch Verwirrung und Neugier Platz in ihren Gedanken fanden. „Margaret Barcley…“ murmelte sie und schloss die Augen, um sich an irgendetwas zu erinnern, das sie mit diesem Namen in Verbindung brachte. War Margaret Barcley die Frau, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, und war sie ebenso Marys Mutter? Konnte sie sich aufgrund der Ähnlichkeit, die die Frauen ihres Traumes und ihrer Visionen hatten, diese Schlussfolgerung leisten? Catherine wusste es nicht, öffnete die Augen wieder und blickte in Lestats Gesicht. Sie zuckte merklich zusammen, da sie ihn nicht erwartet hatte. „Du solltest deine Umgebung im Auge behalten.“ grinste er. „Ich wusste nicht, dass ich mich in meinem eigenen Haus schützen muss.“ „Dir ist hier schon einiges passiert… Warum also nicht?“ Catherine zog die Augenbrauen hoch und rutschte von dem Stuhl herunter, auf dem sie gesessen hatte, um zur Tür zu gehen. „Was denkst du?“ fragte er und sah ihr hinterher. „Ich dachte, du wolltest mich ab jetzt vor allem schützen – vor allem aber vor Dingen, die du aus persönlichen Gründen nicht mit mir teilen willst?“ entgegnete sie. „Das verstehst du falsch.“ meinte er und Catherine blickte ihn aufmerksam an. Catherine wartete darauf, dass Lestat ihr erklärte, was in ihm vorging, doch er blieb stumm. Verärgert fuhr sie mit ihren Fingern durch ihr Haar und schloss kurz die Augen. Ein übellaunisches Geräusch entwich ihrer Kehle, als sie sich umdrehte und sich gegen die Tür stemmte. „Was ist?“ fragte er und sah ihr hinterher. „Das fragst ausgerechnet du mich? Witzig, wirklich witzig!“ entgegnete Catherine und drehte sich an der Tür um, um ihn wieder anzusehen. Lestat seufzte und zuckte die Schultern, kam dann aber so schnell auf sie zu, dass sie ihm nicht entkommen konnte. Seine Augen betrachteten ihre Gesichtszüge. Er seufzte noch einmal und meinte schließlich: „Du hast nach der Möglichkeit gefragt, wie ich sehen könnte, ob ich den Vampir kenne…“ „Du meinst also, es ist tatsächlich die richtige Spur? Ich meine, dass wir nach einem Vampir suchen, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts gelebt hat?“ fragte Catherine dazwischen und Lestat zuckte wieder mit den Schultern. „Es ist ein Anfang.“ meinte er schlicht und fuhr fort: „Ich denke, du hast schon einmal von ihm geredet, aber ich konnte nichts mit deinen Worten anfangen, da sie so durcheinander waren. Außerdem hast du nichts von Fangzähnen gesagt…“ Catherine nickte. Sie hatten schon einmal darüber gesprochen, doch das hatte er ihr erzählen müssen, da sie sich nicht mehr an ihr Gespräch bei den Runen erinnerte. „Du hast mir angeboten, den Alchimisten mit deinen Augen zu sehen.“ meinte er weiter und Catherine sah ihn verständnislos an. „Und? Jetzt bin ich genauso schlau wie zuvor.“ bemerkte sie und Lestat schüttelte den Kopf. „Ich könnte ihn wahrscheinlich sehen, wenn ich dein Blut trinke. Er scheint in dir wie ein eigenes Erlebnis verankert zu sein, deshalb könnte es möglich sein. Du hast es mir damals angeboten.“ Catherine schluckte und sah ihn ungläubig an. Dann fasste sie sich und fragte: „Warum hast du es nicht getan?“ „In deinem Zustand? Sehr schlechte Idee! Und ich weiß nicht, ob ich letzten Endes widerstehen könnte, wenn ich auch nur einen Tropfen deines Blutes in mich aufnehme.“ „Das ist… Das sollten wir bedenken.“ erwiderte Catherine zustimmend. „Nein.“ widersprach Lestat schlicht. „Wieso nicht?“ „Es gibt nichts zu bedenken, Catherine. Ich werde niemals von dir trinken.“ meinte er. „Niemals?“ „Niemals.“ versicherte Lestat und strich ihr sanft über ihr Haar. „Und wenn es die einzige Möglichkeit ist, dass wir überhaupt etwas Neues entdecken?“ hakte Catherine nach, doch sie vermutete schon, was er antworten würde. „Soweit wird es nicht kommen.“ „Deine Zuversicht möchte ich haben.“ „Selbst wenn wir uns einmal an so einem Punkt befinden sollten, dann werden wir so lange suchen, bis wir eine andere finden.“ „Oder auch nicht.“ entgegnete Catherine und Lestat nickte. „Oder auch nicht.“ wiederholte er. Kapitel 83: Die eigene Entscheidung ----------------------------------- Die eigene Entscheidung Catherine schüttelte den Kopf und blickte ihn noch einmal prüfend an. Nein, er meinte das wirklich ernst. Daran gab es keinen Zweifel. Seufzend zuckte sie die Schultern und wandte sich ab, um die Küche zu verlassen, doch Lestat hielt sie fest. „Du verstehst das doch?“ fragte er unsicher. „Natürlich.“ entgegnete Catherine wenig überzeugend. „Catherine…“ begann er, doch sprach nicht weiter. „Du hast Angst, Lestat. Du hast Angst, dass du dich nicht mehr kontrollieren kannst. Das verstehe ich.“ meinte Catherine und fuhr fort: „Ich verstehe allerdings nicht, dass du so wenig Vertrauen in dich hast. Ich glaube nicht, dass du mich ernsthaft verletzen würdest. Ist es nicht möglich, kleine Mengen meines Blutes zu trinken? Lediglich so viel, dass du sehen könntest…“ „Catherine, abgesehen davon, dass es nicht ungefährlich ist, weiß ich nicht, wie viel ich von dir trinken müsste, um ihn zu sehen. Im Blut meiner Opfer sehe ich normalerweise nur ihre eigenen Erfahrungen, Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte und Gefühle. Ich weiß nicht, wie tief ich bei dir gehen müsste. Er ist in deinem Unterbewusstsein und du kennst ihn nur aus Träumen und Visionen. Wir können überhaupt nicht sicher sein, dass es uns jemals auf diese Art gelingen könnte, seine Identität zu klären.“ erklärte Lestat und blickte Catherine flehend an. „In Ordnung. Es ist zu gefährlich und zu unsicher. Ich hab’s verstanden.“ erwiderte sie zähneknirschend und entzog ihm ihren Arm. Lestat nickte und ließ sie aus der Küche gehen. Vielleicht hatte sie es tatsächlich verstanden, doch einsehen wollte sie es nicht. Und Lestat war sich sicher, dass Catherine diese Möglichkeit trotzdem in Gedanken behalten würde. Lea ging es bereits viel besser, als Catherine sie an diesem späten Abend besuchte. Sie war nicht mehr ganz so blaß und schien der Meinung, sie würde sehr viel verpassen, wenn sie im Bett lag, weshalb sie aufgestanden war. „Ich weiß nicht, ob das so gut ist.“ meinte Catherine skeptisch, als Lea noch etwas wankend zu dem Stuhl ging, über den einige Kleidungsstücke hingen. „Ich schon.“ meinte Lea und nickte noch einmal, während sie die Kleidung durchsah. „Erzähl’ schon, was es Neues gibt, Cate!“ Catherine schüttelte das Bett auf und überlegte einen Augenblick, bevor sie Lea erzählte, was sie mit Lestat besprochen hatte. Dass sie ihm ihr Blut angeboten hatte, ließ sie allerdings aus, denn das sollte zwischen Lestat und ihr bleiben. Gerade als Catherine ihre Ausführungen beendet hatte, klopfte es an der Tür und Louis trat ein. „Catherine, Lestat ist unten und möchte dringend mit dir sprechen.“ meinte er und Catherine blickte ihn verwundert an, dann zu Lea und schließlich nickte sie. „Ganz etwas Neues.“ murmelte sie und wandte sich noch einmal an Lea: „Sei so gut, und schone dich trotzdem noch.“ „Ich wollte eine Liste von den Dingen machen, die ich brauche, und dann wollte ich mich noch ein bisschen die Villa erkunden – Darf ich?“ „Natürlich. Du könntest dir auch ein Zimmer aussuchen, wenn du willst.“ meinte Catherine und fügte hinzu: „Dann hätte ich meines wieder und du könntest in deinem machen, was du willst.“ Lea blickte Catherine einen Moment ungläubig an, dann nickte sie zaghaft. „Ich fürchte, früher oder später musst du das eh tun, Lea. Du kannst nicht zurück nach Irvine. Ich nehme an, das willst du auch überhaupt nicht.“ „Natürlich nicht.“ meinte Louis an Leas Stelle und blickte zu Catherine, die ihn überrascht anblickte. „Sie kann nicht zurück.“ erklärte er schlicht. „Ich hoffe nur, dass Elizabeth nicht versucht…“ begann Lea, doch Louis schüttelte den Kopf. „Das wird sie nicht wagen. Was soll sie auch tun? Sie müsste schon die Polizei einschalten, um dich nach Schottland zurückzubringen.“ „Und wenn sie es tut?“ „Das ist unwahrscheinlich.“ meinte Catherine, da sie wusste, worauf Louis hinauswollte. „Wir haben viel gegen sie in der Hand. Sie wird es nicht riskieren, Thirlestane Castle den genaueren Untersuchungen der Polizei oder irgendwelcher sonstigen Behörden auszusetzen. Und Untersuchungen könnten wir anstreben, nicht wahr, Louis?“ Catherine wartete nur auf ein Nicken von seiner Seite und sprach dann weiter: „Du bist nun hier zu Hause, Lea, also such’ dir ein Zimmer aus, schreib’ eine Liste von den Dingen, die du noch brauchst und werde wieder ganz gesund. Dann sehen wir weiter, wie wir die letzten Dinge regeln – Schule, Einwohnermeldeamt und so weiter.“ Lea zog die Augenbrauen hoch, doch nickte nur stumm, ehe Catherine das Zimmer verließ. Catherine ging langsam zur Treppe. Louis hatte gesagt, Lestat warte unten, und tatsächlich stand er am Fuß der Treppe in der Eingangshalle. Sie zögerte, da sie sich nicht vorstellen konnte, was er so dringend von ihr wollte. Hatte er seine Meinung vielleicht geändert? Sie sah, dass er sie Hand nach ihr ausstreckte, und setzte sich langsam in Bewegung. Catherine erreichte ihn mit langsamen Schritten, ergriff seine Hand aber nicht, sondern blickte ihn fragend an. „Ist Louis oben?“ fragte Lestat und Catherine nickte. „Er kümmert sich sehr um Lea.“ „Ja.“ „Er fühlt sich verantwortlich.“ „Ich werde das Gefühl nicht los, dass er auch aus anderen Gründen ihre Nähe sucht.“ gab Catherine zu, wollte aber nichts Weiteres darüber sagen. „Er hat mir nichts gesagt, doch ich gebe dir Recht.“ meinte Lestat, nahm Catherines Hand und führte sie zu seinem Mund. „Lestat…“ begann Catherine, doch brach ab, als er zärtlich ihre Handfläche küsste und seine Lippen dann an ihr Handgelenk legte. „Hast du Angst?“ murmelte er und sog die Luft ein, um ihren Duft aufzunehmen. „Nein.“ flüsterte sie. „Das dachte ich mir: Du weißt wirklich nicht, was gut für dich ist.“ „Dafür habe ich doch dich.“ erinnerte sie ihn und blickte ihn an. „Sehr richtig, ma cherie.“ „Wolltest du mir das sagen?“ fragte Catherine und Lestat schüttelte den Kopf. „David wird morgen Abend zurück sein. Dann können wir wieder weitermachen.“ meinte Lestat und Catherine nickte. „Wann wird er hier sein?“ „Gegen Mitternacht.“ gab Lestat Auskunft. „Dann haben wir genug Zeit.“ meinte Catherine und Lestat lächelte. „Du bist nicht mehr böse?“ „Ich war nie böse… etwas enttäuscht vielleicht.“ gab Catherine zu, konnte seinen Gedankensprüngen aber nicht folgen. „Du warst enttäuscht, dass ich dich nicht einer großen Gefahr aussetze?“ fragte er nach und Catherine stöhnte auf. „Wieso musst du dieses Thema immer wieder aufwärmen, wenn du meinen Standpunkt nicht verstehen willst?“ erwiderte sie, doch wechselte gleich wieder das Thema: „Hat David etwas herausgefunden? Kommt er mit Ergebnissen zurück?“ „Ja, er hat die Übersetzung der Runen, aber Genaueres wollte er am Telefon noch nicht sagen.“ „Natürlich nicht.“ entgegnete Catherine. „Wie kannst du sagen, dass ich deinen Standpunkt nicht verstehen will?“ „Die Übersetzung der Runen also – endlich. Ich bin gespannt, ob uns das endlich weiterbringt. Nein, ich weiß, dass es uns weiterbringt. Ich weiß es.“ entgegnete sie, ohne auf seinen Einwurf einzugehen. „Catherine, hörst du mir bitte zu?! Ich will dich nun einmal nicht in Gefahr bringen.“ „Darum geht es doch überhaupt nicht!“ rief Catherine aufgebracht, obwohl sie sich gleich wieder sammelte und ihn von unten anblickte. „Worum geht es dann?“ „Ich … Lestat, was ist, wenn uns die Zeit davonläuft? Was ist, wenn nicht nur der Anfang dieses Durcheinanders an meinen Geburtstag gebunden war? Was ist, wenn auch das Ende… das Ende zu einem bestimmten Zeitpunkt eintreten wird? Und was ist, wenn das Ende von dem, was auch immer hier wirklich vor sich geht, auch mein Ende sein wird? Versteh’ mich nicht falsch: ich habe dir gesagt, dass ich den Tod nicht fürchte und das stimmt, aber wenn ich etwas tun muss… und es nicht vollenden kann? Was ist dann?“ Catherine zitterte leicht und Lestat nahm sie in seine Arme. „Ich werde dich beschützen, Catherine.“ „Wirst du das?“ murmelte sie gegen seine Schulter. „Ich habe dich darum gebeten, dass ich dich beschützen darf, erinnerst du dich?“ fragte er leise und wartete, bis er spürte, dass Catherine gegen seine Brust nickte. „Dann werde ich es auch tun. Ich bin selbstsüchtig. Ich kann überhaupt nicht anders.“ Catherine nickte wieder und schwieg. Sie konnte einen Moment lang nichts sagen, dann flüsterte sie: „Könntest du mich sterben lassen?“ Lestats Körper versteifte sich, seine Arme packten fest ihre Schultern und schoben sie ein Stück von sich weg, um in ihr Gesicht zu sehen. „Gott, Catherine!“ stieß er nur aus, als er sah, dass sie ihn ruhig anblickte. „Wieso antwortest du nicht?“ fragte sie und strich ihm über die Wange. „Ich weiß nicht, welche die richtige Antwort auf diese Frage ist.“ „Es muss nicht die richtige Antwort sein. Deine Antwort genügt mir, Lestat.“ „Du bist zu viel für mich, Catherine.“ „Antworte einfach.“ bat sie und hielt seinem Blick stand. „Gut. Es ist nicht meine Art, das aufzugeben, was ich liebe. Das war niemals meine Art. Solltest du…. Gott, ich kann nicht glauben, dass wir dieses Gespräch wirklich führen müssen!“ „Ich kann nur kaum glauben, dass wir dabei in der Eingangshalle stehen.“ bemerkte Catherine und Lestat nickte, doch wusste auch, dass Catherine eine Antwort wollte und auch verdiente. „Solltest du lebensgefährlich verletzt werden oder dein Leben sonst irgendwie… begrenzt sein, werde ich dir die Entscheidung nicht abnehmen, ob du bei mir bleiben willst.“ „Wenn ich bei dir bleiben möchte und möchte, dass du mich… wandelst. Würdest du es tun?“ „Ja, obwohl du mich hassen wirst, wenn ich es tue.“ „Glaubst du wirklich, dass ich dich jemals hassen könnte?“ „Catherine, die Ewigkeit ist lang…“ begann Lestat, doch brach ab, da sie ihm die Finger auf die Lippen legte. „Ich denke, wir sollten erst die Gegenwart bewältigen, und dann über die Ewigkeit nachdenken.“ schlug sie vor und wartete nicht darauf, dass er nickte, sondern berührte sanft seine Lippen mit ihren. „Du hast gesagt, wir hätten genug Zeit, bis David morgen Abend kommt… Ich hätte da eine Idee, was wir mit der Zeit anfangen können.“ meinte Lestat zwischen mehreren Küssen. Catherine blickte in sein Gesicht und schüttelte leicht den Kopf. „Das kann ich mir denken.“ gab sie zu und lachte leise. „Bin ich so leicht zu durchschauen?“ fragte er und küsste sie wieder zärtlich. „Noch leichter.“ entgegnete sie und entzog sich ihm langsam, was er nur widerwillig zuließ. „Wohin gehst du?“ fragte er, als sie an ihm vorbei und weiter in die Halle hineinschritt. „Ich habe auch eine Idee, was wir mit der genügenden Zeit machen können.“ erklärte sie und sah, wie er verwirrt die Treppe hinaufwies. „Nein, Lestat… Recherche.“ Kapitel 84: Sinnvolle Beschäftigung ----------------------------------- Sinnvolle Beschäftigung „Ist das dein Ernst?“ fragte er tonlos, folgte ihr aber durch die Halle in die Bibliothek. „Was willst du recherchieren?“ „Margaret Barcley natürlich.“ entgegnete sie und wartete, bis er neben ihr war, sodass sie ihn noch einmal küssen konnte. Lestat brummte etwas unwillig über ihr Vorhaben und erwiderte ihren Kuss leidenschaftlich. Er wollte jetzt nicht irgendetwas recherchieren, da er nur noch wenige Stunden in dieser Nacht zu Verfügung hatte. Einseits wollte er mit Catherine nun ganz etwas anderes tun, doch andererseits wollte sie auch nicht, dass sie am morgigen Tag alles alleine machen musste. „Ich denke, es geht schneller, wenn du mir hilfst.“ murmelte sie, als ihre Lippen sich wieder etwas trennten. „Zwei Stunden, Catherine.“ mahnte er, nickte schließlich aber. Catherine nickte, schlang ihren Arm um seine Taille und spürte, wie sich sein Arm um ihre Schultern legte, um sie mit sich in die Bibliothek zu führen. Lestat betrachtete Catherine, die eine Weile unschlüssig die Gänge entlang ging, um sich wieder ein Bild vom Bestand der Bibliothek zu machen. Bei ihren ersten Recherchen, die sie wieder in Paris unternommen hatte, hatte sie keine Bücher gebraucht. „Es ist alles so weit weg.“ murmelte sie, ging aber zielstrebig erneut in eine der vorderen Reihen, und zog ein Buch heraus. Lestat streckte die Hand nach ihm aus und nahm es ihr ab. Catherine ging weiter und zog noch drei weitere Bücher aus dem Regal, die Lestat ihr ebenfalls aus der Hand nahm. „Meinst du nicht, dass die erst einmal reichen?“ fragte Lestat und Catherine nickte langsam. „Gut, komm’ mit!“ „Wohin?“ fragte sie, doch er klemmte die Bücher unter einen Arm und legte den anderen um Catherines Taille. „In den Salon. Ich lese und du ruhst dich aus.“ „Ich bin aber nicht müde…“ beschwerte sich Catherine, doch Lestat blickte sie zweifelnd an. „Gestern bist du erst im Morgengrauen ins Bett und morgens bist du früh aufgestanden. Und heute wird es auch wieder weit nach Mitternacht werden, bis du schläfst. Sag’ mir also nicht, dass du nicht müde bist.“ „Und wenn es stimmt?“ fragte sie, doch sie musste ihm Recht geben: sie müsste eigentlich müde sein. „Dann erkläre ich dich für nicht ganz normal.“ entgegnete er und schob sie sanft zur Tür hinaus, um mit ihr die Halle zum Salon zu durchschreiten. „Das ist wirklich eine Überraschung! Ich und nicht ganz normal!“ lachte sie und lehnte sich kurz gegen seine Schulter. „Ich meine, noch abnormaler…“ murmelte er und sah, wie sie belustigt den Kopf schüttelte. „Wieso liest du? Abgesehen davon, dass ich müde bin.“ „Ich lese schneller. Und ich mag es.“ „Lesen?“ fragte Catherine nach und Lestat nickte. „Ich konnte es nicht - früher, als ich noch sterblich war.“ erzählte er und begegnete ihrem Blick. Ihre Augen ruhten auf ihm und ihr Blick verriet ihm, dass sie ihn nicht verurteilte und sich nicht über ihn lustig machte. Catherine zeigte ihm nur, dass er ihr mehr erzählen konnte, wenn er wollte. Und er wollte ihr mehr erzählen – viel mehr. Alles, wie er feststellte. „Später, Catherine. Ich habe dir nur zwei Stunden für die Recherche gegeben. Es wäre unfair, wenn ich uns nun davon abhalten würde.“ meinte er und beugte sie etwas zu ihr hinter, dass er sie küssen konnte. „In Ordnung.“ seufzte Catherine und setzte sich auf das Sofa. Lestat legte die Bücher auf den Tisch, setzte sich neben Catherine und griff nach ihren Füßen, um sie auf seinen Schoß zu ziehen und sie mit einer Decke zuzudecken. Sie lachte leise und er erklärte: „Sie sind kalt.“ „Das ist mir nicht aufgefallen.“ „Langsam frage ich mich wirklich, was du ohne mich machen würdest.“ „Erfrieren und vor Erschöpfung über den Büchern einschlafen.“ grinste Catherine, lehnte sich mit der Schulter gegen die Lehne und machte es sich bequem. Lestat nickte leicht, nahm sich das erste Buch und las erst einmal still, während Catherine die Augen geschlossen hielt. „Bist du noch wach?“ fragte er nach einer Weile. „Natürlich.“ lächelte sie und öffnete die Augen. „Wie weit bist du?“ „Ich kann dir zusammenfassen, was ich gelesen habe.“ „Du bist schon durch?“ fragte sie ungläubig und richtete sich etwas auf. „Hörst du zu?“ fragte er und legte seine eine Hand auf ihre zugedeckten Füße. „Immer doch.“ versprach sie lächelnd und lehnte sich wieder zurück, um ihn erzählen zu lassen. „Eine Geschichte für meine geliebte Catherine also.“ flüsterte er. „Was hast du vor? Willst du die Informationen in eine Gute-Nacht-Geschichte umdichten?“ lachte sie leise und blickte ihn an. „Das ist unmöglich. Es wird wohl eher eine Gruselgeschichte.“ „Hm, ich bin hart im Nehmen.“ versicherte Catherine, doch sie spürte wie Aufregung sich in ihrem gesamten Körper ausbreitete. „Margaret Barcley wurde 1587 geboren – genau vierhundet Jahre vor dir.“ begann Lestat nach einem kurzen Nicken und fuhr gleich darauf fort: „Ihr Vater war unbekannt. Ihre Mutter starb im Kindbett, Margaret wuchs zu ihrem Glück in der Gunst einer schottischen Adelsfamilie auf, wurde erzogen und erhielt Bildung auf dem Schloss. Kannst du dir denken, von welchem Schloss ich rede?“ „Seit wann stellt der Geschichtenerzähler Fragen, Lestat?“ wollte Catherine wissen und lächelte, als er die Schultern zuckte. „Manchmal soll das vorkommen.“ grinste er, fuhr aber dann fort: „Gut, du denkst es dir schon: Thirlestane Castle. Als Margaret zwölf Jahre alt war, heiratete sie den Duke of Irvine und wurde somit Duchess of Irvine.“ „Oh, mein Gott! Mit zwölf Jahren?“ „Ja, das waren andere Zeiten, Catherine. Es war bestimmt ihr Glück.“ „Schön. Wenn sie zwölf Jahre alt war, dann war das… 1599, ja?“ fragte Catherine nach und legte den Kopf schief. „Ja, richtig. Der jüngere Bruder des Herzogs – John Dein und immerhin zu dieser Zeit auch bereits 28 Jahre alt – war nicht sehr angetan von Margaret, hielt seinen älteren Bruder für unzurechnungsfähig und stritt sehr oft mit ihm.“ „Warum? Was passte ihm nicht an ihr?“ wollte Catherine wissen, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Darüber ist sehr wenig bekannt. Vielleicht wollte er sie für sich haben, obwohl er selbst auch schon verheiratet war. Allerdings scheint mir diese Möglichkeit nicht gerade überzeugend zu sein. Wahrscheinlich war sie ihm zu jung, zu mittellos und unter seinem Stand.“ „Wahrscheinlich. Bis wir einen anderen Grund für seine Abneigung kennen, müssen wir davon ausgehen.“ meinte Catherine und fuhr fort: „John Dein. Damit haben wir endlich einen weiteren Namen. John Dein war der Bruder des Herzogs, also muss des Herzog selbst auch diesen Namen geführt haben.“ „Diesen Namen – John Dein - haben wir auch nur aus einem sehr speziellen Buch mit sehr vielen Randnotizen, aber nun hör’ einfach zu, ma cherie.“ bat er und Catherine nickte einverstanden. „Die nächsten Jahre sind sehr unklar… 1600 wurde ihr erstes Kind geboren, doch einen Namen haben wir auch hier nicht. Im Januar 1601 kommt Mary zur Welt. Im selben Jahr stirbt das erstgeborene Kind.“ „Das ist furchtbar. Damals war sie erst vierzehn Jahre alt.“ bemerkte Catherine und Lestat nickte. „Margaret wurde noch im selben Jahr schwer krank. Über die nächsten drei Jahre ist nichts bekannt, doch dann wird über die Geburt eines dritten Kindes berichtet, doch allerdings kommt dieses tot zur Welt. Margaret ist daraufhin wieder ans Bett gefesselt – nach den Beschreibungen litt sie die nächsten vier Jahre zusätzlich zu den schweren Depressionen unter Schwindsucht und immer wieder unter Lungenentzündungen.“ „Dass sie vier Jahre überlebt hat, ist schon beachtlich.“ warf Catherine ein. Lestat nickte und schien zu überlegen. Catherine ging ebenfalls in Gedanken durch, was Lestat ihr gerade erzählt hatte. Sie hatte schon einmal eine Liste über das Leben der Madame X angefertigt, doch nun war es Margaret, von der sie sprachen. Eine namenlose Gestalt war sie einst gewesen und nun war sie das nicht mehr. „Das Tagebuch überbrückt die Zeit vom April 1607 bis zum Dezember 1607. Danach fangen die Aufzeichnungen in den Büchern wieder an, etwas ausführlicher zu werden. 1608 war Margaret 21 Jahre alt und wird als junge, wunderschöne und geistreiche Frau beschrieben, doch noch immer verstand sie sich nicht mit ihrem Schwager John Dein und dessen Gemahlin. 1611 bringt sie endlich einen gesunden Sohn und somit Erben zu Welt.“ „George.“ vermutete Catherine, worauf Lestat nickte. „Seinen Namen habe ich auch in den Büchern gefunden. Damit haben wir Margarets zwei Kinder, die überlebt haben. Mary und George.“ Vermutlich war Georges Geburt und offensichtliche Gesundheit auch ein erneuter Grund für die Abneigung von John Dein: nun hatte er praktisch keine Chance mehr, auf dem Schloss seines Vaters Fuß zu fassen.“ „Wieso das?“ „John Dein war nur der Zweitgeborene und somit waren schon beim Tod des eigenen Vaters der ganze Besitz und die Titel an den älteren Bruder gegangen. Nun war nicht einmal mehr die Möglichkeit gegeben, dass er den älteren Bruder beerben konnte. Er lebte völlig in der Gunst und Gnade seiner Familie und betätigte sich im Handel mit England als Kapitän eines der Schiffe seines Bruders.“ „Ein Handlanger seines Bruders.“ „So ungefähr.“ stimmte Lestat zu. Catherine nickte und schwieg, um Lestat fortfahren zu lassen. „Als John Deins Schiff ‚The Grace of God’ 1617 sank und alle an Bord ertranken, wurden diese allgemein bekannten Streitigkeiten zu Margarets Verhängnis. John Deins Witwe brachte eine Menge Gerüchte in Umlauf und beschwor damit ein großes Unheil herauf. Margaret wurde zusammen mit Isobel Insh und John Stewart angeklagt, sie hätte mit Zaubersprüchen und Verwünschungen das Schiff zum Sinken gebracht.“ „Wie bitte?!“ stieß Catherine aus, doch Lestat schüttelte nur ermahnend den Kopf. „Margaret wies die Vorwürfe von Anfang bis Ende des Prozesses von sich, und auch Isobel schwor, sie habe diesen John Stewart niemals zuvor in ihrem Leben gesehen, doch John Stewart gestand die Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, und berichtete, er habe die beiden Frauen auf ihren eigenen Wunsch hin in der Zauberkunst unterrichtet. Einmal habe er sie auch gesehen, wie sie Modelle von Schiffen und Menschen aus Ton geformt hätten, um diese im Ritual zum Herausbeschwören des Unglücks zu benutzen.“ „Weiter!“ forderte Catherine Lestat auf, da er eine Pause gemacht hatte. „Isobel gestand unter Folter ihre Schuld und starb fünf Tage später.“ Catherine schüttelte den Kopf und schloss für einen Moment die Augen. Kapitel 85: Eine Geschichte ohne Moral -------------------------------------- Eine Geschichte ohne Moral Sie fühlte Lestats Hände, die sie fest um ihre Zehen schlossen, und atmete tief durch, ehe sie ihn wieder anblickte und ihm zunickte, dass er weitersprechen konnte. „Margaret wurde ebenfalls gefoltert. John Stewart hatte sich zuvor erhängt, also war Margaret somit die letzte, die noch übrig war. Die Vorsteher der Kommission, die sich mit dem Fall beschäftigte, wendeten scheinbar eine ‚sichere und sanfte’ Methode der Folter an. Sie befestigten ihre bloßen Beine in einer Halterung, sodass das Gewicht auf ihre Beine immer wieder durch Eisenbarren erhöht werden konnte und langsam ihre Glieder zerdrückte. Margaret versprach, alles zu gestehen, als sie die Schmerzen nicht mehr aushalten konnte, doch sobald sie aus der Folter befreit war und gestehen sollte, wies sie mit erneut aufflammender Leidenschaft und Mut jegliche Anschuldigungen von sich.“ Lestat machte eine kleine Pause und blickte Catherine prüfend an. „Was geschah dann?“ fragte sie leise mit kratziger Stimme. „Margaret wurde erneut gefoltert. Sie erduldete Schläge, Schnitte, und Knochenbrüche. Die Folterknechte achteten sehr genau darauf, dass sie niemals aus Schmerzen in Ohnmacht fiel, sondern immer bei Bewusstsein war, und zogen die Tortur so lange hin, bis Margaret sich schließlich noch einmal verzweifelt dazu bereit erklärte, alles zu gestehen.“ „Sie schnitten in ihre Haut. Sie verrengten ihre Gelenke. Sie brachen ihre Knochen. Sie brachen ihren Willen. Sie erhielten, was sie wollten.“ murmelte Catherine, da sie sich an eine ihrer Visionen erinnerte, und Lestat nickte. „Margaret gestand alles, was ihr vorgewurfen wurde, stimmte jeder Anschuldigung zu – egal, was diese betraf.“ „Wahrscheinlich war sie so geschwächt und so erschöpft, dass sie überhaupt nicht mehr wusste, was sie gefragt wurde.“ überlegte Catherine. „Ja, sie war am Ende. Sie konnte nicht mehr.“ „Alles, was sie wollte, war, dass es aufhörte. Dass die Schmerzen endlich aufhörten.“ entgegnete Catherine und nickte bei sich. „Sie wusste, dass es keine Hoffnung mehr gab.“ „Wurde sie daraufhin verurteilt und hingerichtet?“ fragte Catherine, da sie sich wieder auf die Fakten konzentrieren wollte. „Nein. Ihr Ehemann kam schließlich ins Gericht. Wo er vorher abgeblieben ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall brachte er einen Anwalt für Margaret mit. Ihre Hoffnung kehrte zurück. Vielleicht sah sie die Möglichkeit ihrer Rettung … die Möglichkeit auf Rückkehr ihr normales Leben. Sie widerrief ihr Geständnis. Alles, was sie unter Folter gesagt habe, sei falsch und unwahr gewesen. Gott sei ihr Zeuge, dass sie unschuldig sei. Zu ihrem Mann sagte sie, er habe lange gebraucht, bis er kam.“ Catherine lief eine Gänsehaut über den Rücken. Die Geschichte an und für sich war schon brutal, doch dass dann auch noch so genau letzte Äußerungen bekannt waren, war unheimlich. Sie wusste aus ihren Träumen, dass es keine Rettung für Margaret Barcley gegeben hatte, wenn Margaret Barcley wirklich die Frau aus ihrem Traum war. „Leider kam der Anwalt zu spät. Vielleicht war er auch einfach nicht fähig, Margarets Schicksal abzuwenden. Sie wurde verurteilt und 1618 nach ihrer Genesung von der Folter durch Verbrennen hingerichtet.“ schloss Lestat mit leiser Stimme seine Ausführungen, worauf Catherine nickte. „Meinst du, sie war wirklich eine Hexe?“ „Ich denke schon. Hattest du nicht eine Vision, die sie mit anderen in Crossbost bei einem Ritual gezeigt hat?“ fragte Lestat nach. „Schon, aber… Ich weiß nicht. Mir geht gerade so viel durch den Kopf, aber ich kann nicht einmal einen klaren Gedanken fassen.“ gestand sie und schloss die Augen. Catherine spürte, wie sich Lestat unter ihren Füßen bewegte und sie ein wenig zur Seite schob, sodass er den Oberkörper zu ihr neigen konnte. Seine Lippen berührten zärtlich ihre Schläfe und küssten dann ihren Haaransatz. „Lestat…“ „Hm?“ „Wenn du das machst, kann ich überhaupt nicht mehr denken.“ gab sie zu. Lestat lachte leise und blickte sie kopfschüttelnd an. „Vielleicht sollten wir das ohnehin auf morgen verschieben.“ meinte sie und lächelte. „Gehen wir nach oben?“ „Wenn du willst, machen wir das natürlich.“ stimmte Lestat ihr zu, erhob sich schnell und hob Catherine von der Couch auf seine Arme. „Willst du mich nach oben tragen?“ „Natürlich.“ „In das Gästezimmer, bitte. Ich weiß nicht, ob Lea bereits ein anderes Zimmer bezogen hat.“ „Zu Befehl, Madame.“ grinste er, ging mit ihr auf den Armen zu Tür, löschte das Licht und trug sie dann nach oben. Catherine fühlte wenig später die weichen Kissen unter ihrem Körper und sank zufrieden in sie. Sie hatte schnell geduscht und sich einen Pyjama angezogen, und kroch nun schnell unter die Decke, um nicht zu frieren. „Und du bist doch müde – wenn du für eine Sterbliche auch ziemlich nachtaktiv bist.“ murmelte Lestat leise, um sie nicht mehr als nötig aufzuwecken. Sie sollte ruhig schlafen, wenn sie konnte. Der heiße Dampf des Wassers klebte noch in ihrem Haaransatz, ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre Lider ruhig geschlossen. Seine liebste Catherine. Sanft strich er ihr über die Wange und berührte ihre Stirn mit seinen Lippen. „Bleibst du hier, Lestat?“ fragte sie leise. „Natürlich, ma cherie.“ flüsterte er und streichelte weiter ihre Wange, ihren Kiefer und ihren Nacken. Catherine seufzte und blickte ihn noch einmal an. Sie wünschte, er würde nicht kurz vor Sonnenaufgang zurück in seinen Kellerraum gehen, um dort vor dem Licht geschützt zu sein. Sie wünschte, er könnte bei ihr bleiben. Sie wollte nicht nur neben ihm einschlafen, sondern auch neben ihm erwachen. „Lestat?“ „Ja, ma cherie?“ „Ich liebe es, wenn du das sagst.“ gestand sie lächelnd. „Ich weiß, ma cherie.“ „Du sagst es aber nicht nur deshalb, oder? Nicht nur, weil ich es mag…“ „Nein, Catherine, bestimmt nicht. Ich liebe es, diese Worte zu sagen. Ich liebe es so sehr – mindestens so sehr wie du sie zu hören liebst.“ gab er zu und Catherine lächelte. „Ich habe sie schon so oft gesagt, Catherine, aber niemals ehrlich gemeint… bisher niemals ehrlich und ernst gemeint.“ „Das ist schön – also für mich, meine ich.“ Lestat lachte leise und sah, dass Catherine ihm Platz im Bett machte. „Was wolltest du eigentlich gerade wissen, als du meinen Namen gesagt hast?“ fragte er, streckte sich aber neben ihr aus. „Ich dachte daran, dass es schön wäre, neben dir aufzuwachen.“ erklärte sie und blickte ihn offen an. „Das ist nicht möglich…“ „Weshalb nicht? Wir könnten dicke, lichtundurchlässige Vorhänge überall anbringen, sodass das Sonnenlicht nicht…“ „Es geht nicht nur darum. Wenn ich ruhe, nehme ich meine Umgebung zwar wahr, damit ich mich zur Not gegen einen Angriff schützen kann, aber ich kann Freund und Feind nicht unterscheiden. Ich würde dich angreifen, da ich dich nur als Eindringling wahrnehmen würde.“ erklärte er und Catherine nickte nachdenklich. „Schade.“ murmelte sie und schloss die Augen. „Wirklich schade.“ „Bist du enttäuscht?“ Catherines Augen öffneten sich und sie drängte sich näher an ihn, während sie ihn anblickte und sie seinem fragenden Blick begegnete. „Nein, nicht enttäuscht, aber etwas traurig.“ gestand sie und fühlte, wie er seinen Körper etwas zu ihr drehte. „Du glaubst nicht, wie gerne ich dich bis zur höchsten Mittagsonne in den Armen halten würde, mit dir im hellen Sonnenschein durch Paris spazieren würde, aber ich bin nun einmal…“ Catherine riss ihre Finger zu seinen Lippen nach oben, hinderte ihn mit ihnen an jedem weiteren Wort und schüttelte leicht den Kopf. „Für mich bist du perfekt, Lestat.“ „Du bist auch nicht normal.“ „Danke.“ gab Catherine zurück, nahm es ihm aber nicht übel. „Versuch’ zu schlafen, ma cherie. Ich bleibe hier, solange es geht.“ bat er versprechend und Catherine schloss ihre Augen wieder. Catherine träumte in dieser Nacht von George, doch wieder saß er nur auf dem Boden mit seinen Hunden und summte ein Lied vor sich hin. In ihrem Traum setzte sich Catherine langsam auf einen der Sessel und blickte den Jungen an. Plötzlich lächelte sie und legte den Kopf schräg, als dem Mund des Kindes ganz leise Silben entsprangen, die sie wiedererkannte. ‚Héo naefre wacode dægréd tó bisig mid dægeweorcum’ Es war ein Gedicht, doch George erfand eine Melodie zu den Worten, die das traurige Gedicht in ein wunderschönes, sehnsüchtiges Lied verwandelte. Catherine legte den Kopf zurück und fühlte sich einen Moment lang von ihren Gefühlen niedergedrückt, ehe sie tief einatmete und George genau zuhörte, der immer und immer wieder dasselbe Gedicht sang. „Niemals war ihr vergönnt, der hübschen, jungen Maid,/ die Zeit, des Himmels morgentliche Glut zu betrachten,/ und niemals fand sie die Ruh, nur Augenblicke zu rasten./ In diesem Leben voller Neid und Augen, die verachten,/ wurde sie niedergedrückt von Arbeit, Pflichten und Lasten./ Zu eng war geworden die Welt, die einst erschien so weit./ Doch stets erblickte sie das tägliche Vergehen der Sonne,/ stand dort im letzten Lichte nachdenklich und noch lange,/ während die Kälte der Nacht über die Moore zu ihr kroch,/ in ihr Herz schlich und die junge Maid machte ganz bange,/ sodass sie verzagt leise wieder fragte: Was bleibt mir noch – / jetzt da in mir gestorben jedes Vertrauen und jede Wonne?/ In diesem verzweifelten Augenblick erkannnte sie dann,/ was ihr schweigsames Herz so lange schon musste missen,/ erkannte mit sinkendem Mut, welche Zukunft sie ersann/ und ihren sehnlichsten Wunsch, den sie nie durfte wissen.“ Kapitel 86: Die Siebte im Bunde ------------------------------- Die Siebte im Bunde Catherine kam erst am späten Vormittag zu sich und setzte sich im Bett auf, wobei sie nicht die geringste Lust verspürte, aufzustehen, sich anzuziehen und etwas zu essen. Ihr Blick wanderte auf den Nachtisch zu ihrem Wecker, den Lestat ausgestellt haben musste, bevor er sie kurz vor Morgengrauen verlassen hatte. Elf Uhr, stellte sie fest. Es war wirklich Zeit, in die Gänge zu kommen. Langsam und mit steifen Gliedern erhob sie sich, warf einen Morgenmantel über und ging mit frischer Kleidung über den Korridor ins Bad, wo sie sich Zeit ließ und über alles Mögliche, hauptsächlich aber Lestat und den vergangenen Abend, nachdachte. Irgendwann wandten sich ihre Gedanken der nahen Zukunft zu. Die Bediensteten – allen voran Guillaume – würden in wenigen Tagen wieder ihre Arbeit in der Villa beginnen, nachdem sie für Catherines Ankunft alles vorbereitet hatten und sie selbst seither keinen von ihnen gesehen hatte. Lestat und Marius hatten das mit Sicherheit ziemlich vorausschauend geplant, doch Catherine gefiel der Gedanke wenig, dass sie bald in ihrem eigenen Haus den Schein wahren musste. Es erinnerte sie an die Zeit vor dem Zerwürfnis mit ihrem Bruder Lucien und vor dem Tod ihrer Eltern, als ihr Leben noch in Ordnung war … Nein, besser gesagt: als ihr Leben noch in abartigen Bahnen verlief. Und dann wusste sie auch nicht, ob es so gut war, dass die Bediensteten wieder im Haus waren, allein schon weil mehrere Vampire im Keller nächtigten bzw. den Tag verbrachten! Jedoch sollten Lestat und Marius wissen, was sie taten – oder nicht? Wahrscheinlich, und am meisten störte Catherine immer noch, dass sie dann vorsichtiger sein mussten, damit niemand Verdacht schöpfte oder gar noch etwas erfuhr. Nachdenklich führte sie die Bürste durch ihr Haar und blickte dabei geistesabwesend in den Spiegel. Sie war nicht die einzige gewesen, die sich in einem fremdbestimmten Leben zurechtfinden und sich mit ihm abfinden hatte müssen. Margaret Barcley war es mit Sicherheit so gegangen – auch noch vor ihrem Prozess. Und wahrscheinlich ging es noch tausenden von anderen Frauen genauso – damals wie heute. Selbst das Gedicht oder das Lied, das George daraus machte, erzählte eigentlich von nichts anderem. Wer kannte das Gefühl nicht, dass die Zeit nur so zwischen den Fingern zerrann? Wer dachte nicht an vergangene Tage zurück und wünschte, er hätte diese oder jene Entscheidung getroffen oder nicht getroffen, hätte diese oder jene Gelegenheit genutzt oder vorbeiziehen lassen? Neid und Verachtung… auch das war in irgendeiner Form wohl jedem bekannt. Erst die nächsten Zeilen veranlassten Catherine, die Bürste sinken zu lassen und die Stirn zu runzeln. Eine zu eng gewordene Welt? Catherine konnte sich ungefähr vorstellten, was das für ein Gefühl war, da sie sich selbst auch oft von allen Seiten durch Erwartungen und Pflichten erdrückt gefühlt hatte. Seit allerdings Lestat in ihrem Leben war, fühlte sie das kaum mehr, obwohl jetzt auch nicht wenig Verantwortung auf ihr lastete und viel von ihr abhing. Sie fühlte es eigentlich überhaupt nicht mehr, bemerkte sie und musste lächeln. Lestat wusste überhaupt nicht, was er alles für sie tat, und sie würde ihre Meinung immer behalten, dass er für sie perfekt war. Amüsiert schüttelte Catherine den Kopf: sie kehrte doch tatsächlich von jedem Gedanken aus wieder zu Lestat zurück. Das war wirklich schlimm! Mit schnellen Bewegungen legte sie die Bürste aus der Hand und band ihr langes Haar streng nach hinten, um dann ihren sachlichen Gedanken mit kaltem Wasser ins Gesicht etwas auf die Sprünge zu helfen. Wie ging es weiter nach dem Sonnenuntergang und der anschließenden Kälte, die auch in ihr Herz einzog? Der Verlust des Vertrauens und der Freude… Auch das schien Catherine nicht unbedingt ein Indiz zu sein, das sie zu einer Person führte, doch der Herzenswunsch, den betreffende Person niemals wissen durfte. ‚Wissen’ im Sinne von ‚erfahren’. Catherine trocknete ihr Gesicht ab, schlüpfte in ihre Kleider und löste das Band aus ihren Haaren wieder, ehe sie nach unten in die Küche ging, um eine Kleinigkeit zu essen. In dieser Nacht würde David zurück sein. Marius und Armand würden ebenfalls wieder auftauchen, wo genau sie sich jetzt auch aufhalten mochten. Louis würde nicht einmal von Leas Seite weichen müssen, da Catherine sie ebenfalls miteinbeziehen wollte. Sie war in die Sache verwickelt und je mehr sie wusste, desto mehr konnte sie vielleicht beisteuern. Immerhin hatte noch niemand wirklich über die Ergebnisse dieser bewusstseinserweiternden Sitzung gesprochen – nicht einmal Lea und Catherine – und Catherine konnte nicht glauben, dass es keine Ergebnisse oder seltsame Erkenntnisse gab. Kaum saß Catherine in der Küche und biss in ihr Brot, bemerkte sie, dass sie tatsächlich keinen Hunger hatte. Trotzdem zwang sie sich, den Teller leer zu essen, trank noch einen Kaffee und hörte dann, wie sich die Tür langsam öffnete. „Guten Morgen.“ meinte Lea und setzte sich zu ihr, während sie Catherine musterte. „Morgen. Bist du schon lange wach?“ „Ja, eine Weile.“ gab Lea zu und blickte sich in der Küche um. „Du hast schon gegessen, nehme ich an.“ entgegnete Catherine und räumte ihren leeren Teller in die Spülmaschine. „Ja, sicher. Ich habe mich einfach bedient.“ „Wie schon öfters gesagt: du bist hier zu Hause.“ erinnerte Catherine und Lea nickte nachdenklich. „David kommt heute Nacht zurück. Er hat die Übersetzung der Runen von Crossbost und das bedeutet für uns, dass wir endlich weitermachen können.“ erzählte Catherine, als sie den Frühstückstisch abräumte und schließlich mit einer flinken Handbewegung einige Krümel in ihre andere Handfläche strich und sie in den Mülleimer warf. „Ah.“ murmelte Lea und blickte ihre Hand an, die sie ruhig in ihrem Schoß liegen hatte. „Lea, was ist los?“ „Nichts, wieso?“ „Es kommt mir so vor, als wolltest du mir etwas sagen.“ „Es ist nur… ich weiß nicht, wie ich das sagen soll… David wird zurück sein, Marius und Armand kommen dann auch wieder. Dann vergrabt ihr euch wieder in die Unterlagen und vielleicht kommt ihr dann auch weiter, aber…“ Lea brach ab und blickte Catherine gequält an. „Lea, du fühlst dich doch nicht etwa ausgeschlossen?“ fragte Catherine entsetzt und schüttelte den Kopf. „Nicht direkt, aber ihr… Versetz’ dich in meine Situation! Louis, Lestat, Marius, Armand und David sind alle Vampire. Dass ich mich wohl kaum in ihre Reihe stellen kann, ist sehr deutlich. Aber nicht einmal mit dir kann ich mich vergleichen. Du bist älter, hast offenbar überhaupt keine Angst und weißt scheinbar immer, was als nächstes zu tun ist. Da kann ich nicht mitkommen.“ gestand Lea und senkte den Blick. „Es ist nicht wahr, dass ich keine Angst habe, Lea.“ „Aber du… bist so sicher.“ „Ich bin sicher, weil ich sicher sein muss. Aber ich habe Angst, Lea. Ich habe Angst, dass wir nicht schaffen, was wir schaffen sollen. Ich habe Angst um dich, jetzt da ich weiß, dass wir für uns die einzige Familie sind, noch mehr als zuvor. Und du wirst es nicht glauben, aber auch ich weiß nicht genau, wie ich zu der Tatsache stehe, dass unsere einzigen Verbündeten Vampire sind…“ „Aber Lestat…“ „Ja, natürlich. Lestat. Ich liebe ihn und ich glaube ihm, dass er mich liebt. Es ist wirklich etwas Besonderes zwischen uns und mein Leben ohne ihn – nein, das kann ich mir wirklich nicht mehr vorstellen. Es geht mir um die anderen. Marius. David. Armand. Ich weiß nicht, was sie denken oder davon halten, dass Lestat und ich… so füreinander empfinden. Sie wissen, was zwischen uns ist, aber haben Lestat oder ich es je vor ihnen gezeigt? Nein. Und genau deshalb fehlt uns als Paar ein gewisser Platz in dem Ganzen – gut, vielleicht hat er mit Marius gesprochen und vielleicht weiß er, was sie denken, aber ich weiß es nicht. Versteh’ mich nicht falsch! Es belastet mich nicht so sehr, doch ich bin sehr gut im Ignorieren. Ich ignoriere das und ich ignoriere einen Großteil meiner Angst, um mich konzentrieren zu können.“ „Siehst du? Und ich kann nicht einmal das!“ entgegnete Lea und schüttelte heftig den Kopf. „Lea, du wurdest nicht so ausgebildet wie ich. Was ich innerhalb der Bruderschaft hinter mir habe, könnte man beinahe mit einer militärischen Ausbildung vergleichen.“ entgegnete Catherine. Catherine machte eine kurze Pause und dachte nach, wie sie Lea aufmuntern konnte. Sie konnte nachvollziehen, wie Lea empfand, doch die richtigen Worte schienen ihr einfach nicht einfallen zu wollen. Es war zum Verrücktwerden. „Was hältst du davon, wenn wir zwei heute noch einmal die neusten Erkenntnisse durchgehen. Lestat und ich haben gestern Abend noch das Leben Margaret Barcleys näher betrachtet. Ich hätte gerne, dass du es weißt.“ „Warum?“ „Wenn du es nicht willst, ist das auch in Ordnung, aber ich dachte, du könntest uns bei der Arbeit unterstützen. Ich möchte – abgesehen von persönlichen Gründen – auch aus rein praktischen und logischen, dass du in alles miteinbezogen wirst, da du nun einmal dazu gehörst. Du bist ein Teil von alldem. Wir wissen ja auch noch nicht, warum die Bruderschaft dich wollte.“ „Sie wollte nicht mich. Sie brauchte mich nur, um an dich heranzukommen.“ vermutete Lea, doch Catherine schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Die Bruderschaft mag sich geirrt haben, aber sie handelt nie ohne tiefergreifende Gründe. Da steckt mehr dahinter.“ „Kannst du das anhand deiner Erfahrungen aus deinen aktiven Jahren mit Sicherheit sagen?“ „Ja, durchaus. Signore Daniele hat meinen Bruder und mich – wie Salieri ganz zu Beginn gesagt hatte – mit Sicherheit auch zu einem bestimmten Zweck voneinander getrennt. Das war nicht nur die Entscheidung, ob wir für die Ziele oder gegen den Willen der Bruderschaft handeln. Da bin ich mir wirklich sicher.“ Lea nickte schweigend und schien nachzudenken. Catherine wusste, dass sie noch nicht überzeugt war, also fuhr sie fort: „Ich möchte dich außerdem dabei haben, da du Dinge beisteuern kannst.“ „Tatsächlich?“ fragte Lea und ihre Miene hellte sich etwas auf. „Ja. Du erinnerst dich noch an unsere bewusstseinserweiternde Sitzung?“ „Ich wünschte, ich würde es nicht. Auch da habe ich versagt.“ „Das stimmt nicht. Du hast nicht versagt.“ „Hm, ich gehöre nun also wirklich dazu? So wie… Louis und Lestat und du?“ „Ja, sicher. Du sollst alles wissen. Du kannst alles wissen.“ „Cool.“ meinte Lea und nickte. „Bei dieser Sitzung, Lea… Du hast dabei Dinge erfahren. Ich möchte, dass diese Dinge alle erfahren.“ antwortete Catherine und hielt Leas Blick stand. „Das sind deine intimsten Geheimnisse!“ rief Lea entsetzt und ungläubig, doch Catherine nickte. „Wahrscheinlich musst du dir noch einmal ganz genau Gedanken über diese Nacht machen, aber ich möchte, dass du zusammenträgst, was du erfahren hast. Es könnte wichtig sein.“ bekräftigte Catherine ihre vorherige Aussage und wartete ab, da Lea zu überlegen schien. Kapitel 87: Eine neue Verbindung -------------------------------- Eine neue Verbindung „Da war ein Sebastien… Das müssen sie nicht wissen, oder?“ fragte Lea nach einer Weile unsicher. „Das kommt darauf an, was du noch gesehen hast. Im Zusammenhang mit ihm, meine ich.“ „Ihr habt euch gestritten. Ich denke, du hast die Beziehung beendet.“ „Sie war schon beendet, bevor sie angefangen hatte.“ murmelte Catherine. „Wie meinst du das?“ hakte Lea nach, doch sie rechnete schon beinahe damit, dass Catherine ihr nichts weiter sagen würde. „Ich lernte Sebastien in meinem ersten Semester an der Uni kennen. Er war etwas älter und scheinbar sofort fasziniert von mir. Zumindest begegneten wir uns häufig zufällig, obwohl ich keinen einzigen Kurs oder Vorlesung mit ihm gemeinsam hatte. Es war nicht so, dass er mich nicht auch fasziniert hätte, doch ich war lange vorsichtig. Ich kannte die Meinung meiner Eltern zu Kontakten außerhalb der Bruderschaft – Freundinnen, schön und gut, aber eine richtige Beziehung kam für sie nicht in Frage.“ „Moment! Du hattest niemals einen Freund?“ „Doch, kurz, aber da war ich sechzehn und… naja, es war eine typische Teenager-Liebe.“ „Und da hatten deine Eltern keine Einwände?“ „Nein. Wahrscheinlich dachten sie sich ohnehin schon, dass diese Beziehung nicht ewig halten würde.“ „Hm.“ „Wie gesagt: ich war vorsichtig, doch je häufiger wir miteinander sprachen, desto mehr wurde mir bewusst, dass diese Sache zwischen ihm und mir – was auch immer es zu der Zeit war – mein Geheimnis bleiben würde. Wir gingen ab und zu aus. Wenn ich mir heute überlege, wie oft ich mich mit meinen Freundinnen abgesprochen habe, dass ich erst zu ihnen kam, damit meine Eltern keinen Verdacht schöpften, und mich dann mit ihm treffen würde, kommt es mir wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben vor.“ „Warst du verliebt?“ „Ja, definitiv. Wir konnten über alles reden – außer natürlich über die Bruderschaft. Er sprach anders mit mir als jeder andere. Er brachte mich zum Lachen, konnte aber auch zuhören, wenn ich ihm von Problemen erzählte, die ich mit diesem oder jenem Dozenten hatte. Vor allem war Sebastien für mich jemand, der mich nicht nach Leistungen bewertete und bei dem ich die Bruderschaft und alles, was mit ihr zusammenhing, das Training, die Disziplin und die Gefahr, vergessen konnte. Ich hatte das Gefühl zu leben und es fühlte sich gut an.“ Lea nickte stumm und wusste nicht, was sie sagen sollte. Catherine schien völlig in ihre Erinnerung versunken zu sein und würde sicher bald weitersprechen. „Am Anfang war es gut. Sehr gut. Ich war glücklich und von mir aus, hätte sich niemals etwas ändern brauchen. Meine Familie wunderte sich zwar über meinen Elan und meine Energie, doch stellte keine Fragen, da ich auch meine Leistungen bezüglich der Bruderschaft steigerte – unbewusst, wie es mir scheint, denn eigentlich hatte ich schon längst Probleme mit der Organisation, ignorierte sie aber um den lieben Friedens willen.“ Catherine strich sich einige Haarsträhnen hinter das Ohr und blickte Lea an, die ihr aufmerksam zuhörte. Sie lächelte leicht und fuhr dann fort: „Je näher Sebastien und ich und kamen, desto weiter musste ich mich von ihm entfernen. Das war schlimm, da ich nicht wusste, wie ich bei dieser Nähe mein Geheimnis bewahren sollte, und er spürte, dass ich ein Geheimnis hatte oder irgendetwas nicht stimmte. Oft musste ich auf einen Anruf verschwinden oder sagte in der letzten Minute eine Verabredung ab, doch damit konnte er ungewöhnlich gut umgehen. Er war so verständnisvoll und mein schlechtes Gewissen, dass ich ihn von Grund auf belogen hatte oder ihm die Wahrheit verschwieg, wurde nur noch stärker. Meine Gedanken kreisten nur noch um ihn und das Problem, vor dem ich stand. Meine Arbeit bei der Bruderschaft litt etwas darunter – vor allem aber litt ich unter meiner Unaufmerksamkeit, da ich öfters als sonst Verletzungen aus den Kämpfen und Kratzer und blaue Flecken aus dem Training davontrug. Ich entzog mich Sebastien, damit er sie nicht bemerkte, was nicht gerade sehr förderlich für unsere Beziehung war, da es für ihn keinen Grund gab. Nun, es kam, wie es irgendwann kommen musste: eines Nachts entdeckte er meine blauen Flecken an den Oberarmen und an einer Seite meiner Rippen. Natürlich fragte er mich, was passiert war, und ich ließ mir irgendeine Erklärung einfallen, die er mir aber nicht abnahm. Er verdächtigte meinen Vater und meinen Bruder, dass sie gewalttätig seien. Er ließ sich nicht vom Gegenteil überzeugen. Ich weiß nicht, wie oft wir uns gestritten haben und wie oft wir uns doch wieder vertragen haben, doch schließlich ging es nicht mehr. Ich denke, wir konnten beide nicht mehr, und einer von uns musste einsehen, dass er den anderen aufgeben musste.“ „Und das warst du.“ murmelte Lea und Catherine zögerte. „Ich habe mich nicht mehr bei ihm gemeldet. Er hat angerufen und war einige Male bei mir zu Hause, doch Lucien verleugnete mich immer, und ich habe nicht mehr auf seine Anrufe reagiert.“ entgegnete sie und machte eine kleine Pause, in der sie ihre Augen schloss, als wolle sie sich jenen Tag ins Gedächtnis zurückrufen. „Irgendwann haben die Anrufe dann ebenfalls aufgehört.“ seufzte Catherine und öffnete dann ihre Augen wieder. „Das ist ganz schön traurig.“ murmelte Lea, doch Catherine schüttelte den Kopf. „Nicht?“ „Nein… doch… Es kommt auf den Blickwinkel an.“ erklärte Catherine und fuhr fort: „Natürlich schmerzt es, wenn ich daran denke, was damals war, doch ich habe damit abgeschlossen. Ich hätte Sebastien das alles gern erspart, da er das wirklich nicht verdient hatte. Wer hat das schon? Er war ein guter Mensch – ist es noch, hoffe ich. Ich war egoistisch und habe mich im Endeffekt auf seine Kosten gut gefühlt. Diesen Vorwurf mache ich mir heute noch, wenn ich auch eingesehen habe, dass ihm diese Haltung genauso wenig bringt wie mir. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich kann es leider nicht ungeschehen machen und das tut mir leid. Daher kommt wohl der größte Schmerz, aber ich trauere Sebastien nicht nach. Wie könnte ich? Lestat ist nun da und vor ihm muss ich nichts verbergen. Das ist noch einmal etwas ganz anderes.“ „Hm, ich denke auch, dass zu deinem jetzigen Ich gar kein normaler Mann mehr passt.“ überlegte Lea laut. „Das kommt mir irgendwie bekannt vor.“ lachte Catherine leise, da sie sich an Lestats Überzeugung erinnerte, dass sie nicht ganz normal war. „Aber ich weiß, was du meinst, Lea.“ versicherte sie und blickte auf ihre Armbanduhr – dreizehn Uhr, noch elf Stunden bis Mitternacht. „In elf Stunden kommt David.“ bemerkte sie. „Danke.“ meinte Lea und blickte Catherine an. „Wofür?“ fragte Catherine verwundert, da sie ihr nicht ganz folgen konnte. „Ich hatte nie eine Schwester oder jemand, der mit ähnlich nahe stand. Ich wusste nie, was für ein Gefühl das ist, wenn man solche Dinge miteinander teilt. Mit dir fühle ich mich verbunden. Danke für deine Offenheit.“ Catherine nickte und lächelte leicht. „Du wolltest mir über Margaret Barcley etwas erzählen.“ erinnerte Lea Catherine. „Ja, richtig. Wir gehen am besten nach oben. Dort haben wir alles, was wir brauchen.“ „In Ordnung.“ meinte Lea und folgte Catherine die Treppe nach oben. „Dann erzählst du mir erst, was ihr über diese Margaret Barcley erfahren habe… Der Name sagt mir irgendwas. Warte… Jetzt hab’ ich’s! Elizabeth hat, als ich klein war, öfter von ihr gesprochen. Sie nannte sie aber fast ausschließlich Morair, was soviel bedeutet wie… Oh, mein Gott!“ „Ich kann dir nicht folgen, Lea.“ meinte Catherine nüchtern und schob die Tür zum Salon auf, da dort noch die Bücher über Margaret Barcley auf dem Couchtisch lagen. „War Margaret Barcley etwa die Frau aus deinem Traum?“ „Das nehmen wir an, ja. Nein, eigentlich sind wir uns sicher. Wieso?“ „Ich bin so blöd! Wirklich!“ rief Lea und schlug sich auf die Stirn. Catherine räusperte sich, schüttelte den Kopf, erinnerte Lea daran, dass sie nicht blöd war, und forderte sie dann auf, ihr ihr Verhalten zu erklären. „Margaret Barcley wurde in Hexenkreisen Morair genannt. Elizabeth nannte sie wie gesagt fast immer so. Morair bedeutet ‚Lady’ oder ‚hohe Frau’. Ich hätte früher darauf kommen müssen!“ „Worauf?“ „Ich bin wirklich blöd!“ „Lea, hör’ auf damit!“ stöhnte Catherine, nahm die Bücher und ging in die Bibliothek voran. „Deshalb haben sie dich aufgenommen. Sie dachten, die Zeit sei gekommen.“ mutmaßte Lea, als sie hinter Catherine durch die Tür trat. „Hörst du jetzt bald auf, in Rätseln zu sprechen?“ fragte Catherine, schloss die Tür hinter ihnen, ging zielstrebig zum runden Tisch im hinteren Bereich der Bibliothek und legte die Bücher ab. „Es ging eine Sage in unseren Kreisen, nach der Morair wiederkehren wird.“ meinte Lea schnell und blickte Catherine aufmerksam an. „Es heißt, sie wird wiederkommen, sich rächen und ein neues Zeitalter wird anbrechen.“ „Wofür wird sie sich rächen? Und inwiefern wird sie ein neues Zeitalter schaffen?“ fragte Catherine, doch Lea blieb stumm und zuckte die Schultern. „Das weiß ich nicht genau. Elizabeth und Elatha müssen gedacht haben, dass sie in dir ist. Sie haben damit gerechnet, dass du sie bist, du sie vielleicht an Imbolc werden wirst. Imbolc. Du solltest deinen Namen erhalten, doch …“ „Die Bruderschaft hat das Ritual unterbrochen. Als ich noch nicht mit der Bruderschaft gebrochen hatte… bevor ich nach Schottland kam, wurden Lucien und ich beauftragt, das Imbolc-Fest zu verhindern und den Altar zu zerstören. Daniele sagte, wir müssten verhindern, dass eine alte Macht sich erhebt.“ „Morair.“ wiederholte Lea den Namen und nickte bei sich. „Morair.“ meinte auch Catherine und überlegte fieberhaft. Waren die alte Macht, die die Bruderschaft fürchtete, und Morair tatsächlich dasselbe? War ihr deshalb von der Bruderschaft der Auftrag erteilt worden und war es ein Zufall gewesen, dass nicht irgendein anderer Ritter ihn erhalten hatte, sondern sie? Vielleicht. Sie konnte es nicht sagen, ob die Bruderschaft wusste, dass sie für die Durchführung des Rituals in Schottland sein musste. Salieri. Er hatte sie nach Schottland geschickt. Er hatte nicht gezögert! Er hatte es gewusst. Catherine griff sich an die Stirn, als wolle sie ihre Gedanken zu einem langsameren Tempo zwingen. Sie musste sachlich bleiben. Sie musste unterscheiden: Die Bruderschaft unter dem ehemaligen Ältesten Ramirez hatte vielleicht schon den Auftrag zur Störung des Imbolc-Festes und des Rituals gegeben. Das konnte sie nicht mit Sicherheit der neuen Führung Daniele zuschreiben. Daniele hatte nur sie und Lucien getrennt – auch wenn Catherine darin noch keinen Sinn sah. Salieri arbeitete allerdings deutlich gegen die Bruderschaft und wollte Catherine bei den Hexen wissen. Doch warum? „Lea?“ ergriff Catherine das Wort, doch sie musste sich räuspern, ehe sie ein weiteres herausbrachte und Lea ihr ihre Aufmerksamkeit schenkte. „Ja?“ „Wir haben noch viel zu tun bis Mitternacht. Ich hoffe, dass Louis und Lestat nach Sonnenuntergang auch noch einige Vorschläge und Ideen haben, aber das meiste wird wohl an uns hängen bleiben.“ „Was soll ich tun?“ „Ich werde dir vorher kurz alles erzählen, was Lestat gestern mir erzählt hat. Anschließend werde ich mir noch einmal Gedanken über die Beweggründe der Beteiligten machen und danach noch in den Bruderschafts-Archiven, die wir leider nur unvollständig und auf das Nötigste begrenzt hier haben, sehen, ob ich den Namen Barcley oder Morair finde. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es da irgendeine Verbindung zwischen der Bruderschaft und ihr gibt. Du könntest dir – wie vorhin schon gesagt – noch einmal Gedanken machen, was du in meinem Gedächtnis gefunden hast, was uns weiterhelfen könnte. Dann brauchen wir eine möglichst detailreiche Version der Sage – alles, an das du dich aus deinen Kindertagen erinnerst. Außerdem möchte ich dich bitten, dass du nach so einer Art Erweckungszauber suchst. Ich glaube nicht, dass es ein normales Namensgebungs-Ritual war, dem ich mich unwissend unterzogen habe. In diesen Unterlagen findest du noch einmal den Spruch niedergeschrieben, den sie verwendet haben. Das Rad des Schicksals… und so weiter.“ „Okay, dann sollten wir uns aber beeilen, dass wir David auch etwas präsenierten können, wenn er kommt.“ meinte Lea voller Tatendrang und Catherine nickte, ehe sie zu erzählen begann und die beiden sich die Stunden bis Mitternacht mit der Recherche verkürzten. Kapitel 88: Treffen um Mitternacht ---------------------------------- Treffen um Mitternacht Catherine stellte nach einigen Stunden mehrere Bücher zurück an ihren Platz in den Regalen, als die Tür zur Bibliothek leise geöffnet wurde und kaum hörbare Schritte ertönten. Es waren wahrscheinlich Lestat und Louis. Catherine musste lächeln, als ihr auffiel, dass sie der Gedanke daran, dass Vampire in ihrer Nähe herumspazierten, nicht einmal nervös machte. „Lea, solltest du dich nicht noch ausruhen?“ fragte Louis, doch Lea schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben hier außerdem etwas Wichtiges zu tun.“ „Wir? Catherine ist auch hier irgendwo?“ fragte Lestat und blickte sich um. Catherine musste leise lachen und wollte gerade rufen, wo sie war, als Lestat schon vor ihr stand und sie sanft auf die Stirn küsste. „Wir haben nur noch vier Stunden, Lestat.“ meinte sie und Lestat unterbrach seinen Kuss, nur um sie auf die Lippen zu küssen. „Und?“ fragte er, als er einen Moment von ihr abließ. „Lea und ich sind seit Stunden dabei, einige Informationen miteinander zu vergleichen… Ach, so eben mit allem drum und dran.“ „Habt ihr wenigstens etwas gegessen?“ fragte er. „Du verwirrst mich, wenn du so alltägliche Fragen stellst.“ „Das tut mir leid.“ grinste Lestat, doch Catherine meinte: „Lea hat sich etwas geholt. Ich hatte keinen Hunger. Wir sind gerade dabei…“ „Stop! Das kannst du mir gleich erzählen. Ich komme gleich wieder.“ „Wohin willst du?“ „Geh’ du schon einmal zurück zum Tisch, ich komme dann nach.“ meinte Lestat und verschwand. Catherine blickte ihm nach, schüttelte den Kopf, stellte die Bücher ins Regal zurück und streckte ihren Rücken durch. Sie war verkrampft vom stundenlangen Sitzen. Langsam trat sie in den Mittelgang hinaus und ging wieder auf den runden Tisch zu, an dem sich Lea leise mit Louis unterhielt und ihm scheinbar schon einmal erklärte, worum es ging. Die beiden ergänzten sich wirklich unglaublich gut – Louis beendete schon Sätze, die Lea begonnen hatte. Catherine setzte sich wieder an ihren Platz und vertiefte sich in die Aufzeichnungen, die sie bereits gemacht hatte. „Wo ist Lestat?“ fragte Lea, als sie bemerkte, dass er nicht mit Catherine gekommen war. „Ich weiß nicht. Er wollte aber bald zurück sein.“ entgegnete Catherine und blickte in zwei fragende Gesichter, die dann erschrocken einander anblickten. „Was?“ „Nichts.“ meinte Lea. „Du bist blass.“ sprach Louis aus, was beide gedacht hatten. „Ich fühle mich gut.“ versicherte Catherine und senkte den Kopf wieder, um in die Aufzeichnungen zu blicken, doch blickte stattdessen auf einen Teller mit belegten Broten. „Was…“ begann sie und hob den Blick. „Essen.“ erklärte Lestat und nickte ihr zu. „Du musst essen, Catherine.“ „Das ist viel zu viel!“ beschwerte sich Catherine, doch musste lächeln, da er ihr etwas gebracht hatte und sich scheinbar nicht davon abbringen ließ, dass sie hungrig war. „Dann teilst du es mit Lea, aber iss!“ meinte er, küsste sie kurz und setzte sich neben sie. Catherine nickte, stellte den Teller zwischen sich und Lea und nahm ein Käsebrot. Lea griff ebenfalls zu und begann, die beiden Vampire in ihre Arbeit einzuweihen. Danach fasste Catherine kurz zusammen, was sie gemacht hatte, damit sie weitermachen konnten. „Ja, und ich muss mir jetzt noch Gedanken darüber machen, was ich in Catherines Kopf gesehen habe. Dann können wir nur noch auf David und die anderen warten.“ meinte Lea nach einer Weile und Louis nickte. „Das ist sehr gut. Dann ruhst du dich bis dahin aus, Catherine. Du bist wirklich sehr blass.“ meinte Lestat und Catherine wollte widersprechen, doch ließ es dann doch bleiben, und folgte ihm langsam aus der Bibliothek hinaus in den Salon. Die restlichen Stunden bis Mitternacht vergingen schnell. Catherine lag gebettet in Lestats Schoß auf der Couch und genoss seine Finger, die immer wieder zärtlich über ihren Haaransatz und ihre Stirn streichelten. Die Uhr schlug Mitternacht, doch David war noch nicht da. „Keine Sorge, ich spüre, wenn er in der Nähe ist.“ flüsterte er und beugte sich über sie. „Ich kann es kaum erwarten.“ „Ich weiß.“ grinste er. „Dein Herz schlägt viel schneller als gewöhnlich.“ erklärte er auf ihren fragenden Blick. Catherine lächelte und schloss die Augen. Ihre Finger verwoben sich mit seinen. „Geht es dir wirklich gut, ma cherie?“ „Ja, Lestat. Glaub’ mir, dass alles in Ordnung ist.“ entgegnete Catherine und blickte in seine Augen. „Es ist nur… Du hast beinahe unsere Farbe. Ich mache mir wirklich Sorgen.“ „Das ist nicht nötig. Ich war schon immer eher blass. Vielleicht habe ich in der letzten Zeit nicht so recht auf meinen Körper geachtet und bin etwas erschöpft, aber ich fühle mich nicht so.“ „Hm.“ „Wo wir gerade dabei sind… Du bist kalt. Wann hast du das letzte Mal getrunken?“ „Vor einer Weile.“ „Solltest du nicht…“ begann Catherine, doch brach ihren Satz ab, als er nickte. „Ja, ich sollte, aber ich will nicht.“ „Wie meinst du das?“ „Ich will … kein anderes Blut als deines.“ flüsterte er und Catherine richtete sich auf, um ihm auf gleicher Höhe ins Gesicht blicken zu können. „Ich dachte, das wird niemals geschehen?“ fragte sie leise. „Ja… Ich muss mich eben damit abfinden, dass ich anderes nehmen muss, aber dazu bin ich noch nicht durstig genug.“ Catherine musterte Lestat, dessen Augen an ihrem Halsansatz hafteten und schließlich langsam die Linie ihres Hals bis zu ihrem Kieferansatz verfolgten. Sie schluckte. „Ist das nicht gefährlich?“ „Ich habe mich unter Kontrolle.“ „Ich denke trotzdem nicht, dass es gut ist, wenn… Lestat, wenn du durstig bist und doch einmal die Kontrolle verlierst und ich dann in deiner Nähe bin… Ist es nicht umso gefährlicher, wenn du durstig von mir trinkst?“ „Ich werde nicht von dir trinken.“ meinte er fest, doch nicht so sicher wie sonst, und hob seine Augen wieder auf ihr Gesicht. Catherine nickte und strich ihm über die Wange, doch bevor sie etwas Weiteres sagen konnte, meinte er: „David und Marius sind da. Armand ist ebenfalls in der Nähe. Wir sollten zurück in die Bibliothek gehen.“ Mit geschmeidigen Bewegungen erhob er sich und reichte Catherine seine Hand, um ihr aufzuhelfen. Seine Haut war wirklich sehr kalt geworden und Catherine vermutete, dass er bald trinken musste. Es war doch sicher auch nicht gut für ihn, wenn er das, was ihn am Leben erhielt, so lange verweigerte. Gemeinsam betraten sie die Bibliothek, doch Lestat entließ Catherines Hand wieder, bevor sie in Sichtweite der Anwesenden kamen. Catherine blickte Lestat kurz von der Seite an, wandte dann den Blick wieder nach vorne und begegnete Leas und Louis’ Blick. Marius stand etwas abseits, während David schon über die Unterlagen gebeugt war und erst aufblickte, als Armand die Bibliothek über eine Tür, die zum Garten hinaus lag, betrat. „Catherine, das ist überaus interessant, aber noch ziemlich unausgereift.“ meinte David und Catherine nickte. „Ja, ich habe erst angefangen.“ entgegnete sie und wunderte sich etwas darüber, dass er nicht einmal Lestat richtig begrüßte. „David, du hast gesagt, du hast die Übersetzung der Runen.“ mischte sich Lestat ein und beäugte seinen Freund mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. „Ja, Runen, Umschrift, Altenglisch und modernes Englisch. Französisch habe ich mir erspart… das brauchen wir nicht, oder?“ vergewisserte sich David und blickte kurz auf, um ein Nicken als Zustimmung zu sehen. „Du bist blass, Catherine.“ meinte er und wandte sich dann wieder den Aufzeichnungen zu, die Catherine als letztes gemacht hatte. „Es geht mir gut, David…“ Ihr Blick wanderte zu Marius, der sie ebenfalls musterte und dessen Augen ihr verrieten, dass er das genauso sah. „Wirklich.“ fügte sie deshalb hinzu und zog eine Augenbraue hoch. „Die Runen, David. Können wir beginnen?“ fragte sie ungeduldig, um das Thema zu wechseln. Was interessierte bitte jetzt die Blässe ihrer Haut – wobei sie sich wirklich nicht schlecht fühlte? Es war etwas seltsam, dass David von anderen Unsterblichen zurückkehrte, und nicht einmal ein Wort von ihnen an die anderen überbrachte, fand Catherine, doch sah ein, dass sie nicht wusste, wie das Verhältnis zwischen Maharet und Lestat war. Vielleicht war das auch nicht üblich… Auch das interessierte sie im Moment nicht sehr. Die Runen waren da. David, Marius und Armand waren ebenfalls wieder in der Villa und der Kreis schien wiedervereinigt und vollständig. Wie mochte es mit ihnen allen weitergehen? „Sollten wir nicht lieber damit beginnen? Die Runen sind nicht…“ meinte David, doch Catherine schüttelte vehement den Kopf. „Die Runen. Wir suchen schon so lange nach Antworten, die sie uns liefern können. Das dort auf dem Tisch eröffnet uns nur neue.“ fand Catherine, und David war einverstanden. „Es handelt sich um ein Gedicht, das alledings heute kaum mehr jemand kennt. Offiziell ist der Verfasser unbekannt, doch habe ich herausgefunden, dass es bei den Hexen von Thirlestane Castle lange Zeit bewahrt wurde, ehe man es auch dort vergessen hat – warum auch immer.“ begann David. „Warum auch immer man es bewahrt hat oder warum auch immer man es vergessen hat?“ fragte Lestat dazwischen und erreichte so, dass David ihn das erste Mal seit seiner Ankunft direkt anblickte. „Vergessen. Bewahrt wurde es, da die Verfasserin aus dem Kreis der Hexen stammte. Ihr Name war Morair.“ „Morair. Margaret Barcley.“ meinte Lea und klärte die verwirrten Anwesenden in knappen Worten darüber auf, dass beide dieselbe Person waren. „Ah, gut, dann wäre das nun auch geklärt, warum Thirlestane Castle… Ah, ja. Sehr gut.” meinte David und machte sich eine Randnotiz auf eines seiner Blätter. „Was hat sie in ihrem Gedicht beschrieben?“ fragte Armand und nahm Catherine somit die Frage ab, die ihr auf der Zunge brannte. „Heo naefre wacode daegred to bisig mid daegeweorcum. Ac oft heo wacode sunnanwanung thonne nihtciele creap geond moras and on thaere hwile heo draeg tha losinga earla thinga the heo forleas. Heo swa oft dreag hire swale sincende. Heo ne cuthe hire heortan lust.” meinte Marius mit leiser und rauer Stimme und Catherine stockte der Atem. Sie kannte die Worte. Die Worte am Anfang waren ihr schon in ihrem Traum begegnet, doch auch der Rest kam ihr nicht unbekannt vor. Als sie auf Thirlestane Castle die Runen vor sich hatte, hatten einzelne Worte gestimmt, doch nicht alles. Diese Version war vollständig in altenglischer Sprache. „Und in modernem Englisch? Wie heißt es da?” fragte Catherine mit zitternder Stimme. „She never watched the morning rising, too busy with the day’s first chores. But often she would watch the sun’s fading as the cold of night crept across the moors. And in that moment she felt the loss of everything that had been missed. She used to feel the spirit sink. She had not felt her own heart’s wish.” entgegnete nun David, doch Catherine schüttelte leicht den Kopf. Kapitel 89: Der Gründer der Familie ----------------------------------- Der Gründer der Familie „Nicht?“ fragte David irritiert. „Doch, entschuldige! Ich bezog mich nicht auf die Übersetzung, sondern auf etwas, das ich inzwischen wieder geträumt habe. Es ist ähnlich, aber nicht identisch.“ erklärte sie und wiederholte den Liedtext ihres Traumes, an den sie sich beinahe noch ohne Schwierigkeiten erinnerte. „Du hast auf Französisch geträumt?“ fragte Lestat. „Es könnte sein, dass die Veränderungen daher kommen. Oder es ist eine jüngere, ausführlichere Version. Was meinst du David?“ Catherine ließ David überhaupt nicht zu Wort kommen, sondern meinte: „Ja, ich denke, wir können die Abweichungen alle außer Acht lassen. Die Botschaft bleibt doch dieselbe, oder? Ob sie den Herzenswunsch nicht erkennt oder nie wissen durfte… Tatsache ist, sie vermisste etwas.“ „Ist es nicht schlimmer, etwas zu kennen, es aber nicht zu bekommen, als überhaupt nicht darum zu wissen?“ warf Louis ein und alle Augen wanderten in seine Richtung. Lea nickte nachdenklich und auch Catherine stimmte ihm zu. Die anderen blickten ihn nur an und warteten darauf, dass er vielleicht weitersprach, doch Louis blieb stumm. „Wie auch immer…“ murmelte Catherine, um nicht unnötig auf Details einzugehen. „Gibt es so etwas wie einen Titel zu diesem Gedicht? Wenn ja, sagt er etwas aus?“ fragte sie weiter und suchte wieder Davids Blick. „Einen Titel gibt es…“ begann er, doch brach ab, als Catherine ihm auffordernd zunickte. „Und?“ forderte Lestat ihn nun auf, weiterzusprechen. „Er ist nicht gesichert… Ich meine, er ist schon gesichert, aber er scheint nicht… Er scheint etwas jünger zu sein als das Gedicht. Zumindest haben wir ihn erst ab einer späteren Zeit überliefert.“ erklärte er, doch Catherine sah darin nicht unbedingt ein Problem. „Wie viel später?“ fragte sie. „Vielleicht fünfzehn bis zwanzig Jahre.“ „Das ist ja kaum etwas.“ meinte Marius, doch David schüttelte den Kopf. „Es gefällt mir nicht. Wer hat den Titel erstmals genannt?“ „Die Verfasserin. Sie hat ihn nur nicht niedergeschrieben.“ mutmaßte Catherine und begegnete Lestats Blick. „Weißt du das? Hattest du heute noch eine Vision?“ wollte er beinahe besorgt wissen. „Nein, nein, aber… Wer sollte es sonst gewesen sein? Man schreibt kein Gedicht, das keinen Titel hat – selbst wenn man nur eine Notiz macht. Dieses Gedicht ist überdacht und ich wette, dass es schon immer einen Titel hatte.“ entgegnete Catherine. „Ist das nicht gleichgültig? Ich meine, was sind schon fünfzehn oder zwanzig Jahre. Wir haben einen Titel. Darauf kommt es doch an, oder nicht?“ meldete sich Lea nun zu Wort. „Ja, so kann man es sehen…“ begann Louis, doch Marius unterbrach ihn: „Was David zu sagen versucht, ist etwas anderes. Jemand kann diesen Titel auch gewählt haben, weil für ihn mit dem Gedicht etwas Bestimmtes in Verbindung stand.“ Catherine zog eine Augenbraue hoch, nickte aber nachdenklich. „So wie ein Verwandter oder Bekannter? Von Margaret Barcley beziehungsweise Morair, meine ich.“ fragte Lea. „Ein jüngerer Zeitgenosse. Ein Verwandter, ja das ist möglich.“ murmelte Catherine und schloss für einen Augenblick die Augen. „George.“ meinte sie plötzlich und bemerkte erst danach, dass Lestat im selben Moment genau dasselbe gesagt hatte. David blickte die beiden überrascht an und schüttelte dann langsam den Kopf, bis Catherine erklärte: „George war das jüngste Kind und der einzige Sohn von Margaret Barcley. Ich habe ihn in einer meiner…“ „… Visionen gesehen. Das dachte ich mir beinahe.“ ergänzte David und sah nicht weniger unglücklich aus. „Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen?“ fragte Catherine, der Davids Laune zunehmend auf die Nerven ging. Erst begrüßte er niemanden richtig, dann wollte er eher an den neuen Erkenntnissen arbeiten als an der Übersetzung, die er jetzt doch hatte, und jetzt rückte er nicht richtig mit der Sprache heraus. Welche Verbindung sah David oder sah er überhaupt keine? Catherine fand sein Verhalten seltsam, doch zwang sich zur Ruhe. „Er ist unzufrieden mit den Ergebnissen.“ raunte Lestat ihr zu. „Ich habe seine schlechte Laune inzwischen durchschaut.“ erklärte er Catherine. „Wieso denn? Ich meine… Wir haben so lange auf die Übersetzung gewartet. Nun haben wir sie. Wenn es uns sonst nichts bringt, dann wissen wir jetzt zumindest, dass es uns nichts bringt.“ meinte Catherine und Lestat meinte: „Ja, aber sag’ das ihm! Er ist, denke ich, mit so viel Hoffnung zurückgekommen, und jetzt bringen Lea und du immer noch neue Erkenntnisse, die er nicht hatte. Ich denke, das versteht er nicht.“ „Er ist übrigens anwesend.“ erinnerte David und Lestat blickte ihn an. „Habe ich Recht mit meiner Vermutung?“ fragte er und David nickte. „Ich bin tatsächlich unzufrieden mit den Ergebnissen.“ gab er zu und blickte in die Runde. „Ich verstehe nicht, was uns das Gedicht bringt.“ „Wir wissen, dass es von Margaret Barcley verfasst wurde. Margaret Barcley war nach unseren Vermutungen wichtig für einen Hexenzirkel in Schottland – Crossbost könnte eine Art Versammlungsort gewesen sein. Deshalb wurden die Runen dort eingraviert. Vermutlich ist das nach ihrem Tod geschehen und in Anklang daran, dass Morair zurückkehren sollte, um sich zu rächen – wofür wissen wir noch nicht.“ entgegnete Catherine und fuhr fort: „Der Titel, David.“ „Der Titel schließt den Kreis, Catherine. Der Kreis, der für Margaret Barcleys Familie von Frankreich nach Schottland und wieder zurück nach Frankreich führt, wird durch den Titel geschlossen.“ „Inwiefern? Wir wussten, dass ich mit ihr verwandt bin… Gut, wir haben es bisher nur wirklich annehmen können. Margarets Mutter war Marguerite de Valois, die nach Schottland auswanderte. Meine Familie ist aber in Frankreich. Schon deshalb ist es doch klar, dass irgendjemand dann wieder zurück nach Frankreich ist.“ „Jetzt haben wir aber Sicherheit. Der Titel lautet ‚Desire for Time’“ „Der Herzenswunsch ist die Sehnsucht nach Zeit?“ fragte Lestat und Catherine nickte. „Es sieht so aus.“ stimmte David zu. „Der Titel stammt also von George, meint ihr?“ fragte er und machte sich noch eine Notiz an den Rand des Blattes. „Und wie schließt der Titel jetzt den Kreis?“ wollte Catherine wissen, doch hob die Hand, da sie selbst weitersprechen wollte: „Warte! Sehnsucht nach Zeit… Lestat, meinst du, das sagt etwas über die Tatsache… Vermutung aus, dass Margaret von einem Vampir gebissen oder gewandelt wurde?“ „Eine Wandlung ist unmöglich, Catherine. Sie hätte sich niemals verbrennen lassen. Außerdem war es bei ihrer Hinrichtung Tag – nach deinen Schilderungen.“ erinnerte Lestat. „Ja, aber ich…“ „Moment mal! Was für ein Vampir? Lestat?“ mischte sich Marius ein und auch Armand trat einige Schritte auf den Tisch zu. „Später.“ bat er und forderte David auf, endlich alles zu erzählen, was er herausgefunden hatte. „Desire for Time. Oder auf Altenglisch ‚Duraig uine’. Sprich es Französisch aus und was erhältst du? Mit etwas Phantasie natürlich.“ „Duraig uine. Düraiuän… Du… Ravin!“ flüsterte Catherine und blickte von David zu Marius und dann zu Armand, Louis, Lea und schließlich Lestat. „Du Ravin.“ „Ja, wenn das kein endgültiger Beweis ist, dass es eine Verwandtschaft gibt.“ meinte Lea. „Das habe ich nicht einmal mehr bezweifelt. Wie könnte ich?“ fragte Catherine und schüttelte leicht den Kopf. „George kam also nach Frankreich zurück und hat sich über den Titel des Gedichtes definiert, dass daraus ein Name wurde? Ist das möglich, David?“ „Es ist die einzige Erklärung. Was mich nur verwundert, ist das Warum.“ gab er zu und Catherine bemerkte, dass Marius Lestat musterte, seit das Gespräch auf den unbekannten Vampir gekommen war. „Das Gedicht bedeutete ihm viel.“ vermutete Catherine leise und nachdenklich. „Lestat, wie alt war George, als seine Mutter hingerichtet wurde?“ „Ungefähr sieben Jahre.“ „Das heißt, er hat schon alles mitbekommen. Den Prozess und die Hinrichtung. Doch warum hat er sich dazu entschieden, nach Paris zu gehen?“ „Die gesamte Familie scheint aus Schottland verschwunden zu sein. Das haben wir doch schon einmal bemerkt. Sie verschwinden in Schottland und einer taucht in Frankreich wieder auf, wo er schnell zu Ansehen und Reichtum gekommen ist. Er erhielt Adelstitel und Vergünstigungen und lebte bald, als sei nichts geschehen.“ meinte Marius und Catherine nickte. „Genau das macht mich stutzig. George war immerhin Ausländer und noch dazu der Enkel einer Königstochter, die man wegen ihres unmoralischen Verhaltens nicht mehr in Frankreich wollte.“ entgegnete Catherine und blickte auf die Wand im hinteren Teil der Bibliothek, hinter der die wichtigsten und geheimsten Bücher aufbewahrt wurden, die man zur Recherche brauchen konnte. „Wir bräuchten die Chronik, oder?“ fragte David. „Ja, aber die vollständigste, die es gibt.“ stimmte Catherine zu und blickte zu Lestat. „Wo ist diese Chronik, von der du sprichst?“ fragte Marius und Catherine schüttelte den Kopf. Sie erinnerte sich, dass ihr Vater einmal für längere Zeit einem Ältesten der Bruderschaft ein dickes Buch gegeben hatte und später zurückerhalten hatte, doch soweit sie wusste, handelte es sich dabei nicht um die Chronik. Soweit sie wusste! Das war wirklich gut. Sie hatte auch geglaubt, die Chronik sei verloren, doch hatte dann ein Exemplar auf Thirlestane Castle entdeckt, was durchaus Sinn gab, wenn sie annahm, dass Elizabeth stets mehr gewusst oder angenommen hatte, als sie gesagt hatte. Langsam erhob sich Catherine und ging auf die holzvertäfelte Wand zu. Vielleicht waren ihre Gedanken nicht so abwegig, doch die Blicke der anderen in ihrem Rücken ließen sie nervös werden. Mit zitternden Händen schob sie mehrere der quergelegten, dünnen Holzplättchen zur Seite und löste damit einen Mechanismus aus, der eine Tür in der Wand öffnete und den Blick in einen dunklen Raum freigab. „Was ist das?“ fragte Lea und David eilte an Catherines Seite. Kapitel 90: Das Buch der Vergangenheit -------------------------------------- Das Buch der Vergangenheit Catherine tastete stumm nach dem Lichtschalter auf der linken Seite und warmes Licht flutete den sich anschließenden Raum, wobei er trotzdem den Eindruck einer Mischung zwischen kleiner Lagerhalle und Krankenzimmer erweckte. Rechts waren drei Regale mit Büchern, die man unmöglich in der recht zugänglichen Bibliothek aufbewahren konnte, während links kleine Schränke mit Verbandszeug, Medikamenten und Erste-Hilfe-Artikel und eine medizinische Liege standen. Im hinteren Bereich befanden sich Schusswaffen und Munition, sowie allerhand Stichwaffen, die schon seit Monaten nicht mehr genutzt worden waren. „Catherine?“ fragte David neben ihr und blickte sie fragend an. Catherine blieb stumm, ging langsam in den Raum hinein und schloss für einen Moment die Augen. Hinten bei den Waffen hatte sie sich immer vorbereitet, ihre Waffen kontrolliert und ausgewählt. Normalität von damals und doch kam es ihr heute so weit weg vor. Vielleicht würde sie wieder kämpfen müssen, doch sie bezweifelte, dass Lestat das zulassen würde. Er war um so vieles stärker als sie und schon deshalb würde er sie bestimmt auch aus ihrem eigenen Kampf heraushalten. Doch das konnte sie nicht mit Sicherheit wissen. „Das ist… Du siehst es doch! Bibliothek, Waffenarsenal und Notaufnahme in einem.“ erklärte Catherine und ging zum hinteren Bücherregal durch. „Und was suchst du?“ „Das weiß ich noch nicht. Doch, ich weiß es schon, aber ich weiß nicht, ob ich es hier finde.“ gab sie nur zurück und Lea schloss zu ihr auf. „Die Chronik?“ fragte sie scharfsinnig, worauf Catherine nickte. „Sie könnte trotz allen vorhergehenden Annahmen hier sein. Sie könnte… meine Familie könnte sie doch noch besessen haben, doch ihre Existenz geheim gehalten haben.“ „Alles ist möglich, nicht wahr?“ lächelte Lea. „Wir verlieren zumindest nichts, wenn wir sicher gehen…“ begann Catherine, doch wollte sich dann nicht weiter erklären. Es leuchtete ihr ja selbst kaum ein, warum sie sich so sicher war. Es konnte sein, das wusste sie, und deshalb ging sie ihrer Intuition nach. Langsam fuhren ihre Fingerspitzen über einige Buchrücken und hielten schließlich inne, als sie mit den Augen, die schon etwas weiter waren, das Wappen ihrer Familie entdeckte. „Oh, mein Gott.“ murmelte sie kaum hörbar und im nächsten Augenblick stand Lestat neben ihr und blickte sie besorgt und fragend an. Catherine schüttelte stumm den Kopf und streckte ihre Hand nach dem Buchrücken aus. „Das ist sie.“ flüsterte sie und räusperte sich, damit sie weitersprechen konnte. „Das ist die Chronik. Die …“ Catherine zog das dicke, schwere Buch aus dem Regal und betrachtete den Buchdeckel. „Die, die wir brauchen, denke ich.“ fuhr sie fort und strich vorsichtig über das Leder und das Wappenemblem, das auf der Vorderseite wiederholt wurde. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“ meinte Lea, machte kehrt und ging zurück zum Tisch. Catherine zögerte, schlang ihre Arme um das Buch und presste es gegen sich. Ihre Familie war in diesem Buch verewigt, auch wenn diese Familie überhaupt nicht mehr existierte. Eine Familie auf Pergament gebannt – dutzende von Leben und Schicksalen aufgelistet in einem Buch, in dem so die Vergangenheit festgehalten wurde. Konnte sie auch einen Hinweis auf die Zukunft geben, die in diesem speziellen Fall nicht zufällig war? Bedeutete die Tatsache, dass die Chronik noch hier war, dass sie viel früher hätte zurückkommen sollen? Bedeutete sie, dass ihre Eltern stets gewusst hatten… nein, bedeutete es vielleicht, dass es gar nicht so ein großes Geheimnis – was wusste die Bruderschaft über ihre Familie, das Catherine selbst nicht wusste? Sanft legte sich eine liebevolle Hand auf ihre Schulter und Catherine blickte auf. Lestat legte den Kopf leicht schief und wartete darauf, dass Catherine zum Tisch zurückkehrte, damit die Recherchen weitergehen konnten. „Mir ist nicht wohl dabei.“ flüsterte sie. „Wobei?“ „Die Chronik war die gesamte Zeit hier. Mein Vater hatte sie einem Ältesten der Bruderschaft ausgeliehen, aber zurückerhalten. Weshalb hat er sie ausgeliehen? Weshalb hat er sie zurückerhalten? Wieviel weiß die Bruderschaft? Wieviel Zeit haben wir noch? Was wird geschehen? Wer…“ „Shh, Catherine, shh! Darum kümmern wir uns doch.“ „Entschuldige. Ich mutiere zum psychologischen Härtefall.“ „Hast du nicht angefangen Psychologie zu studieren? Du könntest dich selbst therapieren.“ schlug Lestat vor und Catherine schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich habe weder mein Studium abgeschlossen, noch könnte ich das selbst tun.“ meinte sie. „Komm’, ma cherie. Ich kümmere mich auch um dich und übernehme die Verantwortung, wenn du unzurechnungsfähig wirst.“ meinte er leise und wies mit seiner Hand zum Mittelgang, um ihr zu bedeuten, dass sie weitermachen sollten. Catherine nickte bei sich und presste das Buch enger an sich, ehe sie es an ihre Lippen hob und sie sanft auf das Leder drückte. „Gut.“ murmelte sie leise und ging an ihm vorbei, wobei sie spürte, dass er ihr seinen Arm um die Hüfte legte und sie zurück zum Tisch führte, ohne sie loszulassen. Verwundert blickte sie ihn an, doch Lestat hatte seinen Blick auf Marius gerichtet, der sie und ihn flüchtig musterte, dann kurz nickte und dann weiter dem Gespräch folgte, das David mit Armand führte. Catherine setzte sich wieder an ihren Platz und legte das schwere Buch vor sich auf den Tisch. Zögerlich öffnete sie es und blätterte darin über die vielen Seiten hinweg, die den Stammbaum der Familie aufzeigten, nachdem sie sich versichert hatte, dass diese Chronik 1587 mit der Geburt von Margaret Barcley begann und auf Marguerite de Valois als ihre Mutter verwiesen wurde. Es war die richtige Chronik. Die einzige, die ihnen weiterhelfen konnte, wenn das momentan überhaupt ein Buch vermochte. Lestat blickte ihr über die Schultern und lauschte dem Gespräch zwischen Armand und David nur mit einem Ohr, da es immer noch um den Titel und seine Bedeutung ging – nun aber nicht mit der Fragestellung ‚Warum hat George den Titel eines Gedichts als Name gewählt?’, sondern ‚Worum geht es eigentlich in dem gesamten Gedicht und was für eine Bedeutung kann ein solches Gedicht für den Hexenzirkel gehabt haben?’. Solche Ansätze brachten die Recherchen nicht unbedingt voran, doch er wollte ihnen ihre Diskussion lassen. Vielleicht stießen sie ja doch auf etwas Interessantes, das dann allerdings wieder rein hypothetischer Natur sein würde. Inzwischen war Catherine bei der Gegenwart angekommen und stellte fest, dass die Affaire zwischen Vincent du Ravin und Elizabeth Abbotsford in der Chronik festgehalten wurde, da Charlotte Abbotsford – Elatha – als Kind der beiden verzeichnet war und auch Lea einen Platz im Stammbaum erhalten hatte. „Sie haben es gewusst?“ fragte Lestat verwundert und Catherine nickte. „Ich möchte nicht wissen, wie es meiner Großmutter dabei gegangen ist.“ murmelte sie und empfand Mitleid mit ihrer Großmutter, die so einen Verrat und so eine Enttäuschung wahrlich nicht verdient hatte – doch wer hatte das schon? „Charlotte war die erste weibliche Nachfahrin von George. In der Linie gab es bis dahin nur Männer, sonst hätte sich der Namen auch nicht erhalten.“ meinte Lestat. „Wieso ist ihr das Ganze dann nicht passiert, was mir passiert, wenn du das schon so betonst?“ fragte Catherine und Lestat überlegte kurz. „Du bist allerdings die erste weibliche Nachfahrin der direkten Linie, deine Eltern waren rechtmäßig verheiratet und du bist genau vierhundert Jahre nach Margaret Barcley selbst geboren. Vielleicht ist das der Grund.“ „Kein sehr guter Grund, um ein Leben auf den Kopf zu stellen.“ murmelte Catherine, nickte aber und hob den Blick. Lestat lächelte sie an und schüttelte den Kopf, dann wandte er sich wieder der Chronik zu. Catherine blätterte weiter. „Was ist das nun?“ fragte Lestat und beugte sich ein Stück weiter nach vorne. „Wenn man es mordern ausdrücken würde, könnte man das wohl als Rekrutierungsunterlagen bezeichnen.“ erklärte Catherine und überflog die Zeilen vor sich, die den Inhalt der nächsten Seiten angaben. „Sie sind chronologisch geordnet und geben stichwortartig die wichtigsten Etappen im Dienst der Bruderschaft wieder… Hm, Rekrutierung oder Berufung, wie es bei der Bruderschaft heißt, Vereidigung, Unterricht und Training, Missionen, Positionen innerhalb der Bruderschaft und Beförderungen und so weiter. … Hier sind noch Vermerke für besondere Dienste oder Fähigkeiten.“ meinte Catherine und blickte wieder auf. Armand und David hatten ihr Gespräch beendet, doch schienen zu keinem besonders bahnbrechenden Ergebnis gekommen zu sein, und hörten nun still zu. „Das hat bisher gefehlt, nicht wahr?“ fragte Lea. „In der anderen Chronik, die du in der Hand hattest, meine ich.“ „Ja, aber das ist logisch. Das hier sind Informationen, die die Bruderschaft betreffen. Da Elatha und du zwar vom Blut her mit dieser Familie verbunden seid, aber nicht in der Bruderschaft, werden diese Informationen natürlich nicht weitergegeben. Es ist schon verwunderlich, dass es auf Thirlestane Castle überhaupt eine Chronik gab, denn normalerweise sind Chroniken den Mitgliedern der Bruderschaft vorbehalten. Egal, das soll uns jetzt nicht weiter aufhalten.“ „Wann trat deine Familie in den Dienst der Bruderschaft?“ fragte Marius, um die Recherche voranzutreiben. „Soweit ich weiß im 18. Jahrhundert, doch nach der Chronik… Moment, bitte!“ entgegnete Catherine und blätterte einige Seiten vor, die nicht beschrieben waren, und wieder zurück und wieder vor, bis sie die erste Eintragung fand. „Nach der Chronik war der Beginn des Dienstes tatsächlich 1714.“ „Hast du etwas anderes erwartet?“ „Ja, ich dachte, es stimmt wieder nicht, was man Lucien und mir immer erzählt hat.“ gab Catherine zu und zog die Augenbrauen hoch. „Das hier ist allerdings seltsam.“ fuhr sie fort. Kapitel 91: Unter wachsamen Augen --------------------------------- Unter wachsamen Augen „Spann’ uns sich so auf die Folter!“ bat Lea und rutschte auf ihrem Stuhl etwas nach vorne, um einen besseren Einblick in das Buch zu haben. „Es sind Seiten freigelassen worden, die man nachträglich mit Rekrutierungsangaben hätte füllen können.“ meinte sie und gab zu: „Das verstehe ich nicht.“ David nickte und schüttelte dann den Kopf, als könne er auch nichts damit anfangen. Catherine kniff die Augen zusammen und fixierte die erste Textzeile der ersten Seite, die allerdings wie die gesamte Seite nicht mit irgendeinem Schriftzug versehen war. Leere Seiten. Leere Seiten bis zum Jahr 1714, als dann ein gewisser Charles du Ravin in den Dienst der Bruderschaft berufen wurde. Nachdenklich legte Catherine den Kopf schief und blickte über die Tischplatte zu Armand, der ihr direkt gegenüber an dem runden Tisch saß. Langsam drehte er mit seiner linken Hand am dunkelgrünen und beigefarbenen Schirm der Lampe, die nur zur Dekoration in der Mitte des Tisches stand, da ihr Licht bei weitem nicht ausreichte. Heller. Dunkler. Catherine schaute zu Marius und David, die nur vor sich hinblickten, und lehnte sich leicht zurück und gegen Lestats Schulter, der immer noch hinter ihr stand und etwas nach vorne geneigt war. Heller. Dunkler. Heller. Ihr Blick wanderte weiter zu Louis und Lea, die nebeneinander saßen und sich leise unterhielten, doch worum es ging, konnte Catherine nicht verstehen. Dunkler. Heller. Dunkler. Heller. Sie drehten sich bei der Recherche im Kreis, bemerkte Catherine, lehnte sich wieder nach vorne und stützte sich auf die Ellenbogen, sodass das Papier der Chronik näher und in einem anderen Winkel in ihr Blickfeld wanderte. Dunkler. Heller. Dunkler… „Stopp! Mach’ das noch einmal!“ rief Catherine plötzlich und blickte Armand an. „Wie bitte?“ „Drehen! Noch einmal drehen!“ meinte Catherine und blickte wieder auf das Buch vor sich. Armand drehte den Lampenschirm noch einmal um seine Achse und wartete auf Catherines Reaktion, doch bekam nur ein Kopfschütteln. „Langsamer!“ bat Catherine und nickte immer wieder, während Armand langsam den Lampenschirm drehte, um ihm zu bedeuten, weiterzudrehen. „Ich komme mir irgendwie bescheuert vor.“ meinte er und Lestat nickte. „Und du siehst dich noch nicht einmal selbst.“ murmelte er leise, doch Armand hörte es. „Halt!“ rief Catherine plötzlich, doch schüttelte gleich darauf den Kopf. „Etwas zurück! … Ja, Stopp!“ Armand nahm seine Finger vom Lampenschirm und warf Lestat nun einen vernichtenden Blick zu, der ihn nur angrinste, sich dann etwas weiter über Catherine beugte und versuchte, ihr über die Schulter zu sehen. Catherine hielt ihr Gesicht dicht über der Seite und legte den Kopf schief. „Kannst du uns verraten, was du machst?“ fragte David und fügte hinzu: „Ich würde ja sagen, du schnüffelst an der Seite, aber dazu hättest du kein bestimmtes Licht gebraucht.“ Catherine lachte leise, schüttelte wieder den Kopf und meinte dann: „Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Warte noch kurz.“ Während Catherine das Buch noch etwas hin - und herschob, immer wieder den Kopf schräg legte, sodass ihre Augen beinahe über das Profil des Papiers sahen, betrachteten die Anwesenden sie neugierig. „Da! Hier stand einmal etwas!“ verkündete sie und kniff die Augen zusammen. „Du meinst, da stand vorher etwas auf dieser leeren Seite? Wie soll das gehen?“ fragte Lea und zog eine Augenbraue hoch. „Das ist Pergament. Tinte oder Tusche kann man von gutem Pergament beinahe vollständig entfernen, indem man sie in trockenem Zustand mit einer scharfen Klinge abkratzt. Um erneut darauf zu schreiben, muss die Oberfläche allerdings noch einmal geglättet werden, doch das wurde hier nicht gut gemacht. Unter diesem bestimmten Einfall des nicht ganz so hellen Lichtes kann man Spuren der ehemaligen Schrift erkennen, aber…“ Catherine brach ab und blickte in die Rune. „… ich denke, wir würden noch mehr sehen, wenn wir das gesamte Licht löschen und die Seite nur so von der Seite beleuchten.“ Lestat löste sich sofort von ihrer Seite und ging zum Lichtschalter neben der Tür, legte ihn um und kam wieder zurück zum Tisch. Catherine schob die Chronik etwas näher an die Tischlampe, erhob sich und beugte sich weit über den Tisch, sodass sie die Chronik wieder schräg im Blick hatte. „Und?“ fragte David, dessen Finger danach brannten, selbst die Chronik an sich zu reißen und zu untersuchen, doch einsah, dass das sehr unhöflich war. „Es ist besser – deutlicher, aber… Hm, was ich erkennen kann sind lateinische Worte.“ „Das ist schon einmal etwas. Kannst du sie in ihrem Zusammenhang lesen?“ fragte Marius und Catherine nickte, bevor sie mit wenigen Lücken den kurzen, lateinischen Text vorlas. „Hier und da gibt es Lücken.“ erklärte Catherine, doch das schien niemanden zu stören. „Das ist sehr interessant.“ meinte Marius und drehte sich ein wenig in Lestats Richtung. „Da bin ich mir sicher, aber…“ begann Lea und blickte zu Louis, dann zu Catherine, bevor sie weitersprach. „… könnte mir jemand auf die Sprünge helfen? Latein war mir auch in der Schule immer ein kleines Rätsel – und wenn ich einen lateinischen Text vorgelesen bekomme, verstehe ich nicht allzu viel.“ „Entschuldige, Lea. Eine freiere Übersetzung wäre: Nach Erfüllung seiner Pflicht der Bruderschaft gegenüber verbürgte sich Inquisitor Inières für die Unschuld des Kindes George. Deshalb begnügte sich die Bruderschaft in Übereinkunft mit allen Rittern von Rang und Bedeutung damit, den Jungen aus dem Verborgenen zu beobachten, bis die Zeit für ihn reif sei, zum Ritter der Bruderschaft ernannt zu werden, und ihm ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Er trug im Erwachsenenalter den selbstgewählten Namen du Ravin und wurde in den Adelsstand erhoben.“ „Die Bruderschaft beobachtete George? Und wollte, dass er Ritter wird?“ fragte Lea noch einmal nach, worauf Catherine nickte. „Es scheint allerdings nie dazu gekommen zu sein. Vielleicht wurde er immer als nicht vertrauenswürdig angesehen – doch warum?“ entgegnete Catherine, blickte zu Marius, der über etwas nachzudenken schien, und blätterte die anderen leeren Seiten durch. „Hier stehen ebenfalls Anmerkungen: Namen von fünf Generationen, für die eine Aufnahme in die Bruderschaft möglich gewesen wäre, doch nie durchgeführt wurde. Beobachtet wurden auch sie ihr gesamtes Leben hindurch.“ meinte sie und blickte wieder zu Marius, dessen Miene sich nicht verändert hatte. „Dieser Inquisitor Inières…“ meinte Marius schließlich, als er Catherines Blick bemerkte. „Sagt dir der Name etwas?“ Catherine schüttelte unwissend den Kopf und blickte ihn fragend an. „Sagt er dir etwas, Marius? Oder sonst jemandem hier?“ fügte sie hinzu und Marius nickte. „Der Inquisitor Inières trug vor seinem Dienst für die heilige katholische Kirche den Namen Auguste Boniface de La Môle.“ erklärte Marius, was Catherine immer noch nicht weiterhalf. „Und wer was das? Das hilft mir immer noch nicht.“ gab Catherine zu. „Ja, mir auch nicht.“ meinte Lea, was auch niemanden überraschte. „Auguste Boniface de La Môle war der Sohn von Henriette de Colobrière und Joseph Boniface de La Môle, der wiederum der Geliebte von Marguerite de Valois war. Auguste de La Môle war der Halbbruder von Margaret Barcley.“ „Ist das sicher?“ fragte Lestat, da er das für ziemlich spekulativ hielt. „Ja, ich bin sozusagen ein Zeitzeuge.“ meinte Marius und nickte noch einmal bei sich. „Gut, Margarets Halbbruder also. Ich nenne ihn einfach Inières. Der andere Name ist mir zu lang… Warum hat er seinen Namen geändert, als er zum Inquisitor wurde? War das nicht eine Ehre, von der man wollte, dass jeder sie von weitem schon erkannte und dann erzitterte?“ wollte Catherine wissen. „Nun, ja. Wenn man im Prozess der eigenen Halbschwester das Todesurteil durchsetzen will, macht sich das vielleicht nicht so gut.“ erwiderte Marius und blickte auf die leere Seite der Chronik, die immer noch vor Catherine lag. „Du meinst, die … Erfüllung der Pflicht… bedeutet das?“ fragte Catherine und nahm damit Lestat die Frage aus dem Mund „Ich sehe keinen anderen Zusammenhang. Die Pflicht und dann wird gleich George erwähnt. Die Pflicht hatte mit George und seiner Herkunft zu tun. Was also sonst?“ folgerte Marius und Catherine nickte langsam. „Das leuchtet mir ein.“ meinte Lea und schloss für einen Moment die Augen. „Ob Margaret wusste, dass er ihr Bruder ist…“ „Halbbruder.“ warf Catherine geistesabwesend ein. „Dann eben Halbbruder. Wusste sie es? Hat sie es erfahren, bevor sie getötet wurde?“ Schweigen begegnete Leas Fragen und das änderte sich auch nicht, als sie von einem zum anderen blickte und leise seufzte. Marius und Armand starrten vor sich hin, Louis blickte sie an und Lestat ging hinter Catherines Platz auf und ab. „Ich denke, sie wusste es. Sie hasste ihn. Deshalb wird Catherine bei diesem Angriff der Bruderschaft Lucien attackiert haben. Sie war nicht sie selbst, sondern noch immer unter dem Einfluss der Namensgebung, und erkannte Lucien nur als Bruderfigur, die ihren Hass auf sich lenkte. Vielleicht wurde dieses Gefühl noch dadurch verstärkt, dass er kurze Zeit vorher die Bruderschaft über dich als Schwester gestellt hat, Catherine. Aber ich denke, darin liegt der Grund: Margaret wusste, dass ihr Bruder ihren Tod wollte und auch durchgesetzt hat.“ Immer noch herrschte Schweigen, doch Louis nickte Lea zu. Er verstand, was sie sagen wollte und war derselben Meinung. Es war eine gute Erklärung für das ganze Desaster, das bemerkte auch Catherine. Plötzlich fühlte sie sich erleichtert: sie war wirklich nicht sie selbst gewesen und hatte aus Hass gehandelt, der nicht ihr eigener war. Auguste… Nein, sie wollte ihn ja Inières nennen! Inières war dann wahrscheinlich auch einer der Männer aus ihrem Traum, doch an ihn konnte sie sich nicht erinnern. Weder hatte sie das Gewand eines Inquisitors gesehen, noch war sein Name in irgendeiner Form gefallen. „Ich denke, du hast Recht, Lea.“ meinte Catherine. „Das ist wieder so ein Moment, in dem ich meine Visionen und Träume gerne auf Knopfdruck herbeiführen würde.“ murmelte Catherine nach einer kurzen Pause und stützte ihr Kinn auf die Ellenbogen. „Nun, es gäbe ja eine Möglichkeit, zu sehen, was du siehst…“ begann Armand und Catherine nicke. „Ich weiß, aber sag’ das ihm.“ meinte sie und blickte hinter sich, wo Lestat in seiner Bewegung erstarrt war, Armand mit schmalen Augen fixierte und langsam den Kopf schüttelte. „Nein.“ entgegnete er rau und Armand erhob sich. „Wenn du es nicht tust, dann…“ Catherine konnte kaum glauben, ausgerechnet in Armand einen Verbündeten in dieser Angelegenheit gefunden zu haben, doch es schien so. „Ich reiße dich auseinander, wenn du nur in ihre Nähe kommst.“ drohte Lestat und kämpfte gegen die Erinnerungen an seinen Traum an. Sollten seine Träume Recht behalten? Nahm Armand ihm doch noch Catherine? Seine Catherine. Er gehörte ihr – und nur deshalb war es für ihn undenkbar, ihr die dunkle Gabe zu schenken… Nein, es war nicht undenkbar, doch er wusste, dass sie das eigentlich nicht wollte. Ein Leben in der Dunkelheit – im Schutz der Nacht und ohne richtige Wärme. Sie konnte das nicht wollen. Er hatte in ihrem Zimmer so viele Photographien gesehen, die sie in strahlendem Sonnenschein auf dem Campus der Universität, mit ihren Freunden in Parks und bei Urlauben und Ausflügen an das Meer zeigte. Das wollte sie sicher nicht für alle Ewigkeit aufgeben – auch nicht für ihn, da er ihr doch nur Schwärze, Nacht und Finsternis im Gegenzug für ihr Opfer schenken konnte. Kapitel 92: Eine Übereinkunft ohne Versprechen ---------------------------------------------- Eine Übereinkunft ohne Versprechen Catherine blickte Lestat ruhig und gelassen an. Sie wusste, dass er dieses Leben nicht für sie wollte, was sie durchaus verstand. Doch sah er denn nicht, worum es ihr ging? Natürlich wusste sie nicht, ob sie nur noch kurze Zeit zu leben hatte – was auch immer die Bruderschaft plante, konnte ihr Leben nun einmal verkürzen. Sie hatte ein ungutes Gefühl und das verringerte sich auch nicht, je mehr sie über die Vergangenheit ihrer Familie in Erfahrung brachte. Es wurde eher schlimmer, aber sie wollte sich nicht wegen der Angst vor einem frühen Tod in seine todbringende Umarmung begeben, sondern fürchtete, was die Bruderschaft mit ihr vorhatte. Schlimmes vielleicht - oder noch Schlimmeres. Solange sie alle bezüglich der bruderschaftlichen Ziele noch im Dunkeln tappten, konnte das niemand sagen. Der bloße Tod durch Handlanger der Bruderschaft schien die unberuhigendste mögliche Konsequenz zu sein. So viele hatte die Bruderschaft schon auf dem Gewissen – wie viele Opfer würden noch folgen? War sie die nächste… Catherine schüttelte leicht den Kopf und schloss die Augen für einen Moment. Sie wollte sich nicht von ihrer Furcht leiten lassen, wo sie doch nach außen hin scheinbar alles unter Kontrolle hatte. Sie schluckte. Es machte ihr zu schaffen, dass in ihrem Unterbewusstsein noch Wissen vergraben war, das sie dringend benötigte, und es noch dazu eine halbwegs sichere Möglichkeit gab, dieses Wissen ans Licht zu bringen, doch es fühlte sich falsch an, dass jemand anderes als Lestat… „Catherine?“ drang Marius Stimme zu ihr hindurch und riss sie aus ihren Gedanken. „Ja… Was ist?“ fragte sie und blickte sich um. Marius stand zwischen Armand und Lestat, die sich wütend und finster musterten. Lestats Lippen waren leicht geöffnet und Catherine sah seine spitzen Zähne hervorblitzen. Die Anspannung in seinem Körper alarmierte Catherine, sodass sie sich langsam erhob und auf ihn zuging. „Vorsichtig, Catherine!“ mahnte Marius, doch Catherine schüttelte den Kopf. Lestat würde ihr nie etwas tun – selbst wenn er im Moment mit eiskaltem und hasserfülltem Blick auf Armand fixiert war und seine restliche Umgebung nicht wahrzunehmen schien. Er würde ihr nichts tun. Dafür hatte er sich ihr gegenüber zu sehr unter Kontrolle. „Lestat…“ begann Catherine, doch aus seiner Kehle entwich ein scharfes Zischen, was sie verstummen ließ. Langsam streckte Catherine ihre Hand nach ihm aus, legte sie ohne zu zittern auf seine Schulter und trat dann in sein Blickfeld. Sie sprach nicht, doch strich mit ihrer anderen Hand über seine Wange und Lippen. Er betrachtete sie neugierig, doch behielt seine starre, angespannte Haltung bei. Sein Blick flackerte unruhig zu Armand, der sich hinter Catherine langsam und versöhnlich zurückzog, dann suchte er wieder Catherines Blick. „Er wird es nicht tun, Lestat.“ flüsterte sie sehr leise. „Er wird es nicht tun und ich werde es auch niemals zulassen.“ „Ist es nicht das, was du willst…“ gab er ebenso leise und rau zurück und Catherine schüttelte den Kopf. „Ich gehöre dir, Lestat, also stünde dir auch mein Blut zu. Dir und keinem anderen. Und es ist deine Entscheidung. Es tut mir leid, dass ich es dir vor einigen Minuten zum Vorwurf gemacht habe, dass du nur mein Bestes willst und mich auch vor dir selbst beschützt.“ Lestat nickte nur stumm, da er nicht wusste, was er sagen sollte. Ihre Worte hatten ihn beruhigt und er spürte, wie er langsam und unwillkürlich seine kampfbereite Haltung löste. Marius und David konzentrierten sich auf etwas, was nicht auf dem Tisch lag, Armand hielt sich im Hintergrund, Louis und Lea blickten sich immer wieder an und sahen immer wieder verstohlen zu ihm und Catherine. Lestats Finger tasteten nach Catherines offenem Haar und spielten mit einer Strähne, während sich seine andere an ihren Kiefer und Hals legte. Er betrachtete sie und strich langsam über ihre Kieferlinie zum Kinn und wieder zurück. „Catherine, tu éclaires la nuit d’encre autour de moi parce que tu es la seule étoile dans mon ciel obscur. Catherine, du erhellst die stockdunkle Nacht um mich herum, weil du der einzige Stern an meinem finsteren Himmel bist. Tu me connâis comme tu te connâis parce que tu es le miroir de mon âme peinée. Du kennst mich wie du dich selbst kennst, weil du der Spiegel meiner betrübten Seele bist. Tu détiens mon corps, mon sang et mon esprit parce que tu es le battement de mon cœur. Du besitzt meinen Körper, mein Blut, meinen Geist, weil du das Schlagen meines Herzens bist. Tu fais partie de moi parce que je ne peux pas endurer la seule pensée de te perdre. Du bist ein Teil von mir, weil ich den bloßen Gedanken daran, dass ich dich verliere, nicht ertragen kann. Pour moi, tu es la foi, l’espérance et l’amour. Für mich bist du Glaube, Hoffnung und Liebe. Tu contrôles ma nature parce que tu es l’air que j’ aspirais à pleins poumons pour être avec toi. Du kontrollierst mein Wesen, weil du die Luft bist, die ich in tiefen Zügen einatme, um bei dir zu sein. Tu as ma confiance inébranlable parce que je t’aime plus de ma vie. Du hast mein unerschütterliches Vertrauen, weil ich dich mehr liebe als mein eigenes Leben.“ meinte er sanft und strich ihr immer wieder zärtlich über ihre Kieferlinie zu ihrem Kinn. Catherine fühlte, wie sie innerlich zitterte. Seine Worte waren die schönesten Worte, die jemals irgendjemand zu ihr gesagt hatte, und sie wusste vom ruhigen, ernsten Klang seiner Stimme, dass in jedem Wort, jeder Silbe die Stimme seines Herzens zu ihr gesprochen hatte. Tränen glitzerten in ihren Augen, das wusste sie, doch sie wischte sie nicht ab. Es waren Tränen des Glücks. Tränen der Freude. Tränen der Liebe. Sie schluckte und lächelte ihn ergriffen an. Sprechen konnte sie nicht. Denken konnte sie nicht – sie war zu aufgewühlt und glücklich. Catherine schlang ihre Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Sie fühlte, wie Lestats Arme sie umfingen und einfach festhielten. Sie fühlte wieder die Sicherheit, die sie so sehr liebte. „J’adore… Ich liebe dich sehr.“ flüsterte sie und spürte seine Hände über ihren Rücken und über ihr Haar wandern. „Je te remercie… Ich danke dir…“ „Pour quoi? Wofür?“ fragte er leise. „Tout. Alles.“ murmelte Catherine und er lachte leise. „Tout simplement pour tout, Lestat. Ganz einfach für alles.“ wiederholte sie und lauschte dem Klang seines Atems. „Eh, bien… On va tâter, Catherine, si tu crois que c’est la seule possibilité et si tu es sûre. Gut… wir werden es versuchen, Catherine, wenn du glaubst, dass es die einzige Möglichkeit ist und wenn du dir sicher bist.“ meinte Lestat nach einer Weile, doch sie verstand nicht gleich, worauf er hinaus wollte. „Qu’est-ce que tu veux tâter… Was willst du versuchen… Lestat, est-ce que je te comprends bien? Verstehe ich dich richtig?“ erwiderte sie und löste sich etwas von ihm. „Oui, ma chérie, je vais boire à ta veine, mais je ne peux pas promettre que nous allons apprendre des nouvelles comme ça. Ja, ich werde von deiner Ader trinken, aber ich kann nicht versprechen, dass wir so Neuigkeiten erfahren werden.“ antwortete er mit leicht trauriger Stimme und blickte ihr in die Augen. “Je trouve que tu devrais essayer de boire à ma veine, mais si tu pense à ce moment que ce n’est pas bon, tu le laisses. Ich finde, du solltest es versuchen, aber wenn du in dem Moment denkst, dass es nicht richtig ist, lässt du es.“ schlug Catherine vor und konnte die Ruhe kaum fassen, mit der sie ihm antwortete. „J’espère que tu te ne l’imagines pas trop facile. Ich hoffe, das stellst du dir nicht zu leicht vor.” „Non, pas du tout. Nein, bestimmt nicht.“ versicherte sie und Lestat nickte. „Alors, je suis d’accord, mais pas aujourd’hui, s’il te plâit. Gut, einverstanden, aber nicht heute, bitte. J’ai besoin d’un peu de temps. Ich brauche noch ein bisschen Zeit.“ „Oui, moi aussi. Ja, ich auch.“ lachte Catherine, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Lestat zärtlich. „Nous avons encore un peu de temps. Wir haben noch ein bisschen Zeit.“ flüsterte sie und berührte noch einmal seine Lippen mit ihren. Ein Räuspern ließ Catherine und Lestat ihre Köpfe wenden und Catherine erröten: sie hatte völlig vergessen, dass sie nicht alleine waren, doch Lestat schien es nicht zu überraschen. „Seid ihr fertig?“ fragte David und deutete wieder auf die Chronik. „Hey, mein Französisch wird besser – ich habe ziemlich viel verstanden!“ meinte Lea und strahlte Louis an. „Dann kannst du ja bald in französische Kinofilme gehen, damit die beiden hier nicht so oft als Traumpaar herhalten müssen.“ meinte Armand und Catherine warf ihm einen wütenden Blick zu. „Nur kein Neid.“ murmelte sie, was Lestat ein leises Lachen entlockte, jedoch Armand nur missmutig schnauben ließ. Lestat setzte sich auf Catherines Platz und bedeutete ihr, auf seinem Oberschenkel Platz zu nehmen, was sie ohne zu zögern tat. Ihr Kopf drehte sich noch immer, wenn sie daran dachte, was sich in den letzten Stunden – oder auch nur Minuten – alles verändert hatte! Lestat hatte nicht nur darauf verzichtet, seine Hände bei sich zu behalten, wenn sie mit den anderen zusammen waren, sondern hatte ihr auch seine Liebe gestanden und seine Sichtweise dargelegt. Und dann hatte er nebenbei auch eingelenkt, diese Möglichkeit, die ihnen noch blieb, ebenfalls auszuschöpfen. Er würde es versuchen, obwohl es ihm mit Sicherheit immer noch nicht gefiel. Catherine freute sich über sein Entgegenkommen, doch allmählich teilte sie seine Bedenken. Konnte es sein, dass sie sich von Anfang an zu sehr auf diese Möglichkeit versteift hatte? Und was war, wenn sie keine Ergebnisse lieferte? Würde sich große Enttäuschung breit machen? Oder gar Resignation? Sie wusste es nicht und fühlte, wie Lestat ihr sanft über den Rücken strich, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, da David in neuen Ausführungen über Details sprach. Es dauerte eine kleine Weile, bis Catherine wieder völlig da war, doch dann folgte sie dem Gespräch mit wachem Geist – sofern das ihre Gedanken an Lestat überhaupt zuließen. Lea erzählte von der Sage über Morair, die sie als Kind gehört hatte, und meinte schließlich: „Sie sollte wohl bei Catherines Namensgebung wiedererweckt werden, doch etwas hat sich so funktioniert, wie sich das meine Mutter und Großmutter dachten. Sie dachten, Catherine würde ihnen den Namen Morair als ihren nennen.“ „Das Ritual wurde unterbrochen.“ erinnerte Marius, doch Lea schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Die Sprüche und Beschwörungen waren abgeschlossen. Eigentlich hätte die Unterbrechung durch die Bruderschaft nicht mehr zu einer Änderung des Namens führen dürfen.“ „Deshalb hat sie so entsetzt geschaut, als ich mich als Lasair vorstellte.“ überlegte Catherine und Lestat nickte nachvollziehend. „Was hat dann die Änderung des Namens herbeigeführt? Es fällt mir schwer zu glauben, dass Catherine all das aus reinem Zufall oder einer Verwechslung heraus passiert.“ meinte er, doch Lea konnte keine Antwort geben. „Ich weiß es nicht. Es könnte aber sein, dass es an Catherine selbst liegt. Ihre Persönlichkeit könnte allein schon durch ihre Ausbildung bei der Bruderschaft zu stark sein, um von einer anderen Seele in Besitz genommen zu werden.“ „Das klingt ziemlich vage.“ meinte Catherine. „Das ist es auch.“ gab Lea zu und fuhr fort: „Es gibt keinerlei Eintragungen in unseren Büchern über Lasair, die sich nicht auf diese eine Göttin beziehen, doch mit der hat Catherine sicher nichts zu tun. Es gibt in Unterlagen deines Großvaters, Catherine, auch nur diesen Vermerk ‚Blut der Lasair’ statt ‚Blut der Flamme’. Mehr nicht, oder?“ „Nein, mehr ist es wirklich nicht.“ stimmte Catherine zu. „Hm.“ meinte David und überlegte. „Ansonsten scheint ‚Lasair’ ein ziemlich unbeschriebenes Blatt zu sein.“ fügte Lea hinzu. „Das Blut der Lasair den herrschenden Bann endlich bricht.“ murmelte David nachdenklich. „Vielleicht ein Zauber, der gebrochen werden soll.“ schlug Catherine vor, doch glaubte selbst nicht so richtig daran. „Hm.“ machte David wieder nur, doch Lea zuckte wenigstens mit den Schultern. „Vielleicht. Die Frage ist nur, ob du dich dafür rächen sollst, dass Margaret – wenn man die Umstände sehr vereinfacht - von ihrem Halbbruder verurteilt und verraten wurde.“ entgegnete Lestat und blickte Catherine an. „Dagegen spräche aber, dass die Hexen glauben, dass Morair selbst zurückkommen wird. Allerdings sagt sie in meiner Vision, dass einer kommen wird, der ihre Rache ausüben wird. Vielleicht hatte sie niemals vor, ihre Rache selbst zu verwirklichen. Ach, ich weiß es nicht! Es ist ja auch einer und nicht eine!“ „Ich frage mich, was die Bruderschaft über Morair und Lasair weiß.“ meldete sich David wieder zu Wort. „Der Befehl, den auch du bekommen hast, lautete, eine alte Macht an ihrer Auferstehung zu hindern, nicht wahr?“ Catherine nickte nur, damit er gleich weitersprechen konnte. „Wenn sie es allerdings für möglich gehalten hat, dass es Morair sein wird – könnte man daraus schließen, dass sie selbst ihre Rache fürchet, weil sie maßgeblich an ihrem Tod beteiligt war.“ „Dann richtet sich ihr Hass nicht nur gegen ihren Bruder, sondern gegen den gesamten Orden. Das ist möglich.“ meinte Lestat und nickte noch einmal. „Das ist unser nächster Ansatzpunkt: Herausfinden, was die Bruderschaft wusste und weiß.“ meinte David und blickte Marius an. „Und das bedeutet …“ begann Lea fragend. „Wir müssen uns Zugang zu den Archiven der Bruderschaft verschaffen.“ schlussfolgerte Catherine wenig begeistert. Kapitel 93: Eine erstaunliche Auskunft -------------------------------------- Eine erstaunliche Auskunft „Ihr seid ja beide wahnsinnig!“ rief Lea und schüttelte vehement den Kopf, ehe sie hilfesuchend zu Louis und dann zu Lestat blickte. „Ich denke, bei diesem Unterfangen können wir überhaupt nicht auf einen gewissen Wahnsinn verzichten.“ schmunzelte Lestat und David meinte: „Ich würde deinen Wahnsinn gerne gegen meinen Verstand und Marius’ Organisationsfähigkeit eintauschen, dann stimme ich mit dir überein, Lestat.“ und begann damit eine heftigere Diskussion unter den Vampiren. Catherine bekam von alledem kaum etwas mit, da sie bereits überlegte, wie sie das Ganze bewerkstelligen wollten. Ab und zu hörte sie einzelne Wortfetzen, doch verbannte diese gleich wieder aus ihren Gedanken, um weiter zu überlegen. Viele Städte in Europa, die auf eine langjährige Geschichte zurückblicken konnten, besaßen solche Archive, die mehr oder weniger denselben Bestand hatten, damit bei eventuellen Unglücken wie Erdbeben und Feuer das gesammelte Wissen nicht verloren ging. Allerdings wusste Catherine, dass sie am besten gleich die Archive unter dem Vatikan in Rom für ihre Zwecke durchsuchen sollten, da diese die umfangreichsten waren und auch ununterbrochen fortgeführt worden waren. Kriege und Hungersnöte hatten die Vatikanstadt – besonders die kleine Gruppe der Bruderschaft - selten sehr berührt, weshalb alles seinen gewohnten Gang gegangen war. Über Jahrhunderte hatte man dort alles aufgezeichnet und geordnet, abgeschrieben und konserviert… Wenn sie noch etwas in Büchern und Schriften finden konnten, dann war es dort. Hatten sie es einmal geschafft, sich Zugang zu den geheimsten Räumen zu verschaffen, war für den Aufenthalt in den Katakomben kaum mit unlösbaren Schwierigkeiten zu rechnen: die Zahl der Mitglieder, die ständig dort unten waren, war äußerst gering, die Gänge waren voller dunkler Winkel, in denen man sich kurz verbergen konnte, die Gänge trugen den Hall von Schritten weit der gehenden Person voraus und die Türen zu den sehr gut geordneten Archiven – Catherine konnte es sich durchaus vorstellen, dass es einen eigenen Abschnitt ‚du Ravin’ oder so etwas Ähnliches gab - waren ebenfalls mit einem normalen Schlüssel verschlossen, den jeder Mentor ständig mit sich herumtrug und jeder höherstehende Ritter bei sich zu Hause oder an einem Ort hatte, an dem nur er und die Eingeweihten ihn fanden… ‚Ein Schlüssel!?’ schoss es Catherine durch den Kopf, doch konnte den Gedanken nicht mehr richtig zu Ende denken. „Lestat, das ist doch viel zu gefährlich, oder nicht?“ hörte Catherine Lea sagen und blickte auf, um zu sehen, dass Lea sie mit einem bedeutsamen und vielsagenden Blick betrachtete. „Catherine wird auch nicht mitkommen.“ meinte Lestat, worauf Catherine etwas erwidern wollte, er sie aber nicht ließ, sondern bestimmt meinte: „Nein, das ist wirklich zu gefährlich. Da gebe ich Lea Recht.“ „Du sollst nicht über mich bestimmen… Außerdem kann ich nicht mit: meine Schritte sind zu laut.“ entgegnete sie und erntete dann fragende und unverständliche Blicke aus sechs verschiedenen Augenpaaren, weshalb sie erklärte: „Die Gänge in den Katakomben besitzen eine sehr gute Akustik. Nur ihr könntet euch unbemerkt in ihnen bewegen.“ David und Marius nickten gleichzeitig, während Armand ein Lächeln über die Züge huschte, das Catherine etwas befremdlich fand. „Deshalb, also.“ murmelte Lestat und Catherine blickte ihn fragend an, bekam aber keine richtige Antwort mehr. „Das ist gut. Ich finde, du solltest nicht unnötiger Gefahr ausgesetzt sein.“ fügte er hinzu, doch Catherine schüttelte den Kopf. „Ich will keine Diskussion über unnötige und nötige Gefahr anfangen, aber gut ist es eigentlich nicht, dass ich hier bleibe. Die Katakomben stammen aus einer Zeit von ca. 200 nach Christus bis ins 10. Jahrhundert. Soweit ich weiß, war in dieser Zeit niemand von euch im Untergrund von Rom. Ich würde mich dort unten wenigsten auskennen.“ „Wir haben einen guten Orientierungssinn.“ versicherte Marius und dachte kurz nach. „Ein Plan wäre trotzdem nicht schlecht.“ lenkte er ein, worauf Catherine nickte. „Ich zeichne morgen einen Plan über die verschiedenen Ebenen… Da ich denke, wir sollten nicht überstürzt handeln, sollte das reichen und früh genug sein.“ erwiderte Catherine und ließ ihren Blick über die Chronik streifen, die immer noch vor Marius und David auf dem Tisch lag. Der Schlüssel. „Lea, erinnerst du dich an den Schlüssel, der im Schließfach war?“ fragte Catherine nach einer Weile. „Ja, klar. Er liegt auch noch in der Schachtel mit den anderen Dingen, mit denen wir nichts anfangen konnten. Was ist mit dem?“ „Ich denke, ich kenne seinen Verwendungszweck. Es muss der Schlüssel zu den Archiven sein, der meinem Großvater gehörte. Deshalb konnte ich mir auch hier keinen Ort vorstellen, an den der Schlüssel passt.“ meinte Catherine und erzählte den anderen, was sie über die Archive wusste und woran sie vorhin gedacht hatte. „Sind wir sonst mit dem durch, was wie wissen sollten?“ fragte Armand, nachdem Catherine geendet hatte, erhob sich schon von seinem Stuhl und trat zum Fenster, um den noch dunklen Himmel zu beobachten. „Ja, eigentlich schon…“ zögerte Catherine und blickte zu Lea. „Was gibt es noch?“ fragte Louis und lehnte sich etwas vor, sodass er an Lea vorbei besser zu Catherine sehen konnte. „Lea sollte euch noch mitteilen, was sie vor einigen Wochen in meinem Unterbewusstsein erfahren hat.“ gab Catherine Auskunst, war sich aber sicher, dass Lea das nicht unbedingt wollte. „Ist es wichtig für uns?“ wollte Lestat wissen, der scheinbar auch nicht glücklich darüber war, dass Catherines Unterbewusstsein in aller Öffentlichkeit debatiert wurde. „Ich denke, es könnte helfen.“ entgegnete Catherine und blickte Lea bittend an. „Na, schön!“ seufzte sie und stand auf, da sie im Gehen besser über die Worte nachdenken konnte, die sie suchte, ehe sie zu sprechen begann: „Ich denke, ich brauche nichts über die persönlichen Opfer sagen, die Catherine für die Bruderschaft bringen musste. Wir können uns das eh nicht richtig vorstellen… Okay, hm. Catherine war jünger als alle anderen, als die Bruderschaft sie rekrutierte. Salieri wurde ihr Mentor. Sie schien überdurchschnittlich begabt zu sein. Diese beiden Dinge sollten wir vielleicht im Hinterkopf behalten. Vielleicht war der Bruderschaft schon damals klar, dass Catherine etwas Besonderes ist.“ „Ja, das werden wir herausfinden, wenn wir in Rom sind und es so war.“ meinte Marius und Lea fuhr fort: „Emmanuel Bruyard, der Arzt, war oder ist offenbar auch der Meinung, dass Catherine anders ist. Er wollte vor wenigen Jahren Tests mit ihrem Blut durchführen, hat es aber dann gelassen, soweit ich weiß.“ „Halt!“ redete Lestat dazwischen, als Lea mit einem anderen Aspekt fortfahren wollte. „Was weißt du darüber sonst noch?“ „Er meinte, es könnte Eisenmangel sein.“ „Ja, das wäre bei mir nichts Erstaunliches. Das hatte ich öfter.“ warf Catherine ein und Lestat nickte nachdenklich. „Nun, und dann gab noch die Sache mit der Wunde…“ fuhr Lea fort und kniff die Augen zusammen, um sich an das genaue Geschehen zu erinnern. „Eine Wunde?“ fragte Catherine. „Du hattest dich verletzt, sodass du am Bein mit zwei, drei Stichen genäht werden musstest.“ „Und?“ wollte Catherine wissen, die noch nicht wusste, worauf Lea hinauswollte. „Sie ist schnell geheilt.“ „Ich dachte immer, das sei gut.“ murmelte Catherine und Lea korrigierte sich: „Sie ist zu schnell geheilt. Nach neun Tagen war nicht einmal mehr eine Rötung zu sehen – ganz zu schweigen von einer Narbe.“ Catherine nickte und studierte die überraschten Gesichter der Vampire, die allesamt unentschlossen schienen, was sie davon halten sollten. Lestats Blick begegnete ihrem und betrachtete sie prüfend. Woran dachte er nur? Was dachte er nur? „War das alles?“ fragte er, ohne etwas zu seinen Gedanken zu sagen, und Lea nickte. „Sind wir jetzt fertig?“ fragte Armand vom Fenster und Marius blickte zu Catherine. „Es scheint so, oder? Catherine?“ fragte er und Catherine nickte geistesabwesend. Armand verschwand ohne ein weiteres Wort aus der Bibliothek und verließ die Villa über die Tür zum Park. Catherine hörte, wie der nächtliche Wind kurze Zeit in die Halle strömte und dann wieder verstummte. Louis, Lea und Marius verließen die Bibliothek ebenfalls, doch Catherine konnte nicht hören, wohin sie gingen. „Catherine, woran denkst du?“ fragte Lestat, der sich ebenfalls schon erhoben hatte, und sank neben ihrem Stuhl in die Knie, sodass er ihr ins Gesicht blicken konnte. „Vielleicht sollte Emmanuel die Tests nachholen, die er nicht gemacht hat.“ entgegnete Catherine, wobei das nicht alles war, was sie beschäftigte. „Dein Blut ist in Ordnung. Es duftet nicht seltsam. Es ist nur für mich viel anziehender als das Blut jeder anderen Person.“ „Ist das allein nicht schon seltsam?“ „Es kommt vor.“ gab er Auskunft und strich ihr mit zwei Fingern zärtlich über die Wange. „Ist das alles, was dich beschäftigt?“ Catherine nickte leicht und schüttelte gleich darauf den Kopf, was Lestat ein leises Lachen entlockte. Sie wandte sich ihm zu, schloss für einen kurzen Moment die Augen und meinte dann: „Ich bin seltsam.“ „Ja, das bist du. Du liebst mich.“ entgegnete Lestat ernst und küsste ihre Schläfe. „Du machst dir zu viele Gedanken, ma chérie.“ „Einer von uns muss sie sich vielleicht machen.“ „Ich mache mir auch Gedanken.“ versicherte Lestat und küsste sie weiter. „Richtig, aber…“ „Könntest du das Wort ‚aber’ aus deinem Wortschatz streichen, wenn du mit mir sprichst?“ erwiderte er amüsiert, worauf Catherine leicht den Kopf schüttelte. „Das habe ich befürchtet.“ gab er zu und brachte wieder einen kleinen Abstand zwischen sie, sodass er sie besser betrachten konnte. „Du denkst daran, dass du dich auch nach meinem Blut gesehnt hast, als wir miteinander geschlafen haben.“ stellte er fest. „Ja, es ist… Ich verstehe es nicht – im Nachhinein nicht mehr. Verstehst du, was ich sagen will?“ „Ich denke schon, aber ich mache mir darüber… Doch, ich mache mir Gedanken. Es beunruhigt mich nur nicht mehr. Dieses Verlangen scheint doch nicht wieder hervorgebrochen zu sein, oder?“ wollte Lestat wissen, worauf Catherine nickte. „Siehst du? Ich mache mir auch keine Sorgen mehr, dass du mich verletzt hast, als du deinen Namen Lasair bekommen hast.“ „Du hast bisher nie zugegeben, dass du dir überhaupt Sorgen gemacht hast.“ erinnerte Catherine ihn etwas überrascht. „Natürlich habe ich mir Sorgen gemacht. So etwas kommt nicht alle Tage vor, wie du dir denken kannst. Was auch immer dich zu beidem veranlasst hat: du hast es unter Kontrolle.“ „Aber…“ „Catherine…“ unterbrach Lestat sie und berührte ihre Lippen zärtlich mit seinen, woraus ein leidenschaftliches Spiel entstand, das Catherine jegliche Gedanken vergessen ließ. „Ich bringe dich jetzt nach oben in dein Bett.“ raunte er leise gegen ihre Lippen und hob sie in seine Arme. Kapitel 94: Abschied auf Zeit ----------------------------- Abschied auf Zeit Den gesamten nächsten Tag zeichnete Catherine an dem Plan über die verschiedene Stockwerke in den Katakomben, aber sie brauchte nicht so lange, weil es so viel war, sondern weil sie so unkonzentriert war. Immer wanderten ihr Blick und ihre Gedanken zu etwas anderem, und während Lea einige Bücher durchblätterte, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, bemerkte sie, wie sie immer müder und müder wurde. „Alles klar?“ fragte Lea, als sie aus den Augenwinkeln heraus sah, dass Catherine die Augen schon wieder geschlossen hatte. „Ja, alles klar.“ entgegnete Catherine und rieb sich die Augen. „Ich bin nur schon wieder müde.“ „Dann schlaf’ eben ein bisschen.“ „Ich kann doch nicht dauernd schlafen! Ich denke, ich stelle mich langsam um… Nachts wach sein und tags schlafen.“ „Es wäre sinnvoll, wenn ich mir unsere Gesellschaft im Moment ansehe, wenn wir unseren Rhythmus umstellen.“ „Wahrscheinlich.“ stimmte Catherine zu und legte die Beine hoch. „Bist du mit dem Plan fertig?“ fragte Lea und Catherine nickte. „Was denkst du, wann sie gehen sollten?“ „Heute noch.“ „Heute? Ich habe ein ungutes Gefühl dabei. Willst du sie möglichst schnell loswerden?“ „Nein, das nicht, aber heute ist die Aufmerksamkeit der Bruderschaft auf andere Dinge gelenkt.“ „Wieso das? Habe ich etwas verpasst?“ „In der kommenden Nacht wird Beltane gefeiert, Lea. Ich denke, du lebst inzwischen total außerhalb deines Zeitgefühls, wenn du das Fest vergessen hast.“ entgegnete Catherine mit geschlossenen Augen und Lea nickte leicht. Beltane war das wichtigste Fest der Hexen, ein Fest der Fruchtbarkeit, bei dem gefeiert wurde, dass der Sonnengott zum Mann herangereift war, die Große Göttin begehrte und sie ein Kind von ihm erwartete. Die ganze Nacht hindurch wurde dies ausgelassen gefeiert und fröhlich getanzt und auch am nächsten Tag die Schöpfung durch Gesang und Opfer gepriesen. „Dann sollten sie tatsächlich noch heute gehen.“ stimmte Lea zu und erhob sich von ihrem Stuhl, um hinüber zu Catherine zu gehen. „Ich bin gespannt, wie sie sich einigen werden. Wer hier bleibt und wer nach Rom geht.“ murmelte Catherine. „Marius und David werden sicher gehen wollen. Bei Armand bin ich mir auch fast sicher, dass er ein kleines Abenteuer dem Herumsitzen hier vorziehen wird.“ überlegte Lea scheinbar laut. „Richtig, aber vielleicht geht gerade er nicht mit und vertreibt sich anders die Zeit.“ gab Catherine zu bedenken. „Lestat wird wohl auch eher das Abenteuer suchen.“ „Hättest du gerne, dass er hier bleibt?“ „Wozu? Ich denke, dass uns jeder einzelne, der schnell lesen kann, in den Archiven von größerem Nutzen ist.“ meinte Catherine und schlug die Augen kurz wieder auf, um sich die Decke zu greifen, die am anderen Ende des Sofas lag. „Ich muss schlafen. Ich bin so müde.“ „Vernünftig.“ grinste Lea und blickte aus dem Fenster. „Es dämmert noch nicht einmal. Einige Stunden kannst du dich sogar noch ausruhen.“ fügte sie hinzu und ließ Catherine dann etwas Schlaf nachholen. Catherine erwachte, als die Sonne gerade untergegangen war, und richtete sich ausgeruht auf. Lestat saß neben ihr und betrachtete sie mit aufmerksamem Blick. „Hast du gut geschlafen?“ fragte er und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie nickte und zog ihn zu einem flüchtigen Kuss näher heran, der nicht flüchtig blieb, sondern damit endete, dass Lestat Catherine zurück auf das Sofa niederlegte und etwas über sie gebeugt war. Sie liebte es, so aufzuwachen! Das konnte ruhig jeden Abend so sein. „Lea meinte, dass wir heute Nacht schon gehen sollen?“ fragte Lestat und löste sich etwas von Catherine. „Es ist ruhiger, wenn ihr heute geht.“ erklärte Catherine und zog ihn zurück auf ihre Lippen. „Ich verstehe.“ murmelte er und küsste sie weiter, rutschte dann zu ihrem Hals hinab und setzte leichte Küsse auf ihre Halsschlagader. Catherine legte den Kopf weiter zurück und ließ ihn machen. Sie wusste, dass sie nun eigentlich keine Zeit dafür hatte, doch… es war egal. „Chérie?“ „Hm?“ „Louis wird hier bei dir und Lea bleiben. Wir anderen werden gehen. Ich weiß nicht, ob wir noch heute zurück sein werden oder erst morgen, also… mach’ dir keine Sorgen.“ meinte er so dicht an ihrem Hals, dass sie seinen Atem gegen ihre Haut spüren konnte. „Hm.“ machte Catherine nur, dirigierte seinen Kopf wieder hoch und küsste ihn erneut. „Seid einfach vorsichtig.“ bat sie während des Kusses gegen seine Lippen. Lestat rutschte ein Stück zurück und betrachtete sie eine Weile, ehe er meinte: „Du weißt, dass ich vorsichtig bin.“ „Ich fürchte, ich weiß es nicht.“ lächelte Catherine und Lestats Gesichtszüge wurden noch erster als sie ohnehin schon waren. „Ich liebe dich zu sehr, um das geringste Risiko einzugehen, dass ich dauerhaft von dir getrennt werden könnte – gut, wenn man davon absieht, dass ich mich bereit erklärt habe, von deinem Blut zu trinken, aber daran bist du dann selbst schuld.“ „Diese Schuld nehme ich gern auf mich.“ murmelte Catherine und strich ihm über die Wange. Lestat lächelte flüchtig und legte seine Hand auf ihre, ehe er leise entgegnete: „Ich werde trinken, bevor ich zurückkomme.“ „Das heißt, es dauert noch.“ erwiderte Catherine schlussfolgernd, doch er schüttelte zaghaft den Kopf. „Nicht?“ „Ich gebe es nicht gern zu, doch du könntest in dieser Hinsicht einmal mehr Recht haben. Wir sollten, wenn es nötig ist, sofort sehen, was wir aus deinem Blut erfahren. Ich will vorbereitet sein. Deshalb werde ich von nun an mehr trinken, um dich dann nicht in Gefahr zu bringen.“ Catherine schluckte und spürte, wie aufgeregt sie war. Angst verspürte sie jedoch überhaupt nicht. Eher eine Art freudige Aufregung… Gott, war es schlimm, sich darauf zu freuen? Skeptisch zog sie die Augenbrauen hoch und Lestat schmunzelte, als er fragte: „Was geht dir nur schon wieder im Kopf herum? hast du es dir anders überlegt?“ „Nein, auf keinen Fall!“ antwortete Catherine schnell und wahrheitsgetreu. „Was hast du dann?“ fragte er weiter. „Das hört sich schlimm an, aber… ich freue mich. Darauf.“ Lestat blickte sie einen Moment verdutzt an, schüttelte dann den Kopf, öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder, da ihm nichts Passendes einfiel. Noch einmal öffnete er den Mund und setzte zum Sprechen an, doch ihm fiel auch nichts Unpassendes ein, also schüttelte er nur noch einmal den Kopf und seufzte. „Es ist nicht so, dass es der Vorgang an und für sich ist, auf den ich mich freue… Es ist eher die Vorstellung, dass ich in dir sein werde und dass mein Blut dir Wärme schenken wird. Ich werde dir so nah sein, wie ich es noch niemals zuvor war. Und ich darf dir etwas schenken. Das ist eine sehr schöne Vorstellung.“ erklärte sie, doch er blieb noch eine Weile stumm, küsste sie auf die Stirn und hielt sie dann gegen seine Brust. „Catherine, manchmal frage ich mich, ob ich dich verdient habe.“ flüsterte er und sie hob den Blick, um in seine Augen sehen zu können. „Würdest du mir zustimmen, wenn ich darauf bestehe, dass es so ist?“ „Da ich ein liebender und ehrenhafter junger Mann bin, würde ich mich der Meinung der geliebten Dame meines Herzens selbstverständlich anschließen.“ meinte er, hob ihr Kinn mit zwei Fingern etwas an und grinste: „Wobei ich nicht mehr sooo jung bin, das gebe ich zu.“ Catherine nickte und ließ ihn erneut ihre Lippen mit seinen versiegeln. „Wir wären dann soweit, Lestat. Kommst du auch oder sollen wir noch ein paar Stunden warten?“ fragte Armand, der in den Salon getreten war. „Eine Tür ist nicht nur zum Aufmachen und Durchgehen da… Nein, man kann sogar auf sie drauf klopfen. Solltest du irgendwann einmal versuchen. Ich bin mir sicher, dass das eine ganz neue Erfahrung für dich wäre. Lass’ mich kurz überlegen, wie sich diese Erfahrung nennt… Ah, jetzt weiß ich’s: Höflichkeit!“ entgegnete Lestat ohne sich zu ihm umzudrehen. Catherine verkniff sich ein hörbares Lachen, sondern schmunzelte nur, sodass Armand es nicht sehen konnte, da sie hinter Lestat verdeckt war. Ihr Blick traf Lestats und sie zwang sich zu einem Nicken. „Ihr solltet wirklich gehen und keine Zeit verschwenden.“ meinte sie leise. „Zeitverschwendung… Ich weiß nicht, ob ich dir in diesem Punkt zustimme, ma chérie.“ „Ihr werdet die Zeit brauchen. Und je schneller ihr geht, desto… früher seid ihr auch wieder hier.“ Sie wusste nicht, ob Armand sie hören konnte, doch eigentlich war es ihr auch egal. Die Tür, durch die er gekommen war, stand ja immer noch geöffnet und er konnte einfach wieder gehen. Er war schließlich nicht irgendwo angekettet. „Das ist ein Argument.“ gab Lestat zu, küsste sie noch einmal, nahm die Zeichnungen vom Tisch und erhob sich schließlich. Catherine sah ihm etwas verdutzt nach, als er mit schnellen Schritten auf Armand zuging, und stand ebenfalls vom Sofa auf. Wie? Das war der Abschied? Verwirrt schüttelte sie leicht den Kopf und sah dann, dass Lestat Armand aus der Tür schob und nach ihm die Tür schloss. Einen Augenblick lang blieb Lestat mit dem Rücken zu Catherine stehen, dann begegnete er ihr wieder, suchte ihren Blick und kam wieder auf sie zu. Ganz dicht vor ihr blieb er schließlich stehen und blickte auf sie hinunter. „Louis bleibt – wie schon gesagt – hier und kümmert sich um euch.“ „Ein Babysitter. Toll.“ grinste Catherine, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Ernst bleiben, ma chérie. Ich will nur, dass du in Sicherheit bist.“ „Ich weiß, Lestat.“ versicherte sie und legte den Kopf schief. „Ich bitte dich, bei Louis und Lea zu bleiben…“ Catherine holte Luft, doch Lestat legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Nein, sag’ nur nicht: Wohin soll ich denn bitte gehen? ... Ich kann dich nicht spüren, aber ihn und Lea. Ich kann spüren, wenn es ihnen gut geht. Ich muss einfach wissen, dass du auf jeden Fall bei ihnen bist.“ „Einverstanden. Ich bleibe immer an Louis’ Seite.“ versprach Catherine und bemerkte, wie sich Lestat etwas entspannte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um ihn und presste sich an ihn. Sie spürte, wie er sie sofort fest in seinen hielt, als wolle er sie ebenfalls nicht loslassen. „Zwei Tage und Nächte. Höchstens.“ sagte er und strich ihr über den Kopf, wobei er spürte, dass sie nickte. „Pass auf dich auf. Und auf die anderen.“ bat sie, vergrub ihr Gesicht an seinem Halsansatz und küsste seine Haut dort, was ihm ein kehliges Geräusch entlockte, ehe zum letzten Mal ihre Lippen aufeinander trafen. Kapitel 95: Die schützende Erbin -------------------------------- Die schützende Erbin Catherine fragte Louis zum vierten Mal, ob er sich wirklich sicher war, dass die anderen alles mitgenommen hatten, was sie benötigten, und Louis war dazu übergegangen, sie nur vielsagend anzusehen, anstatt wirklich zu antworten. „Entschuldige.“ murmelte Catherine und erhob sich wieder vom Sofa, auf das sie sich vor zwei Stunden mit Lea gesetzt hatte. Louis stand am Fenster und blickte hinaus, während Lea in ihr Buch vertieft eine Haarsträhne zwischen zwei Fingern hin- und herdrehte. Catherine verschränkte die Arme vor der Brust und begann mit den Fingern der einen Hand auf ihrem anderen Arm herumzutrommeln, was ein leises, dumpfes Geräusch verursachte, wegen dem Louis sich fragend zu ihr umdrehte. „Die Warterei macht mich wahnsinnig.“ entschuldigte sich Catherine, nahm ihre Hände wieder herunter und ging im Zimmer auf und ab. „Und das macht mich wahnsinnig.“ murmelte Lea und schlug die nächste Seite in ihrem Buch auf. „Entschuldige.“ meinte Catherine nur, blieb stehen und blickte von dort, wo sie stand, zum Fenster hinaus. „Weshalb bist du so nervös?“ fragte Louis fürsorglich. „Ich weiß es nicht. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl.“ entgegnete Catherine und ging nun doch zu ihm zum Fenster. „Es ist nicht auf Lestat, Marius und die anderen bezogen, aber ich habe ein schlechtes Gefühl – so als ob bald etwas passieren würde… oder schon passiert ist.“ erklärte sie und blickte Louis ernst an. Er nickte langsam und wandte den Blick von Catherine zu Lea. „Kannst du sonst etwas sagen, um das näher zu beschreiben?“ fragte er, doch Catherine musste den Kopf schütteln. „Lea hat heute Nachmittag auch etwas gespürt, hat sie mir gesagt. Sie verneint es zwar, doch ich bin mir sicher, dass sie sich durch das Buch auch nur ablenkt.“ „Louis, das ist völlig…“ begann Lea und legte das Buch beiseite, doch Louis schüttelte den Kopf. „Vergesst nicht, dass ihr beide Hexen seid. Wenn ihr beide etwas fühlt, dann sollten wir uns vielleicht vorsehen.“ warnte Louis und Catherine nickte nachdenklich, ehe sie Lea fragte: „Kannst du es genauer bestimmen?“ „Nein, aber es fühlt sich seltsam an. Wie ein Verlust. Oder eine gewisse Traurigkeit, deren Ursache ich nicht kenne.“ meinte Lea und erhob sich nun ebenfalls vom Sofa. „Und dann fühle ich mich… seltsam losgelöst von allem. Irgendwie wie unter Drogen – nicht dass ich Erfahrung damit hätte, aber so stelle ich es mir vor. „Das bringt uns auch nicht sonderlich viel weiter.“ bemerkte Catherine und nahm ihr Haar über eine Schulter nach vorne. „Hm. Vielleicht solltest du deinem schlechten Gefühl auf den Grund gehen, Catherine.“ „Ich soll in mich horchen?“ „So ungefähr.“ meinte Lea und fügte hinzu: „Dann muss ich das nicht wieder machen. Dein Unterbewusstsein ist mir zu verwirrend.“ „Das ist ein Argument.“ stimmte Catherine scherzhaft zu, schüttelte aber den Kopf. „Ich brauche erst etwas zu essen.“ erklärte sie, als sie Leas und Louis’ fragenden Blicken begegnete. Catherine richtete in der Küche Brote für Lea und sich und ließ ihren Blick dabei in der Küche umherschweifen, ohne etwas Wichtiges oder Verdächtiges zu entdecken. Sie wurde langsam in der Tat paranoid – nun, ja: solange das Lestat nichts ausmachte... Ein stechender, gewaltiger Schmerz breitete sich urplötzlich in Catherines Kopf aus, sodass sie das Messer fallen ließ und vor dem Tisch in die Knie ging. Ihr Mund war geöffnet, doch kein Schrei drang über ihre Lippen. Sie presste ihre Hände gegen ihre Schläfen, weil sie glaubte, ihr Schädel würde explodieren. Ihre Augen verweigerten ihr eine klare Sicht, doch sie schloss sie wegen der starken Schmerzen sowieso unwillkürlich. Catherine verstand nicht, woher diese Kopfschmerzen plötzlich kamen, warum ihr Herz raste, als würde es gleich zerspringen, warum Schwindel ihre Glieder lähmte, obwohl sie auf dem Boden kniete. „Gott!“ hauchte sie nur und beugte ihren Oberkörper nach vorne, als sie auch noch Übelkeit in sich aufsteigen fühlte. „Nicht gut.“ fügte sie unter heftigem Kopfschütteln hinzu und rollte sich auf dem Fußboden zusammen, wo sie sich zu ruhigem und kontrolliertem Atmen zwang. Sie konnte unmöglich sagen, wie lange sie auf dem Boden gekauert und die Schmerzen ertragen hatte, die sie immernoch leicht verspürte. Catherine fasste sich an den Kopf, wischte sich den Schweiß von Stirn, Wangen und Nacken und lehnte sich dann erschöpft gegen das Küchenmöbel. Sie fühlte sich, als habe sie stundenlang trainiert: Ihre Knochen taten ihr weh, ihre Muskeln spannten, ihr Atem war flach und immernoch stoßweise. Kurz schloss sie noch einmal die Augen und beruhigte ihre Gedanken, ehe sie die Augen wieder öffnete und einige Augenblicke lang, schwarze und weiße Flecken vor ihren Augen tanzten und ihre Sicht einschränkten. Ein seltsamer Migräneanfall – stärker als jeder, den sie bisher gehabt hatte, doch wahrscheinlich nichts anderes als das. Vor allem die Übelkeit zu den Kopfschmerzen sprach dafür, das wusste Catherine. Langsam erhob sie sich, schüttelte den Kopf und sammelte sich, ehe sie das Brotmesser und die Lebensmittel wegräumte und mit dem Teller voller belegter Brote nach oben ging. Sie hörte Louis’ eindringliche Stimme aus dem Raum tönen, bevor sie ihn überhaupt betrat, doch sie konnte nicht verstehen, was er sagte. „Catherine!“ rief er schließlich nach ihr, als sie die Tür aufstieß und eintrat. Catherine blieb eine Sekunde geschockt stehen, konnte kaum fassen, was sie sah, ließ beinahe den Teller fallen und reagierte dann geistesabwesend. Unsanft stellte sie den Teller ab und eilte zu Lea, die in aufrechter Haltung ungefähr einen halben Meter über der Erde schwebte. Ihre Arme waren seitlich vom Körper gestreckt, ihr Kopf leicht in den Nacken gefallen und ihr Haar war lose und wehte in alle Richtungen, da sich Lea in der Mitte eines von ihr selbst ausgehenden Sturmes befand. Catherine griff nach ihren Armen und wollte Lea zurück auf den Boden und in ihre Arme ziehen, doch eine unsichtbare Macht schien sie in ihrer Position zu halten. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte Louis dicht neben Catherine, doch die konnte nur den Kopf schütteln, rannte zur Wand und zog eine der Waffen hinter dem Familienwappen hervor, wie sie es vor Monaten schon einmal getan hatte. „Bist du wahnsinnig?“ schrie Louis und stellte sich zwischen Catherine und Lea, die von alledem nichts mitbekam. „Nur zur Sicherheit.“ erklärte Catherine schnell, drängte sich an Louis vorbei und blieb vor Lea stehen. „Sicherheit? Meinst du, sie könnte… Lea würde nie…“ „Ich habe keine Ahnung, was hier geschieht! Da habe ich lieber eine Waffe in der Hand.“ erwiderte sie und warf ihm einen beruhigenden Blick zu. Louis blieb stumm, blickte von ihr zu Lea und wieder zurück zu ihr und wartete ebenso ab wie Catherine, deren scheinbare Ruhe er nur bewundern konnte. „Halte sie, Louis. Ich weiß nicht, was sie tun wird, aber halte sie!“ meinte Catherine nur, als Lea die Augen öffnete, aus denen nur weißbläuliches Licht schien, das ihre Iris völlig verschluckt zu haben schien. Louis umfing Leas Körper mit seinen Armen und hielt sie fest, doch sie wehrte sich nicht. Sie nahm ihn auch nicht wahr, doch Catherine fiel auf, dass der Wind, in dem sich Lea und nun auch Louis befanden, überhaupt nicht auf Louis auswirkte. Lediglich Lea spürte ihn. Lediglich Leas Kleidung und Haar wurde von ihm bewegt. Nichts sonst. Was auch immer gerade mit Lea geschah, schien keine Gefahr für sie zu bedeuten, und Lea versuchte ja auch nicht, irgendwie zu handeln. „Sie wird eiskalt!“ rief Louis entsetzt, doch Catherine legte ihm nur ihre Hand auf die Schulter. „Der ganze Raum ist kalt.“ entgegnete sie und wollte ihn damit beruhigen, doch es nützte nichts. „Die Kälte geht von ihr aus! Catherine, was geschieht hier? Was geschieht mit Lea?“ „Ich habe keine Ahnung, Louis, aber sie scheint uns nichts tun zu wollen.“ Catherine war versucht, ihre Worte zurückzunehmen, als das weißbläuliche Licht sich über Leas Haut und Haar ausbreitete und es so aussah, als würde das Licht aus ihrem Inneren kommen. Sie war richtig unheimlich und erinnerte Catherine an eine Banshee, doch sie blieb stumm und stieß keine Warnung eines bevorstehenden Todes aus. In Leas nach oben gedrehten Handflächen formten sich zwei Lichtkegel, die Louis Augen noch weiter werden ließen. „Was kommt jetzt noch?“ fragte er atemlos, doch erwartete keine Antwort, die er auch nicht bekam. Catherine rückte ein Stück näher heran, achtete darauf, dass ihre Waffe hinter ihrem Rücken war, und Louis so nicht aufregte, und starrte auf die Lichtkegel, die langsam eine Form anzunehmen schienen. Aufmerksam kniff Catherine ihre Augen zusammen und erkannte schließlich aus Lichtstrahlen die Form eines Baumes, in dessen Schnittstelle zwischen Stamm und Zweigen ein Pentagramm eingefügt war, in Leas linker Hand, und die Form eines Dolches in ihrer rechten Hand. „Sie will sprechen!“ meinte Louis atemlos und näherte sein Ohr Leas Lippen, die sich zaghaft und kaum sichtbar bewegten. „Was sagt sie?“ Catherine wandte ihren Blick nicht von Leas rechter Hand mit dem Dolch aus Licht, um Louis und Lea anzusehen, und vernahm plötzlich Leas klare Stimme. „Ich bin die Erbin der Schützerin. Schutz genoss ich mein Leben lang, nun gewähre ich Schutz.“ meinte sie und brach kraftlos in Louis’ Arme zusammen, als das letzte Wort ihre Lippen verlassen hatte. „Lea, Lea… Kannst du mich hören?“ fragte Louis eindringlich, blickte fragend zu Catherine und dann wieder prüfend auf Lea. „Sie reagiert nicht, Catherine!“ Catherine legte die Waffe auf den Boden, kniete sich langsam neben Louis nieder, der Leas leblosen Körper hielt, und befühlte ihre Stirn, die eine normale Temperatur hatte, und prüfte ihren Puls, der nicht ungewöhnlich schnell oder langsam war. „Louis, sie wird zu sich kommen. Ich kann nicht feststellen, dass es ihr schlecht geht. Sie sieht für mich einfach bewusstlos aus.“ meinte Catherine und sah zum Sofa. „Bring’ sie auf das Sofa und leg’ ihre Beine seitlich über die Rückenlehne. Ich hole etwas Kühles für ihre Stirn.“ bat Catherine und verließ schnell den Raum. Catherine bemerkte, dass sie sich sehr konzentrieren musste, um nicht zu stolpern oder etwas umzuwerfen, da sie mit ihren Kopfschmerzen so ungeschickt war, als sie in die Küche hinunter eilte, ein feuchtkühles Tuch holte und es kurze Zeit später Louis in die Hand drückte, damit er Leas Wangen, Stirn und Nacken kühlen konnte. Kapitel 96: Das Beltanenfeuer ----------------------------- Das Beltanenfeuer Nach einer Weile bewegten sich wieder Leas Lippen und Louis beugte sich zu ihr hinunter, damit er ihre Worte verstehen konnte. „Teagair.“ murmelte sie matt. „Ich verstehe nicht, was du sagst, Lea.“ entgegnete Louis und blickte hilfesuchend zu Catherine, als sie nichts mehr erwiderte. „Sprich’ sie mit ihrem Hexennamen an. Vielleicht reagiert sie dann.“ schlug Catherine vor, der langsam aber sicher dämmerte, dass irgendetwas Besonderes mit Lea geschehen war. „Nyah, mein heller Schein, sprich’ mit mir.“ flüsterte Louis und Catherine fühlte sich genötigt, sich ein wenig von ihnen zu entfernen, da der Moment so intim war, doch sie konnte noch hören, was Lea als nächstes sagte: „Ich bin Nyah, ihre Erbin.“ „Wer ist Teagair, Nyah?“ „Teagair ist die Schützerin…“ entgegnete Lea, doch war noch nicht bei sich. „Ich verstehe nicht, was sie sagt.“ gestand Louis und Catherine nickte. „Teagair ist keine Göttin des keltischen Pantheons, doch die Hexen von Thirlestane Castle sehen sie als ihre Schutzgöttin an. Sie bewahrt das Gleichgewicht und ist die Hüterin des Lebens, die auch mit Gerechtigkeit, Gnade und Verständnis verbunden wird.“ erklärte Catherine und dachte einen Augenblick nach. „Das sind nicht gerade die Eigenschaften, die Elizabeth an den Tag gelegt hat…“ „Das Feuer versengt die falschen Dienerinnen, die Hass gesät, wo der Baum des Lebens blühte. Ihr Blut fließt rot über leblosen Stein, versickert im Boden, die Toten zu wecken und das dunkle Werk zu vollenden, das von Feindeshand begonnen ward.“ unterbrach Lea Louis und fiel erneut in eine tiefere Bewusstlosigkeit. „Was soll das nun heißen?“ fragte Louis beinahe panisch. „Hm…“ überlegte Catherine, nickte aber währenddessen. „Lassen wir Lea Zeit. Sie scheint außer Gefahr zu sein. Vielleicht kann sie uns später erklären, was mit dem Ganzen auf sich hat.“ fuhr sie fort und setzte sich in den Sessel. Was auch immer mit Lea geschehen war, konnte etwas damit zu tun haben, was ihr in der Küche passiert war, denn inzwischen konnte Catherine nicht mehr an einen Migräneanfall glauben. Catherine nahm das Buch vom kleinen Tisch neben ihr und schlug es auf, um Louis das Gefühl zu geben, dass sie sich keine Sorgen machte. Das letzte, was sie alle brauchen konnten, war ein panischer und überbesorgter Unsterblicher. Dichte Dunkelheit umfing Lestat, Marius, Armand und David, als sie Catherines Plan durch die Katakomben folgten. Lestat hatte vor einiger Zeit ein seltsames Gefühl empfunden, das Lea betroffen hatte und nun wieder verstummt war. Nur weil er sich sicher war, dass nun alles in Ordnung war, hatte er bisher sein Schweigen nicht gebrochen. Keiner von ihnen sprach ein Wort und auch ihre Schritte waren in den leeren Gängen nicht zu hören. Catherine hatte Recht gehabt: beinahe kein anderer war in dieser Nacht unterwegs, weshalb sie ohne größere Probleme in einen runden Saal gelangten, den Catherine als zentralen Punkt angegeben hatte. „Das also ist der Kern dieser Bruderschaft.“ flüsterte David und sah sich bewundernd um. Die hohe Decke war in einer Kuppel geformt, die so hoch war, dass sie völlig im Dunkeln lag. An den Wänden brannten Ölleuchten in Formen von großen Fackeln und ließen das Feuer auf dem glatt polierten, schwarzen Steinboden des kreisrunden Saals reflektieren. Im Boden befand sich durch dunkelgrünen, blauen und weißen Stein eingelegt eine runde, riesige Darstellung der Welt mit beschrifteten Ländern und Meeren, verschiedenen Symbolen für die vier Himmelsrichtungen und außerhalb der Erdkugel die bekanntesten Sternbilder an ihrer richtigen Stelle sowie die Planeten. „Das ist unglaublich.“ murmelte Marius und studierte die Darstellung genauer. „Die Welt ist beinahe korrekt dargestellt, aber die Weise der Darstellung erinnert mich an eine Zeit weit vor der Neuzeit. Amerika war zur Zeit dieses Werkes noch nicht einmal von Christoph Columbus entdeckt, dennoch ist der Kontinent hier zu finden. Ebenso wie Australien! Das ist unglaublich.“ erklärte Marius und wies auf die Erdkugel, die Europa in ihrer Mitte zeigte, an den Rändern jedoch Teile anderer Kontinente sehen ließ, die sogar beschriftet waren. David nickte staunend und sah so aus, als habe er die Bruderschaft sein ganzes Leben lang unterschätzt. Ein dunkler Ausdruck lag über seinem Gesicht, der den Vampiren trotz des schlechten Lichtes deutlich auffiel. „Und das Augenfälligste: Die Erde ist als Kugel dargestellt – für diese Zeit ist das eine Revolution der Gedanken! Dass ein Orden der Kirche dieses Wissen…“ „Vergiss’ nicht, dass die Anfänge dieses Ordens weit vor den Anfängen der Kirche liegen.“ warf Marius ein, doch David ging nicht darauf ein. „… schon zu dieser Zeit angenommen hat, ist ebenfalls unglaublich. Und hier haben wir die Darstellung des Sonnensystems mit der Sonne als Mittelpunkt und den Planeten, die sich um sie drehen, obwohl Galileo Galilei erst 1992 offiziell und formal von der römisch-katholischen Kirche rehabilitiert wurde.“ sprach er ungehindert weiter. Lestat zog die Augenbrauen hoch und hoffte, dass Davids Ausführungen bald enden würden. Er wollte nicht unbedingt unnötig Zeit verschwenden – ob die Bruderschaft nun eine Hofburg der Wissenschaften war oder nicht… Ihr Verhalten, von dem Catherine ihm erzählt hatte, machte das alles eh ziemlich schnell zunichte. „Es scheint mir, als dringt das Wissen der Bruderschaft noch viel weiter in die Tiefe und die Vergangenheit, als ich bisher angenommen habe.“ fuhr er leise fort. „Dann bin ich zuversichtlich, dass uns die Archive auch weiterhelfen werden.“ entgegnete Lestat und sah sich weiter im Saal um. Lea lag schon eine ganze Weile unter Louis’ wachsamem Blick still auf dem Sofa und machte einen recht friedlichen Eindruck. Catherine hatte sich gänzlich entspannt, die Waffe aufgeräumt und wartete nun mit dem Buch in der Hand darauf, dass Lea wieder zu sich kam. Kopfschmerzen hatte sie immer noch. „Sollten wir nicht doch Bruyard rufen?“ „Nein, Louis.“ entgegnete Catherine etwas ungeduldig, da er das nicht zum ersten Mal sagte. Und da beschwerte er sich über sie? Louis nickte, als wolle er auf ihre ungestellte Frage antworten, und wandte den Blick wieder von Catherine ab, die geräuschlos ihr Buch zuklappte und es auf ihrem Schoß liegen ließ. Es dauerte eine Weile, ehe sie bemerkte, dass sie so ähnlich schon einmal im Sessel im Salon gesessen und auf ihre Eltern gewartet hatte. Die Ungewissheit des Wartens. Die Kälte des Schweigens. Die Stille des Hauses. Lediglich das Ticken der alten Uhr und Louis’ Stimme durchbrachen diese Stille ab und zu, wofür Catherine trotz allem dankbar war. So war nicht alles wie in dieser Winternacht, in der sie mit ihrem Bruder vergeblich auf die Eltern gewartet hatte und Signore Daniele in ihrer beider Leben getreten war. „Fernsehen.“ murmelte Lea vom Sofa und Catherine blickte hinüber. Louis war über sie gebeugt und bat Lea gerade, noch einmal mit ihm zu sprechen, doch wieder sagte sie nur ‚Fernsehen’ und nichts weiter. Catherine erhob sich und ging hinüber, um sich ebenfalls an Leas Seite zu setzen. Louis blickte sie mit einem fragenden Blick an, auf den Catherine nur die Schultern zucken konnte, als Lea die Augen aufschlug. „Nachrichten.“ sagte sie. „Schaltet die Nachrichten ein.“ fuhr sie fort, worauf Catherine sich erhob und zum Fernsehgerät ging, um es ohne Gegenfragen einzuschalten. Catherine schaltete durch einige Programme, blickte dabei auf die Uhr und versuchte auf den öffentlichen Programmen eine Nachrichtensendung zu finden. Lea wiederholte noch einmal, dass sie Nachrichten sehen wollte, worauf Louis eindringlich fragte, was genau sie sehen wollte, doch Lea antwortete nicht, sondern schüttelte nur immer noch schwach den Kopf. Catherine schaltete durch die Nachrichtensender France 24, TV 7 Bordeaux, Itele, France 5 und Senat, ehe sie zu TF 1 schaltete, wo das Bild, das über den Bildschirm flackerte, sie innehalten ließ. „Oh, mein Gott.“ murmelte sie und hatte damit zumindest Louis’ Aufmerksamkeit, der hinter sie trat und ebenfalls in den Bildschirm blickte. Blaulicht von Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr, der Ambulanz und der Polizei warf flackerndes Licht über eine dunkle, von Asche geschwärzte Fassade, hinter der Rauch in den nächtlichen Himmel stieg. Rettungs- und Einsatzkräfte versuchten Ordnung in das Chaos zu bringen und zu retten, was noch zu retten war. Catherine Blick fiel schnell auf die Bildbeischrift ‚Irvine, Schottland’, ehe das Bild zurück zu einem Sprecher wechselte, der vor dunklen Ruinen eines Gebäudes stand, das Catherine sehr schnell wiedererkannte und das an manchen Stellen noch rot und hell glimmte. ‚Dank der eisernen Bemühungen der Feuerwehr ist das Feuer nach seinem Ausbruch am späten Abend nach vier Stunden unter Kontrolle. Die Ursache des Brandes ist weiterhin unklar. Die Polizei und Feuerwehr spricht bisher von sechzehn Toten, die aus den Flammen geborgen wurden. Man geht davon aus, dass sich noch weitere sieben Opfer in den Trümmern befinden.’ Catherine starrte fassungslos auf den Bildschirm, der nun einen anderen kurzen Nachrichtenfilm von einem anderen Teil Europas zeigte, und blickte dann zu Louis, der ebenfalls überrascht und fassungslos war. Thirlestane Castle war abgebrannt und das ausgerechnet in der Nacht des 1. Mai – an Beltane, dem höchsten Fest im Jahr der Hexen. Nein, das war mit Sicherheit kein Zufall. Kapitel 97: Der verletzte Eid ----------------------------- Der verletzte Eid Louis und Catherine sahen sich unschlüssig an, ehe beide zu Lea sahen, die ruhig auf dem Sofa saß. Catherine war sie etwas zu ruhig, doch sie war wach und blickte in ihre Richtung. „Wie geht es dir?“ fragte Catherine und schaltete den Fernsehapparat aus. „Gut. Den Umständen entsprechend, denke ich.“ entgegnete Lea leise und lächelte. „Das bringt mich zu meiner Frage.“ meinte Louis und setzte sich neben Lea. „Was ist mit dir passiert?“ „Ich bin… Ich habe…“ begann Lea, doch schüttelte den Kopf, da sie nicht wusste, wie sie es erklären sollte. Catherine reichte ihr ein Glas Wasser und sah zu, wie sie einige Schlücke trank, ehe sie das Glas zurückgab. „Wie geht es dir, Catherine?“ fragte Lea und blickte sie prüfend an. „Mir? Wieso… mir?“ „Ja, das verstehe ich auch nicht.“ gab Louis zu und blickte von Catherine und Lea hin und her, zwischen denen sich eine Art unsichtbares Band entwickelt zu haben schien. Leas Augen hielten Catherines Blick aufmerksam und auch Catherine blickte Lea aufmerksam an, als würde sie abschätzen, was sie ihr anvertrauen konnte und was nicht. Ihre Körper waren beide entspannt, doch dennoch zurückhaltend und vorsichtig, als wüssten weder Catherine noch Lea, was sie voneinander halten sollten. Sie waren trotz ihrer offensichtlichen Neugier und Offenheit beinahe in einer Verteidigungshaltung dem anderen gegenüber. Lestat hatte es aufgegeben, die anderen zur Eile anzutreiben, denn sie waren zu fasziniert von der Darstellung der Welt im runden Saal. David studierte die Formen und und Grenzen der Länder, die Meere, bei denen er völlig begeistert auch bekannte, alte Seerouten eingefügt entdeckte. Marius hatte an den Wänden ebenfalls Malereien entdeckt, die allerdings schon sehr zerstört waren – was ihm Rätsel aufgab. Warum ließ diese Organisation, die den Boden offenbar pflegte, die Wände derart von der Zeit zerstören? Das wollte untersucht werden… Nur Armand stand noch immer an der Stelle, an die er getreten war, als sie den Raum betreten hatten, und lauschte nach eventuellen Geräuschen, die ihm verdächtig vorkamen. Lestat bedachte die Gänge, die von diesem runden Saal ausgingen, mit einem flüchtigen Blick, doch das Bild auf dem Boden hatte wie die anderen auch ihn gefesselt, sodass sein Blick schnell zu ihm zurückkehrte, obwohl er nicht in diesem Saal verweilen wollte. Um das gesamte Bild verlief auf einem Ring auf weißem Stein eine Inschrift, die mit rotem Mosaik in den Grund gelegt worden war. Lestat trat ein Stück von Armand weg, der unbewegt mehr seine Gefährten als den Saal betrachtete, und folgte dem Schriftlauf, während er die Worte in lateinischer Sprache still las und gleichzeitig übersetzte und vorlas: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. Ein Tag sagt’s dem anderen und eine Nacht tut’s kund der anderen; ohne Sprache und ohne Worte, unhörbar ist seine Stimme. Ihr Schall geht aus in alle Lande und ihr Reden bis an die Enden der Welt.“ „Das ist der Beginn des neunzehnten Psalm.“ sagte Armand und Lestat nickte, da er das auch wusste, worauf Armand das Gesicht verzog und Lestat auf den Plan in seiner Hand sah. „Catherine hat drei Gänge aufgezeichnet, die von diesem Saal abzweigen.“ meinte Lestat nach einer Weile. „Und? Wo ist das Problem?“ fragte Armand und blickte sich um. „Ich sehe vier.“ entgegnete Lestat und wies mit dem Kinn zu dem Gang, der sich Richtung Norden vom runden Saal trennte. „Welchen müssen wir nehmen?“ fragte Marius, doch sah wie Lestat in diesen nördlichen Gang. „In die Bibliothek führt der östliche Gang.“ meinte Lestat, wies mit dem Plan in die richtige Richtung und ging voran, damit ihm die anderen folgen konnten. „Okay, was ist los mit euch?“ fragte Louis verwirrt, da Catherine und Lea ihre Position einige Minuten nicht verändert hatten und sich anschwiegen, als würden sie sich immer noch gegenseitig abschätzen. „Der Brand in Thirlestane Castle war kein Zufall, doch das hast du schon vermutet, nicht wahr, Catherine?“ ignorierte Lea Louis Worte und wandte den Blick nicht von Catherine ab. „Es kann kein Zufall sein – nicht in dieser Nacht. Ich vermute, die Bruderschaft…“ begann Catherine, doch Lea schüttelte den Kopf. „Ich habe gesehen, was geschehen ist. Ich habe alles gesehen. Es war nicht die Bruderschaft. Die einzige Schuld der Bruderschaft besteht darin, dass sie wusste, was geschehen würde. Es war Saerlaith selbst.“ Catherine schüttelte ungläubig den Kopf, doch sie zweifelte nicht an Leas Worten. Wenn Lea sagte, dass Elizabeth für das Unglück verantwortlich war, dann stimmte das auch. „Du müsstest auch etwas gespürt haben, als das Feuer ausbrach, Catherine – wie ich.“ meinte Lea weiter und musterte Catherine. „Was hat sie davon? Was hat Elizabeth davon?“ fragte Catherine, ohne auf Leas Worte einzugehen. „Sie denkt immer noch, dass sie Morair erwecken kann. Nun, sie dachte es.“ „Heißt das…?“ „Sie starb in den Flammen.“ erläuterte Lea nüchtern. „Hat sie das beabsichtigt?“ „Nein.“ „Was ist geschehen, Lea? Du sagst, du weißt, was geschehen ist.“ „Saerlaith feierte mit den Mädchen Beltane. Sie hatte ihren teuflischen Plan schon seit längerer Zeit gefasst: Das Blut von einundzwanzig Mädchen in den Flammen – diese Nacht bot die Gelegenheit. Elatha sollte sich in London aufhalten, und da Saerlaith sie nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte, traf sich das sehr gut. Du musst wissen, dass Saerlaith und Elatha seit meiner Entführung heimlich gegeneinander gearbeitet haben: Saerlaith für ihre Rache mit Hilfe Morairs, Elatha unter dem Deckmantel der Talamasca für die Bruderschaft. Gerade noch rechtzeitig spielte die Bruderschaft Elatha Informationen zu, dass sie nur noch zwei und zwei zusammenzählen musste: Saerlaith plante, mit dem Blut der Mädchen endlich den letzten Schritt zu machen, der Morair erwecken würde – der letzte, der noch eine Chance hatte, Erfolg zu haben, nachdem alles andere keinen Erfolg gebracht hatte. Natürlich rechnete die Bruderschaft damit, dass Saerlaith und Elatha sich uneinig sein würden – die eine wollte Morair erwecken, die andere dies auf jeden Fall verhindern. In ihrer Treue zur Bruderschaft reiste Elatha also zurück nach Irvine, um das Werk ihrer Mutter zu vereiteln, doch es kam zu einem riesigen Streit, den die beiden im Büro führten. Die Mädchen feierten währenddessen weiter, waren fröhlich und ausgelassen und tranken aus ihren Gläsern, in denen allesamt ein starkes Beruhigungsmittel mit dem Getränk vermischt war. Der Streit im Büro eskalierte: Saerlaith griff nach einer Vase und schlug sie Elatha auf den Kopf, sodass sie zusammenbrach. Dann eilte Saerlaith zu den Mädchen, bei denen das Medikament gewirkt hatte, und legte das Feuer. Saerlaith schloss die Tür und wartete, bis sie draußen vor der Tür die Flammen fühlen konnte, begab sich dann langsam, und immer mehrere Schritte vom Feuer und Rauch zurückweichend zu ihrem Büro, von wo aus sie die Feuerwehr rufen wollte, um zu verhindern, dass später der Verdacht auf sie fiel. Sie tat ihren Anruf, legte auf und wurde von Elatha mit dem Brieföffner lebensgefährlich verletzt, die eben nicht erschlagen, sondern nur bewusstlos gewesen war. Saerlaith riss Elatha mit zu Boden und Schlug ihren Kopf hart gegen den Holzboden.“ fasste Lea zusammen und blickte das erste Mal hinab auf ihre Hände, die leicht zitterten. „Sie starben beide.“ fügte sie hinzu und sah wieder auf. Catherine nickte erschüttert und wusste nicht, was sie sagen sollte. Louis begnügte sich ebenfalls damit, den Arm um Leas Schultern zu legen – nicht, da sie sonderlich um ihre schon vorher verlassene Familie trauerte, sondern da sie das alles hatte sehen müssen. „Sag’ mir nicht, dass du nicht gespürt hast, als es geschehen ist.“ „Ich hatte… habe… Kopfschmerzen.“ gestand Catherine und erzählte Lea auf deren Bitten genau, wie es ihr in der Küche ergangen war. Lea lächelte plötzlich, was weder Catherine noch Louis verstanden. „Du bist noch du. Das war Morairs letzter Versuch, deinen Körper zu übernehmen, denke ich. Sie hat versagt. Du bist stärker.“ erklärte sie schnell. „Na, dann. Wenn das so ist, haben wir tatsächlich einen Grund zur Freude, auch wenn es mir schwer fällt, mich zu freuen.“ meinte Catherine, worauf Lea düster nickte und Louis Arm von ihrer Schulter streifte. „Das ist wahr. Es sind viele Unschuldige gestorben in dieser Nacht.“ gab Lea traurig zu und blickte auf den Tisch. „Das Feuer versengt die falschen Dienerinnen, die Hass gesät, wo der Baum des Lebens blühte. Ihr Blut fließt rot über leblosen Stein, versickert im Boden, die Toten zu wecken und das dunkle Werk zu vollenden, das von Feindeshand begonnen ward.“ flüsterte Lea tonlos und suchte Catherines Blick, die Lea ruhig ansah. „Weißt du, was das bedeutet?“ „Nein.“ gab Catherine zu. „Teagair ist die Schützerin unseres Hauses gewesen. Sie … Ich glaube, du hast Louis vorhin erklärt, was sie für uns ist.“ „Ja, ganz knapp.“ erwiderte Louis und Catherine nickte. „Wie ihre Vorgängerinnen leistete Saerlaith einen Eid, als sie von ihrer Mutter die Rolle übernahm, die ihr bestimmt war, die Verantwortung für die jungen Hexen mit sich brachte. Sie schwor im Namen Teagairs, für ihr Wohl zu sorgen, sie zu schützen und sie in ihren Kräften zu unterrichten, ihnen Verständnis für Gerechtigkeit, Gnade und Toleranz zu vermitteln, dass sie im Erwachsenenalter mit dem angemessenen Bewusstsein um ihre Macht in ihr eigenes Leben entlassen werden konnten. Die Idee von Thirlestane Castle war ursprünglich keinesfalls eine Idee der Trennung von anderen Menschen, sondern die Idee eines möglichen Miteinanders, das nun einmal nur möglich ist, wenn Hexen ihre Kräfte weise und im Verborgenen einsetzen – wenn sie es überhaupt tun.“ erklärte Lea, doch auch sie hatte dieses Wissen erst erlangt, und fuhr fort: „Saerlaith hat ihren Eid wissentlich nicht erfüllt. Elatha hätte es nicht getan, denn sie stand im Bund mit anderen schlechten Menschen und betrieb mit ihnen ihre dunklen Machenschaften. Sie sind die falschen Dienerinnen.“ Kapitel 98: Entfesselte Kräfte ------------------------------ Entfesselte Kräfte „Man könnte meinen, Teagair habe sich gerächt.“ entgegnete Louis nach einer kleinen Pause, in der er über Leas Worte nachgedacht hatte, worauf Lea erst nickte, doch dann den Kopf schüttelte. „Teagair ist eine Vorstellung. Sie existiert nicht wirklich. Sie ist Moral und Sinn – handeln kann sie nicht.“ erklärte Lea und blickte zu Catherine, die stumm auf dem Sofa saß und Leas Blick spürte. „Und dennoch wird ihr Blut das dunkle Werk vollenden, das von Feindeshand begonnen worden ist.“ meinte sie, doch war auf Lea angewiesen, die ihr erklärte, was es damit auf sich hatte. „Ich weiß nicht genau, welches dunkle Werk es ist, doch es ist, was immer die Bruderschaft plant. Es weckt die Toten – das kann nicht nur wörtlich verstanden werden.“ „Nun, hoffentlich ist es hier nicht wörtlich gemeint!“ atmete Catherine wie ein Stoßgebet zum Himmel aus. „Ich denke immer mehr, dass Saerlaith und die Bruderschaft denselben Sachverhalt verschieden ausgelegt haben. Dein Blut floss in die Flammen, Catherine, und damit begann unweigerlich alles. Saerlaith opferte das Blut von einundzwanzig Unschuldigen, weshalb Morair erstarkte, dich jedoch nicht überwältigen konnte. Und die Bruderschaft warf zwei Schuldige in die Flammen… Vielleicht gehört beides zusammen – vielleicht ist beides nötig, dass das große Ganze sich erfüllt…. Ich weiß es nicht.“ entgegnete Lea und blickte von Louis zu Catherine und wieder zu Louis. „Beide Parteien verfolgen ein anderes Ziel, dennoch sind die Wege miteinander verschlungen? Das ist durchaus möglich.“ stimmte Catherine zu und wusste, dass sie noch schlauer wären, wenn Lestat und die anderen aus Rom zurückkehrten und über die Ziele der Bruderschaft Bescheid wussten. „Was machen deine Kopfschmerzen, Catherine?“ „Sie sind noch da, doch bei weitem nicht so schlimm wie in der Küche.“ „Nachwirkungen des Kampfes um deinen Körper.“ meinte Lea und jagte Catherine damit einen Schauer über den Rücken. „Es scheint mir, Lestat hat Recht.“ sagte Louis und erntete dabei die überraschten Blicke von Catherine und Lea, weshalb er meinte: „Catherine sollte man wirklich keine Sekunde aus den Augen lassen.“ Catherine lächelte flüchtig unter einem Anflug von Humor, mit dem sie Louis auch zustimmte, doch es ängstigte sie, dass es genauso gut auch anders hätte kommen können: Es wäre möglich gewesen, dass sie nicht stärker gewesen wäre, dass sie Morair geworden wäre…. Gegen wen hätte sich ihr Hass zuerst gerichtet? Lea? Louis? Nein, sie wollte nicht daran denken, weshalb sie schnell die Augen schloss und ihre Hände zu Fäusten ballte. Es war nicht so gekommen – das war alles, was zählte. Nach einer Weile fragte Louis wieder, wie es den beiden Frauen ging, die man in seiner Obhut gelassen hatte, und es war schwer zu entscheiden, welche Antwort er hören wollte. Catherine nickte und winkte ab. Die Kopfschmerzen waren zwar auch jetzt immer noch da, doch schon wieder etwas schwächer geworden – seit er das letzte Mal gefragt hatte. Lea saß still auf dem Platz, an dem sie von Louis abgesetzt worden war, und rührte sich nicht. „Ich fühle mich seltsam.“ gestand sie leise und verursachte damit eine neue Welle der Nervosität bei Louis. „Nein, nicht so seltsam, aber mein Herz rast und mir ist warm.“ erklärte sie und Louis erhob sich. „Wohin gehst du?“ fragte Catherine und blickte ihm nach. „Ich öffne das Fenster. Es ist wirklich etwas warm hier drinnen.“ erklärte er und beiden nickten. „Das muss noch eine Auswirkung der Energie sein, die du freigesetzt hast.“ mutmaßte Catherine und Lea zog eine Augenbraue hoch. „Ich habe noch nie davon gehört, dass eine Hexe Energie freisetzt.“ meinte sie und fügte hinzu: „Und radioaktiv bin ich auch nicht.“ „Das ist nicht witzig.“ entgegnete Louis, der das Fenster kippte und wieder zurück zum Sofa kam. Catherine musste sich ein Lächeln verkneifen, um ernst zu bleiben. „Es hat sich eher so angefühlt, als würde die Energie zu mir kommen – nicht aus mir heraus. Abgesehen davon, dass ich mich ansonst kaum an etwas erinnere, kann ich das schon sagen.“ seufzte Lea. Nachdenklich lehnte sie sich nach vorne, um ihr Glas zu ergreifen, das etwas weiter von ihr weg auf dem Tisch stand, doch sie erreichte es nicht. Gerade als Louis ihr es reichen wollte, befand es sich aber durch eine unsichtbare Kraft bewegt in Leas Hand, die es überrascht anblickte. Louis zuckte vor Schreck leicht zusammen. Catherine sog scharf die Luft ein und blickte zwischen Lea, Louis und dem Glas argwöhnisch hin und her. „Okay… Was war das gerade?“ flüsterte sie tonlos, als sie sich etwas gefasst hatte. „Das war… ich.“ entgegnete Lea nicht minder erschrocken. „Und wie hast du das gemacht?“ fragte Catherine weiter, die auf einmal das Gefühl hatte, dass wenn sie Fragen stellte, die ganze Situation nicht so unheimlich war. „Ich wollte das Glas und einen Moment später hatte ich es in der Hand.“ „Ja, das habe ich gesehen.“ meinte Louis, der damit Catherine etwas voraushatte, denn sie hatte das ganze Schauspiel nicht ganz mitbekommen, da sich das Glas etwas zu schnell bewegt hatte, sodass sie es kaum mit ihren Augen wahrnehmen konnte. „Telekinese? Oder Psychokinese… wie auch immer ihr das nennt.“ meinte Catherine und blickte Lea prüfend an. „Nein, diese Kraft besitze ich nicht.“ widersprach sie, doch nickte. „Nun, bisher nicht.“ erinnerte Catherine und wies mit einem anschuldigenden Zeigefinger auf das Glas in Leas Hand. „Ich wusste, dass etwas mit dir passiert ist!“ rief Louis, der sich langsam aber sicher wünschte, dass Lestat und die anderen zurückkamen. Lea blickte auf das Sofa, die Kissen und die Lehne – abwechselnd und nachdenklich. „Lea, was ist passiert?“ hörte sie Louis’ Stimme, doch reagierte nicht. „Lea, was kann es damit auf sich haben? Du hast erfahren, was geschehen ist… Schön und gut, aber das war nicht alles, oder?“ fragte Catherine nach einer Weile, in der Lea immer noch ein Kissen fixierte. „Gebt ihr beide mir vielleicht einmal fünf Sekunden, in denen ich selbst nachdenken kann!? Herrgott, ich weiß es doch auch nicht!“ rief Lea entnervt und das Kissen neben ihr zerplatzte, sodass die Federn in alle Richtungen davonstoben. Catherine schreckte zurück und sah die Federn an, die leise auf Louis’ Schenkel, Arme und Brust niedersanken. Eine hatte sich in einer Haarsträhne verfangen, doch er war zu beschäftigt damit, Lea entsetzt anzuschauen, dass er es bemerkte. „Okay… Lass’ dir ruhig Zeit.“ beruhigte Catherine Lea, erhob sich leise und nahm das zerrupfte Kissen an sich. Während Catherine darauf wartete, dass Lea etwas sagte, stellte sie fest, dass das Kissen jenseits aller Wiederherstellungshoffnungen war, und zuckte die Schultern, wobei sie es auf den Boden gleiten ließ. Langsam ließ sie ihren Blick zu Louis gleiten, der sich nicht bewegt hatte, dann wieder zu Lea, die nun mit geschlossenen Augen völlig in sich gekehrt überlegte, was gerade mit ihr geschah… beziehungsweise: was mit ihr geschehen war. „Es tut mir Leid um das Kissen.“ murmelte sie, doch Catherine gab nur ein abwehrendes Geräusch von sich, und wieder fielen alle in ein undurchdringliches Schweigen. Die Zeiger der alten Uhr auf dem Kaminsims schoben sich unter regelmäßigem Schlagen des kleinen Pendels immer weiter nach vorne. Mitternacht war schon lange Zeit vergangen, stellte Catherine fest, als sie auf das Zifferblatt blickte. „Oh, dieses blöde Tick… Tack!“ zischte Lea flüsternd und plötzlich verstummte die Uhr. „Lea!“ rief Catherine, da sie schon befürchtete, die Uhr hätte im nächsten Moment bereits auch ihre längste Zeit erlebt, doch nichts geschah. Ungläubig wagte es Catherine, einen Blick hinüber zu werfen, und stellte fest, dass lediglich das Pendel in einer Position stehen geblieben war, die der Theorie von Schwerkraft und Erdanziehung völlig widersprach – leicht schräg nämlich… „Ich schätze, ich muss lernen, mich zu zügeln.“ meinte sie entschuldigend und lehnte sich tief zurück in die Kissen, die noch übrig waren. Weder Catherine noch Louis entgegneten etwas, sondern blickten sich und Lea nur unsicher an, weshalb Lea fortfuhr: „Ich denke, es sind meine Kräfte, die sich zurückmelden. Ich hatte sie wahrscheinlich immer, doch etwas muss sie blockiert haben.“ „Etwas?“ fragte Catherine, da ihr bereits ein anderer Gedanke gekommen war. „Etwas, ja… Oder jemand.“ stimmte Lea zu und schloss für einen Moment die Augen. „Elizabeth und Elatha.“ meldete sich Louis wieder zu Wort und Lea nickte. „Entweder beide zusammen oder nur eine von ihnen. Das spielt allerdings keine Rolle und ändert nichts. Wichtig ist, dass ich lerne, diese Kräfte zu kontrollieren, ohne dass noch mehr kaputt geht.“ „Ja, und du solltest auf jeden Fall ausgeruht sein, dass du dich unter Kontrolle hast.“ meinte Catherine und erhob sich. „Wir sollten uns alle ausruhen.“ fügte sie hinzu, was auf allgemeine Zustimmung stieß. Lestat rieb sich die Brust und blickte sich unsicher um. Sie waren auf dem Rückweg und die Zeit wurde knapp, doch etwas stimmte nicht. Mit Lea schien irgendetwas vorzugehen, doch das war nicht das, was ihn beunruhigte. „Was ist nun schon wieder?“ flüsterte Marius, als er Lestats Gesichtsausdruck sah. „Blut. Es riecht nach Blut.“ entgegnete er genauso leise. „Ich kann nichts wittern.“ „Es ist nicht sehr deutlich und schon älter, aber ich… Ich kenne das Blut.“ „Du kennst das Blut?“ fragte Marius noch einmal nach, was Lestat allmählich als belästigend empfand. Sie standen wieder in dem runden Saal und Lestat stellte fest, dass sich ein leichter Luftzug bewegte, der von diesem einen Gang kam, den Catherine nicht eingezeichnet hatte. „Wir sollten uns das ansehen.“ meinte er und ging schon los, ohne auf die anderen zu warten. Sie würden ihm schon folgen. Kapitel 99: Selig sind die Toten -------------------------------- Selig sind die Toten Marius kam dicht hinter Lestat zum Stehen und blickte ihm über die Schulter. „Was ist das? Um Gottes Willen, was ist das?“ fragte er entsetzt und sah sich in dem weißen Raum um, der aussah, als handle es sich um eine Arztpraxis. Es war alles so steril, allerdings war es seltsam, dass es keinen Vorraum gab. Der Boden war mit weißen Fliesen ausgelegt. Überall standen weiße Vitrinen mit milchigen oder klaren Glasscheiben, weiße Schreibtische, weiße Stühle und allerhand elektronische Geräte. Selbst die Wände waren komplett weiß gestrichen – nun, es gab nur drei richtige Wände. An der vierten Seite verlief eine große, breite Glasfront, die den Blick in einen nächsten Raum freigab, in den seitlich eine Treppe hinabführte. „Lestat hatte Recht: es riecht nach Blut.“ stellte Armand fest und ging weiter in den Raum hinein. „Die Bruderschaft muss sich sehr sicher fühlen. Es gibt keine Überwachungskameras.“ meinte David. „Hat das Catherine nicht gesagt?“ entgegnete Lestat und wusste immer noch nicht recht, was er von all dem halten sollte. „Schon, aber Catherine hat sich auch über diesen Raum geirrt.“ „Sie wusste nicht, dass es ihn gab. Er muss neu sein. Das, was die Bruderschaft hier macht, muss neu sein.“ sagte Lestat und sah sich den Raum, der etwas unterhalb lag, genauer an. Technische Geräte. Monitore. Große, helle Leuchten, die gerade nicht angestellt waren. Klinen. Es war definitiv eine medizinische Einrichtung. Ein Labor. Lestat sog die Luft ein und schüttelte den Kopf. „Was hat das zu bedeuten?“ murmelte er und blickte hilfesuchend zu Marius und David, die sich allerdings an einem der Computer zu schaffen machten. „Ihr wisst schon, dass wir keine Aufmerksamkeit erregen sollten?“ fügte er hinzu und bekam nur ein Nicken als Antwort. Armand rüttelte an der Tür zu dem zweiten Raum und brach das Schloss auf, worauf Lestat etwas erwähnen wollte, es jedoch ließ, da es zwecklos war. Stumm folgte er Armand die Treppe hinunter und blickte sich um. Der Raum war leer und sauber. „Er scheint nicht immer leer gewesen zu sein.“ stellte Armand fest und ließ seine Hand über eine der metallenen Klinen streichen. „Es ist zwar sauber, aber nicht unbenutzt.“ fügte er hinzu, als Lestat nichts erwiderte. „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an.“ murmelte Lestat und erinnerte sich an den Schriftzug, den er über dem Eingang gelesen hatte. „Selig sind die Toten.“ „Das ist aus der Offenbarung des Johannes, oder nicht?“ fragte Armand und drehte sich zu Lestat um, weshalb er ihn nicken sah. „Wessen Blut riechst du?“ „Catherine.“ „Wie bitte? Das ist schwachsinnig, Lestat.“ „Nein, es ist ihres oder zumindest besitzt es eine sehr ähnliche Zusammensetzung.“ „Lucien?“ fragte Armand, obwohl er wusste, dass Lucien bereits zu einer Art Vampir geworden war. „Ich verstehe es auch nicht. Was macht die Bruderschaft hier unten? Es wird ja wohl keine Art Klinik für ihre Mitglieder sein.“ Catherine saß lange in ihrem Bett, ohne schlafen zu wollen. Es war ungewohnt, diese letzten Stunden der Nacht ohne Lestat zu verbringen, und auch wenn sie niemals bemerkte, wenn er sich kurz vor Sonnenaufgang von ihr verabschiedete, meinte sie nun, dass sie seine Anwesenheit immer wahrgenommen hatte und nicht ohne ihn einschlafen konnte. Es war unwahrscheinlich, dass sie in dieser Nacht noch zurückkehren würden – und Lestat mit ihnen. Sie waren schon zu lange weg und hatten wahrscheinlich viel in Erfahrung bringen können. Catherine wusste nicht genau, wie sie mit den Neuigkeiten umgehen würde. Sie hatte schließlich keine Ahnung, wie sie aussehen würden… nicht einen winzigen Anhaltspunkt, was sie erwartete, und das Drama von Thirlestane Castle ließ ihr auch keine Ruhe. Leas neue beziehungsweise ureigene Kräfte halfen nicht sonderlich dabei, sie zu beruhigen. Scheinbar überschlug sich nun alles. Scheinbar ging es tatsächlich auf das Ende zu, obwohl die Bruderschaft sich stiller verhielt, als sie es erwartet hatte. Nichts war geschehen, seit sie in Paris war. Nichts. Dabei musste sie damit rechnen, dass der Bruderschaft das nicht entgehen würde. Leas versuchte Ermordung war das letzte gewesen, was sie unternommen hatte – im Bund mit diesen hirnlosen Vampiren, diesen Blutsaugern, zu denen Lucien ebenfalls gehörte. Ja, wenn Catherine richtig und ausgiebig darüber nachdachte, war es zu still um die Bruderschaft geworden. War es die berühmte Ruhe vor dem Sturm? Lestat blickte von Marius zu David und wieder zu Armand. Es war ungeheuerlich, was sie ihm erzählt hatten, doch sie hatten ihm nur erklärt, was vor ihnen immer noch über den Monitor flimmerte. Tests. Versuche. Experimente. Ganze Reihen von Daten, die über Erfolge und Misserfolge Auskunft gaben. Eine Liste, die die verschiedenen Generationen der Entwicklung – der Schöpfung – berichtete. „Wir müssen sofort nach Paris zurück.“ flüsterte er tonlos, wobei ihm der Horror ins Gesicht geschrieben stand. „Es ist beinahe Tag…“ warf Marius ein, worauf David erwiderte: „Und wir wissen noch nicht mehr… Ich bin mir sicher, dass wir noch viel mehr finden können, wenn wir mehr Zeit haben…“ „Wir haben keine Zeit.“ unterbrach Lestat mit schneidender Stimme. „Ich muss zu Catherine. Ich werde wahnsinnig, wenn ich sie nicht beschützt weiß.“ „Louis ist doch…“ „Armand, ich habe das schlimme Gefühl, dass es nicht reicht, wenn Louis bei ihr ist.“ entgegnete Lestat. David machte sich am Computer zu schaffen und Marius blickte ihm über die Schulter, als sei das weitere Vorgehen nicht einmal zu einem Bruchteil Lestats Entscheidung. Armand schaute ihnen zu, doch warf auch immer wieder einen Blick auf Lestat, der unruhig auf und ab ging. „Es gibt einen Prototyp.“ meinte David, doch Marius schüttelte den Kopf. „Es gab einen Prototyp. Mehrere, um genau zu sein. Sie waren allesamt nicht überlebensfähig.“ meinte er und deutete auf die entsprechenden Stellen in der Datei. Eine Weile durchsuchten sie die Daten, die auf dem Computer gespeichert waren, und machten undefinierbare Geräusche, während Lestat in Gedanken seine Möglichkeiten hin und her schob, ehe ihm etwas Wichtiges einfiel, an das bisher scheinbar keiner seiner Begleiter gedacht hatte. „Wo werden sie gehalten? Sie müssen doch irgendwo untergebracht sein.“ brach er deshalb das ständige, angespannte Gemurmel und begegnete drei aufmerksamen Augenpaaren. Ein leises Klirren von Glas ließ Catherine aus ihrem leichten Schlaf aufschrecken, in den sie nach langem Nachdenken doch gesunken war. Sie hörte noch, wie die Splitter auf dem Boden zu liegen kamen, dann nichts mehr, sodass sie nicht genau sagen konnte, woher das Geräusch gekommen war. Lautlos rutschte sie vom Bett, auf das sie sich mit Kleidung gelegt hatte, und holte einen längeren Dolch aus ihrer Nachttischschublade, um vorsichtig nachzusehen, was geschehen war. Sie ließ sich nicht die Zeit, nach Schuhen zu suchen, denn schnelle Schritte huschten an ihrem Zimmer vorbei. Es waren mit Sicherheit mehrere, zu denen diese Schritte gehörten. Und es waren definitiv nicht Louis und Lea. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Aufregung… Sie lächelte gequält, da es sehr lange her war, dass sie derartige Aufregung gespürt hatte. Ihr Puls raste. Sie schluckte und spürte, wie ihre Kehle zugeschnürt war. Wachsam öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer und zwängte sich durch den Spalt in den Gang hinaus. Schnell warf sie zwei Blicke in jede Richtung und stellte fest, dass sie allein war – scheinbar. Was sich in der Dunkelheit, in den anderen Zimmern, in der Halle verbarg, konnte sie nicht sagen. Plötzlich kam ihr etwas in Erinnerung, das sie schon lange vergessen hatte: Die seltsamen Wesen, die sie zu Beginn dieses ungewöhnlichen Abenteuers in der Bibliothek angegriffen hatten… Was hatten sie gesagt? Dein Leib und deine Seele gehören schon längst nicht mehr dir… Oh, doch! Sie gehörten ihr! Und nur ihr! Nun, gut… Und Lestat. Unwillig schüttelte Catherine den Kopf. Sie musste sich konzentrieren, aber es machte sie so wütend, dass sie in all das hinein geraten war, dass sie einen Moment die Augen schließen musste, um nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Eine ungeheure Hitze erfüllte sie. Sie zwang sich, ruhig zu atmen – es war schlimm genug, dass jemand hier war, der nicht hierher gehörte, da brauchte sie es ihm nicht noch leichter machen, sie zu finden. Es kam ihr lächerlich vor, dass sie sich nur mit einem Dolch gegen eine unbekannte Zahl von Eindringlingen stellen wollte, und räumte ein, dass sie irgendwie zu Louis gelangen musste, ohne gesehen zu werden. Sie brauchte seine Hilfe. Lautlos schlich sie den Gang entlang, bemühte sich, auf den Teppichen zu gehen und öffnete schließlich leise die Tür zu Leas Zimmer. Sobald sie den Kopf hindurch streckte, blickte sie in erschrockene Gesichter und erblickte kampfbereite Haltung. Lea entspannte sich und Louis zog Catherine ganz in den Raum. „Wer ist das?“ fragte er gedämpft. „Ich habe keine Ahnung.“ gab Catherine zu und fügte ohne Atempause hinzu: „Wir sollten nachsehen.“ Louis nickte und wollte mit Catherine das Zimmer verlassen, als Lea sich ebenfalls dazu anschickte, der Sache auf den Grund zu gehen. „Nein, Lea. Du bleibst hier.“ wollte Louis bestimmen, der sicher nur ihr Bestes im Sinn hatte, doch sie schüttelte trotzig den Kopf. „Nein. Ich komme mit.“ widersprach sie und blickte zu Catherine, die ihrem Vorhaben nichts entgegensetzte. „Es ist besser, wenn ich mitkomme. Ich bin in größerer Gefahr, wenn ich allein hier bleibe.“ bearbeitete sie Louis, der schließlich widerwillig nickte. Gemeinsam schlichen sie zur Treppe und die Treppe hinunter, als drei Gestalten aus der Bibliothek kamen und wie angewurzelt stehen blieben. Auch Catherine, Louis und Lea hielten mitten in ihren Bewegungen inne und einen Moment lang standen sie sich so gegenüber. Catherine biss sich auf die Lippen, um vor Schmerz nicht laut aufzuschreien, als sie in den verzerrten Gesichtern der Gestalten, diejenigen kannte, die sie schon verloren und tot wusste: Lucien, Jacques und Clarisse. Kapitel 100: Das unabwendbare Ende ---------------------------------- Das unabwendbare Ende Catherine sagte nichts und rührte sich auch nicht. Lucien. Ihr Vater. Ihre Mutter. Sie alle standen vor ihr und blickten sie an. Sie standen vor ihr und einen Moment ertappte sie sich dabei, dass sie nicht glauben wollte, was sie eigentlich doch wusste. Sie wollte nicht glauben, dass sie nicht mehr ihre Eltern und ihr Bruder waren, doch genau das war eine Tatsache, an der niemand mehr etwas ändern konnte. „Catherine.“ flüsterte Lea und ergriff ihren Arm, um sie in die Realität zurückzuholen. „Sie sind unsere Feinde.“ entgegnete Catherine und machte sich von Lea los, um angreifen zu können, sobald es nötig war. Die Eindringlinge zogen ihre Lippen zurück und zeigten ihre spitzen, viel zu langen Fangzähne, wobei sie ein zischendes Geräusch hören ließen. Ihre Blicke hefteten sich durstig auf Catherines Kehle und jagten ihr einen Schauer über den gesamten Körper, der jedoch nicht nur ihrer Furcht, sondern auch ihrer Wut entsprang. Adrenalin rauschte durch ihre Adern. Lucien, Clarisse und Jacques sprangen auf sie zu, doch kamen nicht sonderlich weit. Louis zog Lucien und Jacques von ihr zurück, versicherte sich, dass Lea nicht in akuter Gefahr war und dass Catherine irgendetwas mit dem letzten verbleibenden Gegner tat, doch Catherine hatte mit dem Dolch nur einen Angriff abgewehrt und belauerte sich nun mit ihrer ehemaligen Mutter. Wut. Hass. Zorn. Sie vernahm Louis Stimme und auch Leas Stimme, die irgendetwas sagten. Geräusche. Krach. Verzerrte Schreie. Unbändige Wut brodelte in ihr, trieb ihr Herz zu einem rasend schnellen Tempo an und sensibilisierte ihren Körper für die kleinste Veränderung. Ihre Sinne schärften sich. Plötzlich war alles so klar. Plötzlich war alles so klar für sie. Sie fühlte ihren Puls an ihrem Hals, an ihren Handgelenken und an ihren Schläfen pochen. Sie hörte ihr Herz. Sie hörte ihren Atem. Sie fühlte das Leben in sich. Leben und Wärme. Hitze. Clarisse stürzte sich wieder auf Catherine, die mit schnellen Reflexen ihre Gegnerin packte und sich vom Leib hielt, indem sie sie erneut von sich schleuderte, ihr bis zu der Stelle folgte, an der sie mit kreischenden Schreien niederstürzte und ihr den Dolch in den Leib rammte. „Das reicht nicht, Catherine.“ hörte sie Louis Stimme von sehr weit weg zu ihrem Verstand durchdringen. „Ich weiß.“ hörte sie sich sagen und Clarisses Körper ging in Flammen auf, die Catherine bis zur letzten tänzelnden Zunge kontrollierte. Wenig später war nichts mehr außer Asche von allen drei Vampiren übrig und Catherine sank neben der Brandstelle erschöpft zu Boden. Sie hatten die anderen beiden ebenfalls dem Feuer übergeben und es war Glück, dass der Stein in der Eingangshalle nicht empfindlich war und es keine Rauchmelder gab. Sie war müde. Sie hatte Kopfschmerzen. Sie konnte nicht mehr. Sie wollte nicht mehr. Sie hatte gerade die toten Abbilder ihrer Familie beseitigt. „Heute scheint die Nacht der großen Überraschungen zu sein.“ murmelte Louis, schob mit seinem Fuß die Asche ein wenig zur Seite und kniete sich neben Catherine. „Ich kann es kontrollieren.“ flüsterte sie. „Ja, das habe ich gesehen.“ entgegnete er und blickte zu Lea, die sich auf Catherines anderer Seite niederkniete. „Es sind keine Hexenkräfte.“ beantwortete sie seinen fragenden Blick und schüttelte den Kopf. „Es sind… meine. Ich weiß nicht, woher sie kommen. Oder was es mit ihnen auf sich hat, doch sie waren immer an Wut gebunden. Wut. Adrenalin. Wahrscheinlich war es der Trieb zu überleben, der es ausgelöst hat, aber wichtig ist, dass ich niemanden mehr aus Versehen versengen werde.“ „Niemanden mehr?“ fragte Louis beunruhigt nach. „Lestat… Er durfte schon Bekanntschaft mit dieser Fähigkeit machen.“ Louis fühlte sich plötzlich unwohl und rutschte ein Stück weiter von Catherine weg, weshalb sie lächeln musste. „Es scheint, als machen wir es dir nicht gerade einfach.“ sagte Catherine und deutete mit einer vagen Handbewegung auf sich und Lea. „Nein, heute… brauche ich, denke ich, nichts mehr!“ meinte er, doch ein kaum sichtbares Lächeln umspielte seine Lippen. „Wir sollten die Fenster aufmachen und hoffen, dass wir diesen Gestank einigermaßen aus dem Haus bringen.“ meldete sich Catherine wieder zu Wort und erhob sich zitternd. „Du schwankst.“ bemerkte Lea und Catherine hielt sich einen Moment an ihrem Arm. „Scheint so.“ entgegnete sie einsilbig, sammelte sich und ging, um den Schaden – die Luftverpestung – zu inspizieren und zu verringern, indem sie in die Bibliothek und in den Salon ging, um alle Fenster zu öffnen und schließlich auch die Haustür weit aufmachte, um frische Luft in die Villa strömen zu lassen. „Ich denke nicht, dass man dauerhaft etwas riechen wird.“ meinte Louis nach einer Weile, in der er und Lea die Asche zusammengefegt hatten, und schnüffelte in die Luft. „Es ist schon deutlich besser.“ Catherine nickte und blickte auf den Eimer mit den Überresten ihrer Eltern und ihres Bruders. Sie seufzte und meinte dann: „Darf ich dich um etwas bitten, Louis?“ „Sicher.“ „Die Asche… Ich möchte sie begraben. Das bin ich ihnen dann doch schuldig.“ erklärte Catherine, worauf Louis sofort nickte. „Ich werde drei Urnen besorgen – symbolisch – und bei den Bäumen dort hinten eine Grube graben. Ich sage dir Bescheid, wenn ich damit fertig bin.“ bot er an. „Danke. Vielen Dank.“ erwiderte Catherine und Louis verließ schnell die Villa. Es dämmerte noch nicht, doch in etwa einer Stunde würde der Morgen unaufhaltsam näher kommen, und damit sank die Chance, dass Lestat und die anderen noch in dieser Nacht zurück sein würden. Lea und Catherine stellten den Eimer zur Seite und machten sich daran, den Schmutz vom Boden zu schrubben, was mehr Anstrengung bereitete, als beide angenommen hatten, doch schließlich war nichts mehr zu sehen. „Ich fühle mich, als hätte ich die gesamten Ereignisse dieser Nacht von mir abgewaschen.“ murmelte Lea und blickte auf die blanke Stelle auf dem Steinfußboden. „Ja, ich weiß, was du meinst.“ entgegnete Catherine und setzte sich auf die Treppe, nachdem sie den Schrubber aus der Hand gelegt hatte, um auf Louis Rückkehr zu warten. Lea setzte sich neben sie und seufzte. Catherine brach schließlich das nicht unangenehme Schweigen und meinte: „Weißt du, ich dachte, meine Eltern seien tot.“ „Hat das dieser Daniele gesagt?“ „Ja, und ich hätte wissen müssen, dass ich dem nicht glauben darf, aber… nun, es war einfach, es zu glauben. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum er es erfinden sollte.“ „Und nun?“ „Nun habe ich endlich Gewissheit, dass ich die letzte bin, die von meiner Familie übrig ist. Dafür haben wir gerade gesorgt.“ „Ich bin auch noch da.“ erinnerte Lea und blickte Catherine an, die daraufhin nickte. „Sicher, Cousine, sicher.“ entgegnete sie lächelnd und legte ihr den Arm um die Schulter, obwohl Lea ihren Trost nicht brauchte. „Es war alles ein bisschen viel heute Nacht, nicht wahr? Erst das mit Thirlestane Castle, dann das jetzt… und Lestat nicht hier zu haben, ist sicher auch nicht leicht für dich.“ „Hm… ich weiß nicht, was er tun sollte, wenn er hier wäre, doch du hast Recht. Es wäre mir wirklich lieber.“ gestand Catherine und schüttelte den Kopf. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich so auf jemanden angewiesen sein würde, aber ich will mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Ich kann es nicht und ich denke, dass ich mein Leben gegen eine Zukunft mit ihm tauschen würde…“ „Catherine, meinst du das… ernst? Würdest du wirklich… Würdest du ihn wirklich darum bitten, dich zu wandeln?“ „Ja… Ich würde ihn darum bitten. Ich würde ihn anflehen, doch ich vermute, dass er sehr lange hartnäckig bleiben würde.“ „Tatsächlich? Vermutest du das?“ „Ja, Lea. Wenn ich nur daran denke, wie lange es gedauert hat, bis er eingewilligt hat, durch mein Blut nach weiteren Antworten zu suchen… Nun, dann es erscheint mir beinahe unmöglich, ihn dazu zu bewegen, mein Leben zu beenden, auch wenn das hieße, dass er seine Ewigkeit mit mir teilen könnte.“ entgegnete Catherine und schwieg einen Augenblick, ehe sie fortfuhr: „Ich vermute aber noch etwas anderes, Lea.“ „Was denn?“ wollte sie wissen und Catherine wandte ihr den Blick zu. „Ich vermute, dass meine Möglichkeiten ziemlich beschränkt sind.“ „Wie meinst du das?“ fragte Lea. „Ich habe keine allzu große Hoffnung, dass ich diese Sache lebendig überstehen werde. So oder so – mein Leben wird zu Ende gehen.“ „Catherine!“ rief Lea entsetzt und packte sie am Arm. „Lea.“ entgegnete Catherine ruhig und lächelte sie an. „Ich finde es überhaupt nicht toll, wenn du so redest!“ „Entschuldige… Du solltest nicht auf mich und meine düsteren Gedanken hören. Ich bin depressiv und unzurechnungsfähig, wenn Lestat nicht da ist.“ beschwichtigte Catherine sie und ließ ihren Arm von Leas Schulter sinken. Sie wollte Lea nicht beunruhigen, aber tief im Unterbewusstsein dämmerte Catherine das Wissen darum, dass es entweder eine Ewigkeit mit Lestat war, die ihr bevorstand, oder der Tod. Louis kam kurze Zeit später wieder durch den Eingang und hielt prüfend die Nase in die Luft, um den Brandgeruch in der Einganghalle einzuschätzen. „Besser.“ meinte er. „Wirklich besser.“ Catherine und Lea erhoben sich und Catherine nahm Louis die drei Urnen, die er wohl im Karton hielt, ab, und stellte sie auf den Boden, wo sie den Inhalt des Eimers auf sie verteilte. Es war schrecklich, die Asche in dieser unheiligen Handlung zu verteilen, doch was sollte sie anderes tun? Sie seufzte leise und verschloss die Urnen, stellte sie zurück in den Karton, in dem auch ein kleiner Handspaten lag, und ging gefolgt von Louis und Lea über die Flügeltüren in der Bibliothek in den Garten hinaus. Der Kies unter ihren Schritten knisterte. Ein leichter Wind wehte. Catherine überlegte, wo sie die Urnen begraben wollte, und entschied sich für die Grasfläche, die vor dem großen Rosenbeet lag. Louis grub mit dem Spaten eine etwa einen halben Meter tiefe Grube und trat dann zurück, bis Catherine die Urnen hineingestellt hatte. „Willst du … irgendetwas sagen?“ fragte er, als er die Grube zuschütten wollte, worauf Catherine den Kopf schüttelte, und Louis die Erde wieder über die Urnen schaufelte. Kapitel 101: Ersehnte Wiederkehr -------------------------------- Ersehnte Wiederkehr Catherine drückte mit den Händen die lockere Erde über dem Urnengrab fest und blickte dann in den Himmel, der sich ganz entfernt und weit im Osten leicht gräulich färbte. „Ich muss hinein.“ raunte Louis den beiden zu und entfernte sich, nachdem beide geistesabwesend genickt hatten. Lea blickte ihm nach und schaute dann zurück zu Catherine, die hinunter auf die aufgeworfene Erde sah. „Soll ich dich allein lassen?“ fragte sie, doch Catherine schüttelte den Kopf. „Nein. Komm’ gehen wir!“ meinte Catherine und ging mit Lea gemeinsam zurück zur Villa. Sie musste sich nicht mehr von ihrer Familie verabschieden – das hatte sie schon vor mehreren Wochen getan. Louis wartete wahrscheinlich in Leas Zimmer, weshalb sie sich schnell von Catherine verabschiedete, nachdem sie wiederholt gefragt hatte, ob sie irgendetwas für sie tun konnte. Catherine schüttelte ein letztes Mal versichernd den Kopf und schickte sie schließlich nach oben in ihr Zimmer. Catherine selbst blieb unten und trat in den Salon. Sie wollte die Federn noch aufräumen, das Kissen wegwerfen und sehen, ob sie die Uhr wieder zum Laufen brachte. Als erstes musste sie feststellen, dass das Pendel der Uhr wieder schwang, weshalb sie nur die Uhrzeit richtig einstellen musste. So wirkten Leas Kräfte nur, wenn sie sich wirklich darauf konzentrierte und zu diesem einen Moment etwas wirklich wollte… nun, ja: das galt zumindest für Dinge, die nicht zerstört waren, denn das Kissen war wirklich hinüber. Sie räumte die Unordnung auf, brachte die Gläser und leeren Flaschen hinab in die Küche, um frische mit nach oben zu nehmen und ließ beinahe alles fallen, was sie in der Hand hielt, als sie zurück in den Salon trat. „Catherine.“ begrüßte Lestat sie und fing die Flasche auf, die ihr aus der Hand glitt. „Ist es so schlimm, dass ich wieder da bin?“ fragte er und bemerkte, dass er durch ihre bloße Anwesenheit alles um sich herum vergessen konnte. Catherine schüttelte den Kopf, lächelte und stellte möglichst schnell alles, was sie in den Händen hielt, ab, um Lestat zu umarmen. „Ich habe nur nicht mehr heute mit dir gerechnet.“ flüsterte sie und hielt ihn weiterhin fest. „Es war auch knapp, aber ich wollte nicht einen gesamten Tag in Rom festsitzen.“ gab er zurück und strich ihr über den Kopf. „Und die anderen?“ fragte sie. „Sie sind noch in Rom und kommen, sobald die Nacht hereinbricht.“ Catherine löste sich etwas von ihm und blickte in sein Gesicht. Sie sah müde aus, bemerkte er, doch auch bezaubernder als jemals zuvor … Kam ihm das nicht immer so vor? Seine Hand legte sich zärtlich an ihre Wange, fuhr über ihren Kiefer und blieb an der Seite ihres Halses liegen. „Es ist kaum zu glauben. Ich habe das Gefühl, Jahre von dir getrennt gewesen zu sein.“ gestand er und näherte seine Lippen ihrem leicht geöffneten Mund. Langsam strich er mit seinen Lippen über ihre, wartete und spannte sie auf die Folter, indem er den Moment noch ein wenig hinauszögerte, ehe er sie in seiner innigen Umarmung küsste. Ihre Lippen waren weich und warm. Ihr Körper schmiegte sich an seinen und zeigte ihm, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Lestat unterbrach den Kuss und ließ seine Lippen an ihren Hals sinken. Genüsslich atmete er den Duft ihrer Haut ein und konzentrierte sich auf ihren schnellen, flatternden Herzschlag. „Chérie…“ flüsterte Lestat. „Ja?“ entgegnete Catherine und legte den Kopf weiter zurück. Es war überwältigend, ihn so nah bei sich zu haben, und seine Lippen über ihrer Halsschlagader zu wissen, doch dennoch keine Angst und keinen Zweifel zu empfinden. Sie wusste, das brauchte sie nicht. „Bist du dir wirklich sicher, dass du so weit gehen würdest?“ „Ich bin mir sicher, Lestat.“ hauchte Catherine, als seine Lippen sanfte Küsse auf ihre Haut legten. „In Ordnung.“ entgegnete er und hielt sie ein wenig von sich weg, sodass er sie betrachten konnte. Catherine wunderte sich darüber, woher dieses plötzliche Einverständnis kam. Natürlich hatte er es ihr zugesichert, bevor er nach Rom aufgebrochen war, doch tief in ihrem Inneren hatte sie immer damit gerechnet, dass sie mit Ergebnissen aus den Archiven der Bruderschaft zurückkommen würden, die es nicht mehr nötig machten. Und Catherine wusste: wenn es nicht mehr nötig war, gab es keine Möglichkeit, Lestat dazu zu bewegen, von ihrem Blut zu trinken. „Was überlegst du?“ fragte er und konnte es nicht lassen, ihr Haar zu streicheln. „Es ist…Wir sollen…“ begann sie, schüttelte den Kopf und setzte erneut an: „Es ist einiges geschehen. Ich… Können wir darüber reden?“ Catherine blickte ihm direkt in die Augen und bemerkte, wie Tränen in ihr aufstiegen, wobei sie diese erfolgreich niederkämpfte, was Lestat jedoch ohne Zweifel sah. „Natürlich können wir darüber reden. Komm’, wir gehen nach oben!“ meinte er. Schnell reichte er Catherine seine Hand, die sie sofort ergriff, und führte sie in die Eingangshalle. Ihre Hand war kalt, bemerkte er und blickte hinunter, als würde er den Grund dafür finden, wenn er die Stelle ihrer Berührung ansah. „Du hast kalte Hände.“ stellte er fest und fuhr mit seiner freien Hand über ihren Unterarm, der nicht sehr viel wärmer war. „Ich bemerke das schon gar nicht mehr… Sehr kalt?“ Lestat schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Er hoffte, dass sie seine Lüge nicht erahnen würde. Catherine war beinahe so kalt wie er selbst, wenn seine letzte Malzeit schon einige Stunden vergangen war. Catherine saß mit Lestat auf ihrem Bett und erzählte, was sich in dieser Nacht alles ereignet hatte. Sie begann mit dem, was für sie am leichtesten zu erzählen war, nämlich von Lea und ihren Kräften, die scheinbar nun, da Elizabeth und Elatha mit Thirlestane Castle in Flammen aufgegangen waren, nicht mehr blockiert waren. „Ich denke, sie wird sie schnell unter Kontrolle bringen…“ meinte sie zuversichtlich, als sie Lestats ernstes Gesicht sah. „Wirklich.“ fügte sie hinzu, da sich seine Miene immer noch nicht sonderlich erhellte. „Wenn du das sagst… Es wäre ja auch schade um die Kissen.“ bemühte er sich schließlich um einen unbeschwerten Tonfall. Sie zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte leicht den Kopf. Es war so einfach zu glauben, dass er niemals fort gewesen war – und wenn sie ehrlich war, dann war es ja auch nur so eine kurze Zeitspanne, die ihr keine Probleme machen sollte. Trotzdem regte sich in ihr etwas, das ihr klar machte, dass sie nie wieder – auch nicht für eine derartig kurze Zeit – auf Lestat verzichten wollte, wenn es unsicher war, dass er zurückkam. Es war gefährlich gewesen, rief sie sich in Erinnerung, doch verdrängte den Gedanken schnell wieder. Er war wieder bei ihr. „Louis hatte wirklich viel zu tun, während ihr weg wart. Ich vermute, er ist ziemlich erschöpft.“ brach sie ihr Schweigen, um ihm nicht das Gefühl zu geben, mit ihren Gedanken gänzlich woanders zu sein. „Was ist noch geschehen?“ fragte Lestat, worauf Catherine leise seufzte. „Ich weiß, dass noch mehr geschehen ist. Ich bin überaus feinfühlig, was das angeht. In Rom hatte ich einige Male ein seltsames Gefühl, und ich fühle mich sehr bestätigt, wenn ich dich so ansehe – du siehst nämlich müde aus. Außerdem riecht es nach Asche und Rauch.“ Lestat hielt Catherines Blick stand und sah zu, wie sie auf ihre Hände blickte, den Kopf wieder hob, die Augen schloss und schließlich die Schultern zuckte, ehe sie ihn wieder anblickte. „Lucien, Jacques und Clarisse… nun, zumindest ihre Hüllen…also, sie waren solche gedankenlose Vampire… haben uns überrascht, aber wir konnten sie vernichten.“ informierte sie ihn so sachlich, wie es ihr möglich war. Lestat blickte sie einen Moment an und musterte sie regelrecht. Catherine sah förmlich, wie die Gedanken in ihm wirbelten, doch er sagte lange Zeit nichts, ehe er entgegnete: „Es tut mir leid, Catherine. Es tut mir wirklich leid.“ „Danke.“ murmelte sie und rutschte unruhig hin und her. „Ich fühle mich nicht furchtbar… Vielleicht ist das schon furchtbar, ich weiß es nicht, aber ich kann es nun einmal nicht erzwingen.“ „Du hattest sie schon verloren, bevor du es mit eigenen Augen gesehen hast.“ gab er zurück und Catherine vermutete, dass er ihr versichern wollte, dass ihr Empfinden nicht grausam, kaltherzig und völlig abgestumpft war. „Ich habe sie in Urnen begraben… Es dürfte nichts ausmachen, oder? Sie können nicht zurückkommen, nicht wahr?“ „Nein, das können sie nicht.“ beruhigte Lestat Catherine und fügte hinzu: „Sonst hätte Louis das auch niemals zugelassen.“ Catherine nickte nachdenklich und streichelte dabei versonnen mit den Fingerspitzen über seinen Unterarm. „Es ging sehr schnell – alles in allem. Louis hat meinen Vater und Lucien… nein, sagen wir einfach: zwei von ihnen… beschäftigt, ich einen von ihnen, aber ich…“ Catherine brach ab und suchte nach den richtigen Worten. „Was quält dich, Catherine? Was verunsichert dich?“ „Ich habe mich am Anfang so gefühlt, wie ich mich immer fühlte, wenn ich gekämpft habe. Aufregung. Konzentration. Ich fühlte mich der Situation gewachsen. Es war nichts Besonderes, aber dann… dann fühlte ich Wut und plötzlich schoss das geballte Adrenalin durch mich hindurch und ich spürte eine Hitze in mir…“ „Moment! Du meinst, wie damals, als du deinen Namen bekommen hast?“ fragte Lestat dazwischen. „Beinahe. Nein, doch. Eigentlich hat es genauso begonnen, aber dieses Mal war es anders.“ „Was war dieses Mal anders?“ fragte Lestat nach, da Catherine schon wieder in eine von seinen unliebsamen Pausen verfallen war. „Ich wusste die gesamte Zeit über, was ich tat, während ich es tat. Ich war mir allem bewusst, was ich wollte, was ich tat, was nötig war... Ich habe das Feuer kontrolliert, nicht es mich.“ Catherine nickte nachdenklich und fuhr fort: „Ich habe nicht nur das Feuer kontrolliert, sondern jede einzelne Flamme und jeden Funken.“ Lestat nickte und betrachtete Catherine ausgiebig. Sie näherte sich ihm und küsste seine Schläfe und die Linie seines Kiefers, was ihn nicht wenig überraschte. Sie würde ihn wohl immer wieder überraschen, stellte er fest. Gerade als er etwas erwidern wollte, sprach sie weiter: „Es ist keine Fähigkeit, die die Hexen besitzen können, Lestat. Was immer es ist… es hat nichts damit zu tun, dass ich magische Fähigkeiten besitze. Und Lea weiß das auch…“ „Was schlägst du vor?“ wollte Lestat wissen und spürte, dass seine Kehle trocken war. „Du hast gesagt, dass du trinken wirst, bevor du zurückkehrst… Hast du getrunken, Lestat?“ fragte Catherine und schlang ihre Arme um seinen Oberkörper, ehe sie seinen Halsansatz küsste. Kapitel 102: Werkzeuge ---------------------- Werkzeuge Lestat kostete es alle Kraft, die er aufwenden konnte, Catherine einen Moment zum Innehalten zu bringen. Er wollte es so sehr, aber er hatte nicht getrunken. Dazu war keine Zeit gewesen. „Was, Lestat? Willst du nicht?“ „Das ist nicht der Punkt, Cherie… Wir sollten warten – auf Marius und die anderen.“ „Das wird dauern.“ „Möglich.“ „Sicher wird es dauern. Es ist bereits hell draußen.“ „Dann wird es dauern.“ meinte Lestat und küsste sie auf die Stirn. Catherine schnaubte und drehte sich von ihm weg, damit sie aufstehen konnte. „Werden sie auch zusehen?“ „Wie meinst du… Catherine… Um ehrlich zu sein, wäre es sicherer.“ „Sicherer? Es wäre … Nein, Lestat! Dieser Moment, wenn du mein Blut trinkst, wird unser Moment sein. Da hat niemand anderes hineinzureden. Und schon überhaupt nicht zuzusehen!“ entgegnete Catherine bestimmt. „Gut, dann wirf’ dich in die Arme der Bestie!“ rief er außer sich. „Das würde ich ja gerne, aber du lässt mich nicht!“ gab sie wütend zurück und blickte ihn verwundert an. Solche Ausbrüche kannte sie von sich, aber waren doch eher selten bei Lestat. Er mochte Kontrolle über die Dinge – vor allem, wenn sie mit ihr und ihrer Sicherheit zu tun hatten… Irgendetwas beunruhigte ihn. „Catherine. Komm’ und setz’ dich zu mir!“ brach er das kurze Schweigen und legte seine Hand auf die Stelle neben sich auf dem Bett. Catherine schüttelte den Kopf und blieb stehen, wo sie war. „Was ist los?“ fragte sie. „Setz’ dich!“ forderte Lestat sie noch einmal auf, doch er sah, dass Catherine seiner Bitte nicht folgte, weshalb er seufzte. „Die Bruderschaft hat ihre Finger tiefer im Dreck, als wir bisher angenommen hatten.“ „Und das heißt?“ „Offenbar sind sie nicht die Guten…“ „Nicht, dass wir das angenommen hatten. Dafür hatten wir schon genug Gründe.“ „Sie sind die Bösen.“ „Oh… Die Welt ist also schwarz und weiß? Ich frage mich nur, wohin ich meine persönliche Bestie stecken soll, wenn es keine Grauzone gibt.“ „Tiefstes Schwarz, ma chérie, aber sei bitte ernsthaft.“ „Entschuldige.“ „Ich bin so schnell hierher gekommen, wie ich konnte, weil ich dachte, dass ihr alle in Gefahr seid.“ „Das waren wir auch… Wir sind lediglich schneller damit fertig geworden als…“ „Ich wäre zu spät gekommen.“ „Wir haben uns darum gekümmert.“ beruhigte Catherine ihn, wobei sie immer noch nicht wusste, ob es darum ging oder ob er noch damit herausrücken würde, was sie Neues über die Bruderschaft erfahren hatten. „Wir waren dort, Catherine. Dort. Tief unten. Ich denke, du wusstest nichts.“ „Wovon?“ fragte Catherine und wusste nicht, ob die Ungeduld, die langsam in ihr erwachte, auch an ihren nicht mehr ganz so schlummernden Kräften lag. „Sie erschaffen sie.“ „Wer erschafft wen?“ „Die Bruderschaft erschafft diese gedankenlosen Vampire.“ rückte er schließlich mit der Sprache heraus. Catherine stand einen Moment regungslos da, ehe sie sich überhaupt wieder daran erinnerte, dass sie atmen musste. Sie schwankte und setzte sich schließlich doch zu Lestat auf das Bett. „Ist das wahr?“ flüsterte sie und versuchte immer noch, irgendeine Ordnung in ihre Gedanken zu bringen „Nun, es war sehr real, als wir dort waren. Das Labor und die Aufzeichnungen über die Testreihen vor allem.“ „Deshalb also.“ „Was… deshalb also? Ich kann dir nicht folgen. Einmal mehr muss ich das zugeben.“ Catherine schüttelte den Kopf und blieb stumm. „Hast du davon gewusst? ... Nein, natürlich nicht. Verzeih… Was meinst du?“ „Deshalb sind die anderen noch dort. Sie versuchen, noch mehr über die Ziele herauszufinden, nachdem ihr von den Werkzeugen mit spitzen Zähnen erfahren habt.“ „Ja, es…“ „Warum bist du hier?“ „Oh… Ich dachte, es wäre gut, wenn jemand in eurer Nähe ist. Und ich hatte recht, denn immerhin wurdet ihr angegriffen!“ Catherine blickte Lestat prüfend an und schien nicht zufrieden mit seiner Antwort. „Es steckt mehr dahinter. Zweifellos hast du recht und wir sollten warten.“ „Womit?“ fragte Lestat und bemerkte, dass er hoffnungslos im Gewirr ihrer Gedankensprünge verloren war. „Wir sollten warten, bis du von mir trinkst, bis die andern da sind.“ „Tatsächlich? Ja, richtig. Ich habe Recht.“ stimmte Lestat verwirrt zu. „Wer weiß schon, wie viele noch kommen? Und was sie wollen.“ „Am Tage dürften wir…“ „Können wir sicher sein, dass sie nur nachts angreifen, wenn sie angreifen?“ „Nun, ja. Ich meine… Sie sind doch trotzdem noch Vampire, oder?“ „Vampire aus einem Labor.“ erinnerte Catherine und fühlte den Schauer, der ihr über den Rücken lief. „Offenbar waren sie trotzdem keine mächtigen Kampfmaschinen.“ „Wieso nicht? Weil wir ohne dich zurecht gekommen sind?“ „Nein, das meinte ich nicht, aber sie waren zu dritt und ihr…“ „Wir waren ebenfalls zu dritt.“ „Ja, aber… Egal. Catherine, was denkst du, was sie wollten?“ fragte Lestat, um das Gespräch in eine etwas andere Richtung zu lenken. Sie überlegte eine Weile, zuckte immer wieder die Schultern und schüttelte den Kopf, ehe sie klar und mit deutlicher Stimme meinte: „Mich.“ „Dich?“ fragte Lestat und wünschte sich, er hatte sie falsch verstanden, doch sie nickte. „Sie waren auf mich fixiert… etwas zu fixiert, würde ich sagen.“ „Das ist… nicht gut. Und das ist eine Untertreibung.“ „Hast du mir noch etwas zu sagen? Ich meine, ich weiß nun, dass die Bruderschaft meine Familie und – was weiß ich, wie viele – andere Leute in gedankenlose Vampire gewandelt hat… Wie auch immer sie das angestellt hat. Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?“ „Nein.“ „Das ist nicht wahr.“ „Nun, das ist das, was ich weiß. Die anderen bringen sicher Neuigkeiten mit, wenn sie kommen.“ „Wenn sie kommen… Das ist der Punkt.“ murmelte Catherine und Lestat versicherte ihr, dass sie kommen würden. „Was ist, wenn uns die Zeit davonläuft?“ fragte Catherine und Lestat schüttelte den Kopf. „Nein, das wird sie nicht.“ „Gut, wenn du das garantierst… Soll mich das beruhigen?“ „Du machst mich wahnsinnig, Catherine.“ „Hervorragend… Das ist das, was ich die gesamte Zeit versuche. Endlich am Ziel!“ entgegnete sie sarkastisch und schüttelte den Kopf. „Vielleicht solltest du dir noch einmal überlegen, ob du die Ewigkeit mit mir verbringen willst.“ meinte Lestat nach einer Weile. „Wie bitte?“ rief Catherine. „Ja, wir scheinen nicht gut miteinander auszukommen.“ „Gerade… Ja, schon möglich. Wir können es uns aber einfach machen und es auf die Umstände schieben, dass wir gerade… Wie auch immer. Das meinte ich aber überhaupt nicht mit meinem entsetztem Ausruf.“ „Was dann?“ „Scheinbar habe ich die gesamte Diskussion über mein Lebensende nicht mitbekommen. Hast du nicht gesagt, dass du… dass es dazu nicht kommen würde? Ich und tot… das sieht nicht nach deinem Plan aus. Gut, ich habe nicht vergessen, dass du mich nicht sterben lassen willst, aber… dass du ernsthaft in Erwägung ziehst...“ „Warst du nicht selbst der Meinung, dass es zu Ende geht? Ich denke, wenn es so weit ist, werde ich wieder dastehen und meine Pläne allein machen müssen.“ „Über meinen Kopf hinweg?“ „Nun, bestimmt nicht über deine Leiche.“ gab er zurück und blickte sie durchdringend an, ehe er fortfuhr: „Catherine, überleg’ dir das gut und gib’ mir deine Antwort auf die Frage. Soll ich dich sterben lassen oder willst du mit mir kommen, sollte es dazu kommen?“ „Du weißt, dass ich…“ begann sie, doch Lestat unterbrach sie heftig. „Nein, entscheide dich nicht so schnell. Vergiss’ nicht, dass es kein Spaziergang ist, über den du entscheidest. Es ist der Schritt in eine Welt, aus der es kein Entkommen gibt.“ Catherine nickte und behielt für sich, dass sie schon lange Zeit darüber nachdachte, wie sie sich entscheiden würde. Wenn sie ehrlich war, hatte der Gedanke immer wieder seinen Weg zurück in ihren Verstand gefunden. Lestat bemühte sich um ein Lächeln und zog sie in ihre Arme. Er wusste, dass er sie nicht verlieren wollte, und sie wusste es mit Sicherheit auch, doch es gab eine Sache, die sie gewiss nicht wusste. Er hoffte, dass er genug Kraft hatte, ihre Entscheidung zu respektieren, wenn sie sich für den endgültigen Tod entschied. Er wollte nicht verantwortlich dafür sein, sie gegen ihren Willen in seine Welt zu ziehen. Doch… war er das nicht schon längst? Kapitel 103: Kontrolle der Schöpfung ------------------------------------ Kontrolle der Schöpfung Der Abend kam rasch, doch Lestats gesteigerte Aufmerksamkeit blieb, da Marius, Armand und David noch nicht zurück waren. Louis stand im Salon und beäugte Lea, die müde auf dem Sofa saß. Sie hatte den gesamten Tag ihre Kräfte unter Kontrolle gehalten und auch kontrolliert für kleinere Dinge eingesetzt, sodass Catherine wusste, dass sie in der Lage war, vernünftig und ruhig mit ihren Kräften umzugehen. Trotzdem blickte auch Catherine immer wieder prüfend zu Lea, um ganz sicher zu gehen, dass sie sich nicht aufregte, sich unwohl fühlte und sie alle dadurch in Gefahr waren. „Ich werde mich noch einmal umsehen.“ meinte Catherine schließlich, erhob sich und trat wieder ihren Weg durch die Räume an, um sich zu vergewissern, dass alles ruhig war. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir Besuch bekommen.“ hatte Lestat mehrmals über den Tag verteilt gemeint, weshalb auch er seine Sinne auf die kleinste Veränderung in der Umgebung der Villa richtete und sich irgendwo in der Villa aufhielt. Catherine blickte in die Bibliothek und in das Arbeitszimmer, wandte sich dann wieder der Eingangshalle zu und ging die Treppe nach oben. Es war alles ruhig und sie konnte nur ihre eigenen Schritte dumpf auf dem Teppich der Galerie hören, sowie manchmal das leise Geräusch von Wind, der um die Ecken des Gebäudes streifte. Sie seufzte leise, als sie ihre innere Unruhe bemerkte, die sie aber gleichzeitig kaum berührte. Wahrscheinlich stumpfte sie langsam ab, denn wie oft hatte sie in den letzten Wochen schon darauf gewartet, dass etwas passierte oder jemand zurückkam? Zu oft. Zu lange. Ihr Gefühl sagte ihr – trotz Unruhe, dass Lestat nicht Recht behalten würde. In dieser Nacht lag nichts Bedrohliches vor ihnen. Kein unangemeldeter Besuch mit spitzen Zähnen, keine Krieger aus einer Geisterwelt und auch keine wild gewordenen Hexen. Lea hatte das den beiden Vampiren ebenfalls versichert, denn auch sie hatte in sich hineingehört und keine Warnung von ihrem Unterbewusstsein erhalten. Und selbst wenn erneut gedankenlose Vampire versuchen sollten, in dieser Villa zu töten: sie waren vorbereitet, das wusste Catherine, denn seltsamer Weise beherrschte sie ihre feurigen Fähigkeiten ohne Probleme und es war, als seien sie immer ein Teil von ihr gewesen, der seine Berechtigung zur Existenz hatte… Es war wirklich seltsam, denn Catherine erinnerte sich daran, was Lea vor einiger Zeit gesagt hatte: Die Kontrolle und Herrschaft über das Element Feuer war keine magische Fähigkeit, die Hexen besitzen konnten. „Du bist ziemlich in deinen Gedanken versunken.“ stellte Lestat direkt neben Catherine fest, doch sie erschrak nicht im Geringsten. „Ja, und dabei weiß ich nicht einmal genau, was ich überhaupt denke.“ meinte sie nur und ging ruhig weiter den Gang entlang, wobei sie ihre Hand in Lestats schob. „Du hast meine Nähe gefühlt, oder?“ fragte er und blickte sie von der Seite an. „Ich glaube schon.“ gab sie zurück, vermied es aber, ihn anzusehen, als sie fragte: „Fühlt sich meine Anwesenheit für dich anders an, Lestat? Wirke ich anders auf dich als noch vor ein paar Tagen?“ „Du wirkst ruhiger und entspannter.“ gab er Auskunft und beantwortete damit nur die letzte Frage, was Catherine nicht entging. „Das liegt vielleicht daran, dass ich endlich Gewissheit über das Schicksal meiner Familie habe.“ mutmaßte sie, doch glaubte selbst nicht richtig daran. Lestat entgegnete nichts, sondern nickte nur. Er wusste, dass Catherine auch andere Gedanken im Kopf herumgingen, denen er sie nicht entreißen konnte. „Kann ich dich für kurze Zeit alleine lassen?“ fragte Lestat nach einer Weile des Schweigens. „Sicher, ich komme klar.“ antwortete Catherine und blickte ihn an. Lestat blieb stehen und betrachtete Catherine, die nun auch stehen blieb und sich zu ihm wandte. Ihre Blicke begegneten sich und Lestat lächelte leicht. „Warum…?“ wollte Catherine beginnen, doch Lestat legte ihr zwei Finger über die Lippen und sie verstummte. „Nichts wird jemals etwas daran ändern, dass ich dich jeden einzelnen Tag mehr liebe. Ich liebe dich, Catherine. Und es macht mich sehr froh, dass du mir gehören möchtest, denn glaub’ mir, dass das nach einer beinahe unendlich langen Zeit, in der ich oberflächlich und ohne tiefere Wünsche gelebt habe, das ist, was ich wirklich will. Ich war mir noch nie so sicher, Catherine.“ meinte er und beugte sich zu ihr hinab, um sie zu küssen. Catherine erwiderte die Zärtlichkeiten, doch viel zu früh trennte er sich wieder von ihr und strich ihr mit den Fingern zärtlich über die Lippen, ehe er sich abwandte und den Gang entlang eilte. Sie sah ihm nach und musste nicht fragen, wohin er ging, denn sie wusste es. Catherine trat wenig später in den Salon und begegnete Louis’ fragendem Blick. „Wo ist Lestat?“ fragte er, da er ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte und er wieder einmal nervös war. „Er ist unterwegs.“ meinte Catherine und setzte sich mit einem Buch zu Lea auf das Sofa. „Unterwegs?!“ „Ja…“ meinte Catherine beiläufig, schlug ihr Buch auf und fügte ebenso beiläufig hinzu: „Trinken.“ „Trinken? Ich wusste gar nicht, dass Lestat zum Alkoholiker… Oh, alles klar…“ entgegnete Lea und blickte Catherine angewidert an. „Was denn?“ fragte Catherine, die ihre Reaktion aus den Augenwinkeln sah, ihr aber nicht sehr viel Aufmerksamkeit schenkte. „Lestat ist unterwegs und sucht sich einen Menschen, dessen Blut er trinken wird, und du sitzt hier ganz ruhig und denkst dir nichts dabei.“ erklärte Lea. „Ich wusste nicht, dass du auch Gedanken lesen kannst…“ entgegnete Catherine und sah von ihrem Buch auf und erst zu Lea, dann zu Louis. „Nicht, dass einer von euch Vampiren je meine Gedanken lesen konnte.“ „Macht es dir gar nichts aus?“ „Nein, denn Lestat wird niemanden töten – nicht wahr, Louis?“ begann Catherine, wartete auf Louis’ Nicken und fuhr dann fort: „Aber du hast Recht: es macht mir etwas aus, dass er zuerst anderes Blut braucht, ehe er meines zu sich nehmen kann… Das ist aber das einzige.“ Lea warf Catherine einen Blick zu, der eine Du-bist-nicht-ganz-dicht-Botschaft übermittelte, sagte aber nichts, da Catherine den Kopf schüttelte, weshalb sie nur einen Blick mit Louis tauschte. „Sie sind zurück.“ meinte Catherine nach einer Weile unvermittelt, erhob sich und wartete, bis Marius, David und Armand in den Salon traten. „Ihre Sinne sind sehr sensibel.“ bemerkte Marius, als Louis ihm auf den Weg in die Bibliothek erklärte, dass Catherine sie als erste wahrgenommen hatte. „Wo ist Lestat?“ „Unterwegs. Trinken.“ meinte Catherine, öffnete die Tür zur Bibliothek und schaltete die Lichter an, während sich Armand, David, Marius, Louis und Lea um den runden Tisch versammelten. „Schade.“ entgegnete Armand, grinste, als er Catherine verständnislosen Blick sah, und erklärte: „Ich dachte schon, ich komme in das Vergnügen deines Blutes.“ „Das würde ich dir nicht raten.“ meinte Lestat kühl und trat ebenfalls in die Bibliothek. „Und dabei denke ich nur an deine Gesundheit.“ fügte er hinzu, während er sich ebenfalls an den Tisch setzte. Catherine entgegnete nichts, da sie sich bereits an diese kleinen Sticheleien gewöhnt hatte – und in gewisser Hinsicht sogar Armand vertraute, was vielleicht leichtsinnig, aber nun einmal Realität war. Als sich alle gesetzt hatten, meldete sich Marius nach einer kurzen Zeit des Schweigens zu Wort. „Ich habe keine Ahnung, was Lestat euch schon gesagt hat…“ „Die gedankenlosen Vampire stammen aus dem Labor der Bruderschaft.“ meinte Lea und Marius blickte zu Lestat, als ob er sagen wollte, warum er nicht schon mehr erzählt hatte. „Das ist richtig.“ „Wir wurden angegriffen…“ meinte Lea weiter und erzählte vom Erscheinen der drei gedankenlosen Vampire, worauf Lestat Marius einen Blick zuwarf, der wohl hieß: Habe ich dir nicht gesagt, dass es für sie gefährlich werden wird? „Wir haben noch andere Dinge herausgefunden, die für uns nicht sehr viel Sinn ergeben. Zum einen wurden diese Geschöpfe scheinbar sowohl mit magischen als auch technischen Hilfsmitteln erschaffen, scheinen dann aber nicht so stark zu sein, dass sie eine ernsthafte Gefahr darstellen können.“ erklärte Marius, als Lea in ihren Ausführungen geendet hatte. „Sie waren recht leicht zu besiegen. Das ist wahr. Allerdings frage ich mich, wie die Bruderschaft diese Wesen kontrolliert hat… Ich meine, wir sind uns einig darüber, dass sie sie geschaffen hat, aber die Kontrolle…“ warf Catherine ein. „Die Kontrolle liegt im Blut.“ entgegnete David und fuhr fort: „Lestat ist aufgefallen, dass es im Labor nach deinem Blut roch… Nun, es war nicht deines – nicht direkt zumindest.“ „Es roch so.“ rechtfertigte sich Lestat und Catherine schüttelte den Kopf. „Nach allem, was wir wissen, enthält dein Blut eine Komponente, die erstens die Existenz dieser Wesen ermöglicht, zweitens auch noch ihre Kontrolle erleichtert.“ „Wie soll das gehen?“ fragte Louis und nahm damit auch Lea, Lestat und Catherine ihre Frage aus dem Mund. „Magie und Wissenschaft.“ verkündete David, als machte diese Erklärung alles logisch. „Die Bruderschaft hat Aufzeichnungen darüber, dass in deiner Familie ‚mächtiges Blut’ vorkommen kann. Wir haben Blutproben von Lucien und Catherine im Vergleich gefunden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es in Lucien vermutet hatten.“ sagte Marius und Catherine nickte. Kapitel 104: Das mächtige Blut ------------------------------ Das mächtige Blut Catherine dachte an den Tag zurück, an dem Daniele zur Villa gekommen war, und nickte nachdenklich. „Ja, das ist wahrscheinlich. Zum einen würde die Bruderschaft mächtiges Blut immer zuerst in Männern vermuten, zum anderen hat Daniele mich und Lucien getrennt – und Lucien nach Rom gebracht. Nicht mich. Es ging am Anfang um Lucien, bis…“ „Es ging so lange um ihn, bis sie festgestellt haben, dass nicht er das Blut in sich trägt, sondern du.“ meinte Lestat. „Imbolc!“ rief Lea nur und alle anderen nickten. „Ich nehme an… Und, bitte, das ist nur eine hypothetische Annahme…“ meldete sich David vorsichtig zu Wort. „Es ist wahrscheinlich, dass mit unserem Auftauchen die Bruderschaft den Gedanken aufgegeben hat, auf dich Zugriff zu haben, weshalb sie dein Blut aus Proben und mit allerlei Mittel nachgebildet, also synthetisch hergestellt hat.“ „Man kann synthetisches Blut erzeugen?“ fragte Lea, die davon noch nie gehört hatte. „Ja, es ist… Nun, mir war es bisher auch unbekannt, aber sie haben einen Weg gefunden. Wieder durch Magie und Wissenschaft.“ erklärte Marius, worauf Catherine nickte. „Ich dachte, mich überrascht nichts mehr.“ murmelte sie und blickte zu Lestat, ehe sie sich wieder an Marius wandte: „Könnte es sein, dass meine frühere Familie deshalb hier aufgetaucht ist, weil sie sich zum Ursprung hingezogen fühlt – also zu meinem richtigen, echten Blut?“ „Dieser Gedanke ging mir auch schon durch den Kopf, allerdings kann ich dir das nicht genau sagen. Es ist möglich.“ antwortete Marius und David stimmte ihm zu. „Was wäre noch möglich?“ fragte Lestat, der den Blick nicht von Catherine abwandte. „Sie könnte in Gefahr sein. Sie könnte selbst eine Gefahr für die Bruderschaft sein, die sie nicht mehr einkalkulieren möchte.“ „Großartig.“ murmelte Catherine und kniff die Augen zusammen, da sie nicht recht daran glaubte, dass Lucien und ihre Eltern – ihre Abbilder vielmehr – nur hier gewesen waren, um sie schließlich zu töten. „Unwahrscheinlich ist allerdings, dass sie dann nur drei schicken…“ überlegte David laut. „Vielleicht wissen sie nicht, dass ihre Geschöpfe gar nicht so stark sind.“ schlug Lea vor. „Ja, vielleicht wissen sie nicht, dass Catherine alles in Brand steckt, was ihr zu nahe kommt.“ meinte Armand grinsend. „Diese Spekulationen bringen uns nicht weiter.“ ging Catherine dazwischen und kam somit Marius zuvor, der eben dasselbe vorhatte. „Das war alles, oder? Damit sind wir alle auf dem neusten Stand.“ fuhr sie fort und wartete, bis David und Marius nickten. „Gut, dann werden sich Lestat und ich nun zurückziehen.“ „Du willst….“ begann Marius und wollte zur Vorsicht mahnen, doch Lestat schüttelte den Kopf und legte ihm die Hand auf den Unterarm. „Ich habe getrunken und bin vorsichtig. Sie hat Recht: jetzt gibt es wirklich keine andere Möglichkeit mehr. Wir müssen wissen, was an ihrem Blut anders ist.“ meinte er und erhob sich vom Tisch. Catherine tat es ihm gleich und griff nach seiner Hand, ehe sie gemeinsam die Bibliothek verließen. Schweigend schlenderten sie durch die Eingangshalle und die Treppe nach oben in Catherines Zimmer, in das Lestat nach ihr eintrat und die Tür schloss. „Bist du dir sicher?“ fragte er und lehnte sich an die Tür an, während Catherine ihren dünnen Pullover auszog. „Wenn du mich das noch einmal fragst…“ begann sie. Catherine drehte sich um und wollte schon wütend werden, da er sie mit seiner Unsicherheit langsam wirklich ärgerte, doch sie verstummte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. Er war tatsächlich unsicher, bemerkte sie, als sie ihn an der Tür sah, wie er sie prüfend anblickte. Catherine legte ihren Pullover zur Seite und ging einige Schritte auf ihn zu, doch kam nicht dazu, etwas zu sagen, da er meinte: „Ich habe Angst um dich.“ „Ich weiß.“ flüsterte sie und streichelte seine Wange. „Du weißt aber auch, dass wir es versuchen müssen.“ „Ja, wie willst du…“ begann er und betrachtete sie aufmerksamer, als sie leicht lächelte und mit dem Kopf zum Bett wies, ehe sie ihn mit sanftem Zwang mit sich dorthin fortführte und sich auf das Bett niederließ. „Ich denke nicht, dass es gut ist, mein Blut in Wallung zu bringen…“ warnte er. „Ich denke schon.“ widersprach Catherine, zog ihn zu sich und begann, ihn zu küssen und zu streicheln, was Lestat mehr als bald erwiderte. Lea fand es sehr seltsam, mit den anderen in der Bibliothek zu sitzen, die scheinbar nur darauf warteten, dass Lestat und Catherine wieder durch die Tür kamen und ‚Heureka’ riefen. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf und erhob sich. „Wohin gehst du?“ fragte Louis und erhob sich ebenfalls. „Ich muss in die Küche. Ich habe Hunger.“ „Oh… Ich komme mit. Es könnte nicht sicher sein.“ „Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass vier Paar Vampir-Ohren es nicht gehört hätten, wenn irgendwo in der Villa ein Eindringling wäre.“ gab Lea zurück und schüttelte den Kopf. „Bleib’ hier und warte mit den anderen darauf, dass Lestat und Catherine zurückkommen, wobei ich wirklich Zweifel habe, dass das in der nächsten Zeit sein wird.“ „Wieso?“ fragte David etwas verwirrt und fragte damit das, wovon Lea gehofft hatte, dass sie es niemals erklären musste. „Ähm… Ich kann mir vorstellen, dass dieser Moment… der Vorgang an und für sich… sehr… persönlich und… intensiv ist…“ „Und?“ fragte David, doch Marius schien begriffen zu haben, worauf Lea hinauswollte. „Man könnte auch sagen: intim… Oh, mein Gott! Wie alt seid ihr eigentlich?“ meinte sie nur noch und verließ die Bibliothek, wobei sie sich sicher war, dass sie ihr hinterher sahen. „Glaubt ihr wirklich, dass sie gerade…“ begann Armand grinsend und begegnete Marius’ Blick. „Das geht uns überhaupt nichts an.“ meinte er nur. Armand zuckte die Schultern und blickte vor sich hin. Louis überlegte, ob er nicht doch Lea nachgehen sollte. David wälzte die Unterlagen, die ihn auch schon in den letzten Wochen beschäftigt hatten, während Marius schließlich nach irgendeinem Buch im Regal griff und sich über…. Er warf einen Blick hinein… okkulte Gegenstände informierte. Lestat geleitete Catherine warmen Körper vorsichtig auf das Laken zurück, küsste sie noch einmal auf die Lippen und sank dann hinunter zu ihrem Hals, den er erst zärtlich küsste und an ihm knabberte, ehe er schließlich noch einmal ohne aufzublicken inne hielt. Ihr Körper wand sich sinnlich unter seinem und es fiel ihm schwer, sachlich zu bleiben, aber das war unbedingt nötig. Sie brannte nach ihm. Sie verlangte nach ihm – mit jedem einzelnen ihrer Herzschläge und Atemzüge. Sie war sich sicher. Er fühlte ihre Hände langsam seinen nackten Rücken hinaufwandern und schloss die Augen. Seine spitzen Zähne traten stärker hervor. Ihr Duft raubte ihm den Verstand, doch ihr Leben war kostbarer als sein Verlangen. Vorsichtig ließ er seine Zähne über ihren Hals streichen, fühlte mit seinen Lippen nach ihrem Puls und durchbrach kurz darauf mit einem akkuraten Biss ihre Haut. Catherine stöhnte auf und legte den Kopf zurück, um ihm noch mehr Platz zu machen. Was sie fühlte war alles andere als Schmerz oder … Oh, Gott. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass sie Lust empfinden würde, wenn er sie biss. Sie hatte ebenfalls nicht erwartet, dass ihr alles an sich und ihm so klar erscheinen würde. Sie fühlte nur noch ihn und sich, doch dieses Gefühl überwältigte sie völlig. Sein Körper drängte gegen ihren Körper. Sein Haar fiel auf ihre Schultern herab und streichelte ihre Haut. Seine Rückenmuskeln bewegten sich unter ihren Händen. Seine Arme umfingen sie stark und hielten sie sicher bei sich. Seine Lippen, seine Zunge und seine Zähne berührten ihren Hals und sie fühlte die langsamen Züge, in denen er trank, scheinbar bis in ihr tiefstes Inneres reichen. Lestat war überrascht, wie leicht es ihm fiel, in Catherines Erfahrungen und Erlebnisse zu sehen, doch er suchte nach etwas anderem, das ihn noch viel tiefer führen würde, weshalb er langsam und kontrolliert von ihrer Vene trank. Es war gut gewesen, dass er vorher getrunken hatte, denn er hatte die Kraft, sich Zeit zu lassen – und Zeit brauchte er. „Zögere nicht…“ flüsterte eine Stimme, die Catherine nicht kannte und auch Lestat fremd schien. Verzerrt. Gespenstisch. Zugehörig zu einem Schatten, der sich von der Wand löste und mit bedrohlicher, lauernder Gemächlichkeit auf Margaret Barcley, die kranke Frau im Bett, zu schlich. „Nimm’ es an.“ flüsterte er in seiner unheimlichen Stimme. „Der Preis für deine Gesundheit ist nicht dein Leben… Du wirst leben.“ fuhr er fort und beugte sich zu ihr hinunter. „Leben!“ Seine weißen, schlanken Finger streckten sich wie die Finger des Todes nach der kranken Frau aus und sie nickte schwach. Er streichelte sie, flüsterte Worte, die sie nicht verstand, ehe er in sein Handgelenk biss und das Blut über die bleichen Lippen der Kranken strich. Dann trank sie – in großen Zügen und begierig, die ihr gebotene Medizin in sich aufzunehmen. Und sie wusste nicht, dass sie damit ihr Todesurteil unterschrieb, denn durch das Blut des Vampirs würde sie nicht mehr älter werden. Sie würde genesen, doch sich verändern. Sie würde als Hexe sterben und ihr Blut… an ihre Nachfahren vererben. All das wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Für sie war sein Blut in ihrem Körper eine lang ersehnte Rettung, eine Chance auf ein normales Leben mit ihrem Mann und ihrer Tochter. Für ihn… war es eine Laune… ein Experiment, dessen Ausgang er niemals erfahren sollte, denn es hatte nicht mit Margarets Tod geendet. Er war der Vampir mit den schwarzen Haaren und den schwarzen Augen, wie Catherine ihn benannt hatte, da sie ihn nicht kannte. Lestat wusste, wer er war. Er, der sich in einer längst vergangenen Winternacht ins Feuer gestürzt hatte. Sein Schöpfer. Magnus. Kapitel 105: Ein zweifelhafter Erbteil -------------------------------------- Ein zweifelhafter Erbteil Als Catherine zu sich kam, fühlte sie sich noch sehr schwach und konnte ihre Umgebung zuerst nicht richtig einordnen. Es war dunkel, da nur eine kleine Lampe auf der gegenüberliegenden Seite zu ihrem Bett angeschaltet war, aber sie erkannte, dass sie in ihrem Zimmer lag und Lestat an ihrem Bett saß. „Wie fühlst du dich?“ fragte er leise und strich ihr über die Stirn. „Hast du etwas erfahren? Hat es etwas gebracht?“ entgegnete sie und wollte sich aufrichten, doch ein plötzlicher Schwindelanfall belehrte sie eines besseren, sodass sie sich wieder zurücksinken ließ. „Catherine bleib’ ganz ruhig.“ gab er zurück und streichelte weiter ihre Stirn und ihre Wange. Ihre Augen suchten seine in der Dunkelheit und fanden sie, doch es gefiel ihr nicht, was sie in ihnen sah. „Was ist geschehen?“ wollte sie wissen und griff nach seiner anderen Hand, die auf der Bettdecke lag. „Margaret Barcley wurde nicht gebissen, sonder hat von einem Vampir Vampirblut bekommen. Sie blieb Mensch, doch verhinderte das Vampirblut, dass sie sehr alterte.“ „Wusste sie das?“ „Nein, sie wusste es nicht. Sie glaubte dem Vampir, dass er ihr helfen wollte, und dass sie leben würde.“ „Was nun?“ „Du musst dich ausruhen, Catherine. Du bist sehr schwach, obwohl ich mir sicher bin, dass ich bei weitem nicht so viel von deinem Blut getrunken habe.“ „Ich erhole mich bestimmt schnell.“ versicherte Catherine und lächelte flüchtig. „Was bedeutet das alles für mein Blut?“ „Margarets Blut hat sich verändert und es wurde in veränderter Form an ihre Kinder weitergegeben… Beziehungsweise nur an George, der nach ihrer Krankheit geboren wurde. Du hast ebenfalls sowohl menschliches als auch vampirisches Blut in deinen Adern.“ erklärte Lestat und wunderte sich selbst etwas darüber, dass Catherines Blut zwar ungeheuer köstlich geschmeckt hatte, doch ansonsten schon eher menschlich. „Hast du…“ begann Catherine, doch wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Lestat erhob sich und ging zur Tür, um diese zu öffnen. Catherine folgte ihm mit einem müden Blick und schloss die Augen, als Licht vom Gang hell in das Zimmer fiel und in ihren Augen schmerzte. „Er ist da.“ hörte sie Marius flüstern. „Einen Moment noch.“ bat Lestat und schloss die Tür wieder, ehe er an Catherines Seite zurückkehrte. „Lestat… Was ist los?“ „Ssht, Chérie… Es wird alles gut.“ beruhigte er sie und legte zwei seiner Finger auf ihre bleichen Lippen. „Bruyard wird nur aus Vorsicht nach dir sehen.“ erklärte er. Catherine schüttelte den Kopf und wollte widersprechen, dass das nicht nötig sei, doch Lestat streichelte ihre Wange und flüsterte: „Bitte, Catherine.“ Sie nickte zögerlich und Lestat küsste sie leicht auf ihren Mund, ehe er sich vom Bett entfernte und die Tür wieder öffnete. Catherine sah, dass Marius zur Seite wich und Bruyard mit seiner Arzttasche aus Leder eintrat, und gefolgt von Lestat zum Bett ging. „Catherine, mach’ dir keine Sorgen. Ich möchte nur schnell nach dir sehen, damit du schnell wieder zu Kräften kommst.“ meinte er, nachdem er sie begrüßt hatte. „In Ordnung.“ entgegnete sie und nickte. Sie fühlte sich nicht gut, doch sie konnte nicht beschreiben, was genau sie fühlte. Es war seltsam und beängstigend, da sie es nicht greifen konnte, doch sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie fühlte es. „Ich brauche mehr Licht.“ meinte er und blickte zu Lestat. Lestat zögerte einen Moment und blickte den Arzt eindringlich an, ehe er zum Lichtschalter neben der Tür ging und ihn betätigte. Catherine schloss die Augen wegen der Helligkeit und lauschte den Bewegungen des Arztes, der seine Tasche öffnete und nach seinen Instrumenten suchte. Er horchte ihre Herztöne ab, fühlte ihren Puls, maß ihren Blutdruck und stellte fest, ob sie Fieber hatte, und erledigte seine Aufgabe in eisernem Schweigen, was Catherine überhaupt nicht gefiel. Schweigen war nie gut. Zumindest dieses Schweigen nicht. „So… fertig, Catherine.“ meinte er schließlich nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschien. „Was haben Sie feststellen können, Monsieur Bruyard?“ fragte sie müde und zwang sich dazu, ihre Augen einen Spalt zu öffnen, um sein Gesicht zu sehen. „Es ist völlig normal, dass du dich schwach fühlst. Du hast sehr viel Blut verloren… Ja, es ist normal.“ entgegnete er und lächelte zuversichtlich. Catherine erwiderte sein Lächeln und nickte. Sie fühlte, wie seine Hand sich sanft über ihre legte, und sie drückte. Er war ein guter Mann. Bruyard ging gefolgt von Marius zurück in den Salon, in dem er vorher schon darauf gewartet hatte, bis er zu Catherine gebracht wurde. Lea, das Mädchen, das er schon einmal behandelt hatte, saß auf dem Sofa und hatte den Kopf in die Hände gestützt, als er eintrat. „Was ist mit ihr?“ fragte David und bat den Arzt, sich zu setzen, was er auch tat. „Es ist mir unerklärlich… Ich kann unmöglich behaupten, dass ich es weiß, was geschieht.“ „Dann vermuten Sie.“ warf Armand ein und trat zu der Gruppe hinzu. „Oder sagen Sie, dass Sie trotzdem etwas tun können.“ fügte er hinzu, doch der Arzt schüttelte den Kopf. „Es ist kompliziert.“ begann Bruyard und suchte nach den richtigen Worten, denn obwohl er immer wusste, mit was die Familie du Ravin zu tun hatte, war ihm das alles etwas zu real. „Sie hat tatsächlich nicht so viel Blut verloren, dass es ihren schlechten Zustand erklären würde. Sie sagten, ihr Blut bestünde sowohl aus menschlichen und vampirischen Teilen… Vielleicht liegt darin das Problem.“ „Wie kann darin das Problem liegen? Sie hatte schon immer dieses Blut und niemals Probleme.“ meinte Lea und Bruyard nickte. „Ich verstehe es auch nicht, aber eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Sie weist Anzeichen von einer Blutvergiftung auf, doch es gibt äußerlich keine Anzeichen. Ihre Organe scheinen außerdem zu versagen, aber mehr kann ich kaum sagen.“ meinte der Arzt und überlegte einen Moment. „Ich nehme an… Nein, ich möchte mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass ihr jetziger Zustand nicht aus der Tatsache hervorgeht, dass… ihr Freund… von ihrem Blut getrunken hat.“ „Sie können ihr also nicht helfen, da Sie nicht wissen, weshalb es ihr schlecht geht.“ fasste Lea zusammen und erhob sich von der Couch. „Es tut mir leid. Ich kann weiterhin versuchen, ihr zu helfen, aber ich habe keine allzu großen Hoffnungen.“ meinte Bruyard und blickte von einem zum anderen. Marius schüttelte den Kopf, während Armand und David geradeaus vor sich hinstarrten. Lea begann, im Raum auf und ab zu gehen und schüttelte auch immer wieder den Kopf, während Louis seinen Blick ebenfalls von einem zum anderen wandern ließ. Sie konnten es wohl alle nicht fassen, was sie gerade gehört hatten… Catherine betrachtete Lestat und studierte sein Gesicht. Nachdem er das Licht wieder gelöscht hatte, konnte sie die Augen wieder öffnen. Er sah sie ruhig an, doch er konnte seine Verzweiflung nicht ganz vor ihr verbergen. „Er ist ein guter Lügner, nicht wahr?“ fragte sie und streichelte seine Stirn. „Wer?“ wollte er wissen, wobei seine Stimme rau klang. „Bruyard.“ flüsterte Catherine und legte den Kopf schief. „Wieso sagst du das?“ „Lestat.. Ich habe sein Gesicht gesehen. Ich sehe deines. Ich fühle meinen Körper und ich weiß, dass nicht alles in Ordnung ist.“ Lestat schüttelte den Kopf und wollte nicht, dass sie daran dachte, was mit ihr war, doch es war schwer, das zu verlangen. Er konnte es nicht verlangen. „Ich kenne Bruyard schon sehr lange. Es war angenehm, zu ihm zu kommen, wenn ich verletzt war, denn außerhalb meiner Familie war er der einzige, der über diese gesamte Sache mit der Bruderschaft und unserer Aufgabe zumindest in Ansätzen Bescheid wusste.“ erzählte Catherine leise. „Er ist ein guter Mann, aber ein miserabler Lügner… Nun, ja. Vielleicht muss das auch so sein. Gute Männer sind selten auch gute Lügner. Das sollten sie zumindest nicht sein, nicht wahr?“ „Ja, das ist wohl richtig.“ gab Lestat gepresst zurück und sie lächelte, während sie ihm immer wieder über die Hand streichelte, die auf ihrer Hand lag. „Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte…?“ meldete sich der ältere Arzt zu Wort und Marius wandte sich ihm zu. „Ja, bitte.“ forderte er ihn auf und der Arzt rückte unruhig auf seinem Platz umher. „Vielleicht können Sie ihr helfen, indem sie die Bruderschaft zu Rate ziehen…“ „Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist. Die Bruderschaft gehört nicht zu Catherines Freunden… Nicht mehr.“ „Oh, dann müssen Sie sich selbst helfen. Ich nehme an, es wird für Sie keine Schwierigkeiten bereiten, wenn Sie die Bruderschaft nach Ihren Regeln zu Rate ziehen. Sie scheinen sehr scharfe Argumente zu haben.“ gab Bruyard zurück und Marius blickte zu Armand und David. „Wir müssen noch einmal in die Labore und gezielt nach etwas suchen, das Catherine helfen kann.“ meinte Lea und fuhr fort: „Irgendetwas… Ich weiß nicht, was es sein wird, aber es muss irgendetwas geben, das ihr helfen kann. Und wenn wir nur herausfinden können, was mit ihr geschieht! Dann könnte er…“ Lea wies auf Bruyard. „… ihr vielleicht doch irgendwie helfen!“ „Nein, nicht wir… Du bleibst hier.“ entschied Louis und alle nickten, auch Lea, da es unsinnig war, darauf zu bestehen, die anderen zu begleiten. „Wir müssen Druck ausüben… Druck machen.“ murmelte David und zog die Augenbrauen hoch. „Lea, hast du deine Kräfte unter Kontrolle?“ fragte Marius, worauf Lea nickte. „Voll und ganz… auch in Stresssituationen.“ versicherte sie und hielt Marius prüfendem Blick stand. „Gut. Du wirst hier bleiben und auf Catherine achten. Louis… Ich nehme an, dass du auch hier bleiben willst.” „Nein.“ meinte Lestat, der unbemerkt die Tür zum Salon geöffnet hatte und mit funkelten Augen in die Runde blickte. „Wenn ich das richtig verstehe, und ihr die Bruderschaft auf ihrem eigenen Gebiet einen Besuch abstatten wollt, der bemerkt wird, so braucht ihr jede Unterstützung, die ihr bekommen könnt. Lea wird Catherine schützen. Und wir… wir werden dafür sorgen, dass die Bruderschaft nicht so schnell vergisst, mit wem sie sich angelegt hat. Wir werden unser Möglichstes tun, um Catherines Tod zu verhindern.“ Kapitel 106: Quelle des Lebens ------------------------------ Quelle des Lebens Lestat hatte mit den anderen so schnell wie möglich die Villa verlassen, obwohl er es immer noch nicht mit seinem Gewissen ausmachen konnte, Catherine in ihrem Zustand allein zurückzulassen. Sie hatte gesagt, dass sie es verstehen würde, und war dann eingeschlafen, doch er wollte nicht von ihrer Seite weichen. Er wollte bei ihr sein. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass sie in diesem Moment nicht das Wichtigste in seinem Leben war, obwohl sie das zweifellos war. Was würde er tun, wenn sie nie wieder aufwachte – wenn sie starb und er nicht da war… Er war verzweifelt, da er nicht in der Lage gewesen war, sie zu schützen. Was nütze es, dass sie nun wussten, dass Magnus Margaret Barcley sein Blut gegeben hatte? Was nütze das alles, wenn Catherine nicht mehr am Leben war? Nein, er würde einen Weg finden. Er musste einen Weg finden, der Catherine erlaubte, am Leben zu bleiben… Wut machte sich in ihm breit, und obwohl er wusste, dass diese Wut aus seiner Unsicherheit, Angst und Verzweiflung kam, wusste er auch, dass sich seine Wut gegen alles und jeden richten würde, der sich ihm und seinem Ziel – Catherine zu retten – in den Weg stellen würde. Die Bruderschaft würde seinen Zorn zu spüren bekommen, ob sie nun Schuld trug, Bescheid wusste oder helfen konnte … das war völlig egal. Bruyard hatte sich dazu bereit erklärt, mit Lea in der Villa zu bleiben, jedoch nicht so sehr aus dem Grund, dass er auf Lea ein Auge haben sollte, sondern weil er selbst nicht nach Hause gehen wollte. Er hatte nicht das Gefühl, dass er es konnte, denn Catherine war in seinen Augen verloren und sie bedeutete ihm viel. Vielleicht konnte er ihr die letzten Stunden so angenehm wie möglich machen… vielleicht fiel ihm unter göttlicher Führung doch noch eine Möglichkeit ein, wie er Catherines Leben retten konnte. Er saß auf der Couch und wartete, dass Lea zurück in den Salon kam, was sie auch wenig später tat. „Sie schläft noch immer, aber ich denke, dass sie träumt. Sie ist unruhig.“ meinte sie, ohne dass er sie nach dem Befinden der Patientin gefragt hatte. „Sie braucht die Ruhe.“ murmelte er und Lea setzte sich zu ihm. „Sie haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, oder?“ fragte Lea, doch Bruyard zögerte. „Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, um Catherine zu helfen.“ „Lestat wird nicht zulassen, dass Catherine etwas geschieht. Sie werden wissen, was zu tun ist, wenn sie zurückkehren. Ich bin mir sicher.“ „Ich hoffe wirklich, dass du Recht behältst.“ gab er zurück und schwieg einen Moment, ehe er noch einmal nach Catherine sah. Die Vampire brachen ohne Vorsicht in die Räumlichkeiten der Bruderschaft ein, schlugen die wenigen Leute nieder, die dumm genug waren, sich ihnen in den Weg zu stellen. Entgegen aller Erwartungen trafen sie auf keine gedankenlosen Vampire, sondern nur auf Menschen, die trotz ihrer offensichtlichen Schwäche versuchten, etwas gegen die fremden Eindringlinge auszurichten. „Wahrscheinlich können sie sie nicht so gut kontrollieren, dass sie diese Kreaturen zu ihrem Schutz abstellen würden.“ vermutete Marius. „Wahrscheinlich.“ brummte Lestat. „Folgt mir!“ Sie eilten weiter durch die Gänge, doch Lestat wollte nicht zu den Laborräumen, sondern zum Oberhaupt der Bruderschaft, weshalb er sich aus Catherines Karte die Lage der Arbeitszimmer zurück in Erinnerung rief. „Wohin…“ begann Louis zu fragen, doch Lestat kam an der Tür an, die er gesucht hatte, und trat sie auf. Louis warf einen Blick auf das Türschild, als er hinter Lestat eintrat. Eric Chamberlain-Stewart, Rector, stand da, und hinter dem Schreibtisch saß ein aufgeschreckter Mann mit weit aufgerissenen Augen, dessen Schreck gerade zehn Jahre zu seinem Alter hinzugefügt hatte. „Chamberlain-Stewart?“ fragte Lestat in einem Tonfall, der von drohenden Versprechungen nur so klingelte. „J…J…Ja…“ entgegnete der Mann und nickte ängstlich mit dem Kopf. „Sie haben hier also das Sagen? Sie sind der Rector der Societas?“ fragte Lestat weiter und stellte sich hinter ihn, damit er ihn nicht mehr sehen konnte. „Ich…. ich… b.. bin der Rec… Rector, ja.“ gab er furchtsam zurück und versuchte, über seine Schulter einen Blick auf den Vampir hinter sich zu werfen, der die Gruppe scheinbar anzuführen schien. „Sie sind der Rector, aber das Sagen hat ein anderer, nicht wahr?“ bemerkte Lestat und beugte sich herunter, sodass sein Kopf nahe an der Schulter von Chamberlain-Stewart war. Der Rector nickte zögerlich und Lestat warf einen Blick zu Marius und Armand. „Wer hat das Sagen?“ drängte Lestat weiter und erhielt den Namen, den er gesucht und auch bereits erwartet hatte. „Giovanni Daniele.“ „Armand, nimm’ unseren Eric mit dir. Ich hole Daniele.“ bestimmte Lestat und verließ das Arbeitszimmer, um nur wenige Türen weiter Daniele zu Tode zu erschrecken. Lestat zerrte ihn ohne größere Schwierigkeiten zurück zu der Gruppe und übergab ihn Louis, wobei er mit finsterer Miene murmelte: „Ich bringe ihn sonst gleich um.“ Gemeinsam gingen sie durch die Gänge, wobei ihnen kaum mehr jemand entgegenkam. Es hatte sich noch nicht herumgesprochen, dass Eindringlinge in den Katakomben waren, weshalb die Vampire ein panisches Geschrei und Durcheinander auslösten, als sie sich gewaltsam Zugang zu den Laborräumen verschafften, und die Mitarbeiter ihren Rector und dessen rechte Hand, die eigentlich das Sagen hatte, in den Händen der Vampire sahen. Die Menschen in weißen Kitteln rannten hin und her und versuchten, den Eindringlingen zu entkommen, doch Marius blockierte die Ausgänge, während Armand und Louis damit begannen, die Geiseln in kleine Gruppe zu trennen und in kleine Räume zu sperren. „Wie willst du vorgehen?“ fragte Marius, als die lähmende Ruhe der Angst die Menschen erfasst hatte. „Ich will denjenigen, der am meisten weiß. Und Daniele. Chamberlain-Stewart kann auch eingesperrt werden.“ informierte Lestat und streifte die Menschen, die zusammengekauert auf dem Boden saßen und um Gnade winselten, mit einem verachtungsvollen Blick. Es dauerte nicht lange, ehe die Mitarbeiter ihren Chef benannten, da sie hofften, es würde wegen ihrer Kooperation für ihr Leben weniger bedrohlich. Marius und David verlangten die Aushändigung des gesamten Materials, das Catherine und die Blutforschung betraf, was sie auch von Daniele ohne größeren Widerstand bekamen. Die anderen schien das zu erleichtern, jedoch nicht Lestat. Wieso schützte er sein Wissen nicht? David und Louis sahen die Akten durch, doch schüttelten immer wieder den Kopf. Lestat beäugte sie aufmerksam, während er selbst versuchte, ruhig zu bleiben. Marius machte dem Chef des Labors gerade durch Drohungen deutlich, wie wichtig die Angelegenheit war, während Daniele sich scheinbar darüber zu amüsieren schien, dass die Vampire nicht die Antworten fanden, wegen denen sie hier waren. Lestat sah, wie er hinterhältig und ernsthaft belustigt grinste, was Lestat genügte, um seine Beherrschung zu verlieren. Schnell packte er ihn am Kopf und schlug ihn auf einen Tisch. Dann beugte er sich dicht über ihn und hielt ihn in gebückter Stellung. „Ich würde mir an Ihrer Stelle gut überlegen, ob ich das witzig finde!“ zischte er an sein Ohr. „Es ist zu spät. Es ist einfach zu spät!“ lachte Daniele beinahe wahnsinnig. „Was ist zu spät?“ fragte Lestat und sah aus den Augenwinkeln, wie Marius, Louis und David in ihrer Beschäftigung inne hielten. „Unsere Geschöpfe erfüllen ihren Zweck.“ entgegnete er und Lestat wollte schon unterbrechen, da das nichts mit Catherine, sondern mit den gedankenlosen Vampiren zu tun hatte, doch Marius schüttelte den Kopf, weshalb er Daniele weitersprechen ließ: „Die Welt wird in ihrer höchsten Not erkennen, wer ihr wahrer Herr ist, und die Menschen werden in die Arme Gottes strömen und der Herr wird seine treuen Diener aufnehmen, seine Widersacher jedoch wird er zertreten wie Ungeziefer, in bleibende Feuer werfen und in seiner ewigen Gerechtigkeit die Verdammnis über sie kommen lassen.“ „Ich will keine religiöse Prophezeiung eines Fanatikers… Was ist zu spät?“ fragte Lestat noch einmal und schlug seinen Kopf noch einmal auf den Tisch, doch Daniele lachte nur. „Ihr werdet sie nicht aufhalten. Sie sind überall auf der Welt zerstreut und nichts und niemand wird sie aufhalten. Sie werden töten, morden und sich nähren…“ „Sie können getötet werden.“ „Es sind zu viele. Tausende. Und sie werden sich mehren und das Böse zurück in die Welt bringen, damit Gottes Herrschaft auf Erden neu entsteht. Ihr könnt sie nicht aufhalten. Ihr seid nur… fünf…. Nein, es gibt keine Zukunft für euch. Die Zukunft liegt in Gottes Hand und er wird seine Diener zu sich rufen, seine Macht erneut in der Welt finden, denn er wird der einzige sein, der seine Diener vor den Mächten der Finsternis zu schützen vermag...“ setzte Daniele seine Ausführungen fort, doch Lestat war nicht der einzige, der nicht mehr zuhörte. „Das nützt uns alles nichts, Lestat. Damit können wir Catherine nicht das Leben retten.“ meinte Marius und Daniele beendete seinen Wortschwall, indem er wieder zu lachen begann, was Lestat beinahe dazu brachte, Danieles Kopf in seiner Hand zu zerquetschen, doch er sprach weiter, was ihm vielleicht das Leben rettete. „Catherine… Ach, Catherine… Sie ist diejenige, die es überhaupt erst möglich gemacht hat. Sie wird eine Heilige sein… oder eine Verdammte. Das wird die Zeit lehren. Sicher ist nur eines: Ihr Blut ermöglicht ihnen das Leben.“ „Wie das? Ich denke, es war synthetisches Blut…“ meinte Lestat und festigte den Griff um Danieles Hals, sodass dieser kaum noch atmen konnte. „Ja, bei der Ausführung unserer Schöpfung, doch es ihr Blut, das synthetisch nachgebildet wurde, und es ist ihr Blut und ihre Seele, an welche die Geschöpfe in ihrer Existenz durch Magie gebunden wurden.“ erklärte Daniele in einem Tonfall, der Lestat überhaupt nicht gefiel. Ihm schwante Furchtbares und auch Marius schien die Bedeutung der Worte kaum glauben zu wollen, doch Daniele sprach heiter weiter: „Solange Catherines Blut und ihre Seele existieren, wird auch unsere Schöpfung leben…. Es scheint mir, dass ihr ein Problem habt, denn ihr könnt Catherine nicht retten – und selbst wenn ihr es könntet, so würde sie zwar leben, tausende andere Menschen… vielleicht auch zehntausende …. aber noch sterben.“ „Und wenn Catherine stirbt…“ flüsterte Lestat und Daniele führte den Satz fort: „… versiegt die Leben spendende Quelle unserer Schöpfung.“ Kapitel 107: Stärke und Schwäche -------------------------------- Stärke und Schwäche Langsam ging Bruyard die Treppen nach oben und betrat leise Catherines Zimmer. Zum dritten Mal sah er inzwischen wieder nach ihr, seit die Vampire die Villa verlassen hatten. Er schaltete die kleine Lampe an und sah, dass Catherine die Augen geöffnet hatte und ihn anblickte. „Wie geht es dir?“ fragte er und setzte sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett. „Unverändert.“ gab sie zurück und blickte zur Tür, ehe sie fragte: „Sind sie zurück?“ „Nein.“ entgegnete er und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit vergangen ist, seit Lestat hier war… oder Lea.“ „Erst wenige Stunden, Catherine.“ antwortete er. „Es ist noch dunkel draußen.“ „Ich habe kein Gefühl für die Zeit.“ seufzte sie und schloss die Augen wieder. „Ich habe geschlafen.“ „Ja, das ist sehr gut.“ entgegnete Bruyard. „Ich weiß, dass Sie mir nicht helfen können.“ meinte Catherine matt und drehte sich leicht auf die Seite, was sie schon sehr anstrengte. „Catherine, du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.“ bat Bruyard, doch Catherine sah ihn mit einem Blick an, der ihm sagte, dass sie nur realistisch war, weshalb er keine weiteren Versuche unternahm, ihr Mut zuzusprechen, sondern in ein langes Schweigen verfiel. „Ich denke, ich habe schon längere Zeit gespürt, dass das geschehen würde.“ „Weshalb?“ fragte er und Catherine zuckte die Schultern. „Der Gedanke an meinen Tod war in der letzten Zeit immer präsent – nicht im Bewusstsein, aber unbewusst habe ich dieser Möglichkeit wohl viel Platz eingeräumt… Und nun gibt scheinbar alles einen Sinn… Nun, da ich weiß, dass ich sozusagen ein Halbvampir bin.“ „Was gibt Sinn, Catherine?“ „Ich habe mich verändert. Ich habe bemerkt, dass mein Tag-Nacht-Rhythmus sich sehr verändert, was nicht nur allein daran liegt, dass ich dauerhaft spät schlafen gegangen bin. Helles Licht tat meinen Augen weh. Essen schmeckte nicht und Hunger hatte ich kaum mehr. Meine Sinne waren schärfer und nun noch die… Kräfte, die ich beherrschen kann.“ „Was denkst du, was das zu bedeuten hat?“ fragte Bruyard und blickte Catherine aufmerksam an. „Ich denke, das vampirische Blut hat langsam die Oberhand über mein menschliches genommen. Der Erbteil scheint stärker zu sein, obwohl sein Ursprung schon so lange Zeit zurückliegt und über so viele Menschen vererbt wurde.“ „Das vampirische Blut…“ „Ich weiß nicht, wie das funktioniert, aber ich denke, dass das vampirische Blut zwar stärker als das menschliche ist, da es das menschliche verdrängt, aber in der Hinsicht schwächer ist, dass es meinen Körper nicht am Leben erhalten kann.“ „Das ist möglich. Das ist sogar sehr gut möglich.“ überlegte Bruyard und ließ seinen Blick über Catherines blasse Haut und ihre bleichen Lippen wandern. „Sehe ich genauso blutleer aus, wie ich mich fühle?“ fragte Catherine, musste jedoch leicht lächeln, als er immer noch gefangen in seinen wissenschaftlichen Blick und Überlegungen ohne Rücksicht auf sie wahrheitsgemäß nickte. „Ich hätte viel früher darauf bestehen müssen, dein Blut genauer zu untersuchen. Allein schon deine Selbstheilungskräfte hätten mich alarmieren sollen.“ „Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie konnten nicht wissen, was in mir ist… Und vielleicht ist es gut, dass wir es erst nun erfahren, denn die Bruderschaft hätte sicherlich ein Interesse in diesem Wissen gehabt.“ „Ihr Vater hätte sie schon schützen können.“ gab Bruyard zurück, doch Catherine schüttelte den Kopf. „Alles, was geschehen ist, ist so viel mächtiger, größer und gewaltiger… als ich es mir jemals vorstellen konnte. Ich denke, dass meine Familie ebenfalls überfordert gewesen wäre….“ meinte Catherine, doch erinnerte sich daran, dass Bruyard die Situation, in der er und sie sich befand, die gesamten Hintergründe und die Geschehnisse der letzten Monate nicht durchblicken konnte, weshalb sie hinzufügte: „Möglich, dass es einen Weg gegeben hätte, aber ich glaube es nicht.“ „Es tut mir leid, dass ich keine Hilfe bin.“ entgegnete der Arzt niedergeschlagen. „Sie sind hier. Das hilft mir schon.“ beteuerte Catherine und lächelte leicht, ehe sie meinte: „Hoffnung – sagten Sie – sollte ich haben. Hoffnung ist gut. Humor auch… Ist es nicht witzig, dass mein Blut sowohl meine Stärke als auch meine Schwäche ist? Nun, vielleicht nicht komisch-witzig, aber paradox ist es schon, weshalb es auch wieder witzig ist…“ „Catherine, du solltest versuchen, noch etwas zu schlafen und deine Kräfte zu schonen.“ „Ich wüsste nicht wofür, doch sie haben Recht.“ lenkte Catherine ein und schüttelte den Kopf, als sie über ihre Worte nachdachte, die ihr selbst sehr verwirrt erschienen. Plötzlich klopfte es an der Tür und Lea steckte den Kopf zur Tür herein, ehe sie eintrat. „Wie geht es dir?“ fragte sie und Catherine schüttelte den Kopf. „Der nächste, der mich das fragt, darf sich die Antwort aussuchen.“ gab Catherine zurück, sagte aber gleich darauf: „Es geht.“ Lea nickte, setzte sich auf die andere Seite des Bettes und blickte zu Bruyard, der daraufhin meinte: „Ich werde euch allein lassen… Vielleicht kann ich mit den Gedanken, die du gerade hattest, etwas anfangen… Ich versuche es einfach.“ Catherine nickte und blickte ihm nach, wie er das Zimmer verließ. „Er ist sehr besorgt.“ bemerkte Catherine und blickte wieder zu Lea, die nachdenklich nickte. „Das sind wir alle.“ meinte sie. „Ich weiß… Ich denke, ihr müsst euch damit abfinden, dass ich…“ „Nein! Hör auf damit!“ rief Lea und schüttelte den Kopf. „Lea…“ sagte Catherine sanft und legte ihre Hand auf Leas Unterarm. „Ich will nicht, dass du stirbst! Du bist die einzige Familie, die ich noch habe. Ohne dich bin ich ganz allein… Ich will nicht allein sein.“ meinte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Lea, ich werde so lange bei dir bleiben, wie es möglich ist, aber… Es gibt Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben. Und es gibt Dinge, die geschehen müssen.“ sagte Catherine müde. „Kannst du nicht… Lestat. Ich meine, du musst nicht sterben… Wolltest du nicht bei Lestat bleiben?“ Catherine nickte und lächelte. Ja, das wollte sie, aber sie hatte das Gefühl, noch nicht richtig und genügend darüber nachgedacht zu haben. Sie wollte sich nicht zu früh entscheiden – natürlich auch nicht zu spät, aber…. Nun, da sie sich schon damit abgefunden hatte, dass der Tod nah war, hatte er plötzlich nichts mehr Bedrohliches, Schreckliches und Grauenvolles. War es so schlimm, sich aus dem Leben zu verabschieden? Und traf es sie so unvorbereitet? Nein. Nein war die Antwort auf beide Fragen. „Lea, ich werde meine Entscheidung treffen, aber ich habe noch Zeit. Das spüre ich. Ich muss darüber nachdenken. Ich muss mir sicher sein, dass ich wirklich sicher bin. Das bin ich Lestat schuldig, denn er wird sich Vorwürfe machen, wenn ich mir nicht sicher war und die Ewigkeit noch vor mir habe.“ „Ich verstehe.“ murmelte Lea und senkte den Blick. „Du solltest auch sicher sein, dass du deine Entscheidung für dich triffst, und nicht für jemanden, der nur nicht will, dass du stirbst.“ „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hast du Recht, aber du darfst nicht vergessen, dass ich auch sterben würde, wenn ich mich zum Vampir wandeln lasse. Ich würde weiterhin existieren, doch ich wäre tot.“ „Ja, darüber sehe ich vielleicht zu leicht hinweg.“ „Ich denke, ich habe das am Anfang auch nicht so gesehen.“ murmelte Catherine und fühlte, wie die Müdigkeit die wieder in die Arme nahm. „Hast du etwas dagegen, wenn ich hier bleibe. Ich möchte bleiben, wenn du schläfst.“ „Sicher. Bleib’ ruhig hier. Das ist schön.“ flüsterte Catherine und schloss die Augen. Sie hörte, wie Lea es sich auf ihrem Stuhl bequem machte, und fühlte, dass sie ihre strümpfigen Füße zu ihr auf das Bett streckte. „Sagst du Lestat bitte, dass er… mich wecken soll, wenn er da ist?“ bat Catherine leise. „Ja, das mache ich.“ versprach Lea. Catherine nickte leicht und war innerhalb von wenigen Augenblicken eingeschlafen. Lestat blickte sich wütend um. Feuer und Rauch. Catherine. Obwohl er seine Wut ausgelebt hatte, brannte sie noch fürchterlich in ihm. Schwer atmend und blind vor Zorn stand er wie gelähmt im Chaos, das er selbst angerichtet hatte. Catherine. Danieles Leiche, die in ihrem lebendigen Zustand kein Wort mehr gesagt hatte, wie es doch möglich war, Catherine zu retten. Es war nicht möglich. Es war nie möglich gewesen. Ihre Existenz nährte die gedankenlosen Vampire. Ihr Blut. Ihre Seele… Ihr Leben. Lestat wusste es… und hasste sich dafür. Er hasste sich dafür, dass er Catherine nicht zu schützen vermocht hatte. Er hasste sich dafür, dass er Catherine die Wahl in Aussicht gestellt hatte, die sie nun nicht mehr hatte. Ihr Tod… Lestat schüttelte den Kopf. Er hasste sich einfach und die Wut kehrte stärker zurück, sodass sie ihn beinahe erneut rasend werden ließ. Diese Schmerzen und diese Verzweiflung, die er nun fühlte, kamen aus dem Verständnis, dass man den anderen nicht retten konnte… dass er sterben würde. Hilflosigkeit. Ein Gefühl, das Lestat lange Zeit nicht gekannt hatte und keinesfalls schätzte. Lestat schloss die Augen und wusste, dass er seine Unsterblichkeit, seine Existenz für Catherines Leben geben würde, wenn das möglich wäre. Bevor die Flammen im Labor ihn noch weiter in Gefahr brachten, folgte er den anderen, die die Laborräume auf seinen Wunsch schon lange zuvor verlassen hatten. Sie waren schon mit allen Unterlagen und Datenträgern, die wichtig sein konnten, nach Paris unterwegs. Er würde ihnen folgen und sich auch einholen, hatte er gesagt, und sie hatten sich schnell einverstanden erklärt, obwohl sie wussten, dass er morden würde, seine Wut ausleben würde, zerstören und vernichten würde. Lestat war ihnen dankbar dafür, doch gleichzeitig wusste es, dass es nur einen Ort gab, an dem er jetzt sein sollte. Catherine. Er stürmte die unterirdischen Gänge entlang und drang in der Gewissheit ins Freie hinaus, dass keiner der Drahtzieher in weißen Kitteln mehr am Leben war und das Labor in Schutt und Asche irgendwo unter der Stadt Rom sein Ende gefunden hatte. Kapitel 108: Zerbrechliche Hoffnung ----------------------------------- Zerbrechliche Hoffnung Lestat holte seine Weggefährten tatsächlich kurz vor ihrer Ankunft in Paris ein und legte den Rest des Weges mit ihnen gemeinsam zurück. Keiner stellte ihm eine Frage. Niemand wusste eine Antwort auf die Fragen, die sie beschäftigten: Wann würde sich der skrupellose Plan der Bruderschaft bemerkbar machen? Wann würde das Blutvergießen beginnen? Hatte es vielleicht schon begonnen und hatte sich lediglich ihrer Aufmerksam entzogen, weil es erst der Anfang war? Was hatten sie noch zu erwarten und was konnten sie tun? Gab es wirklich nichts, was sie für Catherine tun konnten? Viele Fragen bewegten sie, als sie die Villa betraten, und sich in die Bibliothek begaben, während Lestat sofort die Treppe nach oben eilte, um nach Catherine zu sehen. Bruyard saß in der Bibliothek über Unterlagen und sah verzweifelt und entmutigt aus. „Haben Sie etwas über Catherines Zustand herausgefunden? Sagen Sie mir, dass Sie auf irgendetwas gestoßen sind, denn das hier… hilft mir nicht weiter!“ meinte er ohne Begrüßung und Scheu vor den Vampiren, als ob er schon seit ewigen Zeiten zu der Gruppe gehörte. „Wir haben das.“ meinte Marius, legte die Unterlagen und die Datenträger auf den Tisch und blickte den Arzt prüfend an. „Haben wir dazu überhaupt noch Zeit? Wie geht es ihr?“ „Das ist schwer zu sagen. Sie ist sehr schwach, aber… ich denke, dass sie noch zwei bis drei Tage…“ „Zwei bis drei Tage?“ unterbrach David und setzte sich sofort an den Tisch. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren, irgendeinen Sinn und eine Lösung in diesem Chaos hier zu suchen … und zu finden.“ Marius und Armand nickten, setzten sich ebenfalls. Louis saß schon lange und blätterte in mehreren Akten. Lea würde wohl bald auch zu ihnen stoßen. Sobald Lestat sie gehen ließ, da sie ihm über alles, was mit Catherine in seiner Abwesenheit vorgefallen war, Bericht erstattet hatte. Lestat wartete vor Catherines Zimmertür und beruhigte seine Nerven und sein Inneres. Es war nicht gut, wenn sie seine nervöse und verzweifelte Stimmung bemerkte. Es war nicht gut für sie und auch nicht für ihn, denn er hatte keine Ahnung, wie er ihr beibringen sollte, dass sie sterben würde… Außerdem hing im letzten Winkel seines Herzens noch ein Funke Hoffnung, der nicht verlöschen wollte. Leise öffnete er die Tür und sah Catherine in ihrem Bett schlafen, während Lea neben ihr eingenickt war und im Stuhl zusammengesunken war. Sie gaben ein so friedliches Bild ab, dass es ihm schwer fiel, den Gedanken zuzulassen, dass er dieses Bild bald nie wieder mit seinen Augen erblicken würde. Vielleicht würde er sie noch in seinen Träumen sehen, fühlen, spüren, wahrnehmen… „Ihr seid wieder da.“ stellte Lea leise fest, die aufgewacht war, und richtete sich verkrampft auf. „Ja… Louis ist unten.“ meinte er. Er brachte es nicht fertig, sie nach Catherines Zustand zu fragen, da er eine schlechte und niederschmetternde Antwort befürchtete, die er ohnehin schon kannte. ‚Unverändert’ war als Antwort noch die beste, die er erwarten konnte. „Sie schläft wieder, aber sie ist auch immer wieder wach.“ informierte Lea ihn und blickte hinunter auf Catherine, die überhaupt nicht gut aussah. „Und sonst?“ fragte er und trat nun endlich näher an das Bett heran, um sich darauf niederzulassen. „Nichts. Bruyard sucht nach einem Weg, ihr zu helfen. Ich denke, Catherine hat seinen Gedanken etwas auf die Sprünge geholfen, aber Genaueres weiß ich nicht. Ich wollte sie nicht unnötig wach halten und mit Fragen nerven.“ „Das ist gut.“ antwortete Lestat, meinte das aber nur in Bezug auf die letzten Worte, die Lea gesprochen hatte. Es machte die Situation nicht besser, wenn es eine Chance für Catherine gab, sie aber zum Wohle der Welt sterben musste. Er wusste, dass sie sich für das Wohl der Welt entscheiden würde. Ihr Leben gegen tausend andere… Keine Frage für Catherine. Eine klare Sache, das wusste er, obwohl sie niemals über solche Dinge unterhalten hatten. Und wenn er es ihr nicht sagte? Wenn es die Chance gab, sie zu heilen, und er sie einfach im Unklaren über die Folgen ließ? Nein, das war sicherlich etwas, das sie ihm niemals verzeihen konnte. Wie sollte sie auch damit leben? Und wie sollte er mit ihrem Zorn und ihrer Verachtung leben? „Ich habe ihr versprechen müssen, dass du sie weckst, wenn du da bist.“ „Ich denke, sie sollte schlafen.“ entgegnete Lestat und schüttelte den Kopf. „Sie will dich sehen, Lestat. Ich finde, du solltest ihr den Gefallen erfüllen. Sie wird schnell wieder einschlafen, aber dann weiß sie, dass du bei ihr bist.“ „Ich weiß nicht, ob ich bei ihr bleiben kann… Unten warten die anderen und wir haben so viel zu tun…“ „Wie ich die anderen kenne, haben sie eh schon angefangen, und werden es verstehen, wenn du hier oben bleibst.“ „In Ordnung. Danke.“ gab er sich einverstanden und Lea verließ das Zimmer, um in der Bibliothek zu helfen. Lestat strich Catherine sanft über die Stirn und die Wange, doch sie wachte nicht auf, weshalb er sie küsste und dann einige Male leise ihren Namen sagte, ehe sie auf seine Anwesenheit reagierte. „Catherine?“ fragte er, als sie langsam die Augen aufschlug. „Lestat…“ murmelte sie, schloss die Augen noch einmal und öffnete sie wieder, um sicher zu gehen, dass Lestat wirklich bei ihr saß. „Wie geht es dir?“ „Besser. Ich bin nicht mehr ganz so müde.“ meinte sie, wobei sie bemerkte, dass das so nicht stimmte. Sie fühlte sich zerschlagen und matt, doch ihr Geist schien wieder wacher und aufmerksamer zu sein, was ihr gefiel. Wahrscheinlich hatte das Schlafen doch genützt und ihr geholfen. „Wie war es in Rom?“ fragte sie, da sie ihre derzeitige Kraft nutzen wollte. „Das Labor ist nicht mehr.“ gab Lestat Auskunft. „Was ist passiert?“ wollte sie wissen. „Ich… Es ist besser, dass es nicht mehr da ist. Wer weiß, was sie noch in die Welt schicken wollten.“ wich Lestat ihr aus und streichelte ihr Gesicht. „Es ist schön, dass du wieder da bist.“ „Ich bin froh, wieder an deiner Seite zu sein, Catherine.“ versicherte er und ließ seine Hand hinunter zu ihrem Hals wandern, wo die Spuren seines Bisses kaum mehr zu sehen waren. „Sie sind beinahe weg, nicht wahr? Ich habe sie kaum mehr gefühlt, als ich das letzte Mal nach ihnen getastet habe.“ flüsterte sie und blickte ihn an. „Ja, sie sind gut verheilt.“ antwortete er und sie hob eine Hand an seine Wange, während sie ihn prüfend betrachtete. „Was bedrückt dich, Chéri?“ fragte sie ihn und bemühte sich um einen sicheren Tonfall, doch er schüttelte nur den Kopf. „Lestat, ich bin sehr, sehr feinfühlig, was diese Dinge angeht… Und bei dir müsste ich das im Moment nicht einmal sein.“ beharrte sie weiter und Lestat wandte den Blick ab. „Lestat…“ „Wir arbeiten daran, Catherine, aber…“ begann Lestat, doch brach wieder ab, setzte dann wieder an und fuhr fort: „Wir wissen nicht, ob wir dir helfen können.“ „Ich weiß.“ „Und es ist auch etwas, das Daniele gesagt hat, das uns… mich… rasend gemacht hat. Ich habe das Labor zerstört… Ich habe getötet und gemordet…“ „Was hat Daniele gesagt?“ wollte Catherine wissen und gab nicht auf, obwohl Lestat ihr das nicht sagen wollte. „Sie haben diese gedankenlosen Vampire erschaffen, um das Böse zurück in die Welt zu bringen – als sei das Böse nicht immer präsent und in den Taten der Menschen zu sehen. Sie meinen, dass die Menschen dann zum christlichen Glauben zurückkehren. Das ist ihr Existenzgrund.“ „Wie soll das gehen? Das Böse in die Welt zu bringen, das verstehe ich noch, aber was hat die Bruderschaft vor, wenn es einmal da ist?“ „Keine Ahnung.“ gab er zu und Catherine schüttelte den Kopf. „Sie müssen doch einen Plan gehabt haben, was sie tun… Ich meine, es ist leicht, Unheil zu stiften, aber damit es ist bei ihrer Mission nicht getan, denn sie müssen ja die gerechte Seite zeigen, Hoffnung bringen und Hoffnung wachsen lassen, damit das überhaupt Sinn gibt.“ „Bist du sicher, dass irgendjemand von dieser wahnsinnigen Organisation nach Sinn fragt?“ „Ja, denn sie haben ein erklärtes Ziel… Nein, ohne einen Plan geht es nicht. Sie müssen etwas geplant haben, das diese Schrecken beendet. Irgendetwas, das den Menschen Hoffnung spenden wird.“ „Die Schrecken haben noch nicht angefangen.“ murmelte Lestat und dachte erneut daran, dass Catherines Tod das Ende der Kreaturen bedeutete, doch das konnte er ihr nicht sagen. Sie würde dafür sorgen, dass es wieder Grund zur Hoffnung gab. Sie allein. „Ich denke, ihr solltet Augen und Ohren offen halten. Es ist leicht vorstellbar, dass in den Nachrichten natürlich nichts über Bisswunden und blutleere Körper zu finden ist, aber… Morde, Massaker und Serienkiller.“ „Wir werden das gleich in Angriff nehmen.“ „Gut, dann solltest du nach unten…“ „Nein, Catherine. Das kommt nicht in Frage.“ unterbrach er sie und schüttelte den Kopf. Zärtlich strich er ihr über das Haar und nahm eine ihrer Strähnen zwischen die Fingerspitzen. Sein Blick glitt über ihr Gesicht und er war froh, dass sie ihn anlächelte. „Du gibst mir das Gefühl, dass ich gerade nicht so aussehe, wie ich mich fühle.“ meinte sie immer noch lächelnd und hob ihre Hand wieder an sein Gesicht. „Du bist wunderschön.“ entgegnete er und küsste sie sanft auf die Lippen. Schließlich erhob er sich vom Bett und ging zum Regal hinüber, wo ihr Notebook lag, und nahm es mit zum Bett zurück, an dessen Fußende er sich setzte. „Du solltest noch einmal versuchen, ein wenig zu schlafen. Das scheint dir gut zu tun.“ meinte er, während er das Notebook anschaltete. „Wirst du recherchieren?“ „Ja, während du schläfst.“ machte er noch einmal seinen Standpunkt klar. Catherine nickte, da er ihre Hilfe wirklich nicht brauchte, und sie nicht die Energie hatte, ihm noch irgendetwas entgegen zu setzen. Das Gespräch hatte sie angestrengt, weshalb sie erschöpft die Augen schloss. Das Geräusch von Lestats Fingern auf der Tastatur, die im Internet nach seltsamen, zahlreichen und unnatürlichen Todesfällen suchten, hörte sie bald gar nicht mehr... Kapitel 109: Gewissensfrage --------------------------- Gewissensfrage Lestat bemühte sich, leise auf der Tastatur herumzutippen, und warf immer wieder einen Blick zu Catherine, die ungestört schlief. Tatsächlich hatte sie Recht gehabt, was die Morde und Todesfälle anging, doch er würde sie nicht wecken, um ihr das zu sagen. Solange sie schlief, musste er ihr nicht sagen, dass sie sterben würde. Und musste. Er hatte Angst vor diesem Moment. Er hatte Angst vor ihrer Reaktion. Er hatte Angst, da er wusste, dass ihm die richtigen Worte fehlen würden, denn die richtigen Worte gab es nicht. Sein Inneres krampfte sich zusammen, wenn er nur daran dachte, welche Worte er benutzen würde… konnte… sollte. Einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und rief seine Gefühle wieder zu Ordnung, ehe er für sich in Gedanken zusammenfasste, was er im Internet erfahren hatte und Schlüsse daraus zog. Überall auf der Welt geschahen seit einigen Tagen schreckliche Morde und grauenhafte Massaker und niemand konnte sie erklären, weshalb in den seriösen Medien erst einmal kaum über sie gesprochen wurde, und sich dann weniger seriöse Nachrichtensender versuchten, mit den wildesten Theorien Geld zu verdienen. Das letzte, was man in solch einer Situation brauchen konnte, war Angst und Panik, doch genau das wurde durch die Informationen geschürt, die von dubiosen Sprechern wissentlich und kontrolliert an die Bevölkerung weitergegeben wurden, und als wissenschaftlich und ernsthaft proklamiert wurden. Massenweise ausgebrochene Insassen einer Irrenanstalt. Oder doch eines Gefängnisses, das die schlimmsten Gewaltverbrecher verwahrt hatte? Es war leicht, diesen Theorien Glauben zu schenken, wenn man sich beruhigen wollte, doch wenn man an der allgemeinen Hysterie gerne teilnahm, so wandte man sich anderen Erklärungen zu. So gab es auch die Annahme, dass die Morde und Massaker aus terroristischem Hintergrund geschahen, weshalb das persönliche Umfeld der Opfer sehr genau und umfassend unter die Lupe genommen wurde – ohne Erfolg, denn es gab keine Verbindung zwischen ihnen, keine gemeinsamen Hintergründe, die auf alle Opfer zutrafen und keine zufrieden stellenden Spuren auf die Täter. Denn was sollte der Gerichtsmediziner sagen, wenn die Leichen zwar Bissspuren, allerdings kein Blut mehr aufwiesen? Und es waren mehrere Täter, denn die Opfer waren überall und beinahe nicht mehr zu zählen. Die ersten sprachen schon aus, was sie befürchteten, ihr Verstand ihnen jedoch zu glauben verbot: Vampire. In Furcht versuchten sie, sich alles in Erinnerung zu rufen, was sie über Vampire aus Filmen und Büchern ‚gelernt’ hatten. Knoblauchknollen. Kruzifixe …. Und keinen Fremden ins Haus einladen! Es war lächerlich, gewiss, das fanden selbst die Leute, die so handelten, doch man konnte ja doch nie genau wissen, was Fiktion und Wahrheit war… Die Politik konnte nichts anderes tun, außer zu versprechen, die Täter zu fassen und zu richten, doch wie sollten die Polizisten und die Justiz das anstellen? Sie waren überfordert und jetzt schon am Ende ihres Lateins. Die Fälle waren scheinbar über Nacht über sie hereingebrochen. Ohne Vorwarnung. Ohne Anzeichen. Ohne Erklärung. Lestat schloss einige Fenster, die er auf seinem Bildschirm gelesen hatte, und wollte schon das Internet verlassen, als ihm eine Kopfzeile ins Auge sprang: ‚Okkulte Vereinigung übernimmt Weltherrschaft!’ Er blinzelte einige Male und folgte dann diesem Artikel, in dem irgendein Mensch die Morde und Massaker als Werk des Satans bezeichnete – im gleichen Atemzug jedoch Sekten und einen Geheimbund als Täter und Mitwisser nannte. So wurde aus dem Werk Satans das Werk für Satan, der nach genug Blutvergießen auf die Erde gelangen könnte, um die endgültige Vernichtung über die Menschheit hereinzubringen. „Alles klar.“ meinte Lestat leise und ironisch und schüttelte den Kopf, wobei er sich eingestehen musste, dass dieser Mensch, der das geschrieben hatte, mit seiner Vermutung im Grunde gar nicht so verkehrt lag. Catherine drehte sich auf die andere Seite und murmelte etwas, was Lestat nicht verstand, doch da sie noch schlief, fragte er sie nicht, weil er sie sonst vielleicht noch aufwecken würde. Er war ein Feigling! Er hatte ihr auch verschwiegen, was sein Schöpfer Margaret Barcley angetan hatte. Er hatte ihr nur gesagt, dass es ein Vampir war. Er hatte verschwiegen, dass er ihn kannte, dass er von ihm abstammte, dass er ihn zwar nicht mochte und nicht sonderlich gut kannte, aber es sein Blut war, das Lestat diese Existenz ermöglicht hatte. Spielte es jetzt noch eine Rolle, ob sie es wusste? Würde es etwas ändern… Nein, das war unwahrscheinlich. Vielleicht würde diese Tatsache nur Verachtung in Catherine wecken, die sich dann gegen Lestat wenden würde, wenn der unbekannte Vampir auf einmal zu Lestats unsterblichem Vater werden würde. Lestat betrachtete Catherine noch eine Weile und schaltete das Notebook aus, ehe er nach unten ging, um seine Neuigkeiten mit den anderen zu teilen. Die Stimmung war gedrückt und nur Lea und Marius blickten auf, als Lestat eintrat. Er brauchte nicht zu fragen, ob sie andere Antworten gefunden hatten – seine und Danieles Worte kamen ihm erneut in stechender Klarheit in den Sinn. „Und wenn Catherine stirbt, versiegt die Leben spendende Quelle unserer Schöpfung.“ tönte in seinen Ohren und wiederholte sich immer wieder, bis er sich setzten musste und die Hände auf die Augen presste. „Gibt es etwas, das Danieles Worte widerlegen kann?“ fragte er schließlich, da er es doch hören musste. „Nein.“ entgegnete Armand, ohne von dem Monitor vor sich aufzublicken. „Es stimmt also, was er gesagt hat.“ murmelte Lestat und schüttelte den Kopf. „Wir wissen es nur noch nicht…“ versuchte Marius, Armands Ausspruch etwas von seiner Bestimmtheit zu nehmen. „Marius… Wir müssen wissen, was Sache ist.“ meinte Lestat und nahm sich die Unterlagen vor, die gerade keiner vor sich hatte. „Gut… Bruyard und David arbeiten an einem Weg, Catherines Gesundheitszustand zu verbessern.“ informierte Louis, worauf Lestat nickte. „Habt ihr eine Lösung… oder einen Lösungsansatz?“ „Nein, noch nicht.“ gab David zu, während der Arzt nicht auf Lestat reagierte, sondern weiterarbeitete. Lestat tat es ihm gleich und wälzte eine Zeit lang Unterlagen, bis seine Gedanken zu Catherine zurückkehrten, die oben in ihrem Zimmer lag und – hoffentlich – schlief. Bruyard und David steckten tief in ihrer Arbeit, berieten sich, besprachen sich und verwarfen Ideen, die sie gemeinsam oder getrennt entwickelt hatten. Lestat versuchte, ihre Stimmen aus seiner Wahrnehmung auszublenden, da sie ihn wahnsinnig machten. „Marius, kann ich dich einen Moment sprechen?“ fragte Lestat schließlich und klappte die Akte zu, die er gerade fertig durchgesehen hatte. „Natürlich.“ meinte Marius und blickte ihn erwartungsvoll an. „Allein.“ entgegnete Lestat, erhob sich und verließ die Bibliothek. Marius erhob sich ebenfalls und folgte Lestat in den Salon hinüber, dessen Türe er schloss, ehe er am Kamin stehen blieb und Lestat betrachtete, der in den Garten hinaus blickte. „Hast du mit ihr gesprochen?“ fragte Marius nach einer Weile vorsichtig. „Nein, ich konnte es noch nicht.“ „Ich verstehe. Hast du ihr gesagt, was in Rom geschehen ist?“ „Ja, unter Auslassung von einigen Details… Sie muss damit nicht belastet werden.“ „Ja, das war sicher gut so.“ pflichtete Marius Lestat bei. Lestat nickte und blickte eine Weile stumm in den Garten hinaus, ehe er sich umdrehte und Marius anblickte. „Ich weiß nicht, wie ich ihr sagen soll, was wir erfahren haben.“ meinte er mit ruhiger Stimme. „Es ist schwierig, aber noch ist nichts entschieden...“ entgegnete Marius und überlegte, wie er Lestat helfen konnte. „Es ist unglaublich, wie unfähig wir sind, über solche Dinge zu sprechen. Tod ist ein Bestandteil unserer Existenz, aber er ist nicht … endgültig.“ begann Lestat und verfiel in nachdenkliches Schweigen. „Ich verstehe, was du meinst. Wir kennen den Tod nicht, obwohl wir ein Teil von ihm sind… Wir sind tot und bewegen uns.“ „Catherines Tod ist endgültig. Sie wird sterben.“ „Lestat, das wissen wir noch nicht.“ „Trotzdem muss ich ihr sagen, was wir wissen, oder?“ „Ich denke, das solltest du, ja.“ stimmte Marius zu und fügte hinzu: „Wann wirst du mit ihr reden?“ „Sobald ich es schaffe, mir einige Worte zurecht zu legen, die mir passend erscheinen… Es gibt keine passenden, ich weiß, aber du kannst mir wahrscheinlich folgen.“ „Ja, ich wünschte, ich könnte dir das abnehmen, aber das solltest wirklich du tun.“ „Ich muss es sein, ja. Und ich will es auch tun – das bin ich ihr schuldig. Ihr und mir.“ meinte Lestat und Marius schwieg, damit er fortfahren konnte. „Ich denke, sie ist stärker als ich es bin. Sie würde keinen Moment zögern und ihr Leben geben, denke ich, aber das will ich nicht.“ „Du möchtest sie nicht verlieren.“ „Einerseits ist es das, ja, aber ich habe auch Angst davor, dass… Ich denke, es ist ziemlich viel verlangt, für die Menschheit zu sterben… Ist sie es überhaupt wert?“ „Das muss Catherine entscheiden.“ erinnerte Marius und Lestat fragte sich, weshalb er so ruhig bleiben konnte. „Ihre Entscheidung…“ murmelte er und schüttelte den Kopf. „Sie hat keine Wahl – nicht nach dem Wissensstand, den wir im Moment haben.“ „Hast du die Hoffnung aufgegeben?“ „Ja, und ich wünsche mir sogar schon, dass ihr eine andere Entscheidung erspart bleibt.“ „Welche?“ „Ohne eine Wahl zu sterben, weil es eben so ist, ist schon schlimm. Was sage ich ihr aber, wenn es nicht mehr so ist? Wie soll sie sich entscheiden, wenn auf der einen Seite das Wohl der Menschheit steht und – nach Danieles Worte – die Schöpfung durch Catherines Tod vernichtet wird, und auf der anderen Seite ihr Leben, da Bruyard eine Möglichkeit gefunden hat, sie zu retten? Ihr Gewissen wird entscheiden, aber können wir erwarten, dass sie die Menschheit über ihr Leben stellt? Wollen wir das wirklich? Ich will es nicht. Ich will Catherine. Also: Nehmen wir an, sie hat die Wahl? Was dann, Marius?“ „Ich weiß es nicht…“ gab Marius zu und Lestat schloss einen Moment die Augen, ehe er den Salon verließ und nach oben zu Catherine ging. Kapitel 110: Grund und Notwendigkeit ------------------------------------ Grund und Notwendigkeit Catherine war wach und blickte ihn an, als er eintrat und sich zu ihr setzte. Sie sah schlecht aus. Schlechter. Viel schlechter. „Hast du etwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte?“ fragte Catherine mit schwacher Stimme. „Catherine, woher…“ begann er, dann verstand er, was er meinte, weshalb er sagte: „Ja, Morde und Massaker – weltweit.“ „Ah, gut… Nein, nicht gut.“ entgegnete sie und fügte hinzu: „Du weißt, was ich meine, oder?“ entgegnete sie und Lestat nickte. „Catherine, ich muss mit dir sprechen.“ begann er nach einer Weile, worauf sie ihn aufmerksam anblickte. „Wir wissen nicht, wie wir dir helfen sollen.“ „Das habe ich mir schon gedacht. Es ist ja nicht so, dass es sonderlich viele Fällen wie meinen gibt.“ erwiderte sie und wartete ab. „Es tut mir leid, Catherine.“ „Ich weiß, aber du hast alles getan, was du tun konntest.“ „Und das war zu wenig.“ „Lestat, nicht… Sprich’ nicht so.“ bat sie ihn und streichelte sein Gesicht. „Ich bin froh, dass du hier bist.“ „Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Ich wünschte, ich könnte etwas tun. Wir alle… würden dir gerne helfen.“ „Ich weiß, Lestat. Ich weiß.“ murmelte Catherine und dachte über die Entscheidung nach, die sie noch zu treffen hatte, als ihr auffiel, dass sie überhaupt nicht wusste, wie viel Zeit ihr noch zum Überlegen bleiben würde. „Hast du keine Angst?“ fragte Lestat nach einer Weile, worauf sie nickte. „Doch, aber du wirst mich nicht allein lassen, nicht wahr?“ „Nein. Ich werde bei dir bleiben… bis zum Ende.“ entgegnete Lestat und hoffte, dass sie ihm jetzt nicht ihre Entscheidung, dass sie den Wandel wollte, mitteilen würde. „Du wirst bei mir bleiben bis zum Ende.“ seufzte sie und schloss die Augen, als doch Tränen in ihr aufstiegen. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte nicht. Sie sah nicht, warum sie sterben sollte. Die Tränen rannen stumm ihre Wangen hinunter und versanken im Kissen. Warum sie? … Warum jetzt? … Warum? Konnte sie nicht noch … Alles, was sie wollte, war etwas mehr Zeit. Zeit, um Dinge zu tun, die sie nicht getan hatte. Zeit, um Entscheidungen zu treffen. Doch die hatte sie nicht. Sie hatte keine Zeit. Catherine schüttelte leicht den Kopf und blickte Lestat wieder an, der sie betrachtete. Er sah nicht so aus, als wolle er ihre Entscheidung hören. Er sah so aus, als ob er… Sie wusste es nicht genau. Irgendetwas an ihm war anders und das lag nicht nur an der Situation, in der sie beide sich befanden. „Das war nicht alles, was du mir sagen wolltest, nicht wahr?“ bemerkte sie, als sie ihn eine Weile ansah, in der er ihr ruhig über die Wange strich, um einige Tränen aufzuhalten. „Nein, da gibt es noch etwas…“ begann er und zögerte, ehe er weitersprach: „Daniele hat etwas zu uns gesagt, als wir in Rom waren.“ „Was war es?“ fragte Catherine, als er eine Pause machte, doch er sprach nicht sofort weiter, sondern überlegte kurz. „Er meinte, dass die Schöpfung an dein Leben geknüpft ist.“ rückte er schließlich mit der Sprache heraus. Catherine blickte ihn prüfend an, da sie es nicht glauben konnte, wusste aber, dass er über so etwas niemals Scherze machen würde. Die Schöpfung war an sie gebunden? Wie? Warum? Sie verstand nicht. Gleichzeitig verstand sie scheinbar alles. Und sie wollte dennoch nicht verstehen, was das bedeutete. „Heißt das… Was hat er genau gesagt?“ wollte sie wissen, da sie sehr verwirrt war. Sie versuchte, sich etwas aufzurichten, doch es gelang ihr nicht alleine, weshalb er ihre Schultern umfing, das Kissen aufschüttelte und sie vorsichtig zurückgleiten ließ. Dann wartete sie darauf, dass er es ihr erklärte. Sie konnte nicht mehr nachdenken. Sie war müde. Sie musste es gesagt bekommen. „Ich weiß es nicht mehr ganz genau…“ wich Lestat aus und fuhr fort, als er ihren unzufriedenen Gesichtsausdruck sah: „Er sagte, dass dein Blut ihnen das Leben ermöglicht.“ „Ich denke, es war synthetisches Blut?“ fragte Catherine dazwischen und bemerkte, dass ihre Verwirrung immer größer wurde. „Ja, das habe ich auch gesagt. Anscheinend spielt das alles aber keine Rolle, da es dein Blut ist, das nachgebildet wurde. Dein Blut und deine Seele wurden durch Magie an die gedankenlosen Vampire gebunden.“ „Und weiter?“ drängte Catherine. Sie fühlte das Blut in sich rauschen, das Unheil gefördert hatte und immer noch förderte, und spürte Übelkeit und Schwindel in sich aufsteigen. Schwindel fühlte sie immer, wenn sie wach war. Und sie fühlte sich nur wenige Augenblick von einer Ohnmacht oder erneutem Schlaf entfernt. Ob sie aus dem nächsten Schlaf überhaupt noch einmal erwachte? Was, wenn nicht… „Er sagte, solange dein Blut und deine Seele existieren, wird auch die Schöpfung leben.“ meinte er leise und fühlte, wie sich alles in ihm verkrampfte. „Und wenn du…“ „Wenn ich sterbe, werden auch sie vernichtet.“ sprach Catherine aus, was Lestat nicht konnte, und empfand dabei eine seltsame Klarheit. „Das sagte er, aber es war Daniele… Wer weiß schon, ob es stimmt? Er könnte uns Falsches erzählt haben oder…“ „Warum sollte er das tun?“ fragte Catherine, da sie das für unwahrscheinlich hielt. „Weil er… weil er nun einmal zur Bruderschaft gehört und wir die Feinde der Bruderschaft sind!“ „Du glaubst also, dass es nicht stimmt… Ich denke, es stimmt.“ gab Catherine zu und sah Lestat in die Augen. „Weshalb?“ entgegnete er kopfschüttelnd und musste den Blick einen kurzen Augenblick senken, da einfach alles zu viel für ihn war. „Nun, zum einen fühle ich, dass nicht mehr viel Leben in mir ist… zum anderen hätte uns Daniele damit die Antwort geliefert, die ich vorhin gesucht habe. Das Ende des Schreckens ist mein Tod.“ „Nein, Catherine.“ widersprach Lestat und schüttelte heftig den Kopf. „Doch. Es gibt Sinn. Ich sterbe und die Wesen verschwinden. Die Bruderschaft hat keine Probleme mehr.“ „Nein, Catherine. So schlimm es klingt, aber die Bruderschaft konnte unmöglich wissen, dass du… wie lange du noch leben würdest.“ „Ich denke, sie wissen es.“ Lestat schüttelte wieder den Kopf, aber nicht wegen ihrer Worte. Er verstand nicht, dass sie so ruhig war. Um Gottes Willen! Er hatte ihr gerade gesagt, dass sie sterben würde… Und die Bruderschaft hatte dafür gesorgt, dass sie sterben musste, um das alles und die Schrecken der gedankenlosen Vampire zu beenden. „Es hat doch schon vor mehreren Wochen begonnen. Kalte Hände. Kein Hunger. Müdigkeit am Tag. Es ist nicht nur das vampirische Blut, das in mir ist. Ich habe mich verändert und ich denke, es liegt auch daran, dass mein Blut andere Lebewesen unterstützt hat. Meine Energie war nicht nur meine, sondern auch ihre. Sie werden immer stärker. Sie saugen mich aus, ohne mich wirklich zu beißen.“ Lestat schüttelte den Kopf und streichelte Catherines Stirn. Sie schloss die Augen, da sie von den ständigen Tränen schmerzten. „Es tut mir leid.“ flüsterte er noch einmal. „Ich weiß. Mir tut es auch leid.“ „Dir muss nichts leid tun, Catherine. Das alles geschieht mit dir. Du kannst nichts dafür.“ „Ich wäre gern bei dir geblieben, Lestat. Wirklich. Es tut mir leid, dass ich es nun nicht kann. Es tut mir leid, dass ich mich nicht mehr entscheiden kann… Ich könnte mich nicht einmal mehr entscheiden, wenn es eine Möglichkeit gäbe, mein Leben zu retten… Da es die aber eh nicht gibt…“ „Ssht… Catherine, ich weiß, dass du…“ „Ich danke dir.“ „Wofür, Catherine?“ „Dafür, dass du mich nicht ohne Grund sterben lässt.“ „Catherine, ich…“ „Nein, es ist gut, Lestat. Es ist gut, dass ich den Grund kenne. Es ist leichter. Es ist immer leichter, wenn man den Grund kennt und einen Grund hat.“ murmelte sie und versuchte zu lächeln, was ihr gelang. „Ich bewundere dich.“ flüsterte er und sie schüttelte den Kopf. „Dazu gibt es keinen Grund, Lestat.“ versicherte Catherine und blickte ihn liebevoll an. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“ fragte er nach einer Weile, in der sie sich stumm angesehen haben. „Ich möchte, dass du dich um Lea kümmerst. Sie wird selbst nicht wissen, wie es weitergehen soll, aber du kannst ihr beistehen… Ich vermute, dass Louis auch in ihrer Nähe bleibt, aber mir ist wohler, wenn ich dich… „Ja. Sicher. Ich kümmere mich um Lea.“ versprach er und Catherine nickte. „Die Bruderschaft… Ich bitte dich, dafür zu sorgen, dass sie ihre Ziele nie mehr erreicht. Eine solche Organisation braucht unsere Welt nicht.“ Lestat nickte nur, während Catherine darüber nachdachte, was sie noch erledigen musste. Brauchte sie ein Testament? Nein, Lea war die nächste Verwandte und würde alles bekommen, was einst ihr gehört hatte. Es war vorgesorgt. „Gibt es etwas, was ich nur für dich tun kann?“ fragte Lestat nach einer Weile und Catherine nickte. „Sag’ den anderen, sie sollen aufhören, nach einer Lösung zu suchen. Es ist vorbei.“ flüsterte sie und Lestat schüttelte den Kopf, weshalb sie meinte: „Bitte. Sag’ ihnen, was wir gesprochen haben. Mein Tod ist notwendig und es ist nicht nötig, nach einer Möglichkeit zu suchen, meinen Tod zu verhindern.“ „Sie werde es nicht glauben wollen.“ entgegnete Lestat, doch nickte. „Es gibt nur einen Grund, weshalb man mein Leben nicht retten kann: Es soll nicht gerettet werden. Es muss zu Ende gehen. Das werden auch sie verstehen.“ „Ich werde es ihnen sagen.“ meinte er und erhob sich vom Bett. „Nein, nicht jetzt… Bleib’ hier, bis ich eingeschlafen bin, Lestat. Bitte.“ bat Catherine und rutschte in ihrem Bett ein Stück zur Seite. Lestat nickte und legte sich zu ihr ins Bett, nahm sie in den Arm und hielt sie bei sich. Ihr Körper war kalt und zitterte. Sie hatte Angst. Ihr Herz flatterte und ihr Puls klopfte nur schwach. Sie weinte leise, bis sie schließlich ruhig wurde und einschlief. Ihr Körper an seinem wurde schwerer und entspannte sich. Lestat zählte ihre Atemzüge und ihren Herzschlag und wartete noch eine lange Zeit, ehe er sich vorsichtig vom Bett erhob und das Zimmer verließ, um den anderen mitzuteilen, worum sie ihn gebeten hatte. Er hörte dumpf seine Schritte und sie erinnerten ihn an ihren Herzschlag. Er fühlte die kalte Luft und sie erinnerte ihn an ihre Haut. Catherine. Langsam und nachdenklich schritt er die Treppe hinab. Vampir und Mensch. Zwei Kreaturen, die trotz eines gemeinsamen Ursprungs keine Zukunft haben konnten. Schon immer hatten solche Beziehungen nicht funktioniert. Schon immer war einer von ihnen derjenige gewesen, der verloren hatte. In ihrem Fall würden beide etwas verlieren. Catherine würde ihr Leben an den endgültigen Tod verlieren. Lestat würde mit Catherines Verlust alles verlieren, das ihm etwas bedeutet hatte. Als er die Tür zur Bibliothek öffnete, eintrat und ihm die Blicke der anderen begegneten, wurde ihm eine Sache bewusst: Er würde Catherines Bitte erfüllen und sich um Lea kümmern, bis sie wirklich alt genug war, um sich selbst zu schützen. Und dann würde er seiner einzigen Liebe nachfolgen. Kapitel 111: Kapitulation ------------------------- Kapitulation Nachdem Lestat alles erzählt hatte, was Catherine zu ihm gesagt hatte, waren die anderen fassungslos, verstanden, was Catherine wollte und warum sie es so wollte, doch trotzdem konnten sie kaum ihren Wunsch erfüllen. David und Bruyard schüttelten immer wieder den Kopf. Armand war aufgestanden und hatte sich schließlich auf den Tisch gestützt. Aufzuhören, etwas zu versuchen, war viel verlangt, aber es war Catherines Wille. „Ich kann nicht glauben, dass es so enden soll.“ meinte Lea leise und wischte sich die Tränen aus den Augen. Louis legte den Arm um sie und zog sie gegen seine Seite, während er Lestat anblickte. „Es ist für uns alle schwer.“ sagte er. Lestat blickte auf den Tisch, wo sich die Unterlagen stapelten und die beiden Notebooks leise summten, da sie noch angeschaltet waren. Dieses Geräusch zerrte an seinen Nerven, da es laut durch die ohrenbetäubende Stille zwischen ihm und den anderen und durch ihre Fassungslosigkeit drang und davon zeugte, dass bis gerade eben noch eine gewisse Hoffnung vorhanden gewesen war, die nun gänzlich verschwunden war. Vernichtet. Gnadenlos vernichtet. Armand und David verließen mit Bruyard den Raum, um im Salon einen großen Schluck Whiskey zu sich zu nehmen, während Lea und Louis nach oben gingen, da Lea es unten nicht mehr aushielt. Sie wollte allein sein. Und weinen – sie konnte es eh nicht zurückhalten und warum sollte sie sich vergebens abmühen, stark zu sein… Louis konnte sie ertragen, sonst niemanden. Tränen bedeuteten nicht Schwäche… Es war egal. Marius kam zu Lestat und legte ihm die Hand auf die Schulter, doch er wusste nicht, was er zu ihm sagen sollte. Sie alle würden eine unglaubliche junge Frau verlieren, die sie in den letzten Monaten schätzen gelernt hatten, die sie unterstützt hatten und der sie zu helfen versucht hatten. Lestat würde Catherine verlieren, die für ihn alles geworden war. Catherine, die er liebte. Catherine, die ihn besaß. Catherine, die ihn nach all den kalten und einsamen Jahren berührt hatte und sein Herz, das so lange Zeit in seiner toten Starre geschwiegen hatte, mit ihrer Wärme, ihrer Art und ihrer Liebe erwärmt, gefangen genommen und gestärkt hatte. Und nun stand er hier – hilflos und verzweifelt, denn es nützte nichts, dass er bereit war, alles für sie zu tun und zu geben. Es nützte nichts, dass er kämpfen wollte. Er würde alles verlieren. Sie. Vielleicht sogar sich selbst, vermutete Marius und er wusste, dass er ihn nicht dazu überreden konnte, es nicht zu tun, wenn das der letzte Weg war, den er für sich gewählt hatte. Lestat wandte den Blick zu ihm und nickte, da er Marius’ Mimik ausreichend deuten konnte, um die Richtung seiner Gedanken zu erahnen. Er legte seine Hand auf seine und presste sie kurz, ehe er sich von ihm löste, näher an den Tisch trat und die Unterlagen und Akten schloss und in ordentliche Stapel legte, ehe er auch die Notebooks ausschaltete. Das Summen verstummte langsam und brach schließlich abrupt ab. Es war vorbei. Ein für alle Mal zu Ende. Ohne Kampf. Ohne Endkampf, den sie alle gemeinsam ausgefochten hätten. Ein Kampf, in dem sie Seite bei Seite gestanden hätten. Nur ein Kampf fand statt. Ein Duell. Und der Sieger stand schon fest. Catherine gegen den Tod. Der Tod würde triumphieren. Wie immer, dachte Lestat und schloss für einen Moment die Augen, was Marius nicht sah. Schwärze. Kein Licht. Dunkel vor seinen Augen. Eine Finsternis, an deren Rand Catherine sich alleine befand, denn niemand konnte ihr wirklich beistehen – auch er nicht mit all seiner Erfahrung und seinem Wissen als ein junger, alter Mann, als ein Geschöpf der Dunkelheit und als ein lebender Toter. Marius wartete, bis Lestat sich ihm wieder zuwandte, und suchte seinen Blick. „Sie schläft gerade… Ich werde euch informieren, wenn sie wach ist. Ihr werdet euch verabschieden wollen, nehme ich an.“ sagte Lestat und blickte zur Tür. „Lestat, ich…“ wollte Marius beginnen, doch brach ab. Es war nicht mehr wichtig, Lestat zu versichern, dass er für ihn da war, wenn er ihn brauchte. Er brauchte jemanden, der gerade im Sterben lag, und etwas, das ihm niemand sonst geben konnte. Gewissheit. Hoffnung. Glaube. Wille. „Wir sind im Salon.“ meinte er deshalb nur. Lestat nickte, verließ die Bibliothek und ging zurück zu Catherine, die still in ihrem Bett lag und zu schlafen schien. Catherine fühlte sich erstaunlich leicht und blickte verwundert an sich hinunter. Sie trug ihr Nachthemd und stand barfuß auf glatten, steinernen Fliesen, die eigentlich kalt sein mussten, es jedoch nicht waren. Überrascht blickte sie auf und betrachtete ihre Umgebung. Sie erkannte sie, doch sie wollte mehr sehen, weshalb sie seltsam befremdet den Raum verließ und in den Garten hinaustrat, in dem die Bäume voller Laub standen, die Blumen blühten und mehrere Kinder schreiend und lachend im Gras herumrannten und ausgelassen spielten. Träumte sie? War es möglich, dass dies ein Traum war? Es fühlte sich zu real an, doch es konnte auch nicht die Wirklichkeit sein. Langsam schritt sie die Stufen hinab zum Park und sah den Kindern zu, die im Gras spielten. Catherine erkannte vier Jungen und zwei Mädchen und warf einen Blick zurück zum Haus, das tatsächlich die elterliche Villa in Paris war. Die Sonne stand hoch. Vögel und kleine Wolken zogen über den Himmel. Die Blumen dufteten vielfältig, sodass sie sich nicht entscheiden konnte, ob ihr Duft oder ihre Farben prächtiger waren. Catherine schloss für einen Moment die Augen und hob ihr Gesicht in die Sonne. Sie wärmte ihre Haut. Es konnte kein Traum sein. „Nein! Was machst du denn? Du musst in diese Richtung laufen!“ rief ein blondes Mädchen und rannte auf den ältesten Jungen zu, der gerade elf Jahre alt war. Ihr Bruder Lucien. Und das blonde Mädchen war ihre beste Freundin Nathalie. Es war nicht real. Und sie war nicht hier, denn keines der Kinder nahm sie wahr, wie sie dort in ihrem Nachthemd stand und ihnen zusah. Nun, sie war hier, jedoch war sie das andere Mädchen. Das Mädchen, das mit dem offenen, langen braunen Haar mit dem rötlichen Schimmer zwei andere Jungen verfolgte, die Freunde von ihrem Bruder waren. Das war sie. Das war sie gewesen. Vor langer Zeit. Traurigkeit stieg in ihr auf, als sie das Spiel der Kinder beobachtete, und die Erinnerung kam zurück, denn sie war an diesem Tag im Frühling sehr glücklich gewesen. Den ganzen Tag hatten sie gespielt, während ihre Eltern… Catherine wandte den Blick die wenigen Stufen nach oben zur Terrasse und erblickte Clarisse und Jacques, die dort einträchtig saßen. Clarisse las in einem ihrer Lieblingsromane, während Jacques Dias des letzten Urlaubs in dunkelgraue Plastikmagazine steckte. Catherine erinnerte sich noch, wo sie in diesem Frühjahr gewesen waren: Rom. Sie hatten die ewige Stadt besichtigt und auch Freunde von Clarisse und Jacques besucht, die mit ihnen studiert hatten. Das war zumindest das, was die Eltern ihnen gesagt hatten. Von diesem Tag im Frühjahr waren es nur noch wenige Wochen, ehe die zwei Männer von der Bruderschaft nach Paris gekommen waren, und sich ihr unbeschwertes Leben für immer verändert hatte. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn die Bruderschaft sich niemals eingemischt hätte? Clarisses leises Lachen drang zu ihr herüber und Catherine versuchte sich, an die wenigen Moment, in denen sie gelacht hatte, zu erinnern, doch obwohl es so wenige waren, gelang es ihr nicht. Catherine biss sich auf die Lippen, bemerkte jedoch, dass sie es nicht einmal als Schmerz empfand. War sie vielleicht… War das … Nein, das konnte nicht sein. Es war… nicht möglich. Ihr Bruder war da. Ihre Eltern waren da. Und sie – sowohl als Kind und als Frau… Sie verstand nicht und schüttelte verwirrt den Kopf. War sie tot? Konnte es sein, dass sie tot war? Ein Geist. Ein Schatten. Nicht mehr? Sie hatte sich den Tod anders vorgestellt. Natürlich hatte sie sich gefragt, was nach dem Leben kommen würde? Himmel. Hölle. Gab es das? Oder lag nach dem Tod nur das Nichts, das nicht bedrohlich und nicht angenehm war, in dem der Verstorbene aufhörte zu existieren, sein Ende nahm und erlöst war… Sie sollte nicht hier sein. Sie konnte nicht hier sein. Sie war nicht hier, wollte ihr Verstand immer noch glauben, doch sie hatte keine Ahnung mehr, was sie glauben und leugnen sollte. Im besten Fall hatte sie sich gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder gesehen. Vereint. Glücklich. Schmerzlos. Doch hier war sie nicht glücklich mit ihnen vereint, denn sie gehörte nicht dazu. Lucien und Catherine mit ihren Freunden und die Eltern. Das Bild war vollständig. Der Wind strich sanft über ihr Gesicht, als sie sich langsam abwandte und zurück die Stufen hinauf ging. Sie selbst, die Catherine, die sie nun war, war kein Teil davon. ‚Warum nicht?’ fragte sie sich, doch sie erwartete keine Antwort. Natürlich nicht, denn wer sollte ihr eine Antwort geben? ‚Du weißt.’ erklärte ihr eine sanfte Stimme, die neben ihr erklang, doch als Catherine den Blick wandte, erblickte sie niemanden. ‚Du kannst mich nicht sehen, doch ich bin da.’ ‚Warum?’ stellte Catherine die stumme Frage, die der Unsichtbaren ein leises Lachen entlockten. ‚Hab’ keine Angst. Ich sage dir, was du wissen möchtest.’ sagte die Stimme, die ihr so seltsam bekannt vorkam. ‚Bin ich tot?’ ‚Nein, das ist ein anderer Ort. Du bestimmst ihn. Du allein. Du bist hierher in deine Kindheit zurückgekehrt, da die Societas noch keinen Einfluss auf dein Leben hatten – nun, keinen direkten zumindest.’ ‚Ich wusste noch nichts.’ flüsterte Catherine und drehte sich noch einmal nach den Kindern um. Nun begriff sie die ersten Worte der Unsichtbaren: Sie wusste nichts von alledem. Sie war glücklich gewesen. ‚Du fragst dich, wie kein Leben ohne die Bruderschaft verlaufen wäre.’ ‚Ja.’ gestand Catherine und dachte dabei vor allem an das Verhältnis zu ihrer Familie und wusste nicht, ob sie eine Antwort erhalten würde. ‚Deine Eltern hätten deinen zwanzigsten Geburtstag nicht erlebt, doch zu deinem Bruder hättest du dein Leben lang ein gutes und inniges Verhältnis gehabt, obwohl er in Rom gewohnt hätte. Du hättest hier in der Villa dein eigenes Leben mit deiner eigenen Familie gelebt.’ Catherine schwieg und versuchte, sich das irgendwie vorzustellen, was ihr unmöglich schien. ‚Diese Zukunft wurde unmöglich, als die Societas dich in ihren Dienst nahm.’ Ja, das war ihr klar. Trotzdem wollte sie es sehen. Sie musste es sehen. Sie konnte es sehen, oder nicht? ‚Wie du möchtest.’ gab die Unsichtbare zurück, während Catherine in die Eingangshalle der Villa zurücktrat. Kapitel 112: Verlorene Zukunft ------------------------------ Verlorene Zukunft Als Catherine die Eingangshalle durchquerte, wurde es beinahe schlagartig dunkel, doch aus dem Salon schien warmes Licht, weshalb sie dorthin schlenderte. Sie öffnete die Tür und steckte erst den Kopf hindurch. Sie konnte hören, dass ein Feuer im Kamin prasselte, weshalb sie ganz eintrat, damit sie aus dem Fenster sehen konnte, ob es Winter war und vielleicht sogar Schnee lag. Bevor sie zum Fenster gelangte, blieb sie jedoch wie angewurzelt stehen. Ihr Blick haftete auf einem jungen Mann, der auf dem Sofa saß und mehrere Papiere um sich herum ausgebreitet hatte, die er scheinbar durcharbeiten musste. Catherine kannte ihn nicht, doch sie konnte auch nicht länger darüber nachdenken, denn neben ihm stand ein Stubenwagen mit hellblauem Bezug und Himmel, aus dem ein leises Schmatzen kam, der ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Mann hob den Blick und lächelte kopfschüttelnd. Catherine wusste: dies war ihr Kind und dies war ihr Mann… Sie fühlte es sogar. Die Tür öffnete sich erneut und Catherine trat ein. Nein, eine Catherine, die ohne die Bruderschaft eine eigene Familie gehabt hätte. Sie war älter, doch ihre Bewegungen glichen ihren, waren grazil und geschmeidig, als sie in ihrer eleganten Kleidung zu ihrem Mann trat. Sie wollte ausgehen… Catherine warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sie wahrscheinlich schon zurück war, denn es war bereits nach 23 Uhr. Lächelnd beugte sich die ältere Catherine zu ihrem Mann und küsste ihn auf die Wange, um ihn zu begrüßen. „Wie war sie?“ fragte sie und blickte zum Stubenwagen. „Ruhig. Ein kleiner Engel.“ meinte er, worauf sie strahlend nickte, und blickte ihr nach, wie sie zum Stubenwagen ging, um nach der gemeinsamen Tochter zu sehen. „Wie war dein Abend?“ fragte er leise und erhob sich. „Das Ballett war wundervoll. Du hättest es sehen sollen, Nicolas.“ schwärmte sie und blickte ihn an. Er legte ihr den Arm um die Hüften und zog sie vorsichtig zu sich, um sie zu küssen, was sie gerne erwiderte, bis sie sich langsam von ihm löste und Julie vorsichtig aus dem Stubenwagen nahm, damit sie sie nach oben in ihr richtiges Bettchen bringen konnte. Catherine sah ihnen nach und wurde traurig, als sie aus dem Salon verschwanden. War das tatsächlich sie? Verheiratet? Mutter? Sie konnte es nicht glauben, und sie wusste auch, dass es niemals geschehen würde. Zum einen war diese Zukunft war zerstört, als die Bruderschaft sie gefordert hatte. Zum anderen würde sie in absehbarer Zeit sterben. ‚Wie lange hätte ich gelebt?’ fragte sie in Gedanken und vertraute darauf, dass ihre Gesprächspartnerin immer noch bei ihr war. ‚Lange. Du wärst in hohem Alter im Schlaf gestorben.’ ‚Das ist schön.’ seufzte sie und blickte sich im Salon um, der sich kaum verändert hatte, doch es hätte auch nicht zu dem Raum gepasst, viel an ihm zu verändern. Weshalb war sie hier? Was sollte das? Traum. Tod. Unterbewusstsein. Sie wusste nicht, warum sie hier war, was es nützte, wenn sie ihre Zukunft kannte, die sie nie hätte haben können. ‚Es nützt nichts, doch du wolltest es wissen.’ Ja, sicher, das wollte sie. Catherine nickte, doch hatte die Frage auch nicht an die Unsichtbare gestellt, sondern an sich. ‚Wenn ich nicht tot bin… Warum bin ich hier?’ fragte Catherine und wartete auf eine Antwort. ‚Das musst du selbst herausfinden. Ich bin nur hier, um dir zu helfen.’ entgegnete die Unsichtbare. ‚Wobei sollst du mir helfen?’ ‚Ich soll dir helfen zu verstehen.’ erklärte die Unsichtbare und Catherine ging aus dem Salon. Ihre Schritte hallten nicht auf dem Boden. Es war, als sei sie nicht da. Sie existierte nicht in dieser Version der Zukunft. Catherine fand es seltsam, dass sie Türen öffnen und Dinge berühren konnte, wenn sie doch nicht hier war und nicht wahrgenommen wurde. ‚Sie sehen nicht, wenn du eine Tür öffnest oder etwas in die Hand nimmst. Du kannst nicht eingreifen. Du kannst zusehen.’ erklärte die Unsichtbare und Catherine trat in die Bibliothek. Was sollte sie verstehen? Was denn? Ziellos schlenderte sie den Mittelgang entlang und sah sich um. Buch reihte sich immer noch an Buch. Die Regale waren übervoll, doch Catherine entging nicht, dass bestimmte Bücher verschwunden waren. Die alten. Die mit dem Inhalt, der in einer normalen Bibliothek nichts zu suchen hatte. Diese Bücher hatten in dieser Zukunft eines normalen Lebens keinen Platz. Der runde Tisch war ebenfalls verschwunden und Catherine lächelte, als sie daran dachte, dass sie darum Platz genommen hatten wie die Ritter der Tafelrunde. Langsam schüttelte sie den Kopf, als sie an all das dachte, was sie gemeinsam herausgefunden hatten, was sie für Zeit in die Recherche investiert hatten – nur um letzten Endes doch nicht siegen zu können. ‚Sieg und Niederlage haben verschiedene Gesichter und doch gleichen sie sich manchmal sehr.’ meldete sich die Stimme wieder zu Wort. ‚Sollte ich den Tod fürchten?’ ‚Nein.’ entgegnete die Unsichtbare und fuhr fort: ‚Dennoch spüre ich, dass du Angst hast.’ ‚Ja.’ gab Catherine zu und überlegte, woran das lag. ‚Werde ich mich an mein Leben erinnern?’ ‚Du wirst dich an dein Leben erinnern, doch du wirst mehr haben als das. Du wirst verstehen.’ ‚Verstehen. Wieder verstehen. Ich dachte, ich müsse jetzt verstehen… Werde ich jetzt sterben? Ist es das?’ entgegnete Catherine, doch die Unsichtbare antwortete nicht. Catherine überlegte, was sie verstehen würde, wenn sie tot war. Welches Wissen würde ihr offenbart werden? Würde sie das Leben an und für sich verstehen? Oder nur ihr Leben? Vielleicht würde alles restlos klar werden… wie spiegelndes Glas oder wie ruhiges Wasser. Wenn ihr alles klar wurde, dann auch ihr Tod. ‚Möchtest du mehr von deiner Zukunft sehen?“ fragte die Unsichtbare nach einer Weile, in der Catherine nichts gesagt hatte. ‚Nein.’ ‚Wieso nicht?’ ‚Es ist nicht meine Zukunft, die du mir gezeigt hast.’ erklärte Catherine und schloss die Augen. ‚Ich werde keinen Mann und keine Tochter haben. Ich werde nicht das Glück der Unwissenheit genießen. Ich werde nicht in hohem Alter sterben.’ fuhr sie fort und öffnete die Augen wieder. ‚Ich bin nicht sie und ich werde niemals sie sein.’ ‚Ist es zu viel für dich, etwas zu sehen, was du nicht haben kannst?’ fragte die Unsichtbare und Catherine lief ein Schauer über den Rücken. ‚Ist das der Grund, warum du hier bist? Willst du, dass ich leide, Schmerzen empfinde und unsicher werde? Erfreust du dich an meinem Kummer?’ fragte Catherine und wich einige Schritte zurück, obwohl das sinnlos war, denn die andere war nicht sichtbar und somit auch nicht auf einen Ort beschränkt. ‚Ich bin hier, damit du verstehst.’ wiederholte sie und Catherine schüttelte den Kopf und blieb einen Augenblick stumm, ehe sie, während sie die Bibliothek verließ, erklärte: ‚Die Zukunft, die du mir gezeigt hast, ist eine Illusion und nicht die Wahrheit. Sie existiert genauso wenig wie die andere Catherine.’ Ja, das stimmte. Sie selbst und die andere Catherine waren nicht dieselbe Person, obwohl sie dieselben Eltern, dasselbe Aussehen, dieselbe Kindheit hatten. Ihr Wissen unterschied sie. Ihre Erfahrungen unterschied sie. ‚Bedauerst du das? Willst du sie sein? ‚Nein.’ antwortete Catherine fest. ‚Nein, ich will nicht sie sein. Ich will ihre Zukunft nicht sehen und auch nicht leben. Ich will ihr Leben nicht leben.’ versicherte sie und murmelte: ‚Dreimal sieben. Indem die Bruderschaft mich in den Dienst genommen hat, war ihre Zukunft für mich nicht mehr zu erwarten. Es begann alles damals – damals und vor noch längerer Zeit. Und nun weiß ich und das ist unwiderruflich. Mein Wissen hat mein Leben und mein Denken verändert und meine Handlungen bestimmt.’ Catherine fiel in ein kurzes Schweigen und wartete, ob die Unsichtbare etwas sagen wollte, doch sie blieb stumm, weshalb sie selbst fortfuhr: ‚Ich kann vieles über mein Leben sagen, aber ich kann mich nicht beklagen. Ich habe Glück erfahren, das ich umso mehr schätze, weil ich auch Leid und Kummer kenne. Ich habe Treue und Loyalität gesehen, was mir so viel bedeutet, da ich auch Verrat erlebt habe. Ich habe Verantwortung übernehmen können und mich selbst geborgen, geschützt und geliebt gefühlt. Das ist mehr als Menschen für gewöhnlich erfahren dürfen. Ich bin dankbar dafür.’ ‚Du bist zufrieden mit deinem Leben… wie es sich entwickelt hat?’ ‚Ich würde die Monate mit Lestat nicht gegen Jahrzehnte mit einem Mann und einer Tochter eintauschen. Ich würde die wenigen Freunde, die ich in diesen letzten Monaten gefunden habe, nicht gegen viele andere eintauschen. Ich würde mich selbst nicht gegen diese andere Catherine eintauschen.’ erklärte Catherine und fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. ‚Ja, ich kann wirklich vieles über mein Leben sagen, aber ich bereue nichts und ich bedauere mich nicht, dass es nun zu Ende sein soll.’ ‚Du weinst.’ stellte die Unsichtbare fest. ‚Es schmerzt mich, mein Leben loszulassen.’ gestand sie und dachte an Lestat, was ihr beinahe das Herz brach. ‚Du wirst dich von ihnen verabschieden können.’ versicherte die Unsichtbare, deren Stimme plötzlich etwas anders klang, wie Catherine erstaunt zur Kenntnis nahm, und in kurzes Schweigen fiel. ‚Ich habe deine Stimme schon einmal gehört.’ meinte sie schließlich. ‚Du hast schon einmal mit mir gesprochen, nicht wahr?’ ‚Ich musste dir die Richtung zeigen, in die du gehen solltest…’ meinte die Unsichtbare, doch Catherine zog eine Augenbraue hoch, da sie sich nicht erinnern konnte, ob ihr die Worte der Stimme, die sie damals auf Thirlestane Castle gehört hatte, wirklich viel geholfen hatten. ‚… und dabei habe ich dir mehr geholfen, als du annimmst.’ ‚Bist du Margaret Barcley?’ fragte Catherine, obwohl sie sich die Antwort denken konnte. ‚Ja, und wie du wollte ich damals einfach nur etwas mehr Zeit…’ meinte sie und Catherine wollte etwas erwidern, doch sie ließ sie nicht. ‚Nein, gib’ zu, dass du dir Zeit gewünscht hast, und lass’ mich nicht schwächer scheinen als ich war.’ ‚Ja, ich habe mir Zeit gewünscht. Anscheinend ist uns beiden das nicht vergönnt.’ ‚Empfindest du Hass für mich?’ ‚Nein, natürlich nicht.’ entgegnete Catherine und sagte damit die Wahrheit, denn sie konnte weder Margaret Barcley noch Morair hassen, da sie ihre Verzweiflung und Wut nachvollziehen konnte, und selbst nicht wusste, was sie tun würde, wenn ihr Tod nicht für viele tausend Menschen das Überleben bedeutete. ‚Ich danke dir. Ich bin froh, dass du stärker warst als ich, Lasair.’ entgegnete Margaret Barcleys Stimme und Catherine fühlte, dass sie gehen würde. ‚Du wirst verstehen.’ hauchte sie noch, doch es klang wie der starke Wind, der um die Villa wehte. Catherine blickte auf und bemerkte, dass sie im verschneiten Park stand und oben im ersten Stock eine junge Frau mit braunem Haar, das einen rötlichen Schimmer besaß, das Fenster schloss und prüfend in den Park sah. Ihre Augen fielen direkt auf Catherine, weshalb sie beide heftig erschraken. Kapitel 113: Abschiede ---------------------- Abschiede Catherine schlug die Augen auf und blickte sich erschrocken um. Ihr Atem ging schnell, sie war verwirrt und noch ehe sie einordnen konnte, befand sie sich in Lestats Armen, die sie hielten und ihr Sicherheit gaben. Catherine drückte ihr Gesicht gegen seine Brust und drängte sich gegen ihn weiter in seine Arme. Woher sie die Kraft nahm, das zu tun, wusste sie nicht, doch es schien ihr das einzig Richtige zu sein. Sie atmete flach und schnell und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, was ihr nicht gelang, weshalb sie lieber überhaupt nicht mehr denken wollte. „Hattest du einen Alptraum?“ fragte Lestat leise, als sich Catherine etwas beruhigt hatte, worauf sie den Kopf schüttelte. Lestat fragte nicht weiter, sondern hielt Catherine einfach in seinen Armen und strich ihr beruhigend über den Oberarm und den Rücken, küsste ihre Haare und wiegte sie sanft. Sie hatte bestimmt geträumt. Er sah keinen anderen Grund, warum sie sonst in dieser Verfassung aufwachen sollte. „Ich habe sie gehört.“ flüsterte Catherine, wollte aber noch nicht aus seinen Armen. „Wen?“ fragte Lestat und streichelte weiter ihren Rücken. „Margaret Barcley. Sie hat mit mir gesprochen.“ entgegnete sie, schüttelte aber den Kopf. „Doch ein Alptraum.“ bemerkte er, doch wieder schüttelte sie den Kopf, löste sich etwas von ihm und blieb vor ihm sitzen, während sie immer wieder den Kopf schüttelte. „Wir haben uns unterhalten. Sie hat mir Dinge gezeigt… Habe ich etwas gesagt, während ich geschlafen habe?“ „Nein, du warst ganz still.“ antwortete Lestat und strich Catherine eine Haarsträhne aus der Stirn. Catherine nickte und fuhr sich mit den Händen über die Augen. Es war alles wohl doch nur ein Traum gewesen – nur die Tatsache, dass sie dann plötzlich gegen Ende des eigenartigen Traumes sich selbst am Fenster gesehen hatte… wie auch sie selbst in jener Nacht eine Gestalt im Park gesehen hatte. Oder hatte sie das nur in ihren Traum eingebaut. „Worüber habt ihr gesprochen?“ fragte Lestat und Catherine zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht mehr genau, doch schon, aber ich bin noch so verwirrt.“ „Du musst es mir nicht sagen.“ beruhigte Lestat und wollte sich vom Bett erheben, doch Catherine griff nach seiner Hand. „Sie hat mich gefragt, ob ich sie hasse. Das hat mich am meisten verwundert… Ich meine, wieso sollte ich sie hassen?“ „Du stirbst wegen ihr, Catherine.“ entgegnete Lestat gepresst, doch Catherine schüttelte vehement den Kopf. „Nein, ich sterbe nicht wegen ihr. Sie konnte das Ende nicht absehen. Sie wollte nicht, dass das geschieht.“ versicherte sie, doch überzeugte ihn damit nur teilweise. Es war schwer, über die Schuld oder Unschuld von jemandem zu diskutieren, wenn derjenige, der den Schaden hatte, gänzlich von der Unschuld des Schuldigen überzeugt war. Und für ihn war Margaret Barcley die Schuldige. Sie hatte sich ihrem Schicksal entzogen und sich auf diesen Pakt mit Magnus eingelassen. Sie hatte Catherine dazu verdammt, nun genauso – vor ihrer Zeit – zu sterben. „Lestat?“ fragte sie leise und ließ ihre Finger über seine Hand streichen, sodass er aufblickte. „Die anderen. Ich möchte sie noch einmal sehen.“ flüsterte sie, worauf er nickte. „Jetzt?“ fragte er, worauf sie nickte. „Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt.“ erklärte sie leise und Lestat nickte wieder, da er nicht sprechen konnte. Er war Schuld. Magnus war Schuld. Magnus. Und damit auch er. Er trug dasselbe Blut in sich. Dasselbe wie Catherine, doch sie konnte am allerwenigsten für das alles… „Lestat, bitte.“ meinte Catherine, als Lestat sich noch nicht gerührt hatte. Er nickte, erhob sich vom Bett und verließ das Zimmer, um die anderen zu holen, damit Catherine von ihnen und sie von Catherine Abschied nehmen konnten. Wenig später standen alle um Catherines Bett und keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte. Nicht diejenigen, die darauf warteten, dass Catherine etwas sagte, noch Catherine selbst. Lestat hatte ihr das Kissen etwas aufgeschüttelt und nun saß sie leicht aufgerichtet in ihrem Bett und ließ ihren Blick von einem zum anderen wandern. Die Vampire unter ihnen hatten schon so viel Tod gesehen, doch trotzdem schienen sie nicht recht zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. Sie blickten sie an, doch sahen sie doch nicht. Schmerz lag in ihren Augen, der Catherine etwas verwunderte, denn obwohl sie wusste, dass sie sich stets auf sie hatte verlassen können, war ihr doch entgangen, wie viel sie ihnen bedeutete. Ihr Blick glitt weiter zu Lea, deren Augen sie mit tränenverschleiertem Blick ansahen. Sie hatte viel geweint, bemerkte Catherine, als sie ihre geröteten Augen sah, und fühlte, wie die Tränen in ihr aufstiegen. Lea hatte in ihren jungen Jahren bereits so viel Leid und Kummer erfahren, dass es einfach nur ungerecht war, wenn auch Catherine sie nun noch im Stich ließ. Catherine senkte den Blick und schaute auf ihre Hände. Ja, sie ließ Lea im Stich, obwohl sie das niemals gewollt hatte. Sie hatte sich geschworen, dass sie zusammen halten würden. Sie hatte gewollt, dass sie eine Familie sind. Cousinen. Schwestern. Irgendetwas in diese Art, doch auf keinen Fall hatte sie gewollt, dass es so endete. Manche Dinge lagen eben einfach nicht in Menschenhand… Nun, zumindest nicht in der eigenen Hand. „Ich denke, es ist Zeit.“ brach Catherine endlich das Schweigen. Marius nickte leicht, doch schüttelte gleich darauf den Kopf. Er war in Gedanken versunken. Gedanken, was sie hätten tun sollen. Gedanken, was anders hätte kommen können. Gedanken, die sie alle wohl noch lange begleiten würden. „Ich bin froh, dass ich euch kennen gelernt habe.“ sprach Catherine weiter und fühlte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Catherine wandte den Blick zu Lestat und sah, dass er für einen Moment die Augen schloss und den Kiefer fest aufeinander presste. Seine Lippen bebten und seine Hände zitterten, als er die Arme vor der Brust verschränkte und schließlich den Blick senkte. Sie bedachte Marius, David, Armand, Louis und Bruyard mit einem langen Blick, ehe sie weitersprach: „Ich danke euch von Herzen, dass ihr es versucht habt. Das bedeutet mir sehr viel. Und ich bin mir sicher, dass ihr eine Möglichkeit gefunden hättet, wenn es … wenn es Sinn gehabt hätte, weiter nach ihr zu suchen.“ Sie nickten alle betrübt und murmelten, dass es selbstverständlich gewesen wäre. Selbstverständlich. Catherine stiegen die Tränen in die Augen, als sie nickte und den Blick senkte. „Danke.“ wiederholte sie tonlos. Die Tränen bahnten sich ihren Weg ihre Wangen hinab und fielen auf ihre Hände und die Bettdecke. Catherine spürte, dass sich jemand neben sie auf das Bett setzte, und blickte auf. Es war Marius. David und Armand standen hinter ihm. Marius ergriff ihre Hand und strich vorsichtig über sie. „Es war eine Ehre für mich, dich kennen zu lernen, Catherine.“ sagte er und küsste sie auf ihren Haaransatz, ehe er sich nach einem langen Moment erhob, und David zu ihr trat, der dasselbe tat. Armand kniete sich vor ihr Bett auf den Boden nieder und ergriff ihre Hand. „Au revoir, Mademoiselle.“ sprach er ernst, führte ihre Hand zu seinen Lippen und berührte sie sanft, ehe er Bruyard Platz machte. Catherine blickte noch einmal zu Armand und hoffte, dass er Recht hatte und es einen Ort geben würde, an dem sie sich alle – irgendwann einmal, in ferner Zukunft – wiedersehen würden. „Catherine… Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ begann Bruyard und Catherine legte ihm ihre Hand auf seine Hand. „Es ist in Ordnung. Sie haben so viel für mich getan, Monsieur.“ entgegnete sie. Bruyard nickte nur und Catherine sah ihm nach, wie er sich zurückzog, bis sie ihren Blick nicht mehr von Louis und Lea wenden konnte. Louis kam zu ihr, drückte ihr die Hand und verabschiedete sich von ihr, während Lea nur zögerlich an das Bett trat. Catherine warf Lestat einen Blick zu und er nickte. Sie wollte allein mit Lea sprechen. Er setzte sich langsam in Bewegung, berührte Marius und Armand am Arm und alle folgten ihm hinaus, während sie zum letzten Mal Catherine ansahen. Die Tür schloss sich beinahe geräuschlos und Catherine lauschte den Schritten, die allmählich auf dem Gang verklangen, während sie die Tür betrachtete, durch die gerade alle verschwunden waren. Es hatte so etwas Endgültiges, dass es ihr die Kehle zusammenschnürte. „Es tut mir leid, Lea. Es tut mir leid, wie alles gekommen ist.“ meinte Catherine schließlich, als sie die Kraft gefunden hatte, den Blick von der Tür zu Lea zu wenden. Sie schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Hände, als ob sie das nicht hören wollte. „Ich weiß, dass ich nichts sagen kann, um es erträglich zu machen. Ich weiß auch, dass ich selbst… Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte.“ „Hast du Schmerzen?“ fragte Lea leise, worauf Catherine den Kopf schüttelte. „Nein, keine Schmerzen. Ich bin nur so unsagbar müde und matt.“ erklärte Catherine und schloss für einen Atemzug die Augen. „Ich wollte Abschied nehmen, bevor ich es vielleicht nicht mehr kann. Ich wollte nicht gehen, ohne euch… besonders dich noch einmal gesehen zu haben.“ Lea nickte nur und wischte sich die Tränen von den Wangen. Dann schüttelte sie den Kopf und ließ den Kopf gegen ihre Brust sinken. Sie schluchzte leise. „Es ist ungerecht. Es ist einfach nur ungerecht. Wieso du? Wieso überhaupt jemand? Und wieso musst du dich dazu entscheiden, für die Menschen zu sterben? Wie kannst du… Wie kannst du mich allein lassen?“ „Du wirst nicht allein sein.“ versprach Catherine und nahm Lea in ihre Arme. „Du wirst nicht allein sein.“ wiederholte sie und wiegte Lea sanft hin und her. Lea weinte und auch Catherine rannen die Tränen wieder verstärkt über die Wangen. Es schmerzte einfach nur. Es zerriss sie beinahe, dass sie nichts tun konnte, um Leas Schmerzen zu verringern. „Du wirst mir so fehlen. Du warst die einzige Familie, die ich jemals wirklich hatte… bei der ich mich sicher und geborgen gefühlt habe.“ flüsterte Lea stockend und Catherine festigte ihre Umarmung um sie. „Ich… Ich werde da sein, Lea. Du musst nur daran glauben. Ich werde bei dir sein, wenn du an mich denkst.“ Lea schüttelte nur stumm den Kopf und vergrub ihr Gesicht an Catherines Hals. „Und du hast Louis, der dich nicht verlassen wird. Lestat wird auch bei dir sein…“ „Sie sind nicht du. Sie können dich nicht ersetzen!“ rief Lea und Catherine hob sie ein Stück von sich weg. „Niemand kann einen Menschen gänzlich ersetzen, wenn er gehen muss.“ entgegnete sie und strich Lea sie Haare aus dem Gesicht. „Ich weiß, dass sie ihr Bestes geben werden. Du wirst sehen.“ Lea nickte stumm und blickte Catherine an, die langsam und regelmäßig atmete. „Du wirst deinen Weg finden, Lea. Ich bin mir ganz sicher. Du wirst eine starke Frau werden, die mit beiden Beinen im Leben steht und weiß, was sie will und was sie dafür tun muss. Du wirst an deine Grenzen stoßen und über sie hinauswachsen.“ fuhr Catherine fort und nickte zur Bekräftigung ihrer Worte. „Ich sehe mich nicht als Opfer, aber ich weiß, was ich zu tun habe. Wenn mein Tod großes Unheil verhindern kann, ist das ein Glück, das wir sonst nicht hätten. Es ist eine Chance, kein Übel, dass die gedankenlosen Kreaturen an mein Leben gebunden sind. Die Pläne der Bruderschaft werden sich auflösen. Das ist gut. Und irgendwann wirst du verstehen, dass es die richtige Entscheidung war, die ich getroffen habe.“ Lea nickte, konnte die Tränen aber nicht zurückhalten, da sie Catherines Worte zwar mit dem Verstand, aber nicht mit dem Herzen begreifen konnte. Sie spürte Verlust und Angst – nicht die Tatsache, dass es richtig war. „Ich habe dich lieb, Lea. Das wirst du nicht vergessen, nicht wahr?“ „Nein, ich werde es nicht vergessen. Bestimmt nicht.“ versicherte Lea und umarmte Catherine noch einmal. „Ich habe dich auch lieb.“ flüsterte Lea und schwieg dann gemeinsam mit Catherine und weinte lautlos, bis sie sich schließlich löste, vom Bett erhob und Lestat wieder zu Catherine schickte, damit er bis zu ihrem letzten Atemzug bei ihr blieb. Kapitel 114: Tränen aus Blut ---------------------------- Tränen aus Blut Catherine lag mit Lestat auf ihrem Bett und hatte die Augen geschlossen. Er lauschte ihren Atemzügen und streichelte ihre Wange, ihren Oberarm und strich ihr durch die Haare. „Ich bin so müde.“ murmelte sie leise, worauf er sich seitlich auf einen Ellenbogen aufrichtete und sie anblickte. Er hatte wertvolle Zeit vergeudet, sie nicht anzusehen. Er konnte nichts sagen, sondern küsste sie nur auf die Stirn. Sie war stiller geworden. Stiller. Leiser. Ihr Herz schlug langsamer und schwächer. Ihr Atem war so flach geblieben, doch sie atmete seltener, als wollten ihre Lungen nicht mehr. Als wollte sie nicht mehr. „Ich denke, ich werde gleich einschlafen.“ fuhr sie fort und schlug die Augen auf. Ihre Augen fanden seine und Lestat sah in ihrem Blick, dass sie nicht glaubte, noch einmal aus ihrem Schlaf aufzuwachen. Er schluckte und festigte seine Umarmung um sie. „Es tut mir leid, Lestat.“ flüsterte sie und berührte schwach mit ihrer Hand seinen Arm, den er um ihren Oberkörper geschlungen hatte. „Nicht, Catherine. Sag’ nicht, dass es dir leid tut.“ bat Lestat leise. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, und Magnus nicht, dann müsste sie nun nicht sterben. Ihr hatte nichts leid zu tun! Magnus war an allem Schuld. Margaret war an allem Schuld. Und er, da er nichts tun konnte. „Doch, mir tut so vieles leid… Dass ich dich kennen gelernt habe, kann ich auf keinen Fall zu diesen Dingen rechnen, Lestat.“ „Catherine…“ „Ich kann mit dem Leben nicht hadern. Es hat mir dich geschenkt.“ Lestat strich Catherine über das Haar und sprach nicht. Er konnte nichts sagen. Es war zu viel. Er spürte die blutigen Tränen in seine Augen steigen und einen dunkelroten Schleier über seinen Blick legen. Catherine streichelte ihm über die Wange und lächelte. Nein, sie würde die Monate mit ihm nie bereuen. Es stimmte, was sie in ihrem Traum gesagt hatte. „Ich liebe dich.“ meinte sie ruhig und blickte ihm dabei in die Augen. „Vergiss’ es nicht.“ „Ich werde es nicht vergessen. Wie könnte ich? Es wird in jedem meiner Gedanken sein. Du wirst in jedem meiner Gedanken sein.“ brachte er schließlich heraus und nahm ihre Hand in seine. „Vergiss dich selbst darüber nicht, Lestat. Ich möchte nicht, dass du… dich zerstörst.“ entgegnete sie vorsichtig, da sie ihn besser kannte, als er wahrhaben wollte. „Du trägst keine Schuld.“ redete sie auf ihn ein. „Ich weiß.“ versicherte er, doch sie glaubte ihm nicht ganz, wie auch er seinen Worten keinen Glauben schenkte. „Lea braucht dich.“ meinte sie, worauf Lestat nickte. „Und ich muss wissen, dass du zurecht kommen wirst… dass du weitermachen wirst.“ „Du bist alles für mich geworden, Catherine.“ gestand er und schüttelte den Kopf. „Du bist alles.“ „Bitte… Lestat, du musst leben.“ bat sie und fühlte, wie ihre Kräfte wichen. „Von einem Toten zu verlangen, er solle leben… Wie gerne wollte ich dir diesen Wunsch erfüllen, Catherine, doch ich bin schon lange tot. Du hast mich nur erneut zum Leben erweckt, doch ohne dich falle ich zurück in die Dunkelheit, aus der ich komme.“ „Du gehörst nicht in die Dunkelheit.“ murmelte Catherine mit leiser Stimme und ließ ihre Hand an seiner Wange liegen. „Ich gehöre nicht länger auf diese Welt, wenn du nicht in ihr bist.“ widersprach er, worauf Catherine die Tränen in die Augen stiegen. „Ich will, dass du lebst!“ erwiderte sie, doch hinter ihren Worten steckte nicht mehr die Kraft, die sie ihnen gerne verliehen hätte. Vergebens versuchte sie, sich aufzurichten und wollte weitersprechen, doch Lestat fuhr zärtlich mit seinem Finger über ihre blassen Lippen. „Ich werde mein Versprechen halten, mich um Lea zu kümmern, meine liebste Catherine, aber mehr kann ich dir nicht versprechen.“ Catherine schüttelte traurig den Kopf, wusste aber, dass er nicht mit sich reden ließe. Es trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte, nun da sie wusste, dass sie Lestat am Anfang eines zerstörerischen Weges zurückließ, doch sie war inzwischen schon zu müde, um ihm etwas entgegen zu setzen. Ihre Kraft schwand. „Es tut mir leid, dass ich dir Kummer bereite, Catherine.“ flüsterte er und küsste ihre Stirn. „Ich kann dich nur nicht belügen.“ „Ich weiß, Lestat, aber deshalb macht es mich nicht weniger traurig.“ flüsterte sie, worauf er sein Gesicht in ihr Haar presste und stumm blieb. Catherine wusste, was sie schon von ihm verlangte. Sie sterben zu lassen. Das war wirklich viel verlangt und mehr konnte sie tatsächlich nicht verlangen. Sie hatte von ihm mehr bekommen, als sie erwartet hatte, als sie gehofft hatte und als sie erträumt hatte. Seine Liebe. Einmal in ihrem Leben. Und bis zum Ende ihres Lebens. Sie fühlte, dass ihre Schläfe nass wurde und wusste, dass Tränen aus Blut aus seinen Augen traten und ihre Haut benetzten. Tränen aus Blut. Catherine schloss die Augen und ließ ihre Hand auf seinem Rücken ruhen. Ihr Herz schlug einige Male heftig und unregelmäßig, was sie in der Brust sehr schmerzte, doch sie zuckte nicht zusammen. Es war beinahe, als sei sie nicht mehr Teil dieses Schmerzes oder Teil dieses Körpers. Catherine strich Lestat über den Rücken und zwang ihn schließlich mit sanftem Druck, sie anzusehen. Sie wollte nicht einschlafen, doch sie konnte es nicht mehr viel länger verhindern. Musste sie jetzt schon gehen? Musste sie ihn jetzt schon verlassen? Lestats Tränen hatten kleine, rote Rinnsale auf seiner Haut hinterlassen. Catherine zog ihn zu sich und führte seine blutbefleckten Lippen auf ihre. Sie wollte nicht gehen. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte bleiben. Ihre Tränen vermischten sich miteinander, als ihre Lippen sich ein letztes Mal fanden und sich in zärtlicher Leidenschaft verloren. Lestats Blut auf ihren Lippen und das wenige, das in ihren Mund gelangte, brannte wie Feuer, doch sie spürte keinen Schmerz, denn eine lähmende Kälte hatte sich über sie gelegt. Das Feuer wärmte sie nicht. Es verbrannte sie nicht. Es war ein Teil von ihr. Ein Teil, der bleiben würde, sie wusste es. Catherine sank zurück und blickte ihn noch ein letztes Mal an. Sie strich mit einer zitternden Handbewegung die Tränen von seinen Wangen und sah in seine Augen. Schwach schüttelte sie den Kopf, als neue Tränen über den Rand seiner Augen rannen und flüsterte kaum hörbar: „Warum… kann ich nicht… bleiben?“ Lestat presste Catherines Hand gegen seine Lippen und küsste sie. Wie kalt sie war! Seine Finger umfassten ihre Hand fest, während er sie ansah und mit tränenverschleiertem Blick ihr Haar streichelte. „Ein Wort von dir, Catherine!“ sagte er und hielt ihre Hand und berührte sie, sodass sie spürte, dass sie nicht allein war. „Ich fürchte… mich nicht.“ flüsterte sie und blickte an die Decke. „Ich fürchte mich nicht. Und dennoch… weiß ich… nichts.“ murmelte sie, während sie ihn anblickte, ehe ein langer Atemzug ihre Brust hob und ihre Augen sich schläfrig schlossen. Catherine blinzelte verstört und schüttelte ungläubig den Kopf. Rauch und dichter Qualm nahmen ihr beinahe die Sicht, doch sie wäre dankbar dafür gewesen, wenn er das Sehen komplett unmöglich gemacht hätte. Sie stand mitten auf einer Straße. Um sie herum standen mehrere Autos mit offenen Türen, die ihre Insassen in Panik fluchtartig verlassen hatten. Manche der Autos waren ausgebrannt und manche brannten noch. Die Hitze der Flammen züngelte zu ihr herüber und ließ sie zurückweichen, während ein Gedanke sich nicht mehr aus ihrem Kopf vertrieben ließ. Das war die Hölle. Stumm und ungläubig ging Catherine weiter. Spitze Steine und Glassplitter stachen in ihre Fußsohlen, doch so sehr sie sich auch bemühte, konnte sie ihnen nicht ausweichen. Es waren zu viele. Sie wusste nicht, warum sie Schmerzen empfand. Sie wusste nicht, ob das wirklich die Hölle war, deren Existenz sie immer bezweifelt hatte. Warum war sie hier? Sie wusste nur eines: Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie es nicht mehr versuchte, die Verletzungen durch Steine und Splitter zu vermeiden. Irgendwo in der Ferne brach krachend ein Haus unter den Flammen zusammen und Catherine wartete auf den Lärm von Sirenen, doch nichts ertönte. Niemand war hier. Niemand half. Niemand kümmerte es. Niemand konnte etwas tun. Sie war allein. Niemand war am Leben. Catherine wanderte allein weiter durch die Hitze und die Stille, die nur vom Geräusch der lodernden Flammen gebrochen wurde. Ihre Lippen wurden trocken. Ihr Mund wurde klebrig. Nach kurzer Zeit – oder war es eine Ewigkeit – wurde ihr das Schlucken schwer. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen. Sie hatte keine Kraft. Sie zitterte und eine Gänsehaut überzog ihre Glieder, obwohl die Hitze unerträglich war. Schließlich blieb sie stehen. War es das? Sah so das Ende aus? Ein Ende, das selbst kein Ende hatte, keine Gnade kannte und keine Zuversicht? Die Straßen waren leer. Die gesamte Stadt war leer. Die Flammen und der Rauch und der Qualm und die Hitze waren ihre einzigen Gefährten. Wozu sollte sie weitergehen? Wozu sollte sie gehen und kämpfen? Wozu, wenn aufgeben so einfach war. Sie musste sich einfach nur setzen. Setzen und sitzen bleiben. Niedersinken. Catherine schloss die Augen und fühlte nicht mehr, wie ihre Beine unter ihr nachgaben. Ihr Körper brach zusammen und blieb auf dem Rücken auf dem rissigen Asphalt liegen. Ihr Geist war eingesperrt in einem gebrochenen Körper. Ein Käfig. Die Hölle. Ein Tropfen berührte ihre Stirn und ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Regen? Konnte das wahr sein? Regen, der die Flammen löschte? Regen, der den Rauch und Qualm vertrieb? Regen, der die Luft säuberte? Nein, sie musste sich irren. Es konnte nicht sein. Catherine fühlte noch einen Tropfen und noch einen und noch einen, bis sie schließlich nicht mehr verleugnen konnte, was sie spürte. Tropfen. Warme Tropfen, die so zahlreich waren, dass sie nicht mehr sagen konnte, wo sie die Tropfen trafen. Sie prasselten auf sie nieder und sie musste die Augen öffnen. Sie schrie aus vollem Hals, als sie auf sich blickte, und strauchelte auf die Füße. Es war Blut. Es regnete Blut. Sie war mit Blut bedeckt. Die Straße um sie herum war blutüberströmt. Blutiger Regen stürzte in das Feuer, doch löschte es nicht. Das Blut tropfte vom Himmel auf die Erde und allmählich versank sie im dunkelroten Strom. Kapitel 115: (Zwie-)Gespräch ---------------------------- (Zwie-)Gespräch Catherine stand knöcheltief im Blut und konnte nicht glauben, was sie sah. Tod. Verderben. Untergang. „Nein.“ flüsterte sie und schüttelte den Kopf. Das war nicht wahr. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht sein. „Warum bist du jetzt nicht hier?“ fragte sie. Sie brauchte jemanden, mit dem sie sprechen konnte. Warum war Margaret Barcley jetzt nicht da? Warum war die Stimme nun nicht da? Warum war sie vorher da gewesen? Vorher… Catherine schüttelte wieder den Kopf und ging die verlassene Straße entlang. Das Blut schlug kleine Wellen und sie versuchte, es zu ignorieren. Es war nicht real. Es war nicht real. Und wenn, dann war es nur Regen. Wasser. Kein Blut. Sie versagte. Sie konnte sich nicht selbst belügen. Sie konnte sich nichts vormachen. Und sie konnte nicht sagen, dass das der Untergang war. Das Ende… Nein, es war nicht das Ende. Es war die Zukunft. Das hier… Dieses Bild, das sich ihr erbarmungslos und schonungslos offenbarte, war ein Bild der Zukunft, die in nicht allzu ferner Zeit über die Menschheit hereinbrechen würde. Leere Straßen Grauen. Schrecken. Todesangst. Tod. Das Blut würde fließen wie der Regen. Das Feuer würde lodern. Niemand konnte helfen. Niemand war dem gewachsen – auch Lestat, Marius, Armand, David und Louis nicht. Es waren zu viele. Die Bruderschaft hatte Recht gehabt… Nur in einem nicht. In einem hatte die Bruderschaft nicht Recht gehabt: Catherines Tod änderte nichts. Catherines Tod half ihnen nicht bei der Erfüllung ihres Plans. Sie hatten sich getäuscht. Ein Fehler, der keine Verbesserung mehr zuließ, denn auch sie waren ihrer Schöpfung nicht gewachsen. Sie hatten Gott gespielt und verloren. Sie hatten verloren und Verderben gebracht, das auch sie nicht verschont hatte. ‚Es ist noch nicht geschehen.’ klang plötzlich Margaret Barcleys Stimme in ihrem Kopf. „Du bist nicht hier.“ flüsterte Catherine und ging unbeirrt weiter. ‚Ich werde gehen, wenn du willst.’ „Ist das die Zukunft? Ist es das, was mein Tod bewirkt?“ fragte Catherine und hoffte, dass sie bleiben würde, wenn sie ihr eine Frage stellte. ‚Es ist die Zukunft, aber dein Tod bewirkt sie nicht. Diese Zukunft hat nichts mir dir zu tun.’ „Sie hat nur mit mir zu tun.“ widersprach Catherine und blieb nun stehen. Sie wollte nicht weitergehen. Sie hatte eh kein Ziel, das sie erreichen wollte. Es gab kein Ziel. ‚Der Tag ist gekommen, Lasair.’ „Mein Name ist Catherine.“ entgegnete Catherine und die Stimme in ihrem Kopf lachte. ‚Du kannst dich nicht gegen dein Erbe auflehnen. Du magst viel Kraft haben, aber das kannst du nicht.’ „Richtig, das kann ich nicht, aber ich bin nicht Lasair.“ ‚Lasair ist Catherine. Catherine ist Lasair. Du bist beides.’ beharrte die Stimme und Catherine drehte den Kopf, um ihren Blick in den Himmel zu heben, aus dem noch immer das Blut floss. „Wird das irgendwann aufhören?“ fragte sie die Stimme, als müsste sie es wissen. ‚Es hört auf, wenn der Bann gebrochen ist.’ „Was kann ich tun?“ ‚Dein Tod lässt die Lebenskraft der gedankenlosen Vampire schwinden.’ „Das heißt, dass sie sterben! Das wird doch geschehen! Oder?“ ‚Nein, das heißt nur, dass sie das Leben nicht mehr weitergeben können. Sie können keine Menschen mehr wandeln.“ „Es war alles umsonst… Es war alles umsonst! Ich sterbe umsonst!“ rief Catherine verzweifelt. ‚Du musst sterben, aber dein Blut darf nicht gleich bleiben. Es muss sich verändern.’ „Wie soll das gehen? Was soll ich tun?“ ‚Du kennst die Antwort.’ „Nein, hilf’ mir!“ rief Catherine und wartete ab, ob die Stimme noch etwas sagte. ‚Dein Traum, Lasair. In ihm findest du die Antwort.’ „Der Traum war niemals vollständig!“ rief sie zurück, doch die Stimme erklang nicht noch einmal „Margaret!“ rief sie noch einmal, doch Margaret blieb stumm. Lestat hatte Marius zu sich gerufen, als Catherine angefangen hatte, unruhig zu werden. Sie hatte ‚Nein’ geflüstert und sich wild herumgeworfen. ‚Warum bist du jetzt nicht hier?’ hatte sie gefragt, was ihn zutiefst erschrocken hatte. Sie fühlte sich allein gelassen, und so sehr er auch versucht hatte, ihr klar zu machen, dass er hier war, so glaubte sie ihm nicht. Er konnte sie nicht beruhigen. Er konnte sie nicht aufwecken. Er konnte ihr nicht helfen, sondern nur dafür sorgen, dass sie sich nicht aus Versehen selbst verletzte. „Was ist mir ihr?“ rief Lea, die ins Zimmer gestürmt kam und natürlich auch Louis mitbrachte. „Wir wissen es nicht.“ meinte Marius ruhig, während Lestat Catherine an den Schultern zurück auf das Bett sinken ließ. „Hat sie Schmerzen?“ fragte Lea weiter, die erst Catherine und dann Marius und Lestat prüfend anblickte. „Ich denke nicht. Sie scheint zu träumen…. Nur dieses Mal ist sie unruhig. Sie hat schon einmal geträumt, doch dieses Mal ist sie so unruhig… Ich weiß nicht.“ murmelte Lestat und streichelte Catherines Gesicht. „Sie hat nur mit mir zu tun.“ murmelte Catherine, doch keiner von denen, die nun in ihrem Zimmer standen, konnten mit ihren Worten etwas anfangen. „Was sagt sie? Wie lange redet sie schon?“ wollte Lea wissen, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Noch nicht sehr lange. Bisher konnte ich auch… Bisher gab es nicht viel Sinn, was sie gesagt hat.“ fügte er hinzu. „Mein Name ist Catherine.“ sagte Catherine und alle blickten sie an, doch konnten mit ihren Worten nichts anfangen. Lea schüttelte den Kopf und blickte zu Louis, der genau wie Marius und Lestat recht unschlüssig und hilflos aussah. „Richtig, das kann ich nicht, aber ich bin nicht Lasair.“ verkündete Catherine wieder, doch recht bald danach fragte sie: „Wird das irgendwann aufhören?“ „Was meinst du, Lea? Was hat das zu bedeuten?“ fragte Marius, da Lea angestrengt nachdachte und offenbar die einzige war, die eine Antwort haben konnte. „Das heißt, dass sie sterben! Das wird doch geschehen! Oder?“ rief Catherine. „Es klingt so, als würde sie sich mit jemandem unterhalten. In ihrem Traum, meine ich.“ antwortete Lea und versuchte, aus Catherines Worten eine sinnvolle Aussage zu erhalten. „Dann sollten wir also…“ begann Marius, doch Catherine unterbrach ihn. „Es war alles umsonst… Es war alles umsonst! Ich sterbe umsonst!“ rief Catherine verzweifelt und Lestat musste seinen Griff um sie etwas verstärken, um sie ruhig zu halten. „Wie soll das gehen? Was soll ich tun?“ Lea blickte entsetzt zu Lestat, Marius und Louis, dann setzte sie Marius’ Satz fort: „Ja, ich denke auch, dass wir sehr genau darauf achten sollten, was Catherine sagt. „Nein, hilf’ mir!“ bat Catherine verzweifelt, worauf Lestat tief durchatmete. Er konnte ihr wieder nicht helfen. Er wusste ja nicht einmal, was sie sah und mit wem sie sprach, wobei er die Vermutung hatte, dass es Margaret Barcley war, da sie ihr auch in ihrem letzten Traum erschienen war. „Der Traum war niemals vollständig!“ rief Catherine noch, dann war sie eine ganze Weile still, in der Lea versuchte, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. „Mit wem könnte sie sprechen?“ fragte sie deshalb und blickte zu Lestat, der gebannt auf Catherine blickte. „Offenbar mit niemandem mehr.“ stellte Armand fest, der an der Tür stand und offenbar durch Catherines rufende Stimme angelockt worden war. „Es gefällt mir nicht, dass sie so lange nichts mehr gesagt hat. In der Tat scheint es, als ob Catherine ruhiger ist…“ meinte Marius, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Du hast keine Ahnung, mit wie viel Kraft sie gegen mich ankämpft.“ murmelte er, während Louis fragte: „Lea, kannst du nicht in ihr Unterbewusstsein eindringen?“ „Nein, das ist unmöglich. Sie würde mir keinen Zugang gewähren. Das geht nicht.“ entgegnete Lea und rieb sich die Stirn, ehe sie fort fuhr: „Ergeben die Worte, die sie gesagt hat, für irgendjemanden einen Sinn?“ „Sie klang verzweifelt.“ überlegte David, der leise und gleich nach Armand eingetreten war. „Ja, am Anfang meinte sie, sie sei ganz allein. Warum bist du nicht hier? Das hat sie gefragt.“ erwähnte Lestat, glaubte aber nicht, dass das schon eine wichtige Aussage war. „Dann…. Sie sei nicht Lasair, sondern Catherine.“ „Vermutlich sprach ihr Gesprächspartner Catherine mit Lasair an.“ vermutete Lea und Lestat nickte. „Margaret Barcley würde das tun, oder nicht?“ fragte er, worauf nun Lea nickte. „Wahrscheinlich. Also hat sie mit Margaret Barcley gesprochen… Worüber?“ wollte Lea wissen, doch erwartete keine Antwort, den diese hatte niemand außer Catherine. „Die Zukunft.“ entgegnete Lestat tonlos. „Sie stirbt umsonst. Ihr Tod nützt nichts…“ „Tatsächlich?“ verunsicherte Marius Lestat. „Wir wissen nicht, was sie sieht und mit wem sie redet. Wir vermuten nur.“ „Ich weiß, aber sie hat um Hilfe gebeten!“ rief Lestat und Lea schüttelte den Kopf. „Sie hat nicht uns um Hilfe gebeten! Wenn sie mit Margaret Barcley gesprochen hat, dann hat sie nach ihr gerufen.“ widersprach sie und sah plötzlich in ganzer Klarheit, was getan werden musste und nicht getan werden durfte. „Wir dürfen diese zwei Bereiche nicht vermischen. Sie hat sich in einem Gespräch befunden, von dem wir nur eine Seite kennen – nämlich ihre. Wir dürfen uns nicht angesprochen fühlen, aber wir müssen genau hinhören.“ „Nun, sie sagt ja nichts mehr…“ warf Armand ein, worauf Lea ihm einen wütenden Blick zuwarf. „Der Traum war niemals vollständig. Der Traum ist der Schlüssel.“ fuhr Lea fort und überlegte einen Moment, ehe sie sagte: „Ich nehme an, dass sie träumt.“ „Und worauf warten wir?“ fragte Marius, dessen Bewunderung für Lea und ihre Sicherheit und ihr Wissen sprunghaft anstieg. „Ich hoffe, dass sie dieses Mal den Traum vollständig träumt… und entweder aufwacht und uns selbst sagt, was Sache ist oder wir aus ihren Worten erschließen müssen, was zu tun ist.“ „Wie viel Zeit haben wir noch?“ fragte Armand und Lestat blickte fragend zu Lea, die jedoch nur mit den Schultern zucken konnte, da sie es auch nicht wusste. Kapitel 116: Schwere Stunden ---------------------------- Schwere Stunden Catherine wusste nicht, wie lange sie noch darauf gewartet hatte, dass Margeret noch einmal zu ihr sprach, doch sie wusste, dass sie nun aufgegeben hatte. Sie war allein. Niemand würde ihr helfen. Allein konnte sie nicht sagen, was geschehen musste, um das Unheil doch noch zu verhindern. Allein konnte sie nichts ausrichten. Allein war sie verloren. Müde sank sie auf den Boden und spürte, wie das Blut ihre Kleidung durchnässte. Blut. Wie Regen. Und der leichte, warme Hauch eines Windes, der sich plötzlich in eisige Kälte verwandelte. Zu Beginn empfand sie den kühlen Wind noch als angenehm, dann schnitt er in ihre Haut, ließ sie inmitten der Flammen, die um sie loderten, frieren und zittern. Catherine schloss die Augen und tauchte in die erfrischende Dunkelheit ein, die vor ihren Augen herrschte. Nichts mehr war da. Kein Blut. Keine Schmerzen. Keine Wut… Kein Leben. „Ich kann es nicht tun.“ flüsterte sie und schüttelte den Kopf. „Ich brauche dich. Ich brauche dich. Hilf’ mir!“ murmelte sie weiterhin, doch sie erwartete nicht mehr, dass jemand sie hören würde oder ihr jemand antworten würde. Plötzlich wich die schwarze Dunkelheit und ein wenig Licht drang durch ihre geschlossenen Lider. Catherine öffnete ihre Augen und erkannte zuerst nichts, dann dunkelgrüne Büsche und braune Erde. Das wenige Licht drang durch die beinahe noch kahlen Baumkronen, doch ihre Äste tauchten die Gegend in erdrückende Dunkelheit. Die Abwesenheit von Licht war nicht so schlimm wie ein wenig Licht. Im Schatten lauerten die Gefahren. In der Dämmerung herrschte die Unsicherheit. Langsam erhob sie sich und sah sich um. Sie kannte diesen Ort. Sie war schon einmal hier gewesen – nicht als sie selbst, doch nun war sie selbst hier… Der Wind wehte durch ihr offenes Haar und trug leise geflüsterte Worte zu ihr. ‚héo naefre wacode dægréd tó bisig mid dægeweorcum’ Unsicher drehte sie sich um, da sie Stimme hinter ihr zu sein schien, doch sie blickte ins Leere. Hinter ihr lag nur Dunkelheit und Stille. ‚ac oft héo wacode sunnanawanung thonne nihtciele créap geond móras’ Sie wandte sich der Stimme zu, doch erblickte wieder niemanden. Es war wie in ihrem Traum. Das war ihr Traum. Catherine wusste, dass sie sich erleichtert fühlen sollte, doch konnte es nicht. Die Gefühle von Margaret Barcley waren auch für sie deutlich zu spüren. Furcht. Verzweiflung. Todesangst. Sie musste weiter. Sie durfte nicht verweilen. Mühevoll ging sie weiter. Ihre Füße sanken in dem von Nässe aufgeweichten Weg ein und hinterließen tiefe Spuren. Regentropfen berührten sanft ihre Haut und perlten zuerst zaghaft an ihrem Haar nach unten, doch bald war das Blut abgewaschen und sie war völlig von Wasser durchnässt. Es war keine Zeit, sich darüber zu freuen. Außerdem zitterte sie sehr vor Kälte. Sie zog ihren schwarzen Umhang dichter um sich und stiefelte weiter. Sie musste weg von hier. Sie war hier in Gefahr – ihre gesamte Familie war es. Sie fror und gleichzeitig loderte die Wut in ihr. Wie hatte sie ihnen je Glauben schenken können? Wieso?! Sie konnte nicht mehr. Zu lange schon bahnte sie sich ihren Weg durch die schlammige, kalte Erde, doch ihre Todesangst trieb sie weiter. Sie spürte nichts mehr – keinen Schmerz, keine Wut, kein Leben. Erschöpft sank sie zu Boden und schloss die Augen. Dann nahm sie alles nur noch durch einen Schleier wahr. Sie war nicht mehr da. Schmerzen und Kummer betäubten sie. Sie war ein lebloser Körper, der sich gerade noch so bewegte. „Da ist sie! Fasst sie!“ zerrissen hässliche Stimmen die Stille. Sodann folgten Hände. Überall Hände, die an ihr zerrten und an ihr rissen. Schließlich ein dumpfer Schlag und dann nichts mehr. Ein dumpfer, ungnädiger Schlag… ungnädig, weil er nicht das letzte war, das sie spüren sollte. Erst später wieder Dunkelheit und Nässe. Und pochender Schmerz. Immer noch. Schmerz, der ihr zeigte, dass sie doch noch lebte. Leider. „Es ist Zeit, dich schuldig zu bekennen!“ Stimmen. Scharfe Stimmen und Schläge. Folter. „Gestehe! Sag’ jetzt und hier die Wahrheit!“ Folter. Sterben. Ja. Gnade. Doch lügen? Schmerzen und erstickte Tränen, die ihre Unschuld beteuerten. Doch dann brachen die Männer sie. „Ich gestehe! Ich bekenne mich schuldig!“ schrie sie und brach dann zusammen. Alles, nur die Schmerzen... die sollten aufhören. Lange kam keine Antwort, doch dann durchbrach sie schneidend die Dunkelheit. „Wer mit dem Feuer spielt, wird brennen…“ Sie schloss die Augen nicht, doch in ihrem Inneren fühlte sie eine Wandlung. Erleichterung. Alles war gleichgültig geworden. Wahrheit. Lüge. Licht. Dunkelheit. Leben. Tod. Alles war dasselbe. Sie behielt die Augen offen und blickte den Mann an. Sie blickte von einem Mann zum anderen. Stand ihnen das Urteil zu? Waren sie besser als sie selbst? Waren sie die Richter, die sie fürchten musste? Sollte? „Möchtest du Gott um Vergebung bitten?“ Sie blieb stumm und man brachte sie fort. Nein. Ihr Richter war Gott. Keine Sterblichen. Sollten sie tun, was sie wollten. Gott – oder eine andere höhere Macht – würde über Schuld oder Unschuld entscheiden. Geschrei. Lautes Geschrei und immer wieder Schläge gegen ihre Beine, sodass sie strauchelte. Sie wollten sie fallen sehen. Sie wollten sie leiden sehen. Sie wollten sich an ihrem Elend ergötzen. Und eigentlich… waren sie nicht nur froh, dass es sie erwischt hatte und niemand anderen? Nicht sie selbst? „Des Teufels Ausgeburt!“ Sie schüttelte nicht den Kopf. Sie wusste nicht, ob die Menschen nicht Recht hatten. Es war eine Möglichkeit… eine Möglichkeit, die sie damals genutzt hatte, hatte sie nun hierher geführt. „Brennen soll sie!“ Die Leute waren aufgebracht, bespuckten und bewarfen sie, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Es machte nichts mehr. Ihr Tod machte nichts mehr. „Verdammt bis in die Ewigkeit!“ schrie ihr einer wütend entgegen. Ewigkeit. Das Wort zerriss ihre Taubheit. Das Wort drang ihr bis in Mark und Knochen. Das Wort kroch bis tief hinein in ihr Herz und ließ alles entsetzlich klar werden. Ewigkeit. Verdammt bis in die Ewigkeit. Angst. Tiefe, entsetzliche Angst erfasste ihre Seele, als sie den Scheiterhafen hinaufgeführt wurde. „Mylady, Duchess of Irvine, Ihr wurdet als Hexe und Ketzerin überführt und werdet deshalb an diesem Tag bei lebendigem Leib im Namen der heiligen römischen Kirche verbrannt.“ Das Feuer wurde entzündet und dicker Rauch stieg auf. Die Menschen grölten. Der Strick schnürte ihr in die Handgelenke und Beine und in ihren Leib. Der Reisig stachelte und kratzte, doch sie hielt ihrer Angst stand. „Möge Gott Eurer Seele gnädig sein!“ leierte der Vorstand. Er meinte es nicht so. Er glaubte nicht an Gott. Er glaubte nicht Gottes Gerechtigkeit – nur an seine eigene und die der Männer, auf dessen Geheiß er handelte. Wut und Zorn züngelte in ihr auf, wie die Flammen, die sich ihr langsam bedrohlich näherten, da Männer mit Kapuzen das Reisig in Brand steckten. „Im Morgenrot, beim ersten Sonnenschein, wirst du bereits Asche sein!“ sangen die Kinder und hüpften ausgelassen im Kreis. Immer wieder wiederholten sie ihre Worte. Kinder. Das war der letzte Ort, an dem Kinder sich aufhalten sollten. Das war das letzte, was Kinderaugen sehen sollten. In Windeseile umzügelten sie die hohen Flammen und tosten laut um sie herum. Sie musste husten. Sie war froh, dass ihre Kinder nicht hier waren, dass sie das Land verlassen hatten. Ihre Kinder, denen sie nur eine Mutter hatte sein wollen. Ihre Kinder, durch die sie selbst bis zu einem gewissen Grad weiterleben würde… Würden sie sich an ihre Liebe erinnern? Oder würden sie glauben, was alle glaubten und sich für alle Zeit von ihr abwenden und die Erinnerung an sie aus ihrem Gedächtnis zu bannen versuchen? Wie war die Welt, in der sie aufwachsen würden? Wie war das Leben, das sie ihnen vermacht hatte? Welche Chancen hatte sie ihnen gegeben und welche hatte sie für immer zunichte gemacht? Nein, nicht sie. Nicht sie war allein verantwortlich. Auch die anderen. Die Männer in ihren Kutten. Die Männer, die selbst nicht recht darauf glaubten, dass sie Recht mit ihrem Urteil hatten. Vielleicht wussten sie sogar, dass sie nicht schuldig war… dennoch war ihr Schicksal der Flammentod… weil sie … wusste. Nein… weil sie glaubten, dass sie wusste. Plötzlich verspürte sie eine unbändige Wut in sich und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Luft zum Atmen fehlte ihr schon. Der Rauch ließ ihre Lungen krampfen und biss in den Augen. Die Hitze der Flammen strahlte zu ihr, doch das Feuer berührte sie noch nicht direkt. Niemand konnte solche Macht haben wie diese Männer. Niemand sollte solche Macht haben. Sie fühlten sich Gott ebenmäßig und was auch immer ihre Pläne waren, die sie durchkreuzen musste… konnte. Wollte. Sie sammelte ihre Kräfte und ihre Stimme und rief gegen die Flammen an. Lestat sah, dass Catherines Körper zitterte, doch gleichzeitig war eine Kraft und Stärke in ihn zurückgekommen, die ihn beinahe glauben machte, dass Catherine sich gleich erheben konnte. „Sie hat lange nichts gesagt.“ murmelte Marius, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass sie etwas sieht, das sie sehen muss.“ entgegnete Lea und dachte angestrengt nach, was das sein konnte. Sie blickte auf das Blatt vor sich, auf das sie alles aufschreiben wollte, was Catherine sagte, doch da Catherine lange geschwiegen hatte, hatten sich am Rand schon kleine Kringel und ausgefüllte Kästchen angesammelt. Lea konnte nur vermuten, dass es etwas Wichtiges war, das Catherine sah. Sie hoffte es. Und sie hoffte, dass Catherine einen Weg fand, sich ihnen mitzuteilen. Ob sie wusste, dass alle hier in ihrem Zimmer waren? Kapitel 117: Entscheidung ------------------------- Entscheidung Lestat legte Catherine die Hand auf die Stirn, da sich Schweißperlen an Catherines Schläfen gebildet hatten. Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen. „Sie hat Fieber. Sie glüht förmlich.“ presste er zwischen den Zähnen hindurch und blickte zu Bruyard, weil er eine Erklärung wollte. Der Arzt druckste einen Moment herum und meinte dann: „Es ist wahrscheinlich eine Begleiterscheinung zu ihrem gesamten Zustand. Ihre Organe… Wenn die Funktionsfähigkeit ihrer Organe langsam zusammenbricht, ist es wahrscheinlich, dass sich die Körpertemperatur erhöht.“ „Heißt das… Heißt das, dass Catherine nicht mehr viel Zeit bleibt?“ fragte Lestat, worauf Bruyard erneut zögerte. „Ich kann unmöglich den genauen Zeitpunkt voraussagen, aber es ihr wahrscheinlich, dass sie immer schwächer ist… und jetzt schon in einem Stadium angekommen ist, aus dem…“ „Das reicht. Danke.“ schnitt ihm Lestat das Wort ab und meinte zu Louis: „Kannst du Handtücher mit kaltem Wasser tränken? Wir sollten ihre Stirn und ihre Waden kühlen.“ „Ich mache das schon.“ entgegnete Bruyard und verließ das Zimmer, um ins Bad zu gehen und die Umschläge vorzubereiten. Lestat erhob sich von Catherines Bett, als der Arzt mit Handtüchern und einer Schüssel mit kaltem Wasser wiederkam und schlug die Bettdecke zurück. Catherines gesamter Körper strahlte dieselbe fiebrige Wärme ab und zuckte zusammen, als die kalten Umschläge ihn berührten. „Ich kann es nicht tun.“ flüsterte Catherine plötzlich und schüttelte leicht den Kopf. „Ruhig, Catherine. Es ist alles in Ordnung.“ flüsterte Lestat leise und streichelte ihr den Handrücken, ehe er ihr vorsichtig das Gesicht und den Nacken wusch und ihr das nasse Handtuch auf die Stirn legte. „Lea, schreib’ auf, was sie sagt!“ bat Marius, als er Catherine Stimme hörte und wusste, dass ihre Unruhe nur eines bedeutete, nämlich, dass Catherine noch mehr sagen würde. „Ich brauche dich. Ich brauche dich. Hilf’ mir!“ flüsterte Catherine, doch sie klang resigniert. „Mit wem spricht sie wohl?“ fragte Armand. „Nicht mit uns, nehme ich an.“ „Mit Margaret wahrscheinlich.“ vermutete David, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Wer sagt uns, dass sie nicht mit mir spricht? Sie könnte wissen, dass wir da sind. Sie könnte es wissen… und um unsere Hilfe bitten.“ meinte er und blickte die anderen einen nach dem anderen an, doch Marius schüttelte den Kopf. „Das ist… nicht unmöglich, aber doch unwahrscheinlich, Lestat.“ entgegnete Marius und Lea nickte. „Wenn sie mit uns kommuniziert, dann indirekt. Wie schon gesagt: Wir müssen ihr genau zuhören.“ „Wir müssen ihr zuhören, dürfen aber nicht auf ihre Worte reagieren?“ erwiderte Lestat heftig, was Bruyard zusammenzucken ließ. „Ich kann mir vorstellen, wie schwer das für dich ist, Lestat, aber…“ „Nein, das kannst du nicht. Niemand kann das, Marius.“ widersprach Lestat und drehte sich wieder ganz zu Catherine um, da sie sich plötzlich aufbäumte und schmerzvoll aufschrie. „Es ist der Traum. Sie träumt von der Folter.“ meinte Lea und war fassungslos, dass der Traum so real für Catherine war. „Gott!“ rief Lestat plötzlich und starrte auf Catherine hinab. „Sie träumt nicht nur.“ fügte er hinzu und zog seine Hand von Catherines Arm zurück, der plötzlich blutig war. „Sie durchlebt den Traum.“ Er hörte Armand und Marius gleichzeitig scharf einatmen. Lestat blickte abwechselnd auf Catherine und auf seine eigene blutige Hand. Die Verletzungen, die von unsichtbarer Hand verübt wurden, nahmen zu und Lestat konnte sie nicht einmal mehr anfassen, ohne dass sie zusammen zuckte. Er wollte nicht glauben, dass er ihr nicht helfen konnte. „Ich gestehe! Ich bekenne mich schuldig!“ schrie Catherine schließlich verzweifelt und sank erschöpft scheinbar in sich zusammen. „Was jetzt? War das alles?“ fragte Marius, worauf Lestat den Kopf schüttelte und Lea meinte: „Margaret starb nicht während der Folter. Sie starb… Nun, später. Wenn wir Glück haben, dann kann Catherine noch so lange durchhalten, dass wir die Prophezeiung vollständig hören.“ „Glück.“ murmelte Lestat und tauchte das Handtuch von Catherines Stirn noch einmal in das kalte Wasser. „Ich würde das nicht Glück nennen.“ „Sie würde wollen, dass wir alles versuchen, Lestat.“ erinnerte Marius und Lestat nickte. Wie lange sollten sie noch warten? Wie lange konnte Catherine noch durchhalten? Wie lange würden sie brauchen, um doch noch… Gott, hatte er wirklich noch die Hoffnung, dass es eine Rettung für Catherine gab. Ja… Oh, diese trügerische Hoffnung. Sie nistete einfach im winzigsten Winkel eines Herzens. „Der Tag wird kommen… und mögen Jahre vergeh’n… da jemand erscheint, der vom Schicksal auserseh’n…“ begann Catherine plötzlich zu sprechen und Lea schrieb eifrig jedes Wort auf, das sie sagte. „… doch ihm sollen jeweils dreimal sieben gewesen sein, zu erfüllen des enttäuschten Herzens wütende Rache…“ „Das ist die Prophezeiung, oder nicht?“ fragte Armand und jeder im Raum nickte – außer Bruyard, da er keine Ahnung hatte, wovon die anderen sprachen. „… zu beenden der gebrochenen Seele folternde Pein, indem schweres Blut sich ergieße und Feuer entfache, indem das Rad des Schicksals erneut dreht das Sein…“ „Wir werden Zeit brauchen, um sie auszuwerten.“ warf Marius ein, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Sie ist immer noch nicht vollständig. Lea, schreib’ alles auf!“ Lea nickte, obwohl sie das schon die gesamte Zeit tat und wartete darauf, dass Catherine erneut sprach. „Vielleicht…“ begann David, doch Catherine unterbrach ihn und sofort verstummte er. „Wenn Licht und Dunkelheit sich miteinander vereinen, wenn die schwarze Sonne sich am Himmel offenbart, wenn der unsterbliche, lebende Fluss für einen, den reinen Augenblick in gnadenlosem Stillstand leblos verharrt und wenn unbekannter Bruder zu ewigem Vater ernannt…“ Catherines Körper krampfte sich zusammen, sodass sie einen Augenblick nicht weitersprechen konnte, dann aber fortfuhr: „… und wenn unbekannter Bruder zu ewigem Vater ernannt, wird Blut durchbrechen alles, was früher gebannt, weil…“ Ein erneuter Krampf schüttelte Catherine und Lestat versuchte, ihre Schultern auf dem Laken zu halten, doch sie hatte eigentlich keine Kraft mehr, sich wirklich gegen ihn aufzulehnen. Die Kraft schöpfte sie aus den letzten Funken ihres Überlebenswillens… sie reichte nicht aus, um gegen Lestat anzukommen. „… weil mein und sein Erbe in mir nicht gänzlich verbrannt.“ flüsterte Catherine erstickt und tonlos, ehe sich ihr Körper entspannte und sie gegen Lestat sank. „Das war alles. Ich weiß nicht, wie es euch ging, aber ich war zu abgelenkt von Catherines Zustand, dass ich den Worten nicht richtig folgen konnte. Lea, was haben wir?“ fragte David, während Lestat damit beschäftigt war, Catherine weiterhin die Stirn zu kühlen. Lea reichte ihm den Block, auf den sie geschrieben hatte, und sofort sammelten sich alle um die Aufzeichnungen. Nur Marius blieb an Lestats Seite und betrachtete ihn und Catherine, die scheinbar noch weiter in ihre Traumwelt gesunken war und sich nicht mehr rührte. Die anderen lasen das, was Lea aufgeschrieben hatte, und hofften, dass ihnen die Antwort gleich ins Auge springen würde. David nahm schließlich den Block an sich und las vor allem die letzten Zeilen immer wieder durch. Es nützte nichts. Er kam nicht darauf. Das entscheidende Puzzelteil in diesem Rätsel fehlte ihm. Nein, wenn er ehrlich war, so fehlten ihm mehrere. War es möglich, dass sie die Antwort und Catherines Rettung in den Händen hielten, und die Lösung nur nicht sahen? „Ich brauche Zeit.“ meinte er tonlos. „Wir haben keine Zeit, David.“ meinte Lestat und berührte Catherines Gesicht. „Sie durchlebt den Traum. Ich nehme an, dass Margaret diese Prophezeiung… diesen Fluch auf dem Scheiterhaufen ausgesprochen hat. Sie hat keine Zeit mehr.“ „Du kannst nicht von uns verlangen, dass wir innerhalb von Sekunden auf die Lösung auf diesen letzten Teil kommen. Wir haben schon mehrere Wochen für die ersten Zeilen gebraucht!“ rief David, doch Lestat schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit mehr. Und ich kann dir keine Zeit geben, David. Sie stirbt.“ „Was willst du tun?“ fragte David und Lea wurde blass. „Ich habe eine Theorie zur Prophezeiung, aber ich kann sie jetzt nicht erklären…“ meinte Lestat und ließ seine Finger langsam über Catherine Nacken streichen. „Nein, Lestat… Nach allem, was wir wissen, ist Catherines Tod die einzige Möglichkeit, diese gedankenlosen…“ „Nach allem, was wir wissen? Das ist reichlich wenig! Das ist kein Grund für mich, ihrem Tod zuzusehen!“ rief Lestat und David machte einen Schritt auf ihn zu, doch Marius stellte sich ihm in den Weg. „Sie hat gesagt, dass ihr Tod nichts ändern wird… Das hast du doch selbst gehört! Ihr Tod wird nicht umsonst sein, David! Niemals!“ „Marius, sag’ ihm, dass…“ begann David, doch Marius schüttelte den Kopf und entgegnete: „Ich stehe auf Lestats Seite. Er hat entschieden, aber ich bin einer Meinung mit ihm. Wir wissen zu wenig, um nichts zu tun.“ „Aber, wenn…“ versuchte David noch einmal, brach aber selbst ab, als er Lestats Blick sah. Marius tauschte einen Blick mit Lestat auf, der ihm zunickte, worauf er alle aus dem Zimmer brachte und die Tür hinter ihnen schloss. Lestat blickte ihnen nicht nach, da er zu sehr auf Catherine konzentriert war. Er wusste nicht, ob er es vermochte, doch er musste es versuchen. Zärtlich strich er ihr über die Wange, küsste ihre heißen Lippen und nahm sie dann in die Arme, ehe er seine Lippen an ihren Nacken senkte und mit seinen Zähnen ihre Haut durchbrach. Catherines Blut rauschte heiß und feurig in seinen Mund und er musste die Augen schließen, um nicht völlig von dieser Kraft überwältigt zu werden. Niemals hätte er gedacht, aus ihrem schwachen Körper so starkes Blut zu trinken. Seine Hände hielten Catherine sicher bei sich und strichen ihr immer wieder über den Rücken und durch das Haar. Kapitel 118: Königin der Nacht ------------------------------ Königin der Nacht Lestat trank von ihrem dunkelroten Blut, bis er schließlich hörte, wie der Herzschlag nicht nur langsamer und schwächer wurde, sondern beinahe ganz zu schlagen aufhörte. Er löste sich von ihr, drückte mit der einen Hand auf ihre Wunde am Hals und biss sich gleichzeitig in sein anderes Handgelenk, zog Catherine schließlich wieder zu sich und strich sein Blut über ihre Lippen. „Trink’, Catherine. Trink…“ flüsterte er leise und öffnete ihren Mund ein wenig, sodass das Blut hineintropfen konnte. „Trink!“ beschwor er sie, bis er schließlich ihre Zunge spürte, die das Blut von seinem Handgelenk leckte, und ihre Lippen und Zähne, die gegen das Handgelenk pressten, um mehr zu bekommen. Lestat bemerkte, dass er vor Glück weinte, und streichelte Catherines Gesicht. Catherine öffnete die Augen und blickte ihn mit großen, hungrigen Augen an. Er betrachtete sie, als sie von ihm trank und ihre Lebensenergie von ihm nahm. Sie sollte von ihm nehmen, was sie brauchte, doch er wusste auch, dass er ihr nicht alles von sich geben konnte, weshalb er ihr nach einer Weile sein Handgelenk entzog. Catherine blickte ihn immer noch an, blieb stumm und fixierte seine Hand, die sich ihrem Mund näherte, um ein kleines Rinnsal von Blut zu entfernen. Catherine war verwirrt. Sie fühlte das Blut in sich rauschen, doch das Schlagen ihres Herzens schmerzte so sehr, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie presste die Lippen und Zähne zusammen. Sie fühlte sich so lebendig, doch trotzdem… irgendetwas stimmte nicht. „Es wird alles gut, Catherine.“ hörte sie Lestat wie von großer Entfernung sprechen, doch es kam nicht richtig bei ihr an. Die Schmerzen türmten sich auf, rissen an jeder Seite ihres Körpers, stachen zu wie tausende Messer und Nadeln, bohrten sich tiefer, dass sie irgendwann nur noch aus vollem Halse schreien konnte. Catherine wand sich und warf sich hin und her, da sie diesen Schmerzen entkommen wollte. Lestat entließ sie sofort aus seinen Armen, doch ließ mit den Augen nicht von ihr ab. Das Sterbliche in Catherine starb. Es starb bei allen unter enormen Schmerzen. Sie musste diese Schmerzen alleine hinter sich bringen. Sie wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass er hier war, denn er bezweifelte auch, dass sie ihn vorher erkannt hatte. Wahrscheinlich hatte sie nur sein Blut und dessen Wichtigkeit für sie erkannt, aber nicht ihn als Person. Er konnte nur hier sitzen und warten, bis es vorbei war. Lea zuckte zusammen, als ein lauter Schrei ertönte und wollte schon aus dem Salon eilen, in den Marius sie gebracht hatte, da Lestat mit Catherine allein sein musste. Louis hielt sie zurück und schüttelte den Kopf. „Das ist normal. Es ist in Ordnung.“ beruhigte er sie, doch Lea schüttelte den Kopf. „Das kann nicht… Gott, das ist furchtbar!“ rief Lea und blickte von einem Vampir zum anderen. Sie alle standen mit angespannter Miene irgendwo im Salon herum und schienen in Erinnerungen versunken. Leas Blick fiel auf Bruyard, der kreidebleich auf dem Sofa saß und immer wieder den Kopf schüttelte. Mitleid stieg in Lea auf. Sie alle und diese gesamten Umstände waren schuld, wenn der alte Arzt einen Herzanfall erlitt. „Lea, es ist in Ordnung. Wir… alle mussten durch diese Schmerzen.“ redete Louis weiterhin auf sie ein, bis sie schließlich nickte und sich in die Arme nehmen ließ. „Warum… Warum hat man diese Schmerzen?“ fragte Lea leise und Louis antwortete: „Der Übergang von der menschlichen Existenz in die neue ist sehr schmerzhaft. Der Mensch und all das Sterbliche in ihm sterben, doch seine Seele bleibt.“ „Ihr wisst auch nicht genau, was geschieht, nicht wahr?“ „Nein, das wissen wir nicht. Es hat uns bisher auch nicht sehr interessiert, was mit unseren Körper geschehen ist. Wichtig war, ob wir noch wir selbst sind, ob wir verdammt sind oder einfach ….“ „Ein Wunder der Natur.“ meinte David, worauf Louis zu ihm blickte und verbesserte: „… oder eine Laune der Natur.“ „Habt ihr euch verändert?“ fragte Lea und löste sich von Louis, da sie das auch von den anderen wissen musste. „Marius?“ „Ja, in gewissen Dingen schon, aber das hatte nicht mit meiner Wandlung zum Vampir zu tun, sondern mit der Zeit, die ich gelebt habe.“ erklärte Marius und blickte zu Armand. „So ist das im Allgemeinen.“ antwortete Armand ausweichend und wandte dann den Blick ab. „Es ist für jeden von uns anders gewesen, aber… Ja, ich denke nicht, dass einer von uns sich sehr verändert hat. Charaktereigenschaften sind erhalten geblieben.“ entgegnete Louis und David nickte. „Catherine wird hinterher also noch Catherine sein?“ fragte Lea unsicher, worauf Armand meinte: „Nun, ihr Lieblingsessen wird nicht mehr… Spaghetti Bolognese sein, aber ansonsten… Ja, Catherine wird Catherine sein.“ Catherine fühlte sich sonderbar leicht, als die Schmerzen aufgehört hatten und sie die Augen aufschlug. Sie erinnerte sich nicht daran, doch sie musste in einem Zustand ähnlich einer Ohnmacht befunden haben, denn Lestat hielt sie in den Armen und blickte auf sie hinunter. Er lächelte, doch ihr entgingen die blutigen Tränen nicht, die in seinen Augen glitzerten, weshalb sie ihre Hand an seine Wange hob und ihn sanft streichelte. „Es tut mir leid, Catherine.“ flüsterte er, worauf sie den Kopf schüttelte. „Du hast die richtige Entscheidung getroffen.“ versicherte sie ihm und wunderte sich, dass ihre Stimme nicht rau klang, obwohl sich ihre Kehle so anfühlte. Ihre Hand tastete nach ihrem Hals und sie richtete sich langsam auf. Das enge Gefühl ließ nicht nach und sie räusperte sich zweimal, doch auch dann wurde es nicht besser. „Du hast Durst, Catherine.“ erklärte Lestat und erhob sich vom Bett, reichte ihr die Hand und zog sie zu sich. „Durst? Ich habe…“ begann Catherine und blickte sich in ihrem Zimmer um, da ihre Augen nun so viel mehr sahen und wahrnahmen. „Es ist unglaublich.“ meinte sie tonlos und blickte Lestat an, der lächelnd nickte, als sie sich von ihm löste und ihr Zimmer inspizierte. „Ich bin so verwirrt. Ich kann meine Gedanken nicht ordnen… Ist das normal?“ „Ja, keine Sorge. Das kommt alles wieder. Die ersten Eindrücke können überwältigend sein.“ beruhigte Lestat sie. Apropos überwältigend: Noch nie zuvor hatte er so etwas Schönes gesehen wie Catherine. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Sie schritt in ihrem Nachthemd leichtfüßig und barfuß über das Parkett und sah dieses und jenes an, bewegte sich mit grazilen Bewegungen weiter und berührte mit vorsichtigen Fingern die Vorhänge und die Möbel. Ihr Haar hing glänzend und lang ihren Rücken hinab und schlug sanfte Wellen, schlängelte sich über ihre Schultern und wippte mit jedem ihrer Schritte, als sie sich zu ihm umdrehte. Ihre Augen strahlten dunkelgrün und funkelten wie Sterne aus Smaragd. Ihre hellroten, beinahe roséfarbenen Lippen sahen so unglaublich weich und zart aus. Ihre Haut war nicht so sehr viel blasser als zuvor, doch sie hatte auch immer vampirisches Blut in sich gehabt, was das erklärte. Catherine wusste, dass Lestat von ihrem Anblick gefesselt war, kam auf ihn zu und lächelte ihn an, was ihre weißen Zähne und auch ihre neuen Eckzähne aufblitzen ließ. „Wie bist du darauf gekommen?“ fragte sie, was er nicht ganz verstand. „Worauf?“ fragte er und teilte einen Augenblick ihre Verwirrung, weshalb sie leise lachte. „Die Lösung.“ antwortete sie und wartete ab, bis er sich gefangen und seine Gedanken geordnet hatte. Lestat streichelte ihr Haar und betrachtete sie, während er gerne ihre Fragen noch länger ausgeblendet hätte. Er konnte noch immer nicht recht glauben, dass sie hier vor ihm stand und von nun an wie er ein unsterbliches Leben besaß. „Du hast gesprochen. Nun, nicht mit uns, aber du hast dich mit irgendjemandem unterhalten.“ meinte er schließlich, als ihm Catherines ungeduldiger Blick auffiel. „Margaret Barcley.“ entgegnete Catherine und nickte, da sie sich nun wieder deutlich daran erinnerte. „Da war so viel Blut. Es regnete Blut und die Luft war heiß und alles verlassen. Leer. Ich dachte zuerst, es sei die Hölle, Lestat, aber… es war die Zukunft.“ fügte Catherine hinzu und zitterte leicht. „Catherine, es ist alles in Ordnung.“ versicherte er und wollte sie in seine Arme nehmen, doch sie nickte vorher und meinte: „Ja, jetzt. Es war die Zukunft, wie sie eingetreten wäre, wenn ich einfach gestorben wäre. Das hat Margaret mir gesagt. Und dann meinte sie, dass die Antwort in meinem Traum zu finden sei.“ „Dein Traum, der nie vollständig war. Bis jetzt.“ erwiderte Lestat und konnte allmählich die verschiedenen Sätze von Catherine einem größeren Sinn zuordnen. „Du hast die Worte gehört, die Margaret kurz vor ihrem Tod gesprochen hat… und du hast die richtige Entscheidung getroffen.“ „Ich bin sehr froh.“ gestand Lestat und fuhr fort: „Ich bin sehr froh, dass ich dich nicht verlieren musste, Catherine.“ „Nur: wie bist du darauf gekommen?“ wollte sie wissen, doch er strich mit seinen Fingern vorsichtig und beinahe ungläubig über ihre Lippen. Langsam zog er sie dichter zu sich und senkte seine Lippen auf ihre, da er dieses Verlangen nicht mehr länger unterdrücken konnte. Catherine umschlang ihn mit ihren Armen und erwiderte seine Zärtlichkeit nur allzu gerne. Er fühlte sich gegen ihren Körper so anders an und doch so vertraut. Sie vergaß, dass sie ihn etwas gefragt hat, und presste sich an ihn. Er sollte sie nie wieder loslassen, denn mit ihm wollte sie die Ewigkeit verbringen, die nun auf sie wartete. Die Ewigkeit. Catherine legte den Kopf in den Nacken, als Lestat mit seinen Lippen ihren Hals berührte. Seine Zähne knabberten an ihrer Haut, was Catherine leise lachen ließ. „Ich vermute, ich werde niemals genug von dir bekommen.“ sagte er leise und sie spürte seinen Atem dabei über ihre Haut streichen. „Ich vermute, damit werde ich kein Problem haben.“ gab sie zurück und Lestat hob den Blick wieder zu ihr, küsste sie erneut auf die Lippen, ehe sich Catherine von ihm löste, da ihr einfiel, dass die anderen irgendwo warten mussten. Lestat gab ein unwilliges Geräusch von sich, ließ sie aber zu ihrem Schrank gehen, aus dem sie sich frische Kleidung holte. Er war zwar auch unglaublich froh, wenn er sie nur ansehen konnte, aber dennoch konnte er es kaum ertragen, auch nur wenige Zentimeter von ihr getrennt zu sein. Er hätte sie beinahe verloren. Er hatte sie schon verloren geglaubt. Und nun war sie hier bei ihm. Und sie blieb. Sie wollte bleiben. Seine Königin, die sein Herz in ihren Händen hielt. Kapitel 119: Ein kostbares Gut ------------------------------ Ein kostbares Gut Catherine stand noch immer unschlüssig vor ihrem Schrank und zog schließlich eine Jeans und eine weiße Bluse heraus, die sie immer gern getragen hatte. Sie wusste, dass Lestat jede ihrer Bewegungen beobachtete, doch sie fühlte sich alles andere als beobachtet. „Die anderen warten bestimmt unten, oder?“ „Ja, und sie werden wissen, dass wir bald hinunter kommen werden.“ meinte Lestat und ließ einen traurigen Ton mitschwingen, der Catherine lächeln ließ. Sie streifte das Nachthemd über den Kopf und zog sich nackt aus, was Lestat beinahe um den Verstand brachte. Noch ehe er sich dessen bewusst war, bewegte er sich auf sie zu und schlang die Arme um ihren Körper. Catherine biss sich lächelnd auf die Lippen und ließ sich von ihm umdrehen. Seine Lippen fanden ihre und seine Hände berührten die nackte Haut ihres Rückens und ihrer Oberarme, als er sie dich zu sich zog und an sich presste. „Hast du es sehr eilig?“ fragte er zwischen mehreren Küssen und hob sie auf seine Arme, als sie nur den Kopf schüttelte. Lestat trug Catherine zum Bett zurück und küsste ihre Schultern, ihr Schlüsselbein und liebkoste ihre Brüste, als jemand laut und störend an die Tür klopfte. Lestat murmelte etwas, doch es klopfte noch einmal - hartnäckiger. Catherine nahm Lestats Kopf in die Hände und blickte lächelnd zu ihm nach oben. „Wir sollten vielleicht wirklich zu den anderen.“ bemerkte sie, worauf Lestat trotzig den Kopf schüttelte. „Lestat…“ begann Catherine und küsste ihn auf den Mund. „Wir haben nun das Kostbarste, was es gibt. Zeit.“ fügte sie hinzu, worauf er schließlich lächelte und nickte. „Das klingt sehr gut.“ gab er zu. Lestat richtete sich auf und sah Catherine zu, wie sie sich anzog, ehe er zur Tür ging, um diese einen Spalt zu öffnen. Niemand stand davor, also schloss er daraus, dass wieder alle unten warteten. Kopfschüttelnd schloss er die Tür wieder und wandte sich zu Catherine um, die fertig angezogen in ihrem Zimmer stand. „Wie sehe ich aus?“ fragte sie und lächelte. „Sehr schön… wunderschön…. bezaubernd… atemberaubend…“ flüsterte er und betrachtete sie, wie sie sich mehrmals im Kreis drehte und dann eilend auf ihn zukam. „Lestat, ich war noch niemals in meinem Leben so glücklich wie jetzt.“ gestand sie ihm, worauf er nickte, und mit einer Haarsträhne von ihr spielte. „Ich hätte niemals gedacht, dass uns dieses Abenteuer an diesen Punkt bringen würde. Es war fast zu viel, um darauf zu hoffen.“ meinte er und schloss sie noch einmal in die Arme, ehe sie sich von ihm löste. „Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie bist du auf die Lösung gekommen?“ fragte Catherine noch einmal, worauf er nickte. „Du hast doch gesagt, dass dein Tod nichts ändern würde, oder?“ fragte er, worauf sie nickte und er fort fuhr: „Ich wusste nicht mit Sicherheit, dass es die Lösung ist, Catherine. War sie es? Ich meine… Sind die gedankenlosen Vampire verschwunden?“ „Nein, Lestat, leider nicht….“ „Wie kann es dann die Lösung gewesen sein?“ fragte Lestat und wich entsetzt einen Schritt zurück. „Wie kannst du sagen, dass es die richtige Entscheidung war, wenn die Welt…“ Catherine schüttelte den Kopf und legte Lestat zwei Fingerspitzen auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Es war die Lösung, Lestat. Die gedankenlosen Vampire sind nicht verschwunden, aber sie sind kein Problem mehr, dem wir nicht gewachsen wären. Der herrschende Bann ist gebrochen.“ entgegnete sie, streichelte seine Wange und spürte, wie Lestat sich entspannte. „Ich denke, ich muss eine Menge erklären…. auch den anderen.“ meinte er mit gedämpfter Stimme und blickte Catherine in die Augen. „Du bist derjenige, der das alles durchschaut hat, der den rettenden Einfall hatte… der Held. Ich verstehe nicht, warum dich das betrübt.“ antwortete Catherine, als sie ihn prüfend ansah. „Ich bin nicht betrübt, Catherine, und ich bin auch kein Held.“ widersprach er und zog Catherine wieder zu sich. „Komm’, die anderen warten schon.“ meinte er und küsste sie auf die Wange, während sie gemeinsam das Zimmer verließen. Catherine und Lestat konnten beide die Stimmen hören, die aus dem Salon durch die geschlossene Tür drangen. Sie zögerte und griff nach Lestats Hand, der daraufhin stehen blieb und sie fragend anblickte. „Was ist wenn… Ich weiß nicht….“ begann sie, doch Lestat strich ihr nur eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf. „Es wird sich nichts verändern. Marius, David, Louis und Armand haben dich vorher gemocht und werden dich auch jetzt noch mögen. Lea wird in dir immer noch dieselbe Catherine sehen, die du warst. Es wird vielleicht etwas dauern, aber da bin ich mir sicher.“ „Wirklich?“ „Wirklich. Sie werden dich wahrscheinlich anstarren, weil du dich verändert hast, aber willst du ihnen das wirklich verübeln? Diese Wandlung ist immer etwas Besonderes, wenn man den Menschen von früher kennt.“ „Habe ich mich sehr verändert?“ wollte Catherine wissen, worauf Lestat den Kopf schüttelte. „Nein, Catherine. Dein Aussehen mag ein bisschen anders sein, aber dein Wesen wird bleiben. Nichts wird sich ändern…“ versicherte Lestat und grinste. „Was?“ fragte Catherine, als ihr das auffiel. „Nun, ich muss zugeben, dass ich ein bisschen gespannt auf Armands Gesicht bin. Er wird es sich in Zukunft bestimmt dreimal überlegen, ob er dir dumm kommen möchte, denn immerhin kannst du ihm jetzt selbst eine Ohrfeige verpassen, die ihm Schmerzen bereitet.“ „Ich will ihn nicht verschlagen!“ meinte Catherine und schüttelte den Kopf. „Das sollst du auch nicht, aber es ist gut zu wissen.“ gab Lestat zurück. Catherine lachte leise und öffnete dann die Tür zum Salon, was alle Stimmen sofort verstummen ließ. Sechs Augenpaare fixierten sie neugierig und ungläubig, doch keiner von ihren Besitzern sagte etwas. Lea erhob sich stumm und blickte Catherine an. Louis befand sich dicht hinter ihr, als wolle er sie zur Vorsicht mahnen. Marius neigte den Kopf und Armand starrte Catherine gebannt an, als sehe er die heilige Madonna in Person. David schüttelte den Kopf, doch eher aus Überraschung, und Bruyard konnte nicht glauben, was er sah. „Lea, du spürst es, nicht wahr? Der Bann ist gebrochen.“ ergriff Catherine das Wort, da sie fand, dass irgendjemand etwas sagen sollte. Lea nickte stumm, ehe sie ihre Stimme fand und stimmte Catherine dann zu: „Ja, ich habe es gespürt. Ich spüre es. Es hat sich etwas verändert, aber ich kann nicht genau sagen, was das war.“ „Ich bin mir sicher, dass wir das herausfinden werden.“ meldete sich David zu Wort und blickte Catherine mit einem schuldbewussten Gesichtsausdruck an. „Wir sollten der Reihe nach vorgehen. Immer schön der Reihe nach…“ meinte er, doch er brach ab, als Lea vorstürmte und Catherine um den Hals fiel. Sie lagen sich still in den Armen und keine von beiden weinte, doch trotzdem war klar, dass beide sehr ergriffen waren. Lea hatte Catherine wie alle anderen für verloren geglaubt, aber in ihren jungen Jahren und nach all der Nähe und Verbundenheit, die sie zu Catherine empfand, hatte dieser drohende Verlust viel stärker auf ihr gelastet, sodass es ihr nun wirklich egal war, dass Catherine ein Vampir war. Sie war noch Catherine. Das war das einzige, das wirklich zählte. „Entschuldige.“ meinte sie, als sie Catherine wieder losließ. „Ich wollte dich nicht so überfallen. Ich bin nur so froh, dass du … nicht tot bist.“ Catherine lächelte und Lea fixierte ihre Eckzähne, weshalb sie schnell den Mund wieder schloss. „Die sind cool.“ meinte Lea, worauf Catherine lachen musste und meinte: „Ich denke, ich muss mich selbst noch daran gewöhnen, dass ich nicht mehr so einfach lachen kann.“ Lestat legte ihr den Arm um die Schultern und blickte sie an. „Ich werde dir helfen, dich einzugewöhnen, aber in der ersten Zeit werden wir andere Menschen wohl meiden müssen.“ Catherine nickte und blickte noch einmal vom einen zum anderen. Ihre Gesichter hatten sich entspannt, obwohl sie ihr vorher nicht angespannt vorkamen. Sie waren erleichtert, dass es vorbei war, stellte Catherine fest, und bemerkte auch, dass sie Davids Vorschlag folgen sollten. „Lestat wollte uns die Prophezeiung erklären, soweit ich das verstanden habe. Und ich habe auch noch einiges zu sagen, glaube ich.“ meinte Catherine und Lestat nickte. „Also, dann ist es wirklich am besten, wir gehen nach der Reihe vor.“ fügte sie hinzu und David übernahm die Leitung. „Daniele hat uns also angelogen. Catherines Tod hätte die Existenz der gedankenlosen Vampire nicht beendet.“ sagte er, während alle um den Couchtisch auf den Sofas Platz nahmen. Lestat setzte sich in den Sessel, auf dessen Lehne sich Catherine setzte, sodass sie ihm den Arm um die Schultern legen konnte. Armand grinste, als wolle er sagen: ‚Jetzt sind sie wirklich unzertrennlich.’, worauf Lestat Catherine einen vielsagenden Blick zuwarf, als ob er auf die Ohrfeige warten würde. Sie schüttelte nur den Kopf und lächelte in sich hinein, bevor sie auf Davids Worte reagierte. „So kann man das nicht sagen. Er sagte, wenn ich sterbe, versiegt die Leben spendende Quelle der Schöpfung. Darüber hinaus sagte er, dass die Existenz der Schöpfung an mein Blut, meine Seele und mein Leben gebunden ist. Mein Leben hätte ich verloren, aber meine Seele hätte weiterexistiert und so auch die Schöpfung.“ erklärte sie, worauf David sie überrascht anblickte. „Oh, mein Gott! Dann hätten wir dich sterben lassen… und es hätte nichts geändert?“ fragte er, worauf Catherine die Schultern zuckte. „Ich denke, das war es, was ich so spät erfahren musste. Ich konnte es nicht vorher wissen, denn erst musste ich an der Schwelle des Todes stehen. Margaret Barcley hat mit mir gesprochen und hat mich schließlich auf die Prophezeiung gebracht, die ihr zum Glück entschlüsselt habt.“ „Nun, es war eigentlich nur Lestat…. und der Rest von uns weiß immer noch nicht, wie das jetzt alles passiert ist.“ meinte Armand und Lestat nickte, da er endlich erklären wollte. Kapitel 120: Bestimmungen ------------------------- Bestimmungen Catherine spürte, dass er angespannt war, doch in seiner Stimme war nichts dergleichen zu hören, als er zu sprechen begann. „Lea, kannst du mir noch einmal den Block geben, auf den du die Prophezeiung aufgeschrieben hast?“ fragte er und Lea erhob sich, um ihn zu holen. „In gewisser Weise erklärt die Prophezeiung die Lösung, aber auch Danieles Worte hätten uns darauf bringen können, dass nicht Catherines endgültiger Tod der Schlüssel ist.“ fügte er hinzu, als Lea ihm den Block reichte. Er blickte in die Runde und sah, dass ihn alle gespannt anschauten. Dann senkte er den Blick und las Zeile für Zeile der Prophezeiung noch einmal durch, um dann den Inhalt zu erklären, der ja nicht ohne weiteres zu erkennen war. „Der Tag wird kommen – und mögen Jahre vergeh’n – da jemand erscheint, der vom Schicksal auserseh’n.“ las er vor und fügte an: „Wir waren uns einig, dass es sich um Catherine handeln muss, da die folgenden Zeilen auf sie zutreffen.“ Catherine nickte und blickte ihm über die Schulter, sodass sie im richtigen Wortlaut die nächste Zeile ablesen konnte. „Doch ihm sollen jeweils dreimal sieben gewesen sein. Das bezieht sich auf meine Kindheit, in der ich nichts über die Bruderschaft wusste, die Ausbildung und schließlich meinen Dienst im Namen der Bruderschaft, die jeweils sieben Jahre betrugen.“ erklärte sie, dann übernahm Lestat wieder. „Als nächsten haben wir den Grund, warum der Auserwählte kommen soll oder was er tun soll, nämlich die wütende Rache des enttäuschten Herzens erfüllen und die folternde Pein der gebrochenen Seele zu beenden.“ „Diese Zeilen handeln von Margaret Barcley. Sie wurde enttäuscht und konnte keine Ruhe finden… beziehungsweise: man ließ sie nicht. Es war einerseits ihr Hass und ihre Wut, die ihr das nicht gestatteten…“ „… und andererseits meine Familie, also Elizabeth und Elatha, die versuchten, ihre Seele in dir zu erwecken.“ schloss Lea und nickte. „Genau. Dann geht es weiter, wie das Ganze geschehen und anfangen soll. Indem schweres Blut sich ergieße und Feuer entfache.“ meinte Lestat weiter und Catherine sagte: „Da gibt es mehrere Möglichkeiten, aber ich denke, sie sind alle richtig. Die erste Möglichkeit ist, dass damit der Beginn des neuen Jahres 2007 gemeint war. Das würde passen, denn zu diesem Zeitpunkt waren genau sieben Jahre Dienst vorbei und mein Blut ist in den Kamin geflossen – allerdings mit Wasser verdünnt, was bedeuten könnte, dass es nicht ganz den erwarteten Effekt hatte.“ „Da war ich hier. Ich habe deine Wunden versorgt.“ meinte Bruyard und Catherine nickte. „Eine weitere Möglichkeit sind die Geschehnisse an Beltane. Das Blut der Hexen vermischte sich mit den Flammen.“ meinte Catherine und fügte hinzu: „Und es könnte das gemeint sein, was ich gesehen habe, als ich kurz davor war zu sterben. Es regnete Blut und es sah aus, als würde es die Flammen nähren und anfachen.“ „Von diesen Visionen musst du mir unbedingt mehr erzählen.“ warf David ein und war schon ganz begierig darauf, sie Wort für Wort festzuhalten und nach Parallelen zu suchen. „Was noch geschehen sollte: Das Rad des Schicksals sollte das Sein erneut drehen.“ fuhr Lestat fort und erklärte selbst: „Darin sehe ich das Namensritual der Hexen. Einerseits wurde da aus einem Ritter der Bruderschaft eine Hexe. Andererseits wurde aus Catherine, obwohl Morair aus ihr werden sollte, Lasair.“ „Ja, das ist durchaus…“ begann David, doch die Worte fehlten ihm, da er es nicht gewohnt war, Neuigkeiten und Deutungen zu erfahren, und nicht zu erklären. Lestat lächelte flüchtig, als ihm das auffiel, wandte sich aber dann den weiteren Zeilen zu. „Die nächsten Zeilen waren ganz neu für uns. Ich muss gestehen, dass ich nicht alles verstehe und es nur deuten kann, wie ich meine, dass es richtig ist.“ „Wir werden vielleicht gemeinsam auf jede Einzelheit kommen.“ entgegnete Catherine, worauf er nickte. „Wenn Licht und Dunkelheit sich miteinander vereinen… Darin sehe ich unsere Vereinigung, Catherine. Du bist das Licht. Ich bin die Dunkelheit.“ „Und dass ihr euch vereint habt, wissen wir ja alle.“ warf Armand ein, worauf ihm Catherine und Lestat finstere Blicke zuwarfen, und er verstummte. „Wenn die silberne Sonne sich am Himmel offenbart…“ murmelte Lea, die hinter Lestat getreten war, um ihm über die Schulter sehen zu können. „Sie silberne Sonne ist der Mond.“ meinte Marius und Lestat nickte. „Catherine erzählte mir, dass sie sich verändert fühlte. Sie war nachts hellwach und konnte nicht schlafen. Ihr Rhythmus hat sich verändert – und ich denke, dass dieser Satz heißen soll, dass der Mond zu ihrer Sonne wurde.“ erwiderte Lestat. „Das gibt auf jeden Fall Sinn. Ihr gesamtes Wesen hat sich langsam - aber sicher – gewandelt und die vampirische Seite allmählich die sterbliche dominiert.“ meinte Bruyard, was Catherine überraschte, da sie nicht erwartet hatte, dass er gemeinsam mit ihnen raten würde. „Catherine hat also die Nacht als Tag akzeptiert…“ sagte Armand und fragte: „Wie geht es weiter?“ „Wenn der unsterbliche, lebende Fluss für einen, den reinen Augenblick in gnadenlosem Stillstand leblos verharrt.“ las Lea vor und bemerkte, dass es sie leicht schüttelte. „Catherines Blut ist der lebende Fluss. Und er verharrte einen Augenblick in Stillstand, als ich von ihr getrunken hatte, um sie zu wandeln. Einen Augenblick lang schlug ihr Herz nicht und auch ihr Blut floss nicht.“ „Das Blut floss irgendwann weiter, doch das Herz… blieb stumm.“ murmelte Catherine leise, worauf Lestat nickte. „Und wenn unbekannter Bruder zu ewigem Vater ernannt.“ fuhr Catherine fort und blickte Lestat fragend an. „Ja, ich denke, jetzt sind wir alle an dem Punkt, an dem Lestat uns die große Erklärung präsentieren sollte, die er bisher vor uns allen geheim gehalten hat.“ meinte Armand und blickte zu Marius, der den Kopf schüttelte. „Ich wusste Bescheid, aber ich bin nicht so schnell darauf gekommen wie Lestat.“ meinte er und nickte Lestat zu, der sich Catherine zuwandte. „Margaret Barcley erhielt Blut von einem Vampir.“ erklärte er, obwohl Catherine und auch jeder andere im Raum das wusste. „Dieser Vampir, Catherine, dieser Vampir mit dem schwarzen Haar und den schwarzen Augen war mein Schöpfer Magnus.“ Armand fluchte etwas lauter, als er es beabsichtigt hatte, und blickte Marius fragen an, als ob er Lestat seine Worte nicht glauben würde, doch Marius nickte. Louis, David und Lea blickten sich unsicher an, da sie besagten Vampir nicht kannten und Armands Verhalten nicht verstanden. Catherine sagte nichts, sondern wartete, dass Lestat weitersprach. Schließlich zuckte Lea mit den Schultern. „Das Blut meines unsterblichen Vaters, Catherine, ist also das Erbe, das du auch in dir trägst… Ich musste daraus schließen, dass ich gemeint bin und ich dich wandeln muss.“ „Wir sind also… Geschwister – in der Hinsicht. Das ist… verwirrend.“ meinte sie kopfschüttelnd „Das ist Inzest, Catherine, sonst gar nichts.“ meinte Armand, der sich inzwischen gefangen hatte, begegnete dann aber Lestats wütendem Blick, weshalb er meinte: „Nein, Liebes, das ist… so funktioniert das nicht bei uns. Keine Sorge.“ „Klappe!“ meinte Catherine und blickte Armand nicht einmal an, sondern behielt ihren Blick auf Lestat gerichtet, als würde sie immer noch überlegen, was sie sagen sollte. „Catherine, ich weiß, dass dich das entsetzen muss, aber ich…“ begann Lestat, doch Catherine schüttelte den Kopf und strich ihm über die Wange. „Es ist in Ordnung.“ versicherte sie und fragte: „Wie geht die Prophezeiung weiter?“ „Hm, bla bla bla… wird Blut durchbrechen alles, was früher gebannt.“ meinte Lea und Catherine erklärte: „Der Bann ist gebrochen. Das bedeutet, dass die Kontrolle der Bruderschaft über die Menschen zerschlagen ist.“ „Ja, und die gedankenlosen Vampire sind vernichtet.“ meinte Louis. „Nicht direkt, aber so gut wie.“ widersprach Catherine, schüttelte den Kopf, als Louis nachfragen wollte, und meinte: „Gleich.“ „Die letzte Zeile lautet dann noch… weil mein uns sein Erbe in mir nicht gänzlich verbrannt.“ las Lestat vor und fügte hinzu: „Das meinte George. George hat das Blut geerbt und vererbte es weiter, sodass sich die Prophezeiung in Catherine erfüllen konnte.“ Catherine nickte und Lestat legte den Block auf den Couchtisch. Lea setzte sich zurück auf ihren Platz und Schweigen breitete sich aus, bis Armand schließlich meinte: „Es ist schon seltsam. Ich habe die ganze Zeit auf einen spektakulären Endkampf gewartet… und das war’s jetzt?“ „Nein, du hast nicht zugehört.“ sagte Louis, worauf Armand eine Grimasse zog. „Catherine, was meintest du damit, dass die gedankenlosen Vampire nicht vernichtet sind?“ „Mein Tod hätte nichts an der Schöpfung geändert. Daniele sagte, die Schöpfung sei an mein Blut, meine Seele und mein Leben gebunden worden. Was wäre geschehen, wenn ich gestorben wäre?“ „Du wärst jetzt tot.“ meinte Armand. „Danke. Darauf wäre jetzt sicherlich niemand sonst gekommen.“ entgegnete Lestat und ließ Catherine fortfahren: „Um etwas zu bewirken, hätte an allen drei Bestandteilen die Verbindung gelöst werden müssen. Mein Leben mit meinem Tod. Kein Problem, aber die anderen beiden Faktoren? Mein Blut wäre auch nach meinem Tod noch gleich geblieben – mit gleich bleiben meine ich, dass es sowohl menschliche als auch vampirische Eigenschaften aufgewiesen hätte. Und meine Seele? Nun, die ist eh unsterblich.“ „Verdammt! Dein Tod hätte tatsächlich nichts geändert!“ rief David zur Überraschung aller anderen. „Durch die Wandlung zum Vampir änderte sich mein Blut allerdings. Es war das Blut von Lasair, das dieses gesamte Chaos verursacht hat. Das Blut, das beide Teile enthielt… und nun ist mein Blut ein anderes. Ich bin Catherine.“ „Nein, so einfach ist das nicht. Wie willst du das mit Sicherheit sagen?“ fragte Lea. „Ich habe keine Kräfte mehr, Lea. Ich besitze keine magischen Fähigkeiten mehr. Sie sind weg.“ „Das ist furchtbar!“ rief Lea, doch Catherine schüttelte den Kopf. „Es ist in Ordnung. Ich hatte sie nicht allzu lange und werde ihnen auch nicht hinterher trauern. Das Kapitel meines Lebens ist abgeschlossen. Lasair existiert nicht mehr.“ „Wenn Lasair aber nicht mehr existiert, dann dürften doch auch die gedankenlosen Vampire nicht mehr existieren, oder nicht?“ fragte Bruyard, der wirklich verstehen wollte, über was die anderen da sprachen. „Nein. Daniele sagte, dass die Leben spendende Quelle der Schöpfung versiegt, und damit hat er nicht gelogen. Ich unterstelle ihm, dass er selbst nicht wusste, was genau er uns verraten hat, aber mit meinem Tod, bei dem mein Blut gewandelt und somit Lasair getilgt wurde, verloren die gedankenlosen Vampire eine entscheidende Fähigkeit.“ „Welche?“ fragte David und Lestat nickte, da er verstand, worauf Catherine hinaus wollte. „Sie können keine Menschen mehr zu Vampiren machen. Sie können sie nur töten, aber sich nicht mehr vermehren.“ sagte er und Catherine stimmte ihm zu. „Und darum ging es von Anfang an bei den Plänen der Bruderschaft. Die Erde mit unglaublichen Schrecken überziehen.“ fügte Catherine hinzu und blickte zu Armand, bevor sie meinte: „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich finde, wir sollten dem ein Ende bereiten.“ Armand nickte und blickte Catherine fest in die Augen, als wäre er noch niemals so bereit gewesen wie zu diesem Zeitpunkt. „Wir jagen sie, spüren sie auf, wo immer sie sich verstecken mögen und wie viele es auch sind, und dann vernichten wir sie. Einen nach dem anderen.“ sagte er und die Vampire nickten einstimmig. „Das ist der Augenblick, in dem ich mich verabschieden sollte.“ bemerkte Bruyard und erhob sich langsam von seinem Platz. Catherine blickte ihn an und nickte traurig, ehe sie sich ebenfalls erhob. Sie geleitete ihn mit Lestat durch die Eingangshalle und zur Tür, nachdem er sich von seinen neuen ungewöhnlichen Bekannten verabschiedet hatte. „Catherine, ich wünsche dir alles Gute… für deine Zukunft und euren Kampf.“ „Ich danke Ihnen, Monsieur Bruyard. Ich danke Ihnen für alles.“ meinte sie lächelnd und war überrascht, dass er ihre beiden Hände in seine nahm und sie fest drückte. „Deine Eltern und dein Bruder… unter anderen Umständen… Nun, ich bin mir sicher, dass sie sehr stolz auf dich wären.“ „Ja, ich denke, Sie haben Recht.“ stimmte Catherine ihm zu und bemerkte das traurige Lächeln, das um Bruyards Mundwinkel spielte. „Es ist sonderbar, welche Wege das Leben – und auch der Tod – für die Menschen bereithält. Es ist sonderbar, Catherine, und lass’ dir von einem alten Mann gesagt sein: Auch wenn du noch so sehr versuchst, die Welt zu verstehen, es wird dir nie ganz gelingen. Irgendetwas bleibt immer zurück, das du nicht lösen kannst, das du nicht erklären kannst, das dich überrascht.“ Catherine nickte. Bruyard entließ ihre Hände und verabschiedete sich von Lestat, ehe er die Villa verließ und die Stufen zu seinem Wagen hinunterging und wenig später die dunkle Einfahrt entlang fuhr. Lestat legte den Arm um Catherines Taille, als sie ihm nachsahen, bis er um die Ecke verschwunden war, und spürte, wie Catherine den Kopf an seine Schulter bettete. „Ich dachte, als ich das mit Magnus erzählt habe, dass du sehr verletzt bist, aber offenbar bist du das nicht. Wieso bist du nicht wütend auf mich, obwohl ich von Magnus geschaffen wurde, wo er doch so viel Unheil angerichtet hat?“ „Ich kann doch nicht… Lestat, ich hätte mir zwar gewünscht, dass du es mir vorher gesagt hättest, aber das ist mir jetzt gleichgültig.“ meinte sie und führte ihn wieder mit sich in die Villa hinein, wo sie in der Eingangshalle stehen blieben. „Du sahst so unglücklich aus… Nein, nicht direkt unglücklich, aber…“ meinte Lestat, doch Catherine legte ihm zwei Finger über die Lippen. „Ich war von der Tragweite einzelner Handlungen überwältigt, das ist alles. Das alles… Magnus gibt Margaret sein Blut. George ist Stammvater einer neuen Familie mit diesem Blut. Margarets Prophezeiung. Und hier sind wir beide und stellen fest, dass genau das eingetreten ist, was eintreten sollte. Verstehst du, was ich meine?“ fragte Catherine und Lestat nahm sie in die Arme. „Ja, ich denke schon. Wir sind zusammen und offenbar füreinander bestimmt.“ sagte er und sie nickte, ehe sie an ihr Vorhaben denken musste. Sie würden die gedankenlosen Vampire jagen und vernichten – ganz wie Armand es ausgeführt hatte. Und sie würden siegen. Da war sie sich ganz sicher. Lea würde sie wahrscheinlich begleiten, denn erstens konnte sie sonst nirgends hingehen und zweitens war sie nicht wehrlos, was auch Louis früher oder später würde einsehen müssen. Catherine selbst musste ihre neuen Kräfte kennen lernen, doch sie war sich sicher, dass Lestat ihr helfen würde. Er würde sie unterstützen. Er würde seine Ewigkeit mit ihr teilen. Und es würde wunderbar werden. Jeder Schritt ihres Lebens und jede Entscheidung hatte sie genau hierher geführt und es war seltsam, doch zum aller ersten Mal, fühlte sich Catherine wirklich dort angekommen, wo sie sein wollte. „Ich denke, Bruyard hat Recht.“ meinte sie leise und Lestat lächelte. „Ja. Irgendetwas wird es immer geben, das uns noch überraschen kann.“ entgegnete er und blickte sie an. „Du hast mich überrascht.“ gestand er und sie lächelte. „Wann?“ fragte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, doch er schüttelte den Kopf. „Vom ersten Augenblick an und bis in alle Ewigkeit.“ antwortete er und zog sie in einen zärtlichen Kuss, aus dem er sie am liebsten nie wieder entlassen wollte. ..........................................................................ENDE.................................................................................... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)