Das Blut der Lasair von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 109: Gewissensfrage --------------------------- Gewissensfrage Lestat bemühte sich, leise auf der Tastatur herumzutippen, und warf immer wieder einen Blick zu Catherine, die ungestört schlief. Tatsächlich hatte sie Recht gehabt, was die Morde und Todesfälle anging, doch er würde sie nicht wecken, um ihr das zu sagen. Solange sie schlief, musste er ihr nicht sagen, dass sie sterben würde. Und musste. Er hatte Angst vor diesem Moment. Er hatte Angst vor ihrer Reaktion. Er hatte Angst, da er wusste, dass ihm die richtigen Worte fehlen würden, denn die richtigen Worte gab es nicht. Sein Inneres krampfte sich zusammen, wenn er nur daran dachte, welche Worte er benutzen würde… konnte… sollte. Einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und rief seine Gefühle wieder zu Ordnung, ehe er für sich in Gedanken zusammenfasste, was er im Internet erfahren hatte und Schlüsse daraus zog. Überall auf der Welt geschahen seit einigen Tagen schreckliche Morde und grauenhafte Massaker und niemand konnte sie erklären, weshalb in den seriösen Medien erst einmal kaum über sie gesprochen wurde, und sich dann weniger seriöse Nachrichtensender versuchten, mit den wildesten Theorien Geld zu verdienen. Das letzte, was man in solch einer Situation brauchen konnte, war Angst und Panik, doch genau das wurde durch die Informationen geschürt, die von dubiosen Sprechern wissentlich und kontrolliert an die Bevölkerung weitergegeben wurden, und als wissenschaftlich und ernsthaft proklamiert wurden. Massenweise ausgebrochene Insassen einer Irrenanstalt. Oder doch eines Gefängnisses, das die schlimmsten Gewaltverbrecher verwahrt hatte? Es war leicht, diesen Theorien Glauben zu schenken, wenn man sich beruhigen wollte, doch wenn man an der allgemeinen Hysterie gerne teilnahm, so wandte man sich anderen Erklärungen zu. So gab es auch die Annahme, dass die Morde und Massaker aus terroristischem Hintergrund geschahen, weshalb das persönliche Umfeld der Opfer sehr genau und umfassend unter die Lupe genommen wurde – ohne Erfolg, denn es gab keine Verbindung zwischen ihnen, keine gemeinsamen Hintergründe, die auf alle Opfer zutrafen und keine zufrieden stellenden Spuren auf die Täter. Denn was sollte der Gerichtsmediziner sagen, wenn die Leichen zwar Bissspuren, allerdings kein Blut mehr aufwiesen? Und es waren mehrere Täter, denn die Opfer waren überall und beinahe nicht mehr zu zählen. Die ersten sprachen schon aus, was sie befürchteten, ihr Verstand ihnen jedoch zu glauben verbot: Vampire. In Furcht versuchten sie, sich alles in Erinnerung zu rufen, was sie über Vampire aus Filmen und Büchern ‚gelernt’ hatten. Knoblauchknollen. Kruzifixe …. Und keinen Fremden ins Haus einladen! Es war lächerlich, gewiss, das fanden selbst die Leute, die so handelten, doch man konnte ja doch nie genau wissen, was Fiktion und Wahrheit war… Die Politik konnte nichts anderes tun, außer zu versprechen, die Täter zu fassen und zu richten, doch wie sollten die Polizisten und die Justiz das anstellen? Sie waren überfordert und jetzt schon am Ende ihres Lateins. Die Fälle waren scheinbar über Nacht über sie hereingebrochen. Ohne Vorwarnung. Ohne Anzeichen. Ohne Erklärung. Lestat schloss einige Fenster, die er auf seinem Bildschirm gelesen hatte, und wollte schon das Internet verlassen, als ihm eine Kopfzeile ins Auge sprang: ‚Okkulte Vereinigung übernimmt Weltherrschaft!’ Er blinzelte einige Male und folgte dann diesem Artikel, in dem irgendein Mensch die Morde und Massaker als Werk des Satans bezeichnete – im gleichen Atemzug jedoch Sekten und einen Geheimbund als Täter und Mitwisser nannte. So wurde aus dem Werk Satans das Werk für Satan, der nach genug Blutvergießen auf die Erde gelangen könnte, um die endgültige Vernichtung über die Menschheit hereinzubringen. „Alles klar.“ meinte Lestat leise und ironisch und schüttelte den Kopf, wobei er sich eingestehen musste, dass dieser Mensch, der das geschrieben hatte, mit seiner Vermutung im Grunde gar nicht so verkehrt lag. Catherine drehte sich auf die andere Seite und murmelte etwas, was Lestat nicht verstand, doch da sie noch schlief, fragte er sie nicht, weil er sie sonst vielleicht noch aufwecken würde. Er war ein Feigling! Er hatte ihr auch verschwiegen, was sein Schöpfer Margaret Barcley angetan hatte. Er hatte ihr nur gesagt, dass es ein Vampir war. Er hatte verschwiegen, dass er ihn kannte, dass er von ihm abstammte, dass er ihn zwar nicht mochte und nicht sonderlich gut kannte, aber es sein Blut war, das Lestat diese Existenz ermöglicht hatte. Spielte es jetzt noch eine Rolle, ob sie es wusste? Würde es etwas ändern… Nein, das war unwahrscheinlich. Vielleicht würde diese Tatsache nur Verachtung in Catherine wecken, die sich dann gegen Lestat wenden würde, wenn der unbekannte Vampir auf einmal zu Lestats unsterblichem Vater werden würde. Lestat betrachtete Catherine noch eine Weile und schaltete das Notebook aus, ehe er nach unten ging, um seine Neuigkeiten mit den anderen zu teilen. Die Stimmung war gedrückt und nur Lea und Marius blickten auf, als Lestat eintrat. Er brauchte nicht zu fragen, ob sie andere Antworten gefunden hatten – seine und Danieles Worte kamen ihm erneut in stechender Klarheit in den Sinn. „Und wenn Catherine stirbt, versiegt die Leben spendende Quelle unserer Schöpfung.“ tönte in seinen Ohren und wiederholte sich immer wieder, bis er sich setzten musste und die Hände auf die Augen presste. „Gibt es etwas, das Danieles Worte widerlegen kann?“ fragte er schließlich, da er es doch hören musste. „Nein.“ entgegnete Armand, ohne von dem Monitor vor sich aufzublicken. „Es stimmt also, was er gesagt hat.“ murmelte Lestat und schüttelte den Kopf. „Wir wissen es nur noch nicht…“ versuchte Marius, Armands Ausspruch etwas von seiner Bestimmtheit zu nehmen. „Marius… Wir müssen wissen, was Sache ist.“ meinte Lestat und nahm sich die Unterlagen vor, die gerade keiner vor sich hatte. „Gut… Bruyard und David arbeiten an einem Weg, Catherines Gesundheitszustand zu verbessern.“ informierte Louis, worauf Lestat nickte. „Habt ihr eine Lösung… oder einen Lösungsansatz?“ „Nein, noch nicht.“ gab David zu, während der Arzt nicht auf Lestat reagierte, sondern weiterarbeitete. Lestat tat es ihm gleich und wälzte eine Zeit lang Unterlagen, bis seine Gedanken zu Catherine zurückkehrten, die oben in ihrem Zimmer lag und – hoffentlich – schlief. Bruyard und David steckten tief in ihrer Arbeit, berieten sich, besprachen sich und verwarfen Ideen, die sie gemeinsam oder getrennt entwickelt hatten. Lestat versuchte, ihre Stimmen aus seiner Wahrnehmung auszublenden, da sie ihn wahnsinnig machten. „Marius, kann ich dich einen Moment sprechen?“ fragte Lestat schließlich und klappte die Akte zu, die er gerade fertig durchgesehen hatte. „Natürlich.“ meinte Marius und blickte ihn erwartungsvoll an. „Allein.“ entgegnete Lestat, erhob sich und verließ die Bibliothek. Marius erhob sich ebenfalls und folgte Lestat in den Salon hinüber, dessen Türe er schloss, ehe er am Kamin stehen blieb und Lestat betrachtete, der in den Garten hinaus blickte. „Hast du mit ihr gesprochen?“ fragte Marius nach einer Weile vorsichtig. „Nein, ich konnte es noch nicht.“ „Ich verstehe. Hast du ihr gesagt, was in Rom geschehen ist?“ „Ja, unter Auslassung von einigen Details… Sie muss damit nicht belastet werden.“ „Ja, das war sicher gut so.“ pflichtete Marius Lestat bei. Lestat nickte und blickte eine Weile stumm in den Garten hinaus, ehe er sich umdrehte und Marius anblickte. „Ich weiß nicht, wie ich ihr sagen soll, was wir erfahren haben.“ meinte er mit ruhiger Stimme. „Es ist schwierig, aber noch ist nichts entschieden...“ entgegnete Marius und überlegte, wie er Lestat helfen konnte. „Es ist unglaublich, wie unfähig wir sind, über solche Dinge zu sprechen. Tod ist ein Bestandteil unserer Existenz, aber er ist nicht … endgültig.“ begann Lestat und verfiel in nachdenkliches Schweigen. „Ich verstehe, was du meinst. Wir kennen den Tod nicht, obwohl wir ein Teil von ihm sind… Wir sind tot und bewegen uns.“ „Catherines Tod ist endgültig. Sie wird sterben.“ „Lestat, das wissen wir noch nicht.“ „Trotzdem muss ich ihr sagen, was wir wissen, oder?“ „Ich denke, das solltest du, ja.“ stimmte Marius zu und fügte hinzu: „Wann wirst du mit ihr reden?“ „Sobald ich es schaffe, mir einige Worte zurecht zu legen, die mir passend erscheinen… Es gibt keine passenden, ich weiß, aber du kannst mir wahrscheinlich folgen.“ „Ja, ich wünschte, ich könnte dir das abnehmen, aber das solltest wirklich du tun.“ „Ich muss es sein, ja. Und ich will es auch tun – das bin ich ihr schuldig. Ihr und mir.“ meinte Lestat und Marius schwieg, damit er fortfahren konnte. „Ich denke, sie ist stärker als ich es bin. Sie würde keinen Moment zögern und ihr Leben geben, denke ich, aber das will ich nicht.“ „Du möchtest sie nicht verlieren.“ „Einerseits ist es das, ja, aber ich habe auch Angst davor, dass… Ich denke, es ist ziemlich viel verlangt, für die Menschheit zu sterben… Ist sie es überhaupt wert?“ „Das muss Catherine entscheiden.“ erinnerte Marius und Lestat fragte sich, weshalb er so ruhig bleiben konnte. „Ihre Entscheidung…“ murmelte er und schüttelte den Kopf. „Sie hat keine Wahl – nicht nach dem Wissensstand, den wir im Moment haben.“ „Hast du die Hoffnung aufgegeben?“ „Ja, und ich wünsche mir sogar schon, dass ihr eine andere Entscheidung erspart bleibt.“ „Welche?“ „Ohne eine Wahl zu sterben, weil es eben so ist, ist schon schlimm. Was sage ich ihr aber, wenn es nicht mehr so ist? Wie soll sie sich entscheiden, wenn auf der einen Seite das Wohl der Menschheit steht und – nach Danieles Worte – die Schöpfung durch Catherines Tod vernichtet wird, und auf der anderen Seite ihr Leben, da Bruyard eine Möglichkeit gefunden hat, sie zu retten? Ihr Gewissen wird entscheiden, aber können wir erwarten, dass sie die Menschheit über ihr Leben stellt? Wollen wir das wirklich? Ich will es nicht. Ich will Catherine. Also: Nehmen wir an, sie hat die Wahl? Was dann, Marius?“ „Ich weiß es nicht…“ gab Marius zu und Lestat schloss einen Moment die Augen, ehe er den Salon verließ und nach oben zu Catherine ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)