Das Blut der Lasair von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 91: Unter wachsamen Augen --------------------------------- Unter wachsamen Augen „Spann’ uns sich so auf die Folter!“ bat Lea und rutschte auf ihrem Stuhl etwas nach vorne, um einen besseren Einblick in das Buch zu haben. „Es sind Seiten freigelassen worden, die man nachträglich mit Rekrutierungsangaben hätte füllen können.“ meinte sie und gab zu: „Das verstehe ich nicht.“ David nickte und schüttelte dann den Kopf, als könne er auch nichts damit anfangen. Catherine kniff die Augen zusammen und fixierte die erste Textzeile der ersten Seite, die allerdings wie die gesamte Seite nicht mit irgendeinem Schriftzug versehen war. Leere Seiten. Leere Seiten bis zum Jahr 1714, als dann ein gewisser Charles du Ravin in den Dienst der Bruderschaft berufen wurde. Nachdenklich legte Catherine den Kopf schief und blickte über die Tischplatte zu Armand, der ihr direkt gegenüber an dem runden Tisch saß. Langsam drehte er mit seiner linken Hand am dunkelgrünen und beigefarbenen Schirm der Lampe, die nur zur Dekoration in der Mitte des Tisches stand, da ihr Licht bei weitem nicht ausreichte. Heller. Dunkler. Catherine schaute zu Marius und David, die nur vor sich hinblickten, und lehnte sich leicht zurück und gegen Lestats Schulter, der immer noch hinter ihr stand und etwas nach vorne geneigt war. Heller. Dunkler. Heller. Ihr Blick wanderte weiter zu Louis und Lea, die nebeneinander saßen und sich leise unterhielten, doch worum es ging, konnte Catherine nicht verstehen. Dunkler. Heller. Dunkler. Heller. Sie drehten sich bei der Recherche im Kreis, bemerkte Catherine, lehnte sich wieder nach vorne und stützte sich auf die Ellenbogen, sodass das Papier der Chronik näher und in einem anderen Winkel in ihr Blickfeld wanderte. Dunkler. Heller. Dunkler… „Stopp! Mach’ das noch einmal!“ rief Catherine plötzlich und blickte Armand an. „Wie bitte?“ „Drehen! Noch einmal drehen!“ meinte Catherine und blickte wieder auf das Buch vor sich. Armand drehte den Lampenschirm noch einmal um seine Achse und wartete auf Catherines Reaktion, doch bekam nur ein Kopfschütteln. „Langsamer!“ bat Catherine und nickte immer wieder, während Armand langsam den Lampenschirm drehte, um ihm zu bedeuten, weiterzudrehen. „Ich komme mir irgendwie bescheuert vor.“ meinte er und Lestat nickte. „Und du siehst dich noch nicht einmal selbst.“ murmelte er leise, doch Armand hörte es. „Halt!“ rief Catherine plötzlich, doch schüttelte gleich darauf den Kopf. „Etwas zurück! … Ja, Stopp!“ Armand nahm seine Finger vom Lampenschirm und warf Lestat nun einen vernichtenden Blick zu, der ihn nur angrinste, sich dann etwas weiter über Catherine beugte und versuchte, ihr über die Schulter zu sehen. Catherine hielt ihr Gesicht dicht über der Seite und legte den Kopf schief. „Kannst du uns verraten, was du machst?“ fragte David und fügte hinzu: „Ich würde ja sagen, du schnüffelst an der Seite, aber dazu hättest du kein bestimmtes Licht gebraucht.“ Catherine lachte leise, schüttelte wieder den Kopf und meinte dann: „Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Warte noch kurz.“ Während Catherine das Buch noch etwas hin - und herschob, immer wieder den Kopf schräg legte, sodass ihre Augen beinahe über das Profil des Papiers sahen, betrachteten die Anwesenden sie neugierig. „Da! Hier stand einmal etwas!“ verkündete sie und kniff die Augen zusammen. „Du meinst, da stand vorher etwas auf dieser leeren Seite? Wie soll das gehen?“ fragte Lea und zog eine Augenbraue hoch. „Das ist Pergament. Tinte oder Tusche kann man von gutem Pergament beinahe vollständig entfernen, indem man sie in trockenem Zustand mit einer scharfen Klinge abkratzt. Um erneut darauf zu schreiben, muss die Oberfläche allerdings noch einmal geglättet werden, doch das wurde hier nicht gut gemacht. Unter diesem bestimmten Einfall des nicht ganz so hellen Lichtes kann man Spuren der ehemaligen Schrift erkennen, aber…“ Catherine brach ab und blickte in die Rune. „… ich denke, wir würden noch mehr sehen, wenn wir das gesamte Licht löschen und die Seite nur so von der Seite beleuchten.“ Lestat löste sich sofort von ihrer Seite und ging zum Lichtschalter neben der Tür, legte ihn um und kam wieder zurück zum Tisch. Catherine schob die Chronik etwas näher an die Tischlampe, erhob sich und beugte sich weit über den Tisch, sodass sie die Chronik wieder schräg im Blick hatte. „Und?“ fragte David, dessen Finger danach brannten, selbst die Chronik an sich zu reißen und zu untersuchen, doch einsah, dass das sehr unhöflich war. „Es ist besser – deutlicher, aber… Hm, was ich erkennen kann sind lateinische Worte.“ „Das ist schon einmal etwas. Kannst du sie in ihrem Zusammenhang lesen?“ fragte Marius und Catherine nickte, bevor sie mit wenigen Lücken den kurzen, lateinischen Text vorlas. „Hier und da gibt es Lücken.“ erklärte Catherine, doch das schien niemanden zu stören. „Das ist sehr interessant.“ meinte Marius und drehte sich ein wenig in Lestats Richtung. „Da bin ich mir sicher, aber…“ begann Lea und blickte zu Louis, dann zu Catherine, bevor sie weitersprach. „… könnte mir jemand auf die Sprünge helfen? Latein war mir auch in der Schule immer ein kleines Rätsel – und wenn ich einen lateinischen Text vorgelesen bekomme, verstehe ich nicht allzu viel.“ „Entschuldige, Lea. Eine freiere Übersetzung wäre: Nach Erfüllung seiner Pflicht der Bruderschaft gegenüber verbürgte sich Inquisitor Inières für die Unschuld des Kindes George. Deshalb begnügte sich die Bruderschaft in Übereinkunft mit allen Rittern von Rang und Bedeutung damit, den Jungen aus dem Verborgenen zu beobachten, bis die Zeit für ihn reif sei, zum Ritter der Bruderschaft ernannt zu werden, und ihm ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Er trug im Erwachsenenalter den selbstgewählten Namen du Ravin und wurde in den Adelsstand erhoben.“ „Die Bruderschaft beobachtete George? Und wollte, dass er Ritter wird?“ fragte Lea noch einmal nach, worauf Catherine nickte. „Es scheint allerdings nie dazu gekommen zu sein. Vielleicht wurde er immer als nicht vertrauenswürdig angesehen – doch warum?“ entgegnete Catherine, blickte zu Marius, der über etwas nachzudenken schien, und blätterte die anderen leeren Seiten durch. „Hier stehen ebenfalls Anmerkungen: Namen von fünf Generationen, für die eine Aufnahme in die Bruderschaft möglich gewesen wäre, doch nie durchgeführt wurde. Beobachtet wurden auch sie ihr gesamtes Leben hindurch.“ meinte sie und blickte wieder zu Marius, dessen Miene sich nicht verändert hatte. „Dieser Inquisitor Inières…“ meinte Marius schließlich, als er Catherines Blick bemerkte. „Sagt dir der Name etwas?“ Catherine schüttelte unwissend den Kopf und blickte ihn fragend an. „Sagt er dir etwas, Marius? Oder sonst jemandem hier?“ fügte sie hinzu und Marius nickte. „Der Inquisitor Inières trug vor seinem Dienst für die heilige katholische Kirche den Namen Auguste Boniface de La Môle.“ erklärte Marius, was Catherine immer noch nicht weiterhalf. „Und wer was das? Das hilft mir immer noch nicht.“ gab Catherine zu. „Ja, mir auch nicht.“ meinte Lea, was auch niemanden überraschte. „Auguste Boniface de La Môle war der Sohn von Henriette de Colobrière und Joseph Boniface de La Môle, der wiederum der Geliebte von Marguerite de Valois war. Auguste de La Môle war der Halbbruder von Margaret Barcley.“ „Ist das sicher?“ fragte Lestat, da er das für ziemlich spekulativ hielt. „Ja, ich bin sozusagen ein Zeitzeuge.“ meinte Marius und nickte noch einmal bei sich. „Gut, Margarets Halbbruder also. Ich nenne ihn einfach Inières. Der andere Name ist mir zu lang… Warum hat er seinen Namen geändert, als er zum Inquisitor wurde? War das nicht eine Ehre, von der man wollte, dass jeder sie von weitem schon erkannte und dann erzitterte?“ wollte Catherine wissen. „Nun, ja. Wenn man im Prozess der eigenen Halbschwester das Todesurteil durchsetzen will, macht sich das vielleicht nicht so gut.“ erwiderte Marius und blickte auf die leere Seite der Chronik, die immer noch vor Catherine lag. „Du meinst, die … Erfüllung der Pflicht… bedeutet das?“ fragte Catherine und nahm damit Lestat die Frage aus dem Mund „Ich sehe keinen anderen Zusammenhang. Die Pflicht und dann wird gleich George erwähnt. Die Pflicht hatte mit George und seiner Herkunft zu tun. Was also sonst?“ folgerte Marius und Catherine nickte langsam. „Das leuchtet mir ein.“ meinte Lea und schloss für einen Moment die Augen. „Ob Margaret wusste, dass er ihr Bruder ist…“ „Halbbruder.“ warf Catherine geistesabwesend ein. „Dann eben Halbbruder. Wusste sie es? Hat sie es erfahren, bevor sie getötet wurde?“ Schweigen begegnete Leas Fragen und das änderte sich auch nicht, als sie von einem zum anderen blickte und leise seufzte. Marius und Armand starrten vor sich hin, Louis blickte sie an und Lestat ging hinter Catherines Platz auf und ab. „Ich denke, sie wusste es. Sie hasste ihn. Deshalb wird Catherine bei diesem Angriff der Bruderschaft Lucien attackiert haben. Sie war nicht sie selbst, sondern noch immer unter dem Einfluss der Namensgebung, und erkannte Lucien nur als Bruderfigur, die ihren Hass auf sich lenkte. Vielleicht wurde dieses Gefühl noch dadurch verstärkt, dass er kurze Zeit vorher die Bruderschaft über dich als Schwester gestellt hat, Catherine. Aber ich denke, darin liegt der Grund: Margaret wusste, dass ihr Bruder ihren Tod wollte und auch durchgesetzt hat.“ Immer noch herrschte Schweigen, doch Louis nickte Lea zu. Er verstand, was sie sagen wollte und war derselben Meinung. Es war eine gute Erklärung für das ganze Desaster, das bemerkte auch Catherine. Plötzlich fühlte sie sich erleichtert: sie war wirklich nicht sie selbst gewesen und hatte aus Hass gehandelt, der nicht ihr eigener war. Auguste… Nein, sie wollte ihn ja Inières nennen! Inières war dann wahrscheinlich auch einer der Männer aus ihrem Traum, doch an ihn konnte sie sich nicht erinnern. Weder hatte sie das Gewand eines Inquisitors gesehen, noch war sein Name in irgendeiner Form gefallen. „Ich denke, du hast Recht, Lea.“ meinte Catherine. „Das ist wieder so ein Moment, in dem ich meine Visionen und Träume gerne auf Knopfdruck herbeiführen würde.“ murmelte Catherine nach einer kurzen Pause und stützte ihr Kinn auf die Ellenbogen. „Nun, es gäbe ja eine Möglichkeit, zu sehen, was du siehst…“ begann Armand und Catherine nicke. „Ich weiß, aber sag’ das ihm.“ meinte sie und blickte hinter sich, wo Lestat in seiner Bewegung erstarrt war, Armand mit schmalen Augen fixierte und langsam den Kopf schüttelte. „Nein.“ entgegnete er rau und Armand erhob sich. „Wenn du es nicht tust, dann…“ Catherine konnte kaum glauben, ausgerechnet in Armand einen Verbündeten in dieser Angelegenheit gefunden zu haben, doch es schien so. „Ich reiße dich auseinander, wenn du nur in ihre Nähe kommst.“ drohte Lestat und kämpfte gegen die Erinnerungen an seinen Traum an. Sollten seine Träume Recht behalten? Nahm Armand ihm doch noch Catherine? Seine Catherine. Er gehörte ihr – und nur deshalb war es für ihn undenkbar, ihr die dunkle Gabe zu schenken… Nein, es war nicht undenkbar, doch er wusste, dass sie das eigentlich nicht wollte. Ein Leben in der Dunkelheit – im Schutz der Nacht und ohne richtige Wärme. Sie konnte das nicht wollen. Er hatte in ihrem Zimmer so viele Photographien gesehen, die sie in strahlendem Sonnenschein auf dem Campus der Universität, mit ihren Freunden in Parks und bei Urlauben und Ausflügen an das Meer zeigte. Das wollte sie sicher nicht für alle Ewigkeit aufgeben – auch nicht für ihn, da er ihr doch nur Schwärze, Nacht und Finsternis im Gegenzug für ihr Opfer schenken konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)