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Divine Justice

Göttliche Gerechtigkeit
von

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Prolog

Disclaimer: Alle Rechte der in dieser FF verwendeten Personen (außer der von mir selbst erdachten) liegen bei Nobuhiro Watsuki u.a. Unternehmen. Weiterhin erkläre ich, dass ich keinerlei Interesse daran habe, mit dieser Geschichte Geld zu verdienen.
 

Plot: Kyoto 1863: Während der junge und unerfahrene Kenshin einwilligt, für Katsura Kogoro der Bote „göttlicher Gerechtigkeit“ zu werden, muss er auf schmerzvolle Art und Weise erkennen, dass sich die Welt nicht immer in Schwarz und Weiß einteilen lässt – und dass der Weg des Tenchuu zwar für andere in ein neues Zeitalters führt, für ihn selbst jedoch in einen dunklen Albtraum.
 

Kann sich Kenshin in den Wirren der Bakumatsu-Zeit seine Menschlichkeit bewahren, oder wird er wirklich zu dem blutrünstigen Dämon, der in den Strassen Kyotos unter dem Namen Hitokiri Battousai gefürchtet wird? Alles hängt davon ab, welchen vermeintlichen "Freunden" er sein Vertrauen schenkt...
 

Anmerkungen: Worterklärungen finden sich am Ende jedes Kapitels. Ich nehme sowohl auf den Manga wie auch auf den OVA Bezug, aber für das Verständnis muss man beides nicht unbedingt gut kennen ^^
 


 

***
 

Divine Justice – Göttliche Gerechtigkeit
 

Prolog
 


 


 

„Erstes Prinzip des Hiten Mitsurugi Ryu: Die Menschen mit einem freien Schwert vor der Härte und dem Drangsal der Zeiten zu beschützen!“
 


 

Trotz der lauten Gespräche der mit ihm reisenden Männer rings um ihn konnte der Junge die Worte seines Meister noch in seinem Kopf wiederhallen hören.
 

„...beschützen.“ Der Kies der Straße knirschte unter seinen leichten Schritten und jede Bewegung vorwärt, weg von den Bergen, die ihm die letzten vier Jahre ein Zuhause gewesen waren, kam ihm unendlich schwer vor. Jetzt endlich wurde ihm ein Teil, ein kleiner Teil nur der Tragweite seiner Entscheidung bewusst, diesen Bergen den Rücken zu kehren.
 

Hoch oben auf den Höhen lag bereits Schnee, doch talabwärts wurde die Luft merklich wärmer, denn dort herrschte noch die bunte Blätterpracht des Herbstes. Dennoch hing schon ein kalter Nebel über den Baumwipfeln. Ein paar Wochen noch, und die letzten gefallenen Blätter würden unter Schnee bedeckt sein.

Der Junge hob seine Augen gen Westen, wo jetzt die noch nicht lange aufgegangene Sonne die Berghänge in ein zorniges Rot tauchte.

„Shishou...“ flüsterte er wehmütig. Es tat ihm Leid, seinen Meister im Streit verlassen zu haben und wie ein plötzlicher Stich ins Herz traf ihn die Erkenntnis, dass er sich nun mit seiner Entscheidung den Weg zurück zu den hinter ihm immer kleiner werdenden Bergen für immer verwehrt hatte.

Er ballte seine Faust und kämpfe das plötzliche, unangenehme Brennen in den Augen nieder. Es war unabänderlich! Er hätte niemals anders entscheiden können.
 

Ja Ja, Schwerttraining hin oder her, „nur ein Schwert, das frei von äußeren Bindungen und Einflüssen ist, kann die Menschen beschützen,“, pah!

Konnte sein Meister denn nicht sehen, was so offensichtlich vor ihren Augen lag? Das Menschen jeden Tag auf grausamste Art und Weise starben, ohne Hoffnung auf eine bessere Welt, ohne den Hauch eines Beschützers?

Der Beschützer saß in seiner Waldhütte, philosophierte lieber vor sich hin, ignorierte die drängenden Fragen nach der höheren Gerechtigkeit, nach dem warum – warum können die Untaten bösen Menschen, die andere zu ihrer eigenen Freude quälen, zugelassen werden?

Statt Antworten gab sein Meister ihm eine philosophische Anleitung zur Sake-Herstellung. Wenn die Unterdrückten wenige Tagesreisen entfernt wüssten, dass ihr potentieller Retter lieber seine fünfte Flasche Sake trank, anstatt herbeizueilen und sie zu beschützen... Nein, noch besser: auch noch mit der Unbesiegbarkeit der Mitsurugi-Schule anzugeben, aber nichts zu unternehmen!

Warum? – seine Fingernägel gruben sich in seinen Handballen – Wie? Wie kann er nur da sitzen und ihn und seine Fragen, essenzielle Fragen nach dem Wohl der Menschheit, als dümmliche Gedanken seines baka deshi abtun?
 

Er war doch kein Kind mehr! Er hatte seine eigene Meinung schon längst gebildet und sein Selbstvertrauen nicht durch die vielen „baka deshi!“s seines Meisters einschüchtern lassen. Immerhin war er doch schon 14! Er wusste, welchen Weg er in seinem Leben einschlagen wollte, wusste genau, wo es lang ging!
 

Er hatte nicht mehr länger bei seinem Meister bleiben können und all seiner mahnenden Worte zum Trotz fühlte er sich im Recht. „Wie kann man Menschen vor der Härte der Zeiten beschützen, wenn einem die Zeit davonläuft? Die Zeiten sind jetzt hart, jetzt muss man eingreifen, wann denn sonst? Wie kann den Frieden entstehen, wenn man nichts für ihn tut? Ich bin kein launischer Einsiedler wie mein Meister, ich kann nicht tatenlos sein! Nicht, nach dem Schwur, den ich im Stillen geleistet habe, nachdem...“
 

Schnell blinzelte er die plötzlichen Tränen nieder und senkte den Kopf, um sich seinen langen Pony ins Gesicht fallen zu lassen und so seine Augen vor Blicken der mit ihm reisenden Männer zu verbergen.
 

Es waren jetzt vier Jahre seit jener schicksalhaften Nacht vergangen, in der Hiko ihn vor den Räubern gerettet, er aber zu retten versagt hatte. Der Schmerz jedoch war noch so frisch wie eh und je. Nie wieder würde er es zulassen, dass anderen vor seinen Augen Leid zugefügt wurde! „Kasumi-san, Akane-san, Sakura-san...“. Er sah die Gesichter der Mädchen, seine Beschützerinnen, vor sich, sah das Entsetzen in ihren Augen, Blut, Schreie...
 

Erschreckt zuckte er zusammen, als ihn einer der Männer, die mit ihm unterwegs waren, unversehens anrempelte. „Hey Junge! Na, was bist du so abwesend? Heimweh?“
 

Er schaute auf zu dem Störenfried, der ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte und blickte in ein lächelndes, wettergegerbtes Gesicht eines Bauers mittleren Alters.
 

„Hallo Junge, du hast also auch ein Gesicht hinter deinen Haaren! Auch wenn die allein schon auffällig genug sind. Sieht man ja nicht häufig, so was... rote Haare, ne? Tja, lustige Spiele, die die Natur manchmal mit den Menschen treibt...hehe.“
 

Der angesprochene Junge fühlte die Hitze in sich aufsteigen. Hörte das denn nie auf? Was konnte er für seine Haare?
 

„Hey, kein Grund, gleich so die Fäuste zu ballen!“ beschwichtigte der Mann immer noch lächelnd. „Ich bin Mazaki, hast du auch einen Namen?“
 

„Hai Mazaki-dono!” antwortete der Junge artig. „Sessha wa Kenshin, de gozaru“. Seine Fäuste entspannten sich.
 

„Dono? Sessha? Gozaru?“ lachte Mazaki. „Aus welcher Zeit kommst du denn? Nenn mich Mazaki-san!“

„Oh, Hai.“ Wie peinlich. Was war denn an seiner Sprache nicht in Ordnung?
 

„Diese altertümlichen Floskeln benutzt doch keiner mehr, das ist ein Relikt vergangener Zeiten,“ erklärte Mazaki, der wohl Kenshins fragendes Gesicht bemerkt hatte. „Ich bin nicht dein Herr, und du bist nicht unwürdig. Du bist doch kein Sklave, dass du so reden musst, haha!“
 

Kenshin spürte bei dieser Bemerkung ein unangenehmes Stechen in der Magengegend. Ihm war diese Sprache ... anerzogen worden und Hiko hatte nichts weiter dazu gesagt. Danke Meister! Da hat er bestimmt die ganze Zeit in sich hinein gelacht...
 

„Naaa.“ Mazaki bemerkte Kenshins zusammengezogenen Augenbrauen. „Ist ja nicht so schlimm. Ich sehe es als Zeichen der Wertschätzung, hohoho!“ Mazakis volles Lachen klingelte in Kenshins Ohren und das Stechen im Magen verschwand so schnell, wie es gekommen war. Vielleicht tat es gut, nicht seinen Gedanken hinterher zu hängen. Es ließ sich eh nichts mehr ändern.
 

„Hänge deinen Gedanken nicht so sehr hinterher,“ kam prompt der Ratschlag Mazakis und Kenshin fragte sich, ob er wohl gerade laut gedacht hatte. „Du bist jetzt hier, also kannst du nur nach vorne schauen. Schau nach vorne in eine bessere Zukunft Japans. Deswegen bist du doch hier? Deswegen willst du doch ein Mitglied der Kihei-tai werden, nicht?“
 

Stumm nickte Kenshin. Ja, er wollte kämpfen. Auch wenn er sein Schwerttraining bei Hiko nie vollenden würde und er sich seines geringen Könnens voll bewusst war – er hatte ja nicht mal alle Techniken der Mitsurugi-Schule gemeistert, sicherlich gab es viele Schwertkämpfer, die besser waren als her – er wollte dennoch kämpfen.
 

„Mich haben die Leute von der Kihei-tai gleich überzeugt!“ plapperte Mazaki weiter, „warum sollte man nur als Samurai kämpfen können? Ich will meine Familie beschützen und ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen. Wir sind nur einfache Bauern, weißt du? Du bist sicher noch zu jung, um viel über die Unterdrückungen zu wissen, die wir Bauern unter der Herrschaft des Shogunats erleiden müssen. Immer gehorchen, sich bücken und jede Ungerechtigkeit willenlos über sich ergehen lassen...“
 

Kenshin hörte nur mit halbem Ohr zu. Die Ungerechtigkeiten, die Mazaki jetzt alle aufzählte, hatten schon längst die Bilder wachgerufen, die sich für immer in sein Gehirn gebrannt hatten. Leblose Körper in schwummrigem Licht. Gestank. Hunger. Grobe Hände, die ihn aus den kalten Armen seiner Mutter rissen, raue Stimmen in der Luft, beißender Rauch, der ihm die Tränen in die Augen trieb, während seine Kindheit zusammen mit den Körpern seiner Familie in Flammen aufging.
 


 

„Nur Asche, alle nur Asche...“ hörte er jemanden zu ihm sagen, und eine andere Stimme: „Na, Glück, dass wir noch ins Haus geschaut haben, bevor wir das Feuer gelegt haben, ne? Sonst wärst du glatt mit abgebrannt.“

„Vielleicht wäre das für den Jungen nicht das Schlechteste gewesen...“ murmelte eine traurige Stimme, die sofort durch grobe Schimpfwörter zum Schweigen gebracht wurde.

„Wenn der Junge gute Arbeit leistet und gehorcht, dann wird das Leben für ihn auch erträglich sein! Junge, du, komm her, na los! Dein Name?“
 

Shinta stolperte in Richtung der rauen Stimme, Angst schnürte ihm die Kehle zu. Was würde mit ihm geschehen? Ehe er den Mund öffnen konnte, um Antwort zu geben, traf ihn ein harter Schlag im Gesicht.
 

„Name?“ fragte die raue Stimme erneut, und die Tränen der Trauer und der überraschenden Ohrfeige wegblinzelnd erkannte Shinta einen ebenso rau aussehenden, kräftigen Mann. Er konnte die furchteinflössende Gestalt nur wenige Augenblicke anstarren, bevor ihn eine zweite Ohrfeige, noch härter als die erste, traf und ihn zu Boden warf. Sein Gesicht brannte, er sah den nächsten Schlag schon kommen und quiekte verängstigt „Shinta!“
 

„Das heißt: Sessha wa Shinta, du Wurm!“ brüllte der brutale Mann.
 

„Naah, naah, sei nicht so hart mit dem Kleinen,“ beschwichtigte eine ältere Frau.

„Er wird seine Lektion schon noch lernen!“ grummelte der Mann, während die Frau Shinta auf die Beine stellte.

„So Kleiner hör zu!“ Sie schaute ihm in seine großen, aufgerissenen und verängstigten blauen Augen und leises Mitleid überkam sie. „Wie schnell wird das Schicksal wohl diese unschuldigen Augen trüben?“ fragte sie sich im Stillen, während sie dem Jungen mit harter Stimme erklärte: „Deine Eltern sind tot. Dein Haus ist abgebrannt, das ist besser so, wegen der Krankheit, weißt du? Bis auf du waren alle tot und wir haben keine Zeit, Gräber zu schaufeln! Tot ist tot, Asche oder Erde macht keinen Unterschied, weißt du? Wenn Menschen tot sind, dann bleiben nur Körper. Egal wer die vorher waren, deine Eltern oder sonst wer. Spielt keine Rolle.

So und jetzt bist du bei uns. Wir sind deine Besitzer. Du bist unser Eigentum. Kannst du das verstehen? Wir haben dich gerettet, deswegen gehörst du jetzt uns. Wir können mit dir machen, was wir wollen. Dein Leben ist die Arbeit wert, die du leistest. Wenn du stark bist, dann überlebst du. Willst du stark sein und uns gehorchen und überleben?“
 

Shinta nickte, große blaue Augen auf die alte Frau gerichtet. „Hai...“

„Nenn mich Yumego-dono!“

„Hai, Yumego-donno!“ befolgte Shinta den Befehl.

„Gut,“ dachte diese, „der Junge wird gutes Geld bringen!“

„Bald haben wir die Stadt erreicht!“ verkündete die raue Stimme. „Dann können wir unsere Ware endlich verkaufen...“
 


 

„...unsere Ware endlich verkaufen und ein bisschen Geld ansparen, man weiß ja nie, was kommt, nicht wahr?“
 

Verdutzt merkte Kenshin, dass er nicht das gedankliche Trugbild der Gestalt des Sklavenhändlers vor sich hatte, sondern den sehr realen, immer noch vor sich hin plappernden Mazaki.
 

„Jedenfalls, wie gewonnen, so zerronnen. Bevor wir überhaupt an die Dinge denken konnten, die wir mit dem bisschen Gewinn kaufen wollten, stand schon ein bewaffneter Ronin in der Tür, zerhackte unsere wenigen Besitztümer, nahm das Geld, das ich ihm unter Flehen gegen die Ehre meiner Frau bot und verschwand.“
 

Mazaki lächelte Kenshin immer noch an. „Das war der Tag, an dem ich mir schwor, dass ich mit all meiner Kraft etwas ändern will an unserem Schicksal. Und da kamen schon die Boten der Kihei-tai, erzählten, dass alle Menschen gleich seien und alle die gleiche Gerechtigkeit verdienten und das die Patrioten, die Ishin Shishi dafür sorgen werden, in dem sie unserem göttlichen Kaiser wieder an die Macht verhelfen.

Und Geld gibt’s auch noch, wenn man eintritt in ihre Armee. Man muss nicht mal mit Waffen umgehen können, geschweige denn eine haben, so wie du, ne?“
 

„Mazaki!“ dröhnten jetzt die Stimmen einiger Männer hinter ihnen amüsiert, die offensichtlich ihrem Gespräch zugehört hatten, „reiz den Kleinen nicht, wer weiß, was der alles mit seinem Katana anstellen kann!“

„Ja,“ lachte ein anderer, „in seinem Alter hat er bestimmt schon große Schwertkampferfahrung gesammelt!“ Worauf ein Dritter in die Spötteleien mit einstieg und höhnte: „Kannst du denn das Schwert überhaupt hochheben mit den dünnen Ärmchen?“
 

Kenshin ließ das Gelächter an sich abprallen. Wenn er auch sein Training bei Hiko nicht beendet hatte, konnte er mit einem Blick auf die schwerfällig dahinstapfenden Männer mit Sicherheit sagen, dass er mit seinem Schwert höher und weiter springen konnte, als sie alle zusammen.
 

„Naah, lass dich nicht von denen da einschüchtern!“ meinte Mazaki. „Es ist allerdings schon auffällig, dass du in deinem Alter und Stand ein Schwert hast. Du weißt schon, dass Schwerter nur Samurai vorbehalten sind und es gefährlich ist, eines bei sich zu haben, wenn du keiner bist. Du könntest sofort erschlagen werden!“
 

„Ja,“ entgegnete Kenshin, es war das erste Mal, dass er überhaupt einen ganzen Satz sprach, „dass hat mir der Mann der Kihetai auch schon gesagt. Ich traf ihn in den Bergen, wo ich wohnte. Ich war gerade auf dem Weg zum nächsten Dorf, um...“ - den Sake-Vorrat meines Meisters aufzustocken - „...einzukaufen. Er warb am Markplatz für die Ishin Shishi-Fraktion Choshuus und erzählte von der Kihei-tai unter dem Kommando von Shinsaku Takasugi. Er meinte, jeder könne kämpfen. Als ich ihn später genauer ausfragte, lachte er nur, und empfahl mit, mein Schwert so schnell wie möglich seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.“

Ein Lächeln schlich sich in Kenshins Gesicht. „Ich erzählte ihm, dass ich vier Jahre die Schwertkunst erlernt hatte. Er lachte mich aus. Ich sollte ihm eine Demonstration geben. Danach gab er mir relativ schnell eine Wegbeschreibung zum nahegelegenen Treffpunkt und eilte davon. Ich.... verabschiedete mich von meinem Meister. Dann gelangte ich zum Treffpunkt, wo man mich ohne Fragen in die Rekrutenliste aufnahm. So bin ich wie ihr auf dem Weg zum Trainingslager der Kihetai. Und egal wie alt man ist...“ schloss Kenshin mit fester Stimme seinen Monolog, „... um für die Zukunft Japans und für die Menschen, die unterdrückt werden, einzutreten, ist man nie zu jung. Höchstens zu schwach. Und ich bin nicht zu schwach. Ich werde die Menschen mit meinem Schwert beschützen und mit den Ishin-Shishi den Frieden in Japan sichern!“
 

Die Spötter waren verstummt. Statt dessen nickten die Männer jetzt anerkennend.

Mazaki musterte den Jungen, diesmal ohne Lächeln, von der Seite. Wie seine blauen Augen bei den letzten Worten geleuchtet hatten. Und welche Kraft seine Aura verströmte. Sein Idealismus war wirklich herzerfrischend. Doch waren seine Ambitionen so rein und seine Augen voll von kindlicher Unschuld, dass er sich fragen musste, ob die Armee, in der man zum Kämpfen und Töten ausgebildet wurde, das richtige für so eine junge, reine Seele wie ihn war...
 

„Kenshin,“ dachte er traurig. „Du bist wirklich jung. Du glaubst noch, mit einem Streich deines Schwertes allein die ganze Welt verändern zu können. Als ob alle nur auf dich gewartet hätten, dass du kommst und den Weg für die Revolution ebnest...“
 


 

***
 


 

Über Kommentare und Feedback würde ich mich sehr freuen ;)

Nächstes Kapitel: Kenshin lernt im Trainingslager der Kihei-tai die Person kennen, die sein Leben für immer verändern wird – Katsura Kogoro.
 

Worterklärungen:

Hiten Mitsurugi Ryu: Wer kennt Kensin und diese Technik nicht?

Alte Schwerttechnik der Sengoku-Zeit. Bekannt für ihre unglaubliche Schnelligkeit und die Fähigkeit, die Angriffe des Gegners vorherzusehen.
 

Shishou: altertümliche Bezeichnung für einen Meister der Schwertkunst
 

Baka deshi: Spitznahme Hiko’s für Kenshin. Bedeutet so viel wie: dummer Schüler
 

-Dono: Altertümliche, ehrerbietende Namensformel
 

Sessha: wörtlich etwa: Dieser unwürdige (anstelle von „Ich“)
 

De gozaru: Wiederholungsformel im Bezug auf den vorherigen Satz, wörtl etwa „ ... sagt dieser Unwürdige“. Typisches Erkennungsmerkmal von Kenshin.
 

Kihei-Tai: Armee der Choshuu-Ishin Shishi-Fraktion, unter der Führung von Takasugi Shinsaku.
 

Ishin Shishi: Die Imperialisten/ Patrioten (Kaisertreuen). Versuchen, die Macht zurück an den Kaiser zu geben.
 

Ronin: herrenloser Samurai
 

Katana: japanisches (Lang-) Schwert.

Kapitel 1 - Zwei Philosophien

Anmerkungen und Worterklärungen finden sich am Ende.

Natürlich ist dies eine rein zum Spaß geschriebene FF mit keinerlei Profitinteressen und ich besitze auch keinerlei Rechte an überhaupt irgendwas, schluchz.
 


 


 

1. Kapitel: Zwei Philosophien
 


 

Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Nicht weit entfernt von den schlammig gewordenen Trainingsfeldern, auf einer leichten Anhöhe, stand der Anführer der Choshuu Ishin Shishi und beobachtete die Menschen zu seinen Füßen, die trotz des Wetters eifrig im Schlamm trainierten. Neben ihm stand der Anführer der Kiheitai, lässig sein Schwert über die Schulter lehnend und breit grinsend.
 

„Siehst du, Katsura? Hier sind alle Kugeln, die wir brauchen, um die Schlacht gegen das Shogunat zu gewinnen. Einfache Bauern mögen sie sein, Händler oder sogar Ronin – egal, woher auch immer sie sind, alle sind zum äußersten entschlossen. Und wie du weißt, ein entschlossener Bauer, der die Zukunft seiner Familie verteidigen will, kämpft besser als zehn gelangweilte, schlecht bezahlte Samurai“.
 

Katsura Kogoro blieb skeptisch. „Meinst du, das reicht aus?“
 

Bevor ihm Takasugi Shinsaku eine Antwort geben konnte, hatte ein kleiner Junge mit roten Haaren – er schien nicht mehr wie 12 Jahre alt zu sein – seine Aufmerksamkeit gefesselt. „Was...“ entfuhr es ihm, „...sind wir so verzweifelt, das wir Kinder rekrutieren und ihnen Schwerter in die Hand drücken müssen?“
 

Takasugis Grinsen weitete sich noch mehr. „Du hast ihn schon entdeckt? Eigentlich wollte ich dich mit ihm überraschen. Du wirst es nicht glauben, aber der Junge – er ist übrigens schon 14 und hat das Schwert selbst mitgebracht – ist wohl ohne Zweifel der beste Kämpfer der ganzen Kiheitai. Da, schau!“
 

Und Katsura schaute und seine Augen wurden immer größer, während er sah, wie der schmächtige Junge in Battoujutsu-Stellung ging, sein Schwert mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zog und den dicken Holzpfosten wie einen Strohhalm durchtrennte um dann das wegfliegende Stück anschließend mit der Schwertscheide in der Luft zu Staub zu zermalmen.
 

„Takasugi...“
 

Er war sprachlos. Was war das für ein Junge? Den Kämpfergeist, sein Ki, dass er eben von ihm verspürt hatte...

Tausend Gedanken schossen Katsura Kogoro durch den Kopf. „Da steht der Mann, nein, der Junge auf den ich die ganze Zeit kaum zu Hoffen gewagt habe. Seine Schwertfähigkeiten sind unglaublich. Selbst ich als erfahrener Kämpfer konnte seine Bewegungen nicht fassen, sie waren einfach zu schnell für das Auge.

Dass er ausgerechnet jetzt auftaucht. Wo wir die ganze Zeit auf jemanden wie ihn gewartet haben... Kann ich es wagen...? Darf ich dieses Talent nutzen? Er ist noch ein Junge... aber ich muss. Er ist der Vorbote unserer Gerechtigkeit. Der göttlichen Gerechtigkeit –Tenchuu! Da sind alle Mittel und Wege recht...“
 

„Takasugi...“ Katsura hatte sich gefangen und blickte in die Augen seines Freundes. „Dieser Junge... er muss mit mir nach Kyoto kommen!“
 


 

--
 


 

„Was machst du denn hier, Kenshin? Ich dachte, du wärst in einer anderen Gruppe?“
 

Mit schweißnassem Gesicht hielt der Mann in seinem Training inne und musterte den kleinen, rothaarigen Jungen.
 

„War ich auch, Mazaki-san. Heute morgen habe ich mit den jüngeren Anfängern trainiert, aber der Gruppenleiter hat mich nach einigem Kopfschütteln zu sich gerufen und gemeint, ich solle heute Nachmittag hier zu der Erwachsenengruppe kommen und mit euch auf dem Feld trainieren.“
 

„So?“ Mazaki blinzelte sich den Schweiß aus den Augen. „Na, da kommst du auf jeden Fall genau richtig. Schau!“ Er stupste ihn an. „Da drüben! Auf dem Hügel, siehst du? Da ist unser Heermeister, Shinsaku-sama und neben ihm ist Kogoro-sama. Das ist der Anführer der Ishin Shishi in Choshuu, der Mann, der uns zum Sieg führen wird. Zeig ihm dein bestes Können!“
 

„Ja genau!“ mischte sich einer der Männer ein, die sich auch schon auf dem Weg zum Trainingslager über Kenshin lustig gemacht hatten. „Zeig uns, was du drauf hast!
 

Der Anführer der Patrioten von Choshuu? Kenshins blaue Augen weiteten sich, als er die Gestalten auf der Anhöhe musterte. Trotz der Entfernung war ihre Erscheinung beeindruckend und er spürte ihren außergewöhnlichen Kampfesgeist.

Das Ki eines Schwertmannes zu erspüren und zu lesen war eine der letzten Lektionen, die ihm sein Shishou beigebracht hatte. Und auch seine eigene Ki vollständig zu kontrollieren und sie wie jetzt zu unterdrücken war eine Kunst, die zu erlernen es vieler, harter Trainingsstunden bedurft hatte.
 

Mit ernstem Gesicht musterte Kenshin den Holzpfosten vor ihm und war gerade dabei, in Battoujutsu-Stellung zu gehen, als er hinter sich schon wieder Sticheleien hörte.
 

„Na, Junge,“ lachte einer der Männer, „einen Ryo, wenn du den Pfosten mit deinem Schwert durchtrennst!“

Kenshins Mundwinkel zuckten. „Durchtrennen?“ Er lachte bei sich im Stillen, während sein Gesicht äußerlich unbewegt und konzentriert blieb. „Wartet nur ab...“
 

Er packte seinen Schwertgriff mit der Rechten Hand und ehe einer der Männer noch mehr Witze machen konnte, hatte er den dicken Pfosten durchtrennt. Das abgetrennte Holz flog durch die Luft und kaum jemand hatte auch nur Zeit, ein erstauntes „Oh!“ von sich zu geben, da hatte Kenshin mit der Linken seine Schwertscheide schon voller Kraft gegen das Holz gehämmert, so dass es in tausend Splitter zerbarst.
 

„Hiten Mitsurugi Battoujutsu – So Ryu Sen...“ murmelte Kenshin zu dem, was noch von dem Holzpfosten übrig war, während die Männer hinter ihm ungläubig ihre Augen rieben.
 

Ein leichtes Gefühl von Genugtuung verspürend drehte sich Kenshin zu ihnen um und lächelte den Mann an, der ihn eben noch so schamlos verspottet hatte und dem jetzt die Worte fehlten. „Einen Ryo, bitte!“
 

Da bemerkte er, dass die Männer ihre erstaunten Gesichter von ihm abgewandt hatten und statt dessen auf etwas hinter ihm starrten. Erstaunt drehte auch er sich zu den zwei Männern um, die ihren Zuschauerplatz auf der Anhöhe verlassen hatten und nun vor ihm im schlammigen Feld standen.
 

Schnellverbeugten sich alle Männer und ein ehrfürchtiges und verwundertes Gemurmel ging durch die Reihen, als Katsura Kogoro den rothaarigen Jungen durch eine Geste aufforderte, näher zu treten.
 

„Du musst Kenshin sein?“ sprach ihn Takasugi an.
 

„Hai, Shinsaku-sama?“ Erneut verbeugte sich Kenshin tief.
 

“Mir wurde heute morgen schon von deinem außergewöhnlichen Können berichtet. Wie hieß diese Technik eben?“
 

„Hiten Mitsurugi Ryu – So Ryu Sen.“
 

„Aaa.“ Takasugi lächelte mit einem Seitenblick auf Katsura, dessen Gesicht immer neue Stadien der Erstauntheit annahm. „Du bist also wirklich ein Vertreter der alten Mitsurugi-Schule. Und ich dachte schon, mein Ausbilder hätte übertrieben, als er mir total entgeistert davon erzählt hatte. Komm mit!“

Verwundert und auch ein bisschen verängstigt auf Grund der durchdringenden Blicke, die Katsura ihm nun zuwarf, folgte Kenshin den beiden Männern in die trockenen Baracken.
 


 

--
 


 

„Takasugi,“ murmelte Katsura zu seinem Freund, während den rothaarigen Jungen hinter ihm im Auge behielt, „diese alte Technik aus der Sengoku-Zeit... man hat von ihr gehört, sie ist legendär, aber nie hätte ich geglaubt, das sie wirklich noch existiert!“
 

„Mhhm.“
 

„Das ist nicht das Einzige, was ich mich so erstaunt. Es ist die Tatsache dass genau jetzt, wo wir allen göttlichen Beistand brauchen, um unsere Ziele durchzusetzen, dieser Junge wie ein Geschenk auftaucht, ausgerüstet mit der mächtigsten Schwerttechnik des Landes. Das kann doch kein Zufall sein, oder?“
 

Takasugi schaute seinen Freund nicht an. Auch er wusste, wie wichtig jemand mit diesem sagenhaften Können für das Gelingen der Revolution werden könnte. Und eine düstere Vorahnung beschlich ihn, wenn er an die unschuldigen blauen Augen des Jungen dachte – und an Kyoto.
 

In der trockenen Baracke angekommen, bat Katsura Kenshin, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Takasugi schloss die Tür und setzte sich davor.
 

„Kenshin. Was für ein passender Name für jemanden aus der Hiten-Mitsurugi-Schule,“ begann Katsura und lächelte den ängstlich unter seinem roten Pony hervorspitzenden Jungen vor ihm aufmunternd an.

Schüchtern erwiderte es Kenshin schließlich und Katsura fuhr fort.

„Darf ich dich etwas fragen?“
 

Kenshin hätte nicht gewusst, wie der dem Mann vor ihm überhaupt irgendeine Bitte hätte abschlagen können. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht, war er noch überwältigter von Katuras hoheitsvoller Ausstrahlung und seiner kraftvollen Ki. Er konnte fühlen, dass er hier nicht nur einen Meister der Schwertkunst, sondern auch einen intelligenten Strategen und Anführer vor sich hatte.
 

„Hai, Kogoro-sama.,” antwortete er, „natürlich dürft ihr mich alles fragen.“
 

„Gut... hast du jemals einen Menschen mit deiner Hiten-Mitsurugi-Technik getötet?“
 

Diese unverblümte Frage verblüffte Kenshin zwar, aber sie kam nicht unerwartet.
 

„Nein.“
 

„Aber... denkst du, du könntest es tun?

Bist du bereit, mit deinem Schwert Menschen zu töten?“
 


 

--
 


 

Das Echo von Katsura Kogoro’s sanfter aber kraftvoller Stimme hallte noch Kenshins Ohren, während er den ganzen restlichen Nachmittag allein in der leeren Barake saß und vom Fenster aus die draußen im Nieselregen und Schlamm trainierenden Männer beobachtete.
 

Immer und immer wieder ließ er sich das Gespräch mit ihm durch seinen Kopf gehen, während von draußen dumpf die gebrüllten Kommandos und Angriffsschreie in seine Ohren drangen und sich auf seltsame Art und Weise mit seinen Gedanken vermischten.
 

„Bist du bereit, Menschen zu töten?“ hatte Katsura gefragt.
 

Die Frage hatte zuerst Kenshin wie ein Schlag ins Gesicht getroffen, aber sie hatte ihn nicht überrascht.
 

„Töten...“ hallte es in seinem Schädel und er hörte die Stimme seines Meisters Hiko Seijuro:

„Hiten Mitsurugi Ryu ist die mächtigste aller Schwerttechniken! Und die tödlichste.

Du willst sie benutzen, um Menschen zu beschützen? Dann musst du töten.“
 

Natürlich hatte sich Kenshin darüber Gedanken gemacht und in seiner Ahnungslosigkeit den eisernen Entschluss gefasst, dass – falls Töten notwendig sein würde – er es tun würde.
 

Er wusste ja, was töten bedeutete. Er hatte es zwar noch nie selbst getan, aber er war dabei gewesen, als andere es getan hatten – damals die Banditen und anschließend Hiko. Das Töten der Banditen war böse. Aber Hiko’s Töten, das war gut, den er tötete nach den Prinzipien des Hiten Mitsurugi Ryu um Menschen zu beschützen!
 

„Am Töten ist nicht schönes!“ hatte Katsura weitergeredet. „Ich kann es in keiner Weise beschönigen.“
 

Das hatte auch Hiko nicht getan, nein. Auch sein Shishou hatte ihm klar zu machen versucht, dass „das Schwert eine Waffe ist. Die Schwertkunst ist die Kunst des Tötens! Allen beschönigenden Worten zum Trotz ist dies ihre wahre Bestimmung!

Einige Töten um andere zu Beschützen!“
 

Diese Sätze in anderer Form aus dem Mund eines anderen Menschen zu hören... erst jetzt schien Kenshin sie vollkommen zu begreifen.
 

„Er brauch mich“, dachte er in diesem Moment, „der Anführer der Ishin Shishi in Choshuu, dieser mächtige Mann braucht mich?!

Da ist sie also, die Möglichkeit für mich, etwas zu verändern! Ich wusste es, ich kann mit meinem Schwert für ein neues Japan kämpfen. Ich kann die Menschen von ihrem Leiden befreien. Hier steht der Mann, der mir die Möglichkeit dazu gibt!“
 

In Gedanken erschien plötzlich die Gestalt Hikos wie eine Erscheinung vor ihm.

„Was willst du tun, nachdem du dich mit deinem Schwert an diesem Aufruhr beteiligst?“ hatte er bei ihrem letztem Wortwechsel ärgerlich gerufen. „Wenn du die Situation ändern willst, musst du früher oder später für die eine oder andere Seite Partei ergreifen! Und egal für welche Seite du dich entscheidest, sie werden deine Kraft zu nutzen wissen. Sie werden dich benutzen! Dafür habe ich dir die Schwerttechnik des Hiten Mitsurugi nicht beigebracht!“
 

Doch vor wenigen Stunden hatte Kenshin sich für Katsura entschieden. Er hatte sich dafür entschieden, benutzt zu werden. Auch wenn Katsura es anders ausgedrückt hatte.
 

„Ich brauche dein Können, um für mich Menschen zu töten!“ hatte er gesagt.

„Um eine neue, friedliche Welt aufbauen zu können, müssen wir erst die alte Welt zerstören. Das ist nicht angenehm, aber es MUSS getan werden! Um das Böse in dieser Welt auszuschalten, müssen wir selbst zu wahnsinnigen Taten schreiten. Taten, die einen verzweifeln lassen könnten, wenn man kein klares Ziel, keinen klaren Traum vor Augen hat. Doch ich sehe in dir den Idealismus, die Reinheit, dass du willens bist, alles zu tun, um unseren Traum Realität werden zu lassen.
 

Willst du mir helfen, Tenchuu über unsere Gegner zu bringen? Kannst du der Vorbote der göttlichen Gerechtigkeit sein?
 

Ich weiß, dass du dein Talent einsetzten willst, um Menschen zu beschützen. Das ist ja das Prinzip der Schwertkunst, einige zu töten um andere zu beschützen.

Ich frage dich hier und jetzt, bist du willens, mir dein unglaubliches Talent zu leihen? Auf meinen Befehl hin zu töten?“
 

„Hai, Katsura-sama!“ hatte Kenshin nach einigem Nachdenken entschlossen und überzeugt geantwortet.

„Wenn ich mit meinem Schwert und den Leben, die ich nehmen muss, so den Weg in eine neue Ära ebnen kann.. eine Ära, in der jeder in Frieden leben kann..“
 

„Hai...“ antwortete er auch jetzt in der stillen und leeren Baracke noch einmal.
 

Sie werden dich benutzen, hatte Hiko gesagt.

„Ja!“, dachte Kenshin, „wenn ich mit meinen Händen so eine neue und bessere Welt schaffen kann, dann bin ich bereit, zu töten. Bereit, die alte, böse Welt zu zerstören. Aus der Asche der Zerstörung kann Neues entstehen.

Katsuras Prinzipien sollen meine sein und ich werde Katsuras sein. Er soll sich meinem Schwert bedienen. Ich weiß, Meister, auch wenn du mir dafür Hiten Mitsurugi Ryu nicht beigebracht hast. Ich bin eine Enttäuschung für euch gewesen. Ich schäme mich und kann nicht zurückkehren. Doch das spielt keine Rolle mehr.
 

Menschen... Kasumi-san, Akane-san, Sakura-san... haben ihr Leben für mich geopfert! Sie erwarten von mir, dass ich das auch für andere tue. Ich habe damals versagt. Ich konnte sie nicht beschützen. Das wird mir nie wieder passieren. Um andere zu beschützen, werde ich mein freies Schwert opfern und mich Katsuras und dem Prinzipien des Tenchuu unterwerfen!
 

Einige Töten um andere zu Beschützen! Ja, Hiko, das werde ich tun. Genau das hast du auch getan, als du mich vor den Banditen beschützt hast“.
 

Kenshin schloss die Augen. Er war jetzt ein Untergebener Katsura Kogoros und nicht länger der Schüler Hiko Seijuros. Dennoch ließen ihn seine letzten Worte nicht los.
 

„Wenn du diese Berge verlässt, wirst du das Leben eines Mörders führen, unter der Anleitung derer, die ihre eigenen Gesetzte der Gerechtigkeit haben. Wenn du dich mit ihnen einlässt, wird dich die Mitsurugi-Technik zu einem Massenmörder machen!“
 

„Ja, das mag so sein,“ hatte er damals - es war erst gestern gewesen – hitzig geantwortet. „Aber ich will mit meinen eigenen Händen die Menschen beschützen. Viele Menschen, zahllose Leben will ich verteidigen. Ich will ihr Beschützer, ihr Retter sein!“
 

Erste Regel des Hiten Mitsurugi Ryu: Das Schwert soll für die Menschen dieser Welt geschwungen werden. Für den Schutz der Schwachen.
 

„Wenn ich mit meinem Schwert eine neue Welt erschaffen kann... eine Welt, in der jeder friedlich und ohne Angst leben kann... Wenn mein Arm diese Welt erschaffen kann... dann werde ich der Bote des Tenchuu sein... dann werde ich der Vollstrecker der höheren Gerechtigkeit sein. Ich werde töten!“
 

Noch lange nach Einbruch der Nacht saß Kenshin grübelnd am Fenster und beobachtete die Sterne. „Hiten Mitsurugi Ryu... Tenchuu... Menschen beschützen... töten...“
 

Weder hatte er die geistige Reife noch die Erfahrung um zu begreifen, was ihn die Entscheidung der Unterwerfung seines Schwertes unter das Tenchuu kosten würde.
 


 

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„Glaubst du, der Junge weiß, worauf er sich eingelassen hat?“ fragte Takasugi mit schneidender Stimme, nachdem der Junge den Raum verlassen hatte. Er war von Katsuras Entscheidung, Kenshin mit nach Kyoto zu nehmen, überhaupt nicht begeistert und von Kenshins Zustimmung noch viel weniger.

Nicht nur, dass Katsura ihm seinen besten Mann der Kihei-tai wegschnappte...

„... du ruinierst die unschuldige Seele dieses Jungen, bist du dir dessen bewusst? Ich bin mir sicher, er hat nicht einmal verstanden, was du von ihm verlangt hast!“
 

Langsam trank Katsura seinen Tee zu Ende, bevor er das Schälchen sanft absetzte und er seinen langjährigen Freund fixierte. Nur das leichte Beben seiner Stimme verriet seine innere Unruhe. „Du weißt, ich würde es selbst tun, wenn ich könnte!“
 

„...Ich weiß,“ seufzte Takasugi. „Aber niemals kann die Revolution von jemand angeführt werden, dessen Hände blutig sind. Du musst sauber bleiben... und andere im Verborgenen für dich töten lassen.
 

Dieser idealistische Junge wird bald die blutige Realität der Revolution kennen lernen. Er wird zu dem Vorboten des Tenchuu. Nach dieser Philosophie haben wir alle zu handeln geschworen. Deshalb weiß ich, dass du ihn benutzen musst – ich weiß, dass dir das nicht leicht fällt. Daher bitte ich dich: entsage dem Schwert. Als potentieller Anführer eines neuen Japans muss dein Leben vorbildlich und rein sein. Du darfst nicht die Macht in der einen und eine blutbefleckte Klinge in der anderen Hand halten. Entsage dem Schwert. Konzentriere dich auf das Führen der Patrioten Choshuus!“
 

Langsam verließ Katsura Kogoro den Raum. Vor der Tür blieb er stehen. „... du hast mein Wort. Als Anführer von der Ishin Shishi Choshuus werde ich nie wieder ein Schwert ziehen.“ Dann verließ er den Raum.
 

„Tss..“ Mit einem Achselzucken nahm Takasugi sein Saiteninstrument zur Hand und begann, sich in die Musik zu vertiefen. „Während der eine sich als Anführer in das Licht der Geschichte emporhebt, steigt der andere in das Dunkel der Hölle hinab... Wir Menschen sind doch alle nur Spielbälle in den Händen des Schicksals...“
 

Wie Kenshin verbrachte auch Katsura die Nacht ohne viel Schlaf.

Morgen würden sie nach Kyoto aufbrechen. Morgen würde es beginnen...
 

„Göttliche Gerechtigkeit zu erreichen scheint manchmal reiner Wahnsinn zu sein... doch es ist Gerechtigkeit. Das ist, was mich und den Choshuu-Clan motiviert! Am Ende Gerechtigkeit.... auch wenn die Mittel und Wege wahnsinnig erscheinen. Yoshida-Sensei...“
 

Er umklammerte den Griff seines Schwertes, dem er heute für immer entsagt hatte.

„Kenshin... mit deinem Schwert können wir das alte Zeitalter zerstören und ein Neues errichten. Endlich wird die wahre Revolution beginnen...“
 


 

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Anmerkungen:

In diesem Kapitel wollte ich besonders den fundamentalen Unterschied zwischen den zwei Philosophien, die hinter der Mitsurugi-Technik und hinter dem Tenchuu stehen, herausarbeiten. Und Kenshins Naivität, der sich blindlings für etwas entscheidet, was er gar nicht versteht.
 

Danke für’s Lesen, und bitte schreibt mir Reviews, damit ich weiß, wo meine Stärken und Schwächen liegen und ob sich die Mühe des Weiterschreibens lohnt ;) Danke!
 


 

Worterklärungen:
 

Battoujutsu: Techniken des Schwert-Ziehens. Schwerpunkt vor allem auf dem Schneiden.
 

Ken-ki: Kämpfergeist
 

Katsura Kogoro:

Führer der Choshuu Ishin Shishi. Später mit Saigou Takamori und Satchou Doumei zusammen verbündet (genannt: Ishin Shishi-Triumverat). Zwang den Shogun 1868 zum Abdanken und gab die Macht an den Kaiser zurück.
 

Takasugi Shinsaku:

Anführer der Kihei-Tai, der Armee, die Choshuu gegen das Shogunat aufstellte.
 

Ryo: jap. Geldwährung.

Kapitel 2 - Ankunft in Kyoto

Divine Justice
 


 

2. Kapitel – Ankunft in Kyoto
 


 

Kenshin betritt zum ersten Mal die große Stadt Kyoto und lernt die Männer der Ishin Shishi kennen. Eigentlich scheint er sich von ihnen nicht groß zu unterscheiden... oder?
 


 

Schüchtern betrat Kenshin hinter Katsura die unauffällige Herberge, die den Ishin-Shishi in Kyoto Unterschlupf bot. Er wollte eigentlich nur noch allein sein und das gerade Erlebte verarbeiten.
 

So viele Menschen! So viele Häuser!

Er hatte zwar von seinem Meister Geschichten über Kyoto und andere Städte gehört, aber die tatsächliche Größe dieser Stadt hätte er sich selbst in seinen Träumen nicht vorstellen können – einfach weil er es noch nie mit seinen eigenen Augen gesehen hatte.
 

„Na mein Junge, was machst du denn für große Augen? Wohl das erste Mal für dich in der Stadt?“
 

„Hm?“ fragend drehte sich Kenshin zu der älteren Frau um, die ihn freundlich angesprochen hatte.
 

„Hallo, ich bin Okami-san, die Wirtin dieser Herberge“. Sie lächelte und kleine Fältchen zeigten sich bereits in ihrem immer noch sehr schönen Gesicht.
 

„Konnichiwa Okami-san, Ich bin Kenshin, freut mich sie kennen zu lernen!“ erwiderte Kenshin während er sich höflich verbeugte.
 

Erfreut über die guten Manieren des Jungen klatschte Okami-san die Hände zusammen. „Es freut mich, das Katsura-sama an uns gedacht hat und uns so einen netten, aufmerksamen jungen Mann mitbringt!“

Sie packte den verwirrt dreinschauenden Kenshin bei den Schultern und begann, ihn über den Innenhof zu schieben. „Wir können hier jede helfende Hand gut gebrauchen, es kommen immer mehr Samurai und wir haben kaum Personal, um alle gut zu versorgen. Komm, ich zeig dir deinen Schlafplatz bei dem anderen Dienstpersonal, dann kannst du mir gleich zur Hand gehen...“
 

Verzweifelt schielte Kenshin in Richtung Katsura, der lachend herbeieilte und ihn aus den Armen der geschäftigen Gastwirtin befreite.
 

„Okami-san!“ schmunzelte er, „Kenshin gehört nicht zum Dienstpersonal. Zumindest nicht zu deinem.“
 

Verwirrt blickte Okami zwischen dem offensichtlich von der Gesamtsituation total überforderten Kenshin und Katsura hin und her. Dann verdunkelte sich ihr Gesicht plötzlich.
 

„Ich wusste nicht, das jetzt auch schon Kinder für die Ishin Shishi kämpfen müssen...“
 

„Oh nein, Kenshin ist kein Kind mehr!“ lachte Katsura. „ Er ist schon 14 und damit volljährig.“ Mit diesen Worten bugsierte er Kenshin an Okami vorbei ins Innere der Herberge.
 

Mit zusammengekniffenen Augen blieb Okami im Innenhof zurück. „Mit 14 Jahren ist er trotzdem noch ein Kind.“ D

och ihr blieb keine Zeit, sich viele Gedanken zu machen. Die ankommenden Männer mussten untergebracht, das Gepäck verstaut und Vorräte eingekauft werden. „Aki, Kiku! Wo sind diese albernen Mädchen schon wieder? Wenn man sie mal braucht, sind sie verschwunden!“
 

Ärgerlich stapfte sie auf der Suche nach ihren Dienstmägden davon.
 

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Kenshin unterdessen ertrug geduldig den Spott und die Witze, die auf ihn niederprasselten, kaum dass er den Versammlungsraum betreten hatte.

Die vielen Samurai schüchterten ihn etwas ein, doch ihre bissigen Worte über seine Haare, seine Größe und sein Alter ließ er an sich abprallen. Er hatte sich schon gedacht, dass das hier nicht anders wie bei der Kihei-tai sein würde. Und Katsura hatte ihn vorgewarnt.
 

„Deine Gefährten in Kyoto sind nicht so wie die Männer der Kihei-tai,“ waren seien Worte gewesen. „Das hier sind keine Bauern und Händler. Das hier sind alles Samurai bzw. Ronin. Sie haben ihren Stolz, viele von ihnen haben lange Familienstammbäume. Das ist für Samurai sehr wichtig. Doch du darfst dich nicht einschüchtern lassen. Denn als Regierender der Provinz Choshuu habe ich das Recht, jeden den ich will in den Stand eines Samurai zu erheben. Und da du hier in Kyoto wichtige Aufgaben zu erfüllen hast, ist es unabdingbar, das auch mit dir zu tun. Die Männer werden dich auch nur als Samurai als einer der ihren akzeptieren.“
 

Kenshin hatte große Augen gemacht. Samurai? Er?
 

Während Katsura seine Begrüßungsrede an die Männer hielt, versuchte sich Kenshin unauffällig in irgendeine Ecke zu setzen. Er mochte es nicht, von den Männern teils belustigt, teils argwöhnisch beobachtet zu werden.
 

Dankbar folgte Kenshin der Aufforderung ein paar freundlich aussehenden Jungen, die nicht viel älter als er zu sein schienen, sich zu ihnen zu setzten. Er hörte zwar immer noch Gesprächsfetzen über seine Haare, sein Alter und seinen Bezug zu Katsura, aber der aufmunternde Blick des jungen Mannes neben ihm ließ etwas Zuversicht in ihm aufkeimen.
 

„Beachte sie einfach nicht.“ Der Junge konnte kaum Älter als 17 sein. Er trug seine schwarzen Haare in der typischen Samurai-Frisur hochgesteckt, und ein paar widerspenstige Fransen seines Ponys fielen ihm in sein Gesicht. Er machte einen sehr netten und sympatischen Eindruck und war offenbar sehr redselig

„Als ich vor einem halben Jahr hier ankam, haben auch alle über mich gewitzelt, weil ich der jüngste war und kaum mehr 1.60 Meter groß. Zum Glück hat sich das in den letzten Monaten geändert, wie du sehen kannst!“ Stolz setzte er sich gerade hin und reckte seinen Kopf in die Höhe. „Also besteht auch für dich noch Hoffnung! Ich bin übrigends Yoshida Omi.“
 

„Kenshin... Himura.“ Sein neuer Nachnahme fühlte sich noch ungewohnt auf seinen Lippen an.

Auf dem Weg nach Kyoto hatte er sich mit Katsura auf diesen Namen geeinigt. Denn wenn er ein Samurai sein sollte, dann bräuchte er natürlich auch einen Nachnahmen.
 

„Freut mich Kenshin,“ lächelte Yoshida. „Du bist gerade aus Choshu mit Katsura- sama hier angekommen? Hast dich wahrscheinlich bei der Kihei-tai gemeldet, was? Hier sind schon einige Ronin, die auf diesem Weg hierher gefunden haben.“
 

Kenshin nickte. Yoshida stellte die zwei restlichen Männer am Tisch Kenshin vor.

„Das sind Buntaro und Daisuke.“ Die beiden nickten Kenshin freundlich zu, wobei Daisuke schelmisch zwinkerte, Buntaro jedoch eher der etwas reserviertere und ernstere Typ zu sein schien.

„Wir waren alle Ronin und haben uns hier kennen gelernt,“ plapperte Yushido fröhlich weiter. Auch wenn sie finster blicken, die zwei sind schon in Ordnung, die haben mich damals auch nicht geärgert, obwohl ich so deine Statur hatte... na ja rote Haare hatte ich zum Glück nicht, dass macht es nicht gerade leichter für dich, ne?...“
 

„Hm...“ Kenshin fragte sich gerade, ob er Yoshida wirklich nett fand. Aber als Katsura seine kurze Begrüßungsrede beendet hatte, wurde er von den Dreien ins Gespräch verwickelt und sie behandelten ihn alle, trotz Altersunterschiede, wie einen Erwachsenen.

Kenshin genoss dieses neue Gefühl – sein Meister hatte ihn nie auch nur ansatzweise so ernst genommen wie diese Männer hier.
 

Nach einer Weile zerstreuten sich die Gruppen und Yoshida bekam den Auftrag, Kenshin die Unterkunft und sein Zimmer zu zeigen.

„Wir sind zur Zeit knapp an Räumen,“ erklärte er, während sie in das obere Stockwerk der Herberge gingen, in denen sich die einzelnen Zimmer der Männer befanden. „Deswegen müssen wir die Zimmer doppelt belegen. Ich war bis jetzt noch allein, deswegen kannst du zu mir ins Zimmer.“
 

Kenshin freute sich. Es wäre ihm unangenehm gewesen, mit jemand völlig Fremden ein Zimmer teilen zu müssen. Doch Yoshida machte einen netten Eindruck.
 

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Die erste Nacht in Kyoto. Kenshin lag noch lange wach auf seinem Futon. So viele Eindrücke auf einmal...
 

Nachdem er zu Yoshida ins Zimmer quartiert worden war, waren sie mit Buntaro und Daisuke in die Stadt gegangen. Yoshida hatte den Auftrag, für Kenshin ein paar Sachen abzuholen und Buntaro und Daisuke begleiteten sie ein Stück, bis sie dann mit einem verschmitzen Lächeln in Richtung Gion-Viertel abbogen.
 


 

„Was haben die beiden denn heut noch vor? Daisuke meinte so seltsam lächelnd, er müsse heute auch noch jemandem etwas besorgen...“
 

„Ähem,“ hüstelte Yoshida peinlich berührt, „hast du das nicht verstanden? Naah, egal. Die beiden sind ins Gion-Viertel gegangen. Da werden sie heute Nacht nicht viel schlafen...“
 

„Wieso? Ist es da so gefährlich?“
 

Yoshida lachte. „Auf gewisse Weise ist es dort für einen Mann sehr gefährlich. Er kann schnell um seinen Verstand gebracht werden.“ Beim Anblick von Kenshins immer noch verständnislosem Gesicht rollte er mit den Augen.

„Landei. Das Gion-Viertel ist ein Vergnügungsviertel. Also...sie schlafen nicht weil sie... hm, wie soll ich dir das erklären...“. Die Röte stieg ihm nun ins Gesicht, während er herumdruckste und nach den richtigen Worten suchte.
 

„Entschuldigung,“ beeilte sich Kenshin zu sagen, „ich wollte nicht unhöflich sein und nach Dingen fragen, die mich nichts angehen...“
 

„Ach was, nicht so schlimm. Du wirst schon früh genug herausfinden, was man im Gion-Viertel alles macht...“.
 

„Ja, wahrscheinlich. Katsura hat zu mir gesagt, ich soll mir die nächsten Tage Kyoto genau anschauen.“
 

„So hat er das?“ Yoshida bemühte sich, seine Frage beiläufig klingen zu lassen, doch innerlich war er schon neugierig.

„Was denkt sich Katsura bloß?“ grübelte er auf dem Rückweg zur Herberge. „Bring einen Jungen mit, irgendwo aus einem abgeschiedenen Dorf, nach Kyoto, wo es nachts Blut regnet. Einen Jungen, der keine Ahnung hat, der naiv ist... und dann gibt er ihm auch noch die Ehre, mit ihm persönliche Gespräche zu führen. Nur eine Handvoll Samurai hier haben bisher diese Ehre genossen, mich ausgeschlossen. Warum? Was will Katsura mit ihm?“
 

„Neh, Kenshin?“ fragte Yoshida in belanglosem Ton, „Warum hat dich den Katsura mit nach Kyoto gebracht? Du bist ja doch noch ziemlich jung. Hat er dir dich schon in eine der Einheiten eingeteilt? Als Leibwache taugst du bestimmt nicht viel, da nehmen die lieber große, klobige Kerle wie Katagai-san. Aber du scheinst eher klein und wendig zu sein, damit würdest du gut zu Izuka-sans Spionen passen. Aber du kommst ja nicht aus der Stadt, hat also auch wenig Sinn. AH!“ Strahlend schlug sich Yoshida die Faust in die Hand. „Jetzt hab ich’s! Du bist in einem der übrigen Einsatzkommandos eingeteilt?“
 

„Ähm...“ Kenshin kratzte sich verlegen den Kopf.
 

Das erwartungsvolle Leuchten in Yoshida’s Augen erlosch wie eine erstickte Kerzenflamme. „Du hast also keine Ahnung?“ Stellte er ungläubig fest.
 

„Ich weiß es nicht genau...“ antwortete Kenshin, im Stillen dachte er sich, dass er die Antwort wohl bereits in zwei Tagen erhalten würde, denn dann wollte ihm Katsura sein Daisho, das traditionelle Schwerterpaar der Samurai, überreichen und ihn damit als vollwertiges Mitglied der Ishin Shishi akzeptieren.
 

„Ich denke,“ sprach Kenshin weiter, „.ich werde kämpfen, genau wie ihr...Also ich meine, was auch immer ihr hier macht. Gegen das Shogunat kämpfen. Solche Sachen...“
 

„Solche Sachen...?!“ Der Junge hat wirklich keine Ahnung. Yoshida fühlte sich verantwortlich, ihn aufzuklären.
 

„Naja, ihr kämpft gegen das Shogunat. Gegen die Unterdrückung und für die schwachen Menschen!“

„Ja, das ist die Grundidee. Das solltest du auch immer im Hinterkopf behalten. Aber hier in Kyoto ist die Sache nicht so einfach. Es ist gefährlich, sich dem Shogunat in den Weg zu stellen. Wir Ishin Shishi sind noch nicht in die Öffentlichkeit getreten. Jeder weiß schon seit Jahren, dass Choshuu für den Kaiser und gegen den Shogun eingestellt ist. Deswegen haben uns ja die anderen mächtigen Familienclans vom kaiserlichen Hof vertrieben, um uns unserer Macht zu berauben. Daher verläuft der Kampf jetzt vorerst im Dunkeln.“
 

„Nachts?“
 

„Baka! Heimlich meine ich. Wir sabotieren das Shogunat. Weißt du, das Prinzip ist so: Wir können bisher nur kleine Schritte unternehmen, noch ist das Shogunat zu mächtig. Wenn wir als Provinz offen vorgehen würden, dann würden uns die Bakufu-Armeen in den Staub stampfen, da sie uns zahlenmäßig weit überlegen sind.

Unsere Strategie sieht anders aus. Wir verwandeln Kyoto, die Stadt des Kaisers, in einen Unruhe-Herd. Wenn der Shogun es nicht einmal schafft, eine einzige Stadt unter Kontrolle zu bringen, werden die anderen Familien erkennen, wie geschwächt die Regierung ist und sich auf unsere Seite stellen. Dann können wir endlich den Kaiser wieder als rechtmäßigen Regenten des Landes einsetzten und somit den Unruhen ein Ende machen.“
 

„Uh? Du weißt aber viel über Politik, Yoshida!“ Bewundernd schaute Kenshin zu seinem verlegen lächelnden Begleiter auf.

„Hm... jaaah, ich höre immer zu, wenn Katagai und die älteren Samurai diskutieren,“ gestand Yoshida leicht gerötet aber dennoch stolz. „Es geht ja schließlich um die Zukunft des Landes, da muss man ja wissen, für was genau man eigentlich kämpft, oder nicht?“

Kenshin nickte. Auch er hatte mit seinem Meister bis vor wenigen Tagen noch über die politische Situation des Landes philosophiert. Hiko hatte ihm stets davon abgeraten, sich in solche Dinge einzumischen.
 

Yoshida klopfte sich unterdessen auf die Brust und sprach weltmännisch weiter.

„Die Ereignisse in Kyoto wirken sich unmittelbar auf den Rest des Landes aus. Wenn wir hier erfolgreich sind, Bündnisse festigen, Pläne schmieden, dann haben wir schon die Hälfte gewonnen. Der Rest ist dann nur noch Krieg.“
 

Kenshin ließ die Worte in sich einsickern. Also war hier die Quelle. Kyoto war die Möglichkeit, etwas zu verändern.
 

„Und was machst du, Yoshida?“ fragte er neugierig. Er wollte sich unbedingt ein Bild von den Aufgaben machen, die jetzt auf ihn warteten. Er war so froh wie noch nie, sein Schwert Katsura angeboten zu haben.
 

„Ich gehöre ja noch zu den jüngeren Ishin Shishi. Wir haben unsere eigenen Einheiten und meist einfachere Aufträge. Kleine Fische des Shogunats abfangen, die uns ausspionieren wollen. Uns Mittelsmänner, Symphatisanten und Spione sichern, Informationen beschaffen. Ab und zu auch Personenschutz, wenn wichtige Treffen stattfinden. Zulieferungen an das Shogunat sabotieren. Da wird’s dann schon gefährlicher, das machen meist die erfahreneren Samurai, weil es oft zu kleineren Scharmützeln mit Soldaten des Bakufu kommt. Oder schlimmstenfalls mit den Shinsengumi.“
 

„Shinsengumi?“ fragte Kenshin neugierig. Er hatte bereits auf dem Weg nach Kyoto die Männer über diese spezielle Truppe von Schwertkämpfern reden hören und stets waren ihre Stimmen plötzlich hasserfüllt und zornig geworden.
 

„Ja, diese Hunde...“ Auch Yoshidas Stimme wurde plötzlich bebend und er ballte seine Hände zur Faust. „Sie versuchen, die Ruhe und Ordnung in Kyoto wieder herzustellen. Wenn sie uns erwischen, dann fackeln sie nicht lange und töten alle auf der Stelle – leider sind sie darin ziemlich gut. Wenn du auf sie triffst, ist es meistens dein Ende. Außerdem kämpfen die Schweine nur als Gruppe, da hast du alleine keine Chance.“
 

„Wie viele Mann sind den so in einer Gruppe?“
 

„Naja, bestenfalls zwischen acht und zehn, schlimmstenfalls sind es 20 oder sogar noch mehr! Das macht auch keinen Unterschied mehr!“
 

Kenshin schüttelte den Kopf. „Es macht keinen Unterschied, ob es ein oder zwei Männer mehr sind, acht oder zehn ist fast dasselbe. Wohingegen 20 oder 30 schon problematisch werden.“
 

„Problematisch?“ Japste Yoshida. „Tödlich nenn ich das! Du willst mir doch nicht erzählen du alleine es mit acht oder zehn oder von mir aus auch zwölf von den verdammten Hurensöhnen aufnehmen kannst? Die beste Taktik ist da der Rückzug!“
 

„Da hast du wahrscheinlich recht,“ nickte Kenshin.
 

„Ja, das will ich aber meinen!“ Yoshida war über Kenshins Kommentar äußerst beunruhigt. „Komm ja nicht auf die hirnrissige Idee, es mit denen aufzunehmen. Keine Schwerttechnik, die ich kenne, ist gut genug, um zehn Männer auf einmal zu besiegen.“
 

Kenshin starrte in den Nachthimmel. Er wollte Yoshida nicht noch mehr beunruhigen und schwieg deshalb lieber über die Fähigkeiten der Hiten-Mitsurugi-Schule. Er hatte gelernt, wie mit zehn oder 20 Gegnern fertig zu werden war – allerdings hatte er es noch nie in der Praxis versucht.
 

„Naja, wo war ich?“ Yoshida hatte sich offenbar wieder gesammelt. Da gab es natürlich auch noch die auf der Schattenseite der Revolution... Männer die für Geld... aber dass musste er Kenshin nicht gleich zu Anfang erzählen. Das würde ihm nur Angst machen.

„Ja genau, also bei den Kämpfereinheiten... da geht es oftmals ziemlich zur Sache. Da bist du bestimmt nicht gleich zu Anfang eingeteilt, die wollen immer Leute mit Erfahrung.“
 

„Und...wenn es trotzdem zu Kämpfen kommt?“ fragte Kenshin atemlos.
 

„Naja, dann kämpfen wir. Was sonst?“
 

„Musstest du schon einmal kämpfen?... töten?“
 

Zögernd antwortete Yoshida auf diese unerwartete Frage. „Ja, das musste ich einmal. Unsere geheime Mission – wir sollten einen Reistransport, der als Bestechungsgeld des Shoguns für die Gunst gewisser Kaufleute geplant war, abfangen – wurde verraten und wir wurden überfallen. Was blieb anderes übrig, als zu kämpfen?“

Abwesend blickte er hoch zu den Sternen, die bereits am Himmel glitzerten und erzählte mit leiser Stimme weiter.
 

„Ich... zog mein Schwert und einen Augenblick später war schon alles vorbei. Wir waren in der Überzahl, die Angreifer hatten nicht mit so Vielen von uns gerechnet und waren auch noch schlecht bewaffnet. Einer rannte genau auf mich zu und ich wusste, jetzt geht es um mein Leben. Ich hab einfach zugeschlagen, meinen Schwerttechnik ist eher jämmerlich, aber ich hab ihn erwischt... Ich meine, sonst hätte er mich getötet. Also mir blieb keine Wahl. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich brauchte Stunden, um das Zittern meiner Hände wieder unter Kontrolle zu bringen. Die ganze Zeit sah ich noch sein Gesicht vor mir...“. Seine Stimme verlor sich in der kühlen Nachtluft.
 

Sie legten den restlichen Weg zur Herberge schweigend zurück, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Im Zimmer angekommen ergriff Yoshida wieder das Wort.
 

„Ich wollte dir vorhin keine Angst machen, Kenshin...“
 

„Das hast du nicht Yoshida. Ich weiß, auf was ich mich eingelassen habe.“ Grimmig packte Kenshin sein Schwert. „Ich weiß, das es manchmal nicht anders geht. Für ein friedliches Japan, für das Glück der einfachen Menschen – da muss man Dinge tun, die einem nicht gefallen.“
 

„Du hast recht.“ Auch Yoshida machten diese Worte wieder Mut. Wie gut es tat, Kenshin kennen gelernt zu haben. „Dein Idealismus ist wirklich herzerfrischend!“ lachte er. „Weißt du, wenn man eine Weile hier ist, dann hat man das Ziel nicht mehr so klar vor Augen. Manchmal scheint alles im Chaos zu versinken. Versprich mir, dass du dein Ziel nie aus den Augen verlierst, egal was du tun musst!“
 

Lächelnd nickte Kenshin.
 

„Und wer weiß...“ fügte Yoshida hinzu, „wahrscheinlich kommst du deines Alters wegen sogar in die Einheit von Daisuke, Buntaro und mir!“
 

„Das wäre schön.“
 


 

Zwei Tage noch... zwei Tage warten, bevor er endlich das tun konnte, wofür er seinen Meister verlassen hatte.

Wären diese Tage doch nur schon um...
 

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„Und Kenshin? Hast du getan, was ich dir aufgetragen habe?“
 

Gehorsam nickte Kenshin. „Hai, Katsura-sama. Ich habe mir Kyoto gründlich angeschaut. Zwei Tage reichen zwar nicht, um jeden Winkel zu kennen, aber im großen und ganzen habe ich einen Überblick.“
 

Überblick war wohl untertrieben. Fotographisch hatte Kenshin die verzwickten und verwinkelten Gassen Kyotos in seinem Gedächtnis festgehalten. Am Tag hatte er zu Fuß die Strassen erkundet, die Viertel und die lockeren Wohnsiedlungen am bergigen Stadtrand. Nachts war er unauffällig wie ein Schatten von Dach zu Dach gesprungen und hatte das System der Straßen von oben erkundet- das hatte Spaß gemacht und ihn an Hikos Training im Wald erinnert.

Eigentlich war es ziemlich leicht gewesen, sich in dem schachbrett-artig geordneten System an Strassen zurechtzufinden. Es gab viele Brücken und auch viele Gärten in der Stadt. Nur in den ältesten Teilen waren die Viertel kleinteiliger strukturiert, die Häuser enger gedrängt und oftmals hab es versteckte Hinterhöfe und auch versteckte Wege, auf die ihn Yoshida aufmerksam gemacht hatte.

Leichte röte stieg in seinem Gesicht auf, als er sich an das Gion-Viertel erinnerte. Ja, jetzt hatte er die Umschreibung „Vergnügungsviertel“ verstanden.
 

Katsura nickte anerkennend. „Gut. Ich habe mich nicht in dir getäuscht. Dann ist es jetzt soweit!“
 

Er hob das verschnürte Päckchen neben sich auf und schob es Kenshin hin.

„Hier ist deine Choshu-Uniform. Die trägst du immer bei Einsätzen, damit du für Freund und Feind eindeutig erkennbar ist. Für ahnungslose Außenstehende bist du allerdings nicht zu erkennen, denn es ist nicht wirklich eine Uniform sondern es sind einfach nur unsere Farben, Dunkelblau und Grau, an denen man uns erkennen kann. Ich habe Okami-san gebeten, dir noch eine Ersatzuniform und ein paar zivile Kleidungsstücke ins Zimmer zu legen.“
 

„Arigatou, Katsura-san“ bedankte sich Kenshin artig nahm das Päckchen ehrfürchtig in Besitz. Dann blieb sein Blick auf dem hängen, was Katsura als nächstes vom Boden aufhob und vor ihn legte.
 

„Himura Kenshin, hiermit überreiche ich dir dein Daisho. Damit bist du nun offiziell ein Samurai Choshus. Trage deinen Namen und deine Schwerter mit Ehre!“
 

Mit einer leichten Verbeugung überreichte Katsura Kenshin erst das Wakizashi, dann das Katana.
 

Kenshin stand auf und verbeugte sich tief. „Arigatou gozaimashita.“ Flüsterte er, seine leuchtenden Augen immer noch auf das Schwerterpaar gerichtet.
 

Katsura lächelte etwas wehmütig und stand auf.

„Du kannst jetzt gehen! Morgen werden wir deinen ersten Auftrag besprechen.“
 

Mit weichen Knien und vielen Verbeugungen verließ Kenshin das Zimmer, das Bündel mit der Uniform und die zwei Schwerter in den Armen. Mit pochendem Herzen hastete er zu seinem Zimmer, musste aber enttäuscht feststellen, dass Yoshida nicht da war.
 

Ehrfürchtig legte er das Daisho auf seinen Futon und betrachtete es.

Das Schwert war immer noch das Selbe, das sein Meister Hiko ihm damals in den Bergen gegeben hatte. Katsura hatte es gleich am ersten Tag zu dem Schwertschmied Arai Shakku bringen lassen, dessen Ruf wohl ziemlich gut war. Dieser hatte nun dem Schwert eine neue, schwere Scheide gegeben, den Griff erneuert und passend dazu ein Wakizashi entworfen, sodass die beiden Schwerter nun ein Paar ergaben.
 

„Ich bin ein Samurai, ein Samurai Choshus...“ flüsterte er aufgeregt und als Yoshida ein paar Stunden später leise ins Zimmer schlich sah er Kenshin fest und mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht schlafen – die Schwerter im Arm.
 

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Am nächsten Morgen konnte Kenshin gar nicht schnell genug Frühstücken.
 

„Na, du schlingst ja herunter,“ bemerkte Daisuke. „Hast du es so eilig?“
 

„Er bekommt heut seine Anweisungen von Katsura-sama.“ Erklärte Yoshida an Kenshins Stelle, da dieser gerade den Mund vollgestopft hatte.
 

„Von Katsura? Naah, ihr scheint ja dicke Freunde zu sein, was? So oft wie du schon mit Katsura geredet hast...“. Kenshin entging nicht der neidische Unterton in Daisukes Frage. Doch bevor er etwas antworteten konnte, sagte Yoshida: „Er ist halt mit Katsura hergekommen und auch noch jung. Wahrscheinlich soll er für Katsura ein paar persönliche Dinge erledigen.“
 

„Persönlich?“ Daisuke zog die Augenbrauen hoch und lächelte boshaft. „Wie persönlich? Sehr persönlich? Sozusagen intim...Aua, Hey!“

„Baka!“ Yoshida hatte Daisuke mit einer gezielten Kopfnuss zum Schweigen gebracht und dankte im Stillen den Göttern, dass Kenshin noch zu grün hinter den Ohren war, um sexuelle Anspielungen zu verstehen.
 

„Wäsche waschen, Sachen einkaufen... da hast du ja Übung,“ warf jetzt Buntaro ein „Du hast ja schon die letzten zwei Tage wie ein Dienstbote gearbeitet.“

Kenshin ärgerte sich und er schluckte schnell sein Essen hinunter. „Was ist daran so schlimm? Okami-san hat mir gesagt, dass hier zur Zeit zu wenig Personal ist, und da hab ich mir gedacht, ich helfe. Das ist doch nicht...“
 

„Ist ja schon gut, Kenshin,“ beschwichtige Yoshida. „Weißt du, die meisten Samurai halten sich für so was zu fein.“ Er warf einen giftigen Seitenblick auf Buntaro. „Ein Wunder, dass sie alleine ihren Hakama binden können.“
 

„Ah, ich wette, du hast Hintergedanken!“ lachte Daisuke. „Die zwei hübschen Mädchen, wie heißen sie doch noch gleich? Aki und Kiku oder so... na, die sind doch auch in der Küche. Da hilft natürlich Kenshin gerne mal, Hackt Holz, macht Feuer, um die Mädchen zu beeindrucken. Hehe du Fuchs“. Er verpasste Kenshin einen Klaps auf den Rücken, der sich daraufhin verschluckte und rosa anlief. „Oro... das ist nicht so wie du denkst, Daisuke...“
 

Leider kam gerade zu diesem Moment Kiku an ihrem Tisch vorbei und warf Kenshin einen schmachtenden Blick zu und Kenshins Gesichtsfarbe wechselte von rosa zu tiefrot.

„Natürlich, Kenshin...“ lachten die Männer. „Alles ganz harmlos... Mensch Kenshin, du Frauenheld! Buntaro und ich müssen dafür nach Gion gehen und Geld bezahlen. Tja, da kann man nichts machen...“ schloss Daisuke resigniert.
 

Kenshin beeilte sich, den plötzlich viel zu warm gewordenen Frühstücksraum zu verlassen.
 

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Wegen seiner Aufregung, in wenigen Stunden erneut Katsura zu treffen und seine zukünftige Aufgabe zu erfahren, ging Kenshin in den Hof, um seine Kata zu üben. Die verschiedenen Schwierigkeitsstufen der Hiten-Mitsurugi-Technik durchzugehen und ganz in den Schwertschwüngen aufzugehen beruhigte ihn immer.
 

Die meisten Männer waren noch beim Frühstück. Die Herberge hatte zwar ein Dojo, aber nach der peinlichen Situation beim Frühstück wollte Kenshin lieber an der frischen Luft sein. Außerdem, um alle seine Kata zu üben wäre dort die Deckenhöhe zu niedrig.

Er nahm sein Wakizashi aus dem Gürtel und legte es zur Seite. Mit zwei Schwertern umzugehen würde er sich erst später beibringen.
 

Langsam begann er mit den Aufwärmübungen. Sein altes Katana floss wie flüssiger Stahl aus der neuen Scheide und glänzte in der Morgensonne.

Wie immer, wenn er seine Kata durchging, befiel Kenshin eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit. Er war konzentriert bis in die letzte Faser seines Körpers, aber nicht angespannt. Locker flossen die Bewegungen, als ob das Schwert ein Teil seines Körpers wäre.

Immer schneller flog das Schwert durch die Luft als Kenshin die Stufen seines Kata durchging. Bei den schnellsten Techniken war kaum mehr als ein kurzes Aufblitzen des Schwertes in der Sonne erkennbar.
 

Kenshin war so vertieft, das er die Männer, die inzwischen ihr Frühstück beendet hatten und sich nun mit offenen Mündern um den Innenhof versammelten, gar nicht wahr nahm.

Er beendete sein Kata mit einem Furiosen Ryu Tsui Sen und erst als er die letzten sanften Schwertschwünge zur Entspannung abgeschlossen hatte, sah er die Männer auf der Veranda stehen und ihn anstarren.
 

Wie peinlich... er lief schon wieder rot an.

„Ah, gomen...“ murmelte er halblaut. „Ich wollte keinen beim Frühstück stören...“

Schnell ging er an den Männern vorbei, die ihm wortlos Platz machten und hastete in Richtung Katsuras Zimmer.
 

Hinter sich hörte er Geflüster einsetzten.

„Nani? Hast du das gesehen?“

„Gesehen!? Er war so schnell, das man gar nichts sehen konnte!“

„Was war das denn?“

„Kami-sama..... das nicht normal.“

„Was ist das für ein Junge?“

Misstrauisch sahen sie ihm hinterher, als er im Gebäude verschwand.
 

Kenshin versuchte seine Ohren vor dem erneuten Spötteleien zu schließen. Üben denn nicht auch andere im Innenhof? Gestern hatte er doch welche gesehen. So schlecht war sein Kata doch nicht gewesen. Ja, er hatte nicht alles gegeben, die Zeit hatte ja auch nicht gereicht. Mussten die anderen da gleich so entsetzt schauen?
 


 

--
 


 

Nächstes Kapitel: Kenshin erfährt endlich, warum Katsura Kogoro ihn nach Kyoto geholt hat. Und er lernt, was göttliche Gerechtigkeit wirklich bedeutet...
 

Worterklärungen:
 

-sama – Ehrenvolle Endung
 

Baka – Idiot
 

Hakama und Gi – Samurai-Hose zum Binden und passendes Kimono-Oberteil
 

Daisho – Schwerterpaar, bestehend aus dem Katana (Schwert) und Wakizashi (Kurzschwert)
 

Arigatou gozaimashita – ganz besonders viel Dankeschön
 

Kata – Schwerttechnik-Training mit den verschiedenen Schwerttechniken der jeweiligen Schule.
 

Gomen – Sorry
 

Nani? – Was?
 

Kami-sama! – Du Ällmächtiger! Herr im Himmel! Bei den Göttern!

Kapitel 3 - Göttliche Gerechtigkeit

Kenshin erfährt von Katsura Kogoro, was seine Aufgabe in Kyoto sein wird. Doch Hiko Seijuro’s Stimme lässt ihn noch nicht los...
 


 

Ein sehr langes Kapitel... ich hoffe, es gefällt euch ;). Für ein paar Reviews wäre ich sehr dankbar!
 

Kapitel 3 – Göttliche Gerechtigkeit
 


 

„Arigatou, Katsura-sama.“
 

Dankbar nahm Kenshin den hießen Tee entgegen, den Katsura ihm reichte. Nach seinem Training im Innenhof war er geschwitzt und aufgeheizt gewesen, aber jetzt fröstelte ihn die kühle Herbstluft, die durchs offene Fenster in Katsuras privaten Raum hineinwehte.
 

Auch wenn ihm kein langes Familienglück in der ländlichen Idylle vergönnt gewesen war, wusste Kenshin, dass die Erntezeit bereits vorüber war und die letzten Vorbereitungen für den in den Bergen meist sehr strengen Winter getroffen wurden.

Die zugigen Löcher in den meist ärmlicheren Bauernhäusern würden gestopft, das Gemüse eingelagert und ein paar letzte Scheite Holz gehackt werden.
 

Hier in Kyoto, wo er jetzt sein neues Leben unter Katsura Kogoro’s Obhut antreten würde, war es noch Herbst, denn die Stadt lag geschützt zwischen den Bergen und die feuchte Meeresluft brachte häufiger Regen als Schnee.

Kenshin musste innerlich lächeln. Von einem Extrem ins andere. Erst hatte er als Einsiedler mit seinem eigenbrödlerischen Meister Jahrelang nichts als die Gesellschaft von Felsen, Bäumen oder Tieren genossen und jetzt war er ein einer riesigen Stadt, vollgestopft mit Menschen und voller Lärm. Noch wusste er nicht, welche Lebensweise er vorziehen sollte.
 

Kenshins Blick glitt zu dem würdevollen Samurai vor ihm.

Dieser Mann würde von nun an sein Meister sein und er würde in seiner Obhut stehen. Kenshin wartete gespannt, was Katsura ihm alles beibringen würde. Ohne viel zu zögern, hatte er ihm im Lager der Kihei-tai die Treue versprochen. Natürlich würde er sein Versprechen halten. Er hatte sich entschlossen, sein Schwert diesem Mann zu leihen – und sein Leben für ihn und sein Ziel einer gerechten Gesellschaft zu geben.
 

Katsura musterte den Jungen vor ihm. Er war wirklich noch sehr jung. Dennoch...

Die Freundlichkeit wich aus seinem Gesicht.
 

„Himura Kenshin, ich möchte dir von meinem Meister erzählen,“ begann er.
 

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„Er war ein großer Mann. Ein großartiger Lehrmeister. Sein Name war Yoshida Shoin“. Katsura seufze und senkte den Blick.

„Er glaubte an die Freiheit und an die Individualität jedes einzelnen Menschen – nicht nur der herrschenden Samuraiklasse. Für ihn waren alle Menschen gleich, egal ob Samurai, Händler oder Bauern“.

Mit wachsender Leidenschaft in der Stimme fuhr er fort zu erzählen.

„Ich und Takasugi Shinsaku hatten die große Ehre, unter ihm in der Shokason-Schule zu studieren. Nach dieser lehrreichen Zeit schickte er uns aus, ein neues Japan zu erschaffen.
 

Schnell mussten wir erkennen, das nicht jeder nach der selben Freiheit strebte wie wir. Viele meiner Freunde wurden bei dem Versuch, Änderungen herbeizuführen, getötet. Auch unser hochgeschätzter Meister... starb bei einer geheimgehaltenen Massenexekution...“
 

Für einen kurzen Moment sah Kenshin tiefe Trauer in den Augen des Mannes aufflackern, den er jeden Moment mehr bewunderte.
 

„Warum erzähle ich dir das? Weil ich möchte... weil es essenziell ist, das du verstehst!

Yoshida-sensei brachte uns bei, wie wir die dreihundert Jahre lang andauernde Herrschaft des Shogunats beseitigen können – mit Chaos.

Wir müssen diese alte Ordnung ins Chaos stürzen und damit vernichten. Aus der Asche wird die neue Ordnung, eine Ära des Friedens und der Freiheit, entstehen.

Um diese Ziele erreichen zu können, müssen wir selbst uns auch dem Chaos hingeben.

Das ist der Weg der Choshuu-Fraktion. Wir bringen Chaos und Unordnung, doch dadurch wird eine neue, gerechtere Ordnung entstehen.

Das Chaos des Bakumatsu, das wir gesät haben und das Kyoto beherrscht ist unsere Stärke und unsere Motivation.
 

Manchmal...“ Katsura unterbrach sich einen Moment und er sah plötzlich alt und müde aus.

„Manchmal scheint es hoffnungslos. Wir Choshuu Ishin Shishi sind zahlenmäßig den Bakufu-Streitkräften um ein vielfaches unterlegen. Im Moment wäre ein direkter Konflikt aussichtslos. Deswegen können wir nur im Verborgenen handeln.
 

Doch wie Yoshida-Sensei mir beibrachte, gewinnen am Ende diejenigen, die sich in ihren Entscheidungen und Zielen sicher sind und durchhalten.

Und unsere Herzen müssen rein sein, rein und entschlossen.“
 

Er fixierte Kenshins strahlend blaue Augen und ihm war, als ob Katsura-sama bis auf den Grund seines Herzen zu schauen vermochte.
 

„Himura – du hast das reinste Herz, das ich jemals gesehen habe.“
 

Unsicher, was er mit dieser Feststellung anfangen sollte, errötete Kenshin und verbeugte sich.
 

„Ihr bringt diesem Unwürdigen zuviel Ehre entgegen, Katsura-sama.“
 

„Nicht mehr als du verdienst Kenshin. Sieh mich an!“
 

Kenshin hob den Kopf und blickte erneut in die dunklen Augen Katsuras. Plötzlich war ihm, als könne er durch sie hindurchsehen, hinein in das Herz des Mannes vor ihm. Mehr als alle Worte Katsuras sagte ihm dieser kurze Augenblick der totalen Offenheit.

In Stillem Einverständnis senkten beide ihre Blicke und verbeugten sich tief voreinander. Sie hatten jeweils in das Herz des anderen geblickt. Und beide hatten tiefes Vertrauen ineinander gefunden.
 

Katsura wusste jetzt, das dieser Junge ihm ohne zu zögern bis in den Tod folgen würde. Und er wusste, dass er stark genug war, die schwere, nein, die schwerste aller Aufgaben in dieser Revolution zu übernehmen.
 

„Kenshin... im Lager der Kiheitai habe ich dich gefragt, ob du mir dein Schwert und die Hiten-Mitsurugi-Technik zur Verfügung stellen willst. Und ob du für mich töten kannst...
 

Du hast verstanden, worum es in dieser Revolution geht. Du hast deine Wahl getroffen.

Doch ich frage dich erneut: Bist du bereit, die Aufgabe auszuführen, die für dich vorgesehen ist? Bist du bereit, das Alte zu zerstören?
 

Kannst du der Bote der göttlichen Gerechtigkeit - des Tenchuu - sein?

Die göttliche Gerechtigkeit mag denen gegenüber, die Unrecht und Schrecken verbreiten, wie Wahnsinn erscheinen. Doch hinter dem Wahnsinn wird am Ende ein neues Zeitalter stehen.“
 

Kenshin rückte hin und her. Er war sich nicht sicher, ob er alles von dem, was Katsura zu ihm gesagt hatte, verstanden hatte. Immerhin ging es hier um Dinge, die die Zukunft des ganzen Landes betrafen. Er bekam eine Gänsehaut angesichts der Möglichkeit, die ihm hier geboten wurde.
 

„Was... muss der Bote der göttlichen Gerechtigkeit tun?“ fragte Kenshin atemlos.
 

Katsura senkte den Blick. „Du musst dein Herz verschließen. Du musst stark sein. Du musst wahnsinnig werden und doch niemals das Ziel vor Augen verlieren.“
 

Kenshin blinzelte. Diese Antwort hatte ihm nicht wirklich weitergeholfen.

Wie sollte er den Ishin Shishi nützen, wenn er wahnsinnig wurde?
 

„Nur durch Wahnsinn,“ fuhr Katsura erklärend fort, „können wir unsere Gegner erschüttern und in die Knie zwingen. Wir verbreiten Chaos. Wir stürzen Kyoto in die blutige Revolution. Und wenn das Bakufu diesem Chaos nicht mehr Herr werden kann, wird es stürzen.
 

Ich brauche dich, Kenshin, um dieses Chaos über unsere Feinde zu bringen. Dein Auftrag wird sein, diejenigen, die dem neuen Zeitalter im Wege stehen, zu töten. Wir können nicht offen gegen unsere Widersacher vorgehen. Deswegen brauchen wir jemanden, der sie heimlich beseitigt. Unser Losungswort wird „Tenchuu“ sein.
 

Überall, wo das Tenchuu vollstreckt wird, werden die Menschen wissen, dass es für eine höhere Gerechtigkeit steht. Du musst unsere Feinde heimlich im Auftrag der göttlichen Gerechtigkeit töten.
 

Mit deiner Hilfe beseitigen wir die Stützen und Standbeine des Shogunats. Dann ist es geschwächt und wir können offen vorgehen. Erkennst du, wie wichtig deine Aufgabe ist? Nur du hast das Talent dazu, der Revolution und dem neuen Zeitalter den Weg zu ebnen!“
 

Kenshin ließ Katsuras Worte in sich einsickern. Es schien sich alles zusammen zu fügen. Er hatte seinen Meister verlassen, um die Unruhen der Zeit, die so viele Menschenleben forderten, entgegenzutreten. Und hier saß er, mit der Möglichkeit vor Augen, ein neues Zeitalter zu schaffen. Wenn er mit seinem Schwert diese göttliche Gerechtigkeit vollführte – Menschen tötete – dann würde das neue Zeitalter schnell hereinbrechen.
 

„Kein Mensch kann das, worum ich dich bitte, von dir verlangen,“ unterbrach Katsura seine Gedankengänge. „Ich verstehe vollkommen, wenn du diesen Auftrag ablehnst. Es wäre keine Schande.“
 

Kenshins Blick verhärtete sich.
 

„Ihr fragtet mich, ob ich euch meinen Schwertarm zur Verfügung stellen will. Und ich antwortete euch, dass ich alles, was in meiner Macht steht, tun will, um eine neue Ära des Friedens und der Freiheit herbei zu führen.

Ich habe euch mein Wort bereits im Lager der Kihei-Tai gegeben. Daran hat sich nichts und wird sich auch nichts ändern!“
 

Katsura nickte. Die Entscheidung war besiegelt – und somit auch das Schicksal des Jungen.
 

„Gut. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Dein erster Auftrag wird bereits heute Nacht stattfinden. Hier...“ Er reichte Kenshin einen schwarzen Umschlag. „Darin findest du Ort, Uhrzeit und den Namen des Feindes. Er ist einer der Hauptwaffenlieferanten für die Bakufu-Streitkräfte hier in Kyoto. Sein Verlust wäre ein harter Schlag und die Waffenzufuhr nach Kyoto würde einige Tage unkoordiniert und stockend sein – genug Zeit für uns, einen Vorteil aus dieser Situation zu gewinnen.“
 

Kenshin starrte auf den schwarzen Umschlag und es lief ihm kalt den Rücken herunter, als er ihn schließlich entgegennahm.
 

Aus dem Augenwinkel beobachtete Katsura seine Reaktion. Er hatte viel Vertrauen in die Fähigkeiten des Jungen und er riskierte viel dabei, ihn für so eine gefährliche Aufgabe einzusetzen. Schließlich war er noch ein Junge, kaum fünfzehn Jahre alt. Er schloss die Augen. Ob der Junge für die Aufgabe dieser Art stark genug war, würde sich in wenigen Wochen zeigen. Noch war er nicht der einzige, der für die Ishin Shishi tötete und ob er der Beste Mann für diesen Auftrag war, würde sich herausstellen. Immerhin, überlegte Katsura, hatte der Junge in diesem Jahr gewissermaßen nur den Einstieg vor sich. Die wichtigsten Aufträge könnte er erst mit der Zeit erledigen und das war erst nach dem Winter. Doch bis dahin hätte er immerhin Gelegenheit sich einzuarbeiten und seine Willensstärke unter Beweis zu stellen.
 

Niemand, der nicht einen starken Willen und ein klares Ziel vor Augen hatte, konnte in dieser Branche lange überleben...
 

Katsura beschloss, es dem Jungen am Anfang so einfach wie möglich zu machen.
 

„Er hat keine Familie,“ erklärte, die Augen auf den schwarzen Umschlag in Kenshins Händen gerichtet, „er lebt allein. Bekannt geworden ist er durch die Grausamkeit, mit der er seine Untergebenen behandelt. Und vor allem seine Feinde. Gnade ist ihm fremd, deswegen zeige auch du keine! Sei schnell und unsichtbar. Keiner darf von deiner Existenz erfahren und das du zu Choshuu gehörst, sonst ist nicht nur dein Leben verwirkt, sondern auch unsere Revolution in Gefahr!
 

Das ist alles. Du kannst dich jetzt entfernen.“
 

Mühsam kam Kenshin auf die Beine. Sein Körper fühlte sich plötzlich sehr schwer an.

Er sah sich selbst den schwarzen Umschlag nehmen, ihn im Ärmel seines Gi verstauen und ehe er wieder klar denken konnte, hatte er schon sein Zimmer, das Gott sei Dank leer war, erreicht.
 

Wie nach einem harten Trainingstag erschöpft ließ er sich auf die Fensterbank fallen und betrachtete den Himmel. Die Sonne stand kurz vor Mittag. In der Nähe plätscherte ein Bach. Er konnte einige Leute auf der Straße vorbeigehen hören, im Gespräch vertieft, lachend. Alles schien so unwirklich.
 

Dennoch - er hatte einfach das Gefühl, dass es nicht anders hätte kommen können.
 

Vor wenigen Tagen war er noch bei seinem Shishou in den Bergen gewesen. Und jetzt war hier in Kyoto, und der Anführer der Choshuu Ishin Shishi übergab ihm persönlich eine der, wie er sagte, wichtigsten Aufgaben.

Er hatte sein Wort gegeben. Für die friedliche neue Welt würde er auf Katsuras Auftrag hin Menschen töten. Er würde seine eigenen Hände beschmutzen, aber was bedeutete das schon? Für eine größere Sache war er bereit, sich zu opfern!

Endlich konnte er den Tod derjenigen, die für ihn gestorben waren, wieder gut machen. Und er würde alles dafür geben.
 

Als Yoshida kurz darauf das Zimmer betrat, um Kenshin zum Mittagessen abzuholen und ihn nach seinem Gespräch mit Kogoro-sama zu fragen, fand er nur dessen abgetragene Kleidung auf dem Futon liegend vor.
 

„Aa... er hat die Choshuu-Uniform angezogen. Wird wohl schon losgeschickt worden sein.“
 

Neugierig ging er alleine zum Essensaal und grübelte, welchen Auftrag ein 14-jähriger wohl für die Ishin Shishi zu erledigen hatte.
 

Unterdessen speiste Katsura alleine in seinem Zimmer.

Er fühlte sich, als hätte er gerade jemanden umgebracht. Und das entsprach auch zum Teil der Wahrheit. Es war zwar letztendlich die eigene Entscheidung des Jungen gewesen, aber letzten Endes trug er die Verantwortung.

Er dachte an Kenshins helle blaue Augen und an sein reines, offenes Herz.

Wie entschlossen er eingewilligt hatte... Er hatte ja keine Ahnung, welch schwere Aufgaben noch vor ihm lagen. Und was die göttliche Gerechtigkeit für einen Wahnsinn bedeutete...
 

Er hatte diesen unschuldigen Jungen heute zum Mörder gemacht. Aber eines wusste Katsura Kogoro schon jetzt – wie viele Menschen er auch immer dem Jungen zu töten befehlen würde – sein Geist würde rein und ohne Bedauern sein, denn nichts, was er sich sehnlichster wünschte war, durch seine Taten anderen Menschen zu helfen.
 


 

--
 


 

Bunte Blätter segelten zu Boden und raschelten traurig. Der Herbst hatte sich über das Land gelegt, es in ein Meer aus flammendem Rot und leuchtendem Gelb verwandelt. Trostlos ragten bereits Gerippe kahl gewordener Bäume in den Abendhimmel.

Eine unheimliche Stille lag unter den Bäumen, zwischen denen allmählich der Nebel hervor kroch und sich in einem bläulichem Dunst über ganz Kyoto legte. Der Horizont begann sich langsam zu verdunkeln. Plötzlich schoss ein aufgeregt zwitschernder Vogel aus dem Geäst und löste Kenshin Himura aus seiner Erstarrung.
 

Wie lange saß er jetzt schon hier, am Stadtrand von Kyoto? Er hatte die Einsamkeit gesucht, und ein Wäldchen gefunden, nicht ganz außerhalb der Stadt, aber doch genug abgeschieden. Es lag auf einer Anhöhe und ein kleiner Schrein stand unweit hinter den letzten Bäumen. Vor ihm in der Talsohle breitete sich Kyoto aus, dominiert von dem mehrgeschossigen Kaiserpalast, dessen höchsten Zinnen noch im Abendrot glitzernden, während die Stadt bereits ins Dunkel sank.
 

Abrupt stand Kenshin auf und streckte seine steifen Glieder. Nicht, dass er es nicht gewohnt war, Stunden in ein und der selben Position zu verharren... es war, als wolle sein Körper stumm dem Wiederstand leisten, was heute noch auf ihn wartete...
 

Mit einem plötzlichen Schock traf ihn die Realität. Heute noch würde er das erste Mal in seinem Leben einen Menschen töten.
 

Fröstelnd zog er langsam sein Schwert. Es fühlte sich jetzt besonders schwer in seiner Hand an. Er betrachtete die Klinge... sein Spiegelbild in ihr. Die roten Haare flammten in der Abendsonne wie Feuer.
 

Seit er um die Mittagszeit hierher gekommen war, hatte er nichts getan, als dazusitzen und über die Vergangenheit nach zu grübeln. Über das, was ihm sein Shishou beigebracht hatte – und besonders über die Lehre Katsura-samas und die göttliche Gerechtigkeit, die seinen Einsatz erforderte.
 

Würde die Notwendigkeit seine Taten rechtfertigen?
 

Die vielen Stunden Nachdenkens hatten ihm keine Antwort gebracht und leise seufzend befürchtete er, dass er wohl auch keine Antwort auf seine Fragen geben würde.

Dem einzigsten, dem er sich jetzt rechtfertigen musste, war Katsura-sama, der auf ihn zählte. Und sein eigenes Gewissen. Zweifelte er etwa an der Richtigkeit seines Handelns? Wofür hatte er denn sonst seinen Meister verlassen, wenn nicht, um endlich etwas zu verändern, egal, mit welchen Mitteln...
 

Er verstärkte seinen Willen, rief sich Katsuras entschlossenes Gesicht in Erinnerung. Es gab jetzt keinen Platz für Zweifeln oder Zögern. Um der neuen Ära willen war Entschlossenheit gefragt.
 

Und um sich von allen lästigen, unbeantwortbaren Fragen zu befreien, begann er erneut seine Schwertübungen. Eine nach der anderen ging er durch, während die Sonne immer weiter sank, verbissen zuerst, dann zunehmend entspannter. Das Kata tat seine übliche Wirkung – es beruhigte seine innerliche Aufgewühltheit.

Nach einiger Zeit waren er und sein Schwert wieder eins, so wie es immer gewesen war.

Geschwitzt aber innerlich ruhig beendete Kenshin seine Übungen. Sein Schwert glitt in die neue Scheide neben dem neuen Wakizashi an seinem Gürtel – seine Insignien als Samurai Choshuus und – was nur Kenshin wusste – als Vertrauter Katsura Kogoros.
 

Entschlossenen Schrittes begab sich Kenshin in Richtung des Ji-Mugen-Schreins, gerade als die Sonne hinter den letzten Gipfeln der Kyoto einrahmenden Berge verschwand.
 

Ji-Mugen-Schrein. So stand es in dem Umschlag. Dort würde Hanzo Tamamoto um kurz vor Mitternacht auf ihn warten. Besser gesagt, ER würde ihn dort erwarten, hatte doch Tamamoto keinerlei Ahnung von dem endgültigen Treffen, das ihm bevor stand. Er ging nur seinem wöchentlichen, scheinheiligen Gebet nach, jede Woche der selbe Tag, die selbe Uhrzeit – Räucherstäbchen anzünden für sein Seelenheil.
 

Kenshins Blick verdüsterte sich. Katsura hatte ihm gegenüber die Verbrechen dieses Mannes angedeutet. Verdient er es deshalb, zu sterben?
 

Da, der Schrein war schon in Sichtweite. Er hatte nur eine knappe Stunde von dem Wäldchen aus gebraucht. Dann musste es jetzt gegen 21 Uhr sein. Gut. Genug Zeit, den Platz zu inspizieren.
 

Der Schrein war winzig, eine kleine Hütte zwischen lichten Bäumen.

Schnell, einem Schatten gleich, glitt Kenshin einen nahen Baum hinauf und versteckte sich zwischen den Ästen. Jetzt konnte er nur noch warten...
 

...Warten...

Da! Etwas raschelte. Das musste Hiko sein!

Kenshin hielt den Atem an. Den halben Tag hatte er sich hier in der Baumkrone versteckt. Ihm tat alles weh.

„Versuche, mich zu überraschen. Du musst dein Ki gut verstecken. Sonst spüre ich deine Anwesenheit“. Das waren die Worte seines Meisters gewesen, dann war er im Wald verschwunden.
 

Unsicher, was wohl jetzt wieder für ein ungewöhnliches Training auf ihn wartete und was für neue schmerzliche Methoden sein Meister für ihn bereit hielt, hatte sich Kenshin auf den Weg gemacht.
 

Zuerst war er seinem Meister gefolgt, doch dann war sein Ki plötzlich wie ausgelöscht.

„Grmpf..“ hatte er gemurmelt. Sein Meister beherrschte offensichtlich die Kunst des Ki-maskierens.

Also warten. Warten, bis sein Meister zufällig irgendwo in der Nähe vorbeikam.

Jetzt war es soweit. Also keinen Fehler machen!

Nur noch wenige Meter. Hiko näherte sich genau seinem Baum.

Kenshin konzentrierte sich. Er versuchte innerlich ruhig zu werden und nichts von seinem Kämpfergeist nach außen dringen zu lassen.
 

Als er einen Blick auf den Weisen Mantel seines Shishous haschen konnte, sprang er lautlos und schneller wie der Blitz vom Baum. Er versuchte ein Ryu Tsui Sen und zielte auf die Schulter seines Meisters. Doch in dem Moment, in dem sein Holzschwert eigentlich treffen sollte, war sein Meister verschwunden, sein Bokken traf hart die Erde, gefolgt von seinem Körper, niedergeschlagen von der Wucht des Gegenangriffs.
 

„Baka Deshi!“ Zischte Hiko Seijuro erzürnt.
 

Mit zusammengebissenen Zähnen kam Kenshin wieder auf die Beine und versuchte, den hämmernden Schmerz in seinem Rücken, da wo ihn Hikos Schwert mit der stumpfen Seite der Klinge getroffen hatte, zu unterdrücken.
 

„Was hab ich dir gesagt?“ Herrschte dieser ihn an. „Maskiere dein Ki! Was machst du? Du wirfst es mir förmlich ins Gesicht. Schon Kilometer entfernt konnte ich deine Dummheit spüren. Was glaubst du, wäre ich sonst direkt zu dem Baum gelaufen? Das wäre schon ein außergewöhnlicher Zufall gewesen!“
 

„Aber Shishou.. ich hab’s versucht! Ich hab...“
 

„Du hast dich nicht unter Kontrolle. Du musst lernen, deine Gefühle in dir abzuschotten und nicht nach außen strahlen zu lassen. Du beherrscht zwar nach hartem Training jetzt die Kunst, die Ki deines Gegners zu spüren und im Gegenzug deine eigene Ki einzusetzen, deine Gegner einzuschüchtern, zu provozieren oder zu täuschen. Doch die wahre Kunst ist es, sein Ki vollkommen zu verstecken. Unsichtbar zu werden. Wenn du dies meisterst, dann erst hast du Kontrolle über dich. Dieser Schritt ist sehr wichtig für die Schwertkunst.
 

Also... wenn du’s nicht bald schaffst, mich unvorbereitet zu überraschen, dann können wir das Training gleich sein lassen!“
 

Grimmig packte Kenshin sein Bokken. „Hai!“ rief er wütend.

„Wir werden in diesem Waldstück trainieren. Dann ist der Raum schon mal begrenzt. Das heißt, früher oder später werde ich dir über den Weg laufen. Doch sollte ich dich vorher spüren, dann wird das gleiche passieren wie eben...,“ lächelte Hiko und war verschwunden.
 

Kenshin rieb sich den schmerzenden Rücken. Das konnte ja heiter werden!
 

Es hatte damals 5 Tage gedauert, bis Kenshin es schaffte, seinen Shishou wenigstens mit dem Bokken zu berühren. Er hatte trotzdem einen Konterschlag eingesteckt. Doch von der Leichtigkeit, mit der er diesen weggesteckt hatte, konnte Kenshin sagen, dass sein Meister erfreut war. Ein Lob bekam er trotzdem nicht zu hören.
 

„Fünf Tage? Wieso hat das so lange gedauert? Fünf Tage musste ich durch den Wald rennen und auf deinen Angriff warten.

Wenn wir bei der Hütte sind, wirst du gleich das Bad anheizen. Ich fühle mich so verspannt... außerdem muss meine Kleidung dringend gewaschen werden. Mein Essen möchte ich in’s Bad haben. Ich hoffe, es ist noch genug Sake da, sonst musst du ins Dorf laufen und welchen holen...“


 

Jetzt, mit genug zeitlichem und räumlichen Abstand konnte er über die exzentrische Art seines Meisters lächeln. Damals hatte er eher das Gefühl, gleich zu sterben.
 

„Shishou...,“ flüsterte er in die Baumkrone. Komisch, dass ihm ausgerechnet jetzt diese Erinnerung kam. Obwohl die Situation ähnlich war, konnten die Umstände nicht verschiedener sein.
 

Hier stand er in der Baumkrone, nicht mit einem Bokken, sondern mit einem Schwert. Bereit, zu töten.

Sein Körper verkrampfte sich, als sein Herz plötzlich das Rasen anfing.

Was war denn jetzt los? Warum war er plötzlich so nervös?

Ruhig. Konzentration. Atmen.

Er hörte Schritte. War die Zeit so schnell vergangen?

Angestrengt spähte er durch das Halbdunkel der heraufziehenden Nacht. Dunkel genug, ihn zwischen dem spärlichen Laub zu verstecken. Hell genug, den Mann auf dem Weg zum Schrein seinen Blicken preiszugeben.
 

Er spannte sich an. Tausend Gedanken rasten ihm durch den Kopf.

Was, wenn er nicht allein ist? Keiner durfte ihn sehen!

Doch er war allein. Warum dreht er nicht einfach um? Dreh um! Geh weg!

Seine Finger krampften sich um seinen Schwertgriff. Jetzt gab es kein zurück. Dieser Mann war ein Verbrecher. Er verdiente es, zu sterben. Für die neue Ära! Katsura-samas Auftrag musste ausgeführt werden!
 

Er erspürte die Ki des Mannes – sie war energisch, launisch, grausam. Und schwach.

Auch wenn dieser Mann es an die Spitze eines Waffenkonglomerates gebracht hatte, war sein Kämpfergeist der eines im Grunde seines Herzens feigen Mannes, der seinen Ruhm auf Intrigen und Verrat gebaut hatte.
 

Kenshin mobilisierte all seine Willenskraft um seinen Auftrag ausführen zu können. Er fühlte, dass dieser Mann böse war, jemand, der Schwache ausbeutete und quälte. Er erinnerte sich an die Wut der Hilflosigkeit, die er empfunden hatte, als er zusehen musste, wie Männer dieser Art seine Beschützerinnen töteten. Diesmal war er nicht hilflos. Diesmal konnte er seine Wut in eine Tat der Genugtuung umwandeln. Dieser Mann würde niemandem mehr weh tun!
 

Hanzo Tamamoto ging direkt unter ihm vorbei, und als er ihm den Rücken kehrte, sprang Kenshin geräuschlos aus seinem Versteck.
 

Seine Miene hatte sich versteinert. Sein Blick war entschlossen. Er ließ seiner bisher versteckten Wut freien Lauf und warf seinem Opfer seine feindliche Ki entgegen.

„Tamamoto Hanzo ... für deine Verbrechen gegen unschuldige Menschen wirst du nun im Namen des Tenchuu büßen.” Er war selbst überrascht, wie fest seine Stimme klang.
 

Erschrocken ob der unerwarteten feindlichen Ki und der kalt ausgesprochenen Drohung fuhr Tamamoto herum und seine Augen weiteten sich einen kurzen Moment vor Entsetzen und Ungläubigkeit, bevor ihn die Klinge traf, das Licht seiner Augen auslöschte und den Schrei, der seiner Kehle entfuhr, ein einem Röcheln enden ließ.
 

Kenshin stand da und starrte in das leblose, verzerrte, ihn immer noch ungläubig anstarrende Gesicht. Das Gesicht zu dem Namen in dem Umschlag. Er fühlte nichts.

Dann hob er seinen Blick zu den Sternen, die inzwischen hell glitzernd am Himmel standen.

Er hatte immer mit seinem Shishou die Sterne betrachtet. Sie beide zusammen, friedlich, ohne Sticheleien und ohne die Anstrengung des Trainings. Fast wie Vater und Sohn...
 


 

--
 

Es dauerte einige Minuten, bis der eigenartige, aber nicht unbekannte Geruch Kenshins Nase erreicht hatte... Blitzartig durchzuckten ihn Erinnerungensfetzen an jene grauenvolle Vollmondnacht vor fünf Jahren, in der er zum ersten Mal die schreckliche Intensität dieses Geruches kennen gelernt hatte.
 

Blut.
 

Es war auf seinen Händen, auf seinem dunkelblauen Gi und seinen grauen Hakama, auf seinem Schwert, selbst in seinen Haaren, von wo aus es langsam zu Boden tropfte.
 

Der Geruch von Blut. Wärmlich-süß und gleichzeitig metallisch-kalt.
 

Ihm wurde nicht übel. Er war überrascht. Überrascht, wie einfach alles war. Wie einfach er diesen Auftrag ausgeführt hatte. Wie alles nach Plan verlaufen war.
 

Wie einfach töten war.
 

„Hey du!“
 

Kenshin fluchte innerlich ob seiner Nachlässigkeit und fuhr herum.

Er spürte kein feindliches Ki, und der Mann, der sich ihm näherte, hatte die Choshuu-Uniform an.
 

„Ich bin Izuka!“ Außer Atem hastete der Fremde an ihm vorbei zu der am Boden liegenden Leiche. „Saubere Arbeit!“ entfuhr es ihm. „Ein gründlicher und akkurater Schnitt. Erstes Mal für dich?“
 

Etwas perplex war Kenshin nur im Stande zu nicken. Wer war diese seltsame Gestalt? Ein schmächtiges Männchen mit verschlagenem Gesicht, schwarzen, kurzen Haaren und einem kleinen Bärtchen. Sein Erscheinen war genauso rätselhaft wie seine Ki, aus deren vielschichtigen Empfindungen so gut wie gar nicht schlau zu werden war.
 

Izuka bemerkte Kenshins durchdringenden Blick und wandte sich ihm mit einem verschwörerischen Lächeln zu.

„Du bist Himura-san, nicht? Unverkennbar, wie mir Katsura-san mitteilte, an deinen roten Haaren. Wie ich schon sagte, ich bin Izuka. Katsura Kogoros Mann für die Koordination der Geheimoperationen. Kurz gesagt, mein Job ist es, deinen Job zu überprüfen und zu begutachten, haha. Hier!“ Er reichte Kenshin ein Stück Reispapier.
 

Langsam und immer noch misstrauisch nahm er es entgegen.
 

„Reiß dich zusammen, Junge.“ Izuka interpretierte Kenshins zögerliches Verhalten wohl als Schock. „Einige übergeben sich. Andere weinen. Wieder andere verlieren gleich den Verstand. Das ist ganz verschieden bei dem Job als Attentäter...“
 

Attentäter?! So hatte es Katsura-sama nicht ausgedrückt...
 

Mit belegter Stimme konnte Kenshin endlich antworten. „Ich fühle mich eigentlich ganz gut. Es war... leichter, als ich dachte.“
 

Langsam zog er das Reispapier über die blutige Schwertschneide und wischte auch das Blut von seinem ledernen Handschutz. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Izuka einen Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ auf den Rücken des Toten legte.
 

„Lass uns schnell gehen“. Freundlich lächelnd packte er Kenshin am Ärmel und zog ihn hinter sich her, den Lichtern der Stadt entgegen.

Kenshin ließ sich willenlos von Izuka führen, der offensichtlich ein Vertrauter Katsura-samas war und der nun, auf dem Weg zurück zur Stadt, unbekümmert ein fröhliches Lied in die Nachtluft trällerte.
 

Ja, dieser Mann war wirklich seltsam.

Wie schaffte er es, in einem Moment einen blutüberströmten Körper zu begutachten und im nächsten ein Lied zu pfeifen?
 

„Nani?“ fragte Izuka, als ob er ihn gehört hätte, „wunderst du dich über mich? Da bist du nicht der Erste. Es gab schon Attentäter vor dir, die haben mich das auch gefragt. Warum ich so fröhlich sein kann, obwohl ich fast täglich mit blutigen Leichen zu tun habe...“. Er spuckte aus. „Naah, was soll ich dazu sagen? Das Leben ist kurz. Man sollte nicht zu lange bei den schlechten, sondern lieber bei den guten Momenten verweilen. Deswegen...,“ drehte er sich zu Kenshin um, „biege ich jetzt in Richtung Gion-Viertel ab. Willst du mitkommen, und dir dein Trübsal von süßer Gesellschaft verscheuchen lassen?“
 

„Ie, ich muss ablehnen. Arigatou, Izuka-san, aber ich möchte lieber allein sein.“.
 

„Na gut. Anderen vor dir hat die Ablenkung geholfen, also dachte ich, ich frage wenigstens. Bis zum nächsten Mal!“ sprach er und war so schnell verschwunden, wie er gekommen war.
 

Irritiert blieb Kenshin zurück.

Bis zum nächsten Mal? Soweit hatte er noch gar nicht gedacht...Er hatte sich jetzt schon kaum überwinden können.

Und es gab noch mehr wie ihn? Hatte Katsura nicht betont, wie wichtig er war, nur er? Hätte dann nicht ein anderer den Job von gerade eben machen können?

Seinen Job. Er war jetzt ein Attentäter... Ein Auftragsmörder...

Mörder...
 

Mit einem Schlag traf es ihn und er musste sich an der Hauswand, an der er gerade stand, festkrallen um nicht einfach umzufallen. Seine Beine waren plötzlich wie Gummi, er konnte kaum atmen und seine Hände zitterten.
 

Er hatte gerade einen Menschen getötet. Einfach so. Zack.

Noch viel schlimmer – er hatte nichts dabei empfunden.
 

Er hatte noch das Blut dieses Menschen an sich – er sah das Gesicht vor sich, Augen vor Entsetzen geweitet, Mund sprachlos offen – er roch es, er spürte es an sich kleben.

Horror und Ekel ergriffen von ihm Besitz und er rannte wie ein Gejagter den restlichen Weg zur Herberge zurück.
 

Schnurstracks ging er in Richtung Badehaus und wenn ihm Menschen begegnet wären, hätte er es nicht bemerkt. Er roch nur das Blut und wollte so schnell wie möglich sauber werden.

Sauber!
 

Er schüttete einen Eimer Wasser über sich und zuckte zusammen. Eiskalt. Genau wie er. Eiskalt hatte er eben einen Mann getötet.
 

Hatomo war bewaffnet gewesen. Er war noch dazu höchstwahrscheinlich ein vielfacher Mörder. Er hatte sterben müssen, um der neuen Ära den Weg zu ebnen und Kenshin vertraute Katsura’s Entscheidung bedingungslos. Es war Notwendig.

Dennoch... es war ein Mensch. Und er hatte ihn zwar gewarnt, aber so schnell getötet, dass er nicht die geringste Chance hatte, sich zu verteidigen.
 

Der nächste Eimer kaltes Wasser platschte über ihn.
 

Panikartig zog er seine Kleidung aus und schleuderte sie in die Ecke.

Nachdem er sich abgeschrubbt und einige Eimer Wasser mehr gelehrt hatte, band er sich ein Handtuch, das er glücklicherweise noch im Waschraum fand, um und war schon dabei, den Raum zu verlassen, als sein Blick auf die immer noch in der Ecke zusammengeknüllt liegende Uniform fiel.
 

Das Blut, das seinen dunkelblauen Gi leicht dunkel färbte, fiel kaum auf. Dennoch sprang es ihm sofort ins Auge.
 

Waschen. Sofort.

Er konzentrierte sich auf die einfachen Handlungen um nicht in Panik zu verfallen.

Schrubben. Wasser. Abtrocknen.

Waschen.

Er fand ein Waschbrett und schrubbte wild seinen Gi. Soweit er es im Mondlicht erkennen konnte, war das Wasser nicht einmal leicht rot gefärbt.

Dennoch wusch er ihn drei Mal und seine Hakama zur Sicherheit auch, bevor er beides zum Trocknen an die Luft hing.
 

Erst jetzt merkte er, das es ungewöhnlich ruhig in der Herberge war. Die meisten Männer waren wohl ausgegangen. Es musste wohl Wochenende sein. Wahrscheinlich feierten sie wie Izuka-san in Gion, tranken, würfelten, scherzten...
 

Es kam ihm seltsam vor, das andere Menschen unbeschwert ihr Leben führen konnten, während er hier stand und immer noch das längst abgewaschene Blut an seinen Händen fühlte.

Doch gut, dass keiner da war. Es wäre ihm unerträglich gewesen, jetzt einen Menschen zu treffen. Noch dazu im Handtuch, nachts mitten auf dem Hof, im Herbst.
 

Schnell stieg er die Treppe zu seinem und Yoshidas Zimmer hinauf. Vor der Tür hielt er kurz inne, doch er spürte und hörte nichts, also war offensichtlich keiner da. Erleichtert glitt er ins dunkle Zimmer, zog sich schnell seinen Schlafkimono an und schlüpfte unter die Decke.

Sein Schwert, dass er zuvor ebenfalls gründlich gereinigt hatte, legte er griffbereit neben sich.
 

Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Alles was er sehen konnte, sobald er die Augen schloss, war das verzerrte Gesicht des Mannes und sein Schwert, das dieses Gesicht spaltete wie eine reife Melone.

Er fühlte noch die Bewegung seiner Arme, den Wiederstand, auf den sein Schwert stieß, und das Geräusch, als er es herauszog und der Körper zu boden platschte wie ein nasser Sack, röchelnd und dann stumm.
 

Er starrte an die Decke und hörte sein Herz schwer in der Brust klopfen.

„Baka...“ murmelte er, als er seinen Meister mit vorwurfsvollem und stechendem Blick vor sich sah.

Plötzlich sah er sich selbst auf einem Baum stehen. Wie damals, bei seinem Training mit Hiko. Da. Er sah den Mann kommen. Er sah sich vom Baum springen.

Er holte mit einem weiten Streich aus und schlug das Schwert in den Kopf – seines Meisters?! Blutüberströmt sank der Körper zu Boden. „Shishou!!“ schrie er. Was hatte er getan?

„Mörder..“ flüsterten die unbewegten Lippen der Leiche am Boden. „Du hast mich getötet.“

„Nein...“ flehte Kenshin.

Er schreckte hoch. Verlor er jetzt den Verstand? Oder hatte die Müdigkeit ihm diesen Streich gespielt? Jetzt war er jedenfalls hellwach.
 

„Shishou...“ Kenshin setzte sich auf und nahm das Schwert, das ihm sein Meister geschenkt hatte, zur Hand.

Langsam zog er es aus der Scheide und war überrascht, es nicht voller Blut sondern schön glänzend zu sehen.

Sein Albtraum von gerade eben... Shishou... Er fühlte plötzlich das Gewicht eines Lebens auf seinen Schultern lasten, schwer wie ein großer Felsbrocken.

Er konnte kaum atmen.

Was hatte er getan? Die Endgültigkeit seiner Tat traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht.
 

Es war nur ein Traum, in dem er Hiko getötet hatte. Doch Kenshin wusste, das es keinen Unterschied machte.

Heute hatte er den Hiko in sich selbst getötet. Die mahnende Stimme seines Meisters war verstummt. Er hatte sie mit seinem Willen besiegt und mit Blut besiegelt.

Er hatte die Lehren seines Meisters missachtet. Zugunsten Katsura-samas Tenchuu.
 

Das Schwert in seinen Händen hätte er am liebsten aus dem Fenster geworfen. Er fühlte sich unwürdiger denn je, es zu besitzen.

Er hatte das Schwert, das ehrwürdige Schwert seines Meisters, ein Geschenk an ihn, für einen Mord missbraucht. Seinen Meister verraten.
 

Scham und Schuld trieben endlich Tränen in seine Augen und er weinte leise und lange.
 

„Nächstes Mal...“ hallten Izukas Worte in seinem Kopf wieder.

Er mochte nicht daran denken, doch er wusste, das es weitergehen würde.

Er hatte sich zu diesem Leben entschieden und Katsura-sama sein Wort gegeben! Und er wusste, das seine Taten nicht umsonst waren. Er wusste, das sie ein Ziel hatten. Auch wenn sie schrecklich waren.
 

Ja, jetzt verstand er plötzlich alles. Alles, was Kasura seit dem Lager der Kihei-Tai zu ihm gesagt hatte. Die Philosophie hinter der göttlichen Gerechtigkeit und ihren Wahnsinn.

Sie war grausam und unbarmherzig. Aber sie musste vollführt werden. Und einer musste es tun. Und er würde derjenige sein. Auch wenn er dafür seine Unschuld opfern musste.
 

Er fühlte sich nicht länger hilflos. Das war gut.

„Klammere dich an dieses Gefühl!“ befahl er sich. „Auch wenn ich mich schuldig mache, ich bringe die neue Ära damit schneller zu den Menschen!“
 

Er dachte an Akane-san und die anderen Mädchen von damals. Was für ein erbärmliches Leben sie geführt hatten. Verkauft, erschlagen... nie wieder würde er so etwas zulassen. Für andere Akane-sans dort draußen in der Welt würde er weitermachen.

Nicht verzweifeln. Weitermachen.

„Katsura-sama...“

Er sah das ernste und doch freundliche Gesicht des Mannes vor ihm, den er zutiefst bewunderte und wertschätzte. „Es muss getan werden,“ flüsterte seine Stimme.

Mit diesem Bild vor Augen sank er langsam in den Schlaf.
 

Er schlief fest – es war ein körperlich und geistig fordernder Tag gewesen.

Und als Yoshida, der sich trotz seines betrunkenen Zustandes alles Mühe gab, das Zimmer leise zu betreten, gegen drei Uhr nachts hereinstolperte, wachte er nicht einmal auf.
 

--
 


 

Nächstes Kapitel: Kenshin kehrt vorerst in den normalen Alltag zurück und freundet sich mit seinem Zimmergenossen Yoshida besser an – doch beide haben ihre Geheimnisse...
 

Anmerkungen: Als Quellen habe ich wie immer den Manga und die OVAs (die ersten 4) benutzt. Auch einige englische FFs waren sehr hilfreich.

Vor allem „Descent into Madness“ von Conspirator und „Snow Raven“ von Krista Perry möchte ich jedem, der kein Problem mit Englisch hat, ans Herz legen!

[ Edit: Falls sich jemand wundert, ich habe die ehemaligen Kapitel 4 und 5überarbeitet und hier mit reingezogen, beide Kapitel waren recht kurz und gehörten eigentlich sowieso zusammen. Jetzt endlich bin ich mit dem Kapitel, das dieser FF schließlich ihren Namen gibt, zufrieden ;)]
 


 

Yoshida Shoin: führender Sonnō-jōi-Intellektueller, der gegen die Verträge mit den Amerikanern war und eine Revolution gegen das Bakufu plante.
 

Arigatou = Vielen Dank
 

Gi = Kimono-Oberteil
 

Bok(k)en = Holzschwert
 

Baka Deshi = dümmlicher Schüler

Kapitel 4 - Geheimnisse

Nach seinem ersten Auftrag wird Kenshin vom normalen Alltag eingeholt. Er findet in seinem Zimmergenossen Yoshida einen guten Freund – doch beide haben Geheimnisse voreinander...
 


 

Divine Justice
 

Kapitel 4 - Geheimnisse
 


 

Das laute Schnarchen seines Zimmergenossen weckte Kenshin früh am nächsten Morgen. Die ersten Sonnenstahlen hatten bereits ihren Weg durch die Fenster gefunden und er spürte ihre angenehme Wärme auf seinem Gesicht.
 

Er blieb noch einige Minuten im dämmernden Halbschlaf liegen, bevor plötzlich blitzartig die Geschehnisse der letzten Nacht in sein Bewusstsein zurückkehrten.

Geschockt setzte er sich auf.

Ihm war schlecht.

Er schämte sich. Wie konnte er nur so.. gut geschlafen haben, nachdem...

Da war sie wieder, die Schuld. Sie drückte auf seine Schultern, als er sich anzog – die zweite Choshuu-Uniform wagte er nicht anzufassen, statt dessen nahm er den von Okami-san bereitgelegten hellgrünen Gi und dazu weiße Hakama.

Als er fertig war, beäugte er sein altes, geliebtes Schwert, das auf den polierten Dielen in der Sonne lag und überlegte kurz, es einfach da liegen zulassen, bis er es dennoch mit einigem Wiederwillen aufhob und zusammen mit dem Wakizashi in den Obi steckte.
 

Yoshida schlief immer noch laut schnarchend und Kenshin betrachtete sein friedliches Gesicht. „Ob er wohl noch so ruhig schlafen könnte, wenn er wüsste, wozu ich letzte Nacht fähig war?“
 

Leise schob Kenshin die Tür auf und verließ das Zimmer. Er war der einzigste der Männer, der zu dieser frühen Morgenstunde wach zu sein schien und so ging er Richtung Küche, denn er wusste, dass er dort Okami-san antreffen würde, die bereits das Frühstück vorbereitete.
 

„Ohayo..,“ grüßte er schüchtern, als er eintrat. Er wusste nicht warum, aber gerade jetzt verlangte es ihn irgendwie nach ihrer mütterlichen Art.
 

„Ah! Kenshin-san!“ Freudig drehte sich Okami zu ihm um. „Du bist schon auf?“

Er nickte und genoss ihre beruhigende, freundliche Gegenwart, die ihn von düsteren Gedanken ablenkte.

Nach all dem gab es doch noch ein normales Leben.
 

„Okami-san, kann ich euch in der Küche behilflich sein?“ bot er sich an. Sie zeigte sich überrascht. „Katsura-sama hat mir deutlich gemacht, dass du ein Samurai bist und keine Küchenhilfe...“. Ein bisschen Sarkasmus schwang in ihrer Stimme mit, als sie Kenshin einen leeren Wassereimer reichte.

Ein leichtes Lächeln kroch über sein Gesicht.

„Ich habe viel Erfahrung mit Dingen, die den Haushalt betreffen... und ich mache mich gerne nützlich.“ Mit einer Verbeugung nahm er den Eimer und ging zum Brunnen.

„Oh ja,“ dachte Okami-san, die Stirn plötzlich in tiefe Sorgenfalten gelegt, als sie ihm hinterher sah und ihr Blick auf die nasse Kleidung im Hof fiel, die gestern Abend dort noch nicht gehangen hatte. „Vor allem scheinst du deine Wäsche bevorzugt im Mondschein zu waschen...“.
 

Als Kenshin mit vollem Wassereimer zurück kam, waren auch die beiden Mädchen, Aki und Kiku, in der Küche erschienen und bereits mit Gemüse schneiden beschäftigt. Sie sahen beide noch etwas verschlafen aus, doch als sie Kenshin sahen, hellten sich ihre Gesichter auf.

„Ohayo Kenshin-sama,“ grüßten sie ihn gurrend und Kenshin spürte die Röte, die ihm ins Gesicht schoss. Er würde sich nie an den normalen Umgang mit Mädchen gewöhnen - sie waren ihm so unverständlich wie die Sprache der Gaijin.
 

Nachdem alle Vorbereitungen für das Frühstück getroffen waren, hatte sich Kenshins Laune etwas aufgehellt. Er versuchte, den schrecklichen Ausgang des letzten Tages so gut es ging zu verdrängen.

Auch spürte er jetzt den Hunger. Seit gestern morgen hatte er nichts mehr gegessen!

Er ging in den Speiseraum und sah Daisuke bereits an einem der Tische sitzen. Dieser lächelte, als er Kenshin sah – auf diesem grünen Gi sahen seine roten Haare noch leuchtender aus als vorher – und winkte ihm, sich zu ihm zu setzten.

Dankbar erwiderte Kenshin das Lächeln – er hatte halb damit gerechnet, nur in Gesichter voll Abscheu und Angst zu blicken. Doch offensichtlich wusste noch keiner von den Ereignissen der letzten Nacht.

Als sich der Raum langsam mit teilweise arg zerknautscht und verschlafen aussehenden Männern füllte, die sich lachend und über den gestrigen Abend scherzend in Grüppchen an den Tischen zusammenfanden und in der Morgensonne räkelten, wie gewohnt von Kenshin als jungen Samurai aus unbekannter Familie nur wenig Notiz nehmend, begann dieser sich kurz zu fragen, ob er sich den Schrecken der letzten Nacht vielleicht nur eingebildet hatte.

Als die Mädchen schon begonnen hatten, das Frühstück auszuteilen, erschien auch Buntaro und kurz darauf Yoshida mit tiefen Augenringen und einer eindeutigen Alkoholfahne.
 

„Mmphf, Yoshida, hättest du dich nicht vorm Frühstück waschen können?“ Buntaro hielt sich in übertriebener Geste die Nase zu.

„Wie konntest du bei dem Alkoholgestank schlafen, Kenshin? Wahrscheinlich hat er auch noch geschnarcht wie verrückt. Ich kenn das noch, ich war auch schon mit ihm einquartiert.“

„Aa. Er hat geschnarcht aber...“

„Verräter!“ unterbrach ihn Yoshida ärgerlich.

„... aber es hat mich nicht gestört,“ fuhr Kenshin ungerührt fort. „Ich war sowieso schon früh wach.“
 

Yoshidas Augen wurden plötzlich größer und leuchteten, wie Kenshin mit einem unguten Gefühl feststellen musste, voller Neugier.
 

„Ah, stimmt ja, du warst ja gestern den ganzen Tag unterwegs! Schon vor dem Mittagessen!“

„Mh..,“ nickte Kenshin kaum merklich. Er konnte einige Männer der Nachbartische zu ihnen herschauen sehen, die offensichtlich genauso neugierig wie Yoshida waren und erfahren wollten, wozu Katsura-sama diesen Jungen überhaupt mitgebracht hatte. Auch waren die Blicke der Männer mehrheitlich von Misstrauen erfüllt, waren sich doch gestern Zeugen seines spektakulären Trainings im Innenhof gewesen.
 

Mit wachsender Unruhe rutschte Kenshin auf seinem Kissen hin und her und begann schließlich zu essen.
 

„... und?“ Yoshidas Neugier war nicht im geringsten befriedigt.
 

Kenshin kaute in Ruhe zu Ende und überlegte. Er konnte und durfte nicht über den Auftrag reden, den er von Katsura bekommen hatte, und selbst wenn, war er sich ziemlich sicher, dass es bei den anderen Männern nicht so gut ankommen würde.

Was machst du? Ach, ich töte kaltblütig die Männer, die auf meiner Liste stehen. Und du?

Er verschluckte sich fast an seinem Reis ob dieses bitteren Scherzes.

Er hatte irgendwie Angst... was würden die Männer sagen, wenn er erzählen würde... wären sie dann noch seine... Freunde?

Immerhin gehörten sie alle zur selben Seite. Sie alle erfüllten ihre Pflicht, wenn auch auf verschiedene Art und Weise. Auch er erfüllte die Pflicht, die er dank seines Könnens mit dem Schwert Katsura und den Menschen in Not schuldig war.
 

Als Kenshin nicht länger so tun konnte, als ob er noch kauen würde, antwortete er schließlich:

„Katsura hat mir einen Auftrag gegeben, ganz allein. Außerhalb der Stadt.“
 

Er versuchte, seine Antwort so klingen zu lassen, als ob weitere Nachfragen zwecklos wären und nahm er sich schnell neuen Reis.

Mit sinkendem Mut konnte er aus dem Augenwinkel feststellen, dass dieser Plan gescheitert war, denn Yoshidas und zu allem Übel nun auch Daisukes und Buntaros Gesichter waren gespannter denn je, alle offensichtlich durch seine ausweichenden Antworten nicht abgeschreckt, sondern eher zu neuen Fragen ermutigt.
 

„Ja und?“ löcherte ihn nun Daisuke, „Was macht man allein am Stadtrand, außer an einem Schrein zu beten?“

Fast hätte sich Kenshin erneut verschluckt und trank schnell etwas Tee.

Er hasste Lügen und der konnte es auch nicht gut. Er hatte es einmal bei seinem Shishou probiert und das war nicht sehr erfolgreich gewesen. Eine weitere schmerzhafte Erfahrung...
 

Endlich schaffte er es zu antworten: „Mein Auftrag war... geheim.“
 

Die enttäuschten Gesichter der anderen brachten ihn fast zum Lachen.

„Geheim??“ motzte Yoshida. „Das ist ja blöd. Ich dachte, du wirst wenigstens in eine Einheit eingeteilt. Vielleicht ja in meine...“
 

„Ie..“ verneinte Kenshin seufzend. „Wohl eher nicht...“

Daisuke und Buntaro tauschten Blicke aus. Schließlich meinte Daisuke: „Es ist schon komisch... nimm’s mir nicht übel Kenshin, aber du bist erst vor drei Tagen gekommen, mit Kogoro-sama und jetzt führst du schon für ihn Geheimaufträge aus... und du bist... 14?“
 

Kenshin konnte darauf nichts antworten und er fühlte sich plötzlich unwohl in der Gesellschaft, die er gestern noch so genossen hatte.

Warum hatte er sich keine Notlüge ausdenken können und damit lästige Fragen und Vermutungen umschifft?
 

„Na, er wird seine Gründe haben, der Kogoro-sama,“ beschwichtigte Yoshida, der Kenshins Unwohlsein bemerkt hatte.

„Vielleicht will er, dass du etwas älter wirst, bevor du in die Gruppen eingeteilt wirst. Schließlich ist es oft lebensgefährlich und du bist erst 14...“

Kenshin warf ihm einem scharfen Blick zu. Schon wieder ein Seitenhieb auf sein Alter. Und das auch noch von Yoshida.

Dieser spürte plötzlich die Wut, die von seinem Zimmergenossen ausging. Es war wie, als ob seine Augen plötzlich ein bisschen heller leuchteten.

„Gomen nasai, Kenshin...“ entschuldigte er sich schnell und war erleichtert, als er sah, wie sich Kenshin, der selbst über seine plötzlichen Wutausbruch überrascht war, entspannte.
 

Yoshida begann ein paar lustige Geschichten über den gestrigen Abend zu erzählen um die Atmosphäre zu lockern. Kenshin hörte nur mit halbem Ohr zu.

Er würde gerne, auch wenn es schwer fiel, von seinem gestrigen Abend erzählen. Seine Erfahrung mit jemandem teilen. Und irgendeine Bestätigung hören, dass er kein kaltblütiger Mörder war. Vor allem mit Yoshida würde er gerne reden. Vielleicht später, alleine?

Ein Rippenstoß von Daisuke riss ihn aus den Gedanken. „Der war gut!“ lachte dieser gerade, „Ne, Kenshin?“ Kenshin bemühte sich, schnell ein Grinsen in sein Gesicht zu zaubern und das eher klägliche Resultat schien zum Glück überzeugend genug für Daisuke.
 

„Ich wünschte, ich wäre auch in eurer Gruppe eingeteilt,“ murrte Buntaro mit seiner tiefen Stimme. „Ich hatte gestern bis spät Nachts Dienst!“

„Naja, wir haben ja auch nicht jedes Wochenende frei! Dafür warst du mit Katagai unterwegs. Das ist ja fast so gut wie mit Kogoro-sama selbst! Eine Ehre!“

„Katagai-san?“ fragte Kenshin.

Daisuke antwortete: „Das ist hier der zweite Mann nach Kogoro-sama. Quasi sein persönlicher Bodyguard und auch sein Mann fürs Organisatorische. Er ist heute nicht hier, aber du wirst ihn leicht erkennen, er ist ein Berg von einem Mann!“
 

„Oh ja...“ klagte Yoshida. „Der hat’s gut. Er ist bei allen wichtigen Treffen der Ishin Shishi und ihren Verbündeten dabei. Sein Name wird vielleicht neben dem von Katsura Kogoro in die Geschichte eingehen... wenn ich bei ihm in der Einheit wäre, würde mein Name ja vielleicht auch irgendwo erwähnt...“
 

„Yoshida Baka – durch heimliches Leerräumen von Lebensmittelbaracken des Shogunats brachte er den Shogun zum verhungern und den Ishin Shishi den Sieg,“ kommentierte Daisuke trocken und alle lachten.
 

Kenshins Lachen blieb ihm im Hals stecken als er daran denken musste, was wohl über ihn geschrieben werden würde, sollte er je in die Geschichte eingehen.

Nein... er wollte nicht in die Geschichte eingehen. Was hatte Katsura gesagt? Seine Existenz als Attentäter müsse geheim bleiben. Und wer will schon als Mörder im Geheimen verewigt werden? Außerdem war es nebensächlich, ob sich später irgendjemand an ihn oder seine Taten erinnern würde – Hauptsache, das Ziel, das friedliche neue Zeitalter, würde erreicht.
 

Die Erwähnung eines ihm bekannt vorkommenden Namens brachte seine Aufmerksamkeit wieder zu der Konversation am Tisch.

„Wer?“ fragte er scharf.

„Kannst du nicht hören? Du träumst wohl immer vor dich hin!“ konterte Yoshida beleidigt. „Ich meinte gerade, es ist immer noch alles besser als bei Izuka in der Gruppe zu landen!“
 

Doch richtig gehört! Izuka, der Mann von gestern Abend. Der Begutachter seiner... Arbeit.
 

„Wieso?“ Kenshin versuchte seine Frage belanglos klingen zu lassen.

„Naja, Izuka ist Katsuras rechte Hand, was die Geheimoperationen angeht. Siehst du die zwei Männer da drüben am anderen Ende des Raumes? Ja, genau, die mit den düsteren Gesichtern. Die gehören zu Izukas Truppe. Allesamt Ronin mit nicht gerade der saubersten Lebensgeschichte. Vor allem mit wenig Emotionen. Naja, kein Wunder, die sind ihnen bestimmt hinderlich...“
 

Ein Prickeln im Genick spürend fragte Kenshin vorsichtig: „Haben sie etwa so gefährliche Aufträge?“ Machen sie die selbe Arbeit wie ich?
 

„Hm, wie man es nimmt. Gefährlich ist die Arbeit eigentlich nicht, denn immer, wenn sie kommen, ist der oder sind diejenigen, von denen Gefahr ausgehen könnte, schon tot.“

„Sie sind den Hitokiri zugeteilt!“ ergänzte Daisuke. „Das finde ich viel gruseliger als Tote Menschen mit Zetteln der „himmlischen Gerechtigkeit“ auszustatten.“

„Hitokiri?“ fragte Kenshin atemlos.

„Attentäter... Auftragskiller... Mörder. Wie auch immer du sie nennen magst, aber in Samurai-Kreisen heißen sie Hitokiri. Brrr...“ Daisuke schüttelte sich.

„Kaltblütige Mörder. Menschenschlächter. Das ist die Schattenseite der Revolution und der Ishin Shishi...“ Er sah Kenshins große Augen und dachte, er hätte dem Jungen Angst gemacht.

„Naja, e-eigentlich weiß niemand so genau, ob es sie gibt, weil es ist ja geheim. Also sicher, es gibt Gerüchte...“

„Sei nicht so zimperlich!“ unterbrach Buntaro Yoshidas Stottern. „Natürlich gibt es auch bei den Ishin Shishi Hitokiri. Sie arbeiten im Schatten und geheim, aber ihre Arbeit ist genauso wichtig wie die jedes anderen!“

„Ja, aber möchtest du neben einem sitzen? Oder überhaupt den Raum mit ihm teilen? Ich würde mich vor Angst einpissen. So ein Hitokiri kann dir jeden Moment die Kehle aufschlitzen. Die sind eiskalt. Manche sind ganz wild aufs Töten, denen macht das sogar Spaß. Die geben dir keinen leichten Tod. Die sind Spezialisten. Und ich hab sogar mal von einem gehört, der Blut trank...“
 

„Jetzt mach mal halblang, Yoshida...“ Daisuke hatte bemerkt, das Kenshins Gesicht immer seltsamer ausgesehen hatte, bevor er es hinter seinem roten Haar versteckt hatte.

„Hier im Raum ist schon mal kein Hitokiri, dass heißt, du musst nicht in die Hose machen!“ meinte er lächelnd mit Blick auf Kenshin, der nicht aufschaute.

„Der letzte Hitokiri der Ishin Shishi, von dem ich sicher wusste, wurde glaub ich vor zwei Wochen von Bakufu-Soldaten erwischt. Und der war nicht hier, sondern drüben im Westen der Stadt bei den anderen Einheiten einquartiert,“ überlegte Buntaro.
 

„Naja, bei dem Job... da triffts einen früher oder später... oder sie drehen einfach durch und...“

Yoshida unterbrach sich, als Kenshin so abrupt aufstand, dass fast der Tisch umgefallen wäre. Mit unleserlicher Miene und eine kaum hörbare Entschuldigung murmelnd verließ er den Frühstücksraum.
 

Daiskue verpasste Yoshida eine Kopfnuss. „Du Depp! Er ist erst seit drei Tagen hier, und du packst gleich die Gruselgeschichten aus!“
 

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Kalter Herbstwind schlug Kenshin entgegen und zersauste sein Haar, als er aus dem Essensraum in den Innenhof stürmte. Ihm war heiß. Er konnte kaum klar denken. Horrorbilder seiner potentiellen Zukunft – ein wahnsinniger, bluttrinkender Mörder – spukten durch seine Gedanken. Er brauchte dringend einen klaren Kopf.
 

Diesmal war er schlauer. Er würde nicht wieder im Innenhof der Herberge seine Kata üben. Die Blicke der Männer konnte er jetzt nicht ertragen. Er wollte lieber so unauffällig bleiben wie möglich. Solange er noch unauffällig bleiben konnte...
 

Was würde passieren, wenn seine Identität als... Hitokiri... was für ein abscheuliches Wort... auffliegen würde?

Er mochte schon nicht die neugierigen Blicke, die er allein wegen seinem Haar auf sich zog – er war sich sicher, das Blicke voller Angst und Abscheu noch schwerer zu ertragen waren.
 

Er nahm sich etwas Essen aus der Küche mit, das Okami-san ihm liebevoll einpackte, und er bat sie, falls jemand nach ihm fragen sollte, ihn zum Iamasu-Schrein zu schicken. Der Schrein war direkt bei dem kleinen Wäldchen, wo er schon gestern trainiert hatte.
 

Im Eiltempo hatte er wenig später bereits seinen Übungsplatz erreicht und zog sein Schwert, begierig seine Kata zu üben und so die unglücksselige Konversation vom Frühstück zu vergessen.
 

Hitokiri... so wie die Männer von ihnen redeten, schienen sie mehr Dämonen als Menschen zu sein. Blut trinken... das schien ihm dann doch etwas übertrieben.

Und das töten Spaß machen sollte... wie krank war das denn? Alles andere hatte er gestern empfunden aber auf keinen Fall Spaß!

Und eiskalt war er auch nicht... Er war kein eiskalter Mörder.

Er kämpfte für eine gerechte Sache, wie die anderen auch. Diese Gerechtigkeit rechtfertigte seine Taten!
 

Mit diesen Gedanken begann er seine Kata. Doch er konnte nicht ruhig werden. Frustriert hieb er auf einen kleinen Baum ein, nur um wegen dem Wiederstand schmerzlich an den Hieb vom letzten Abend erinnert zu werden, der seinem Opfer den Tod brachte.

Wütend ließ er sein Katana im Baum stecken und sank zu Boden.
 

„Wann kommt wohl der nächste Auftrag? Hoffentlich nicht zu bald.“ Grübelte er.

Auf allzu vielen Standbeinen konnte die Shogunats-Regierung ja nicht stehen. Bekanntlich sind immer nur einige wenige für viel verantwortlich.
 

Deprimiert zog er sein Schwert aus dem Baum und machte sich auf den Weg zurück zur Herberge. Unterwegs kaufte er sich einen Hut – er hatte die neugierigen Blicke langsam satt.

Kaum hatte er den Innenhof betreten, hörte er Izuka seinen Namen rufen.

Sein Herz sank bis in seine Fußspitzen. Schon wieder ein Umschlag? So schnell?
 

„Hey, Himura-san! Gut, dass du da bist.“ Er zog ihn auf die Seite und fuhr mit gedämpfter Stimme fort. „Katsura-sama ist gerade mit einem geheimen Konvoi aufgebrochen und er wird einige Tage fort sein. Er hat mir Anweisungen für dich dagelassen.“
 

Wie gebannt folgten Kenshins Augen Izukas Hand, die einen Umschlag aus seinem Ärmel zog. „Hier.“ Verabschiedete er sich und ging.
 

Kenshin öffnete schnell den Umschlag – er war weiß und enthielt... keine Namen!

Sondern eine Liste.

„Liste der Geheimunterkünfte der Ishin Shishi in Kyoto,“ las er Katsuras ordentliche Schrift, „lasse sie dir von einem der Männer zeigen, präge sie dir genau ein, falls du verfolgt wirst, und nach einem Auftrag nicht in die Herberge zurückkehren kannst. Danach vernichte die Liste.“
 

Plötzlich spürte er Yoshidas fröhliche Ki von hinten auf sich zukommen und stopfte die Liste schnell in seinen Ärmeln.
 

Er lächelte seinen Freund ehrlich an, denn ihm war ein Stein vom Herzen gefallen, dass seine schlimmsten Befürchtungen nicht eingetroffen waren.
 

„Nah, Kenshin, du siehst aber erleichtert aus.“ Bemerkte Yoshida. „Glücklich, das Izuka-san dich in Ruhe gelassen hat? Du sahst ja nicht gerade begeistert aus, als er auf dich zukam. Was wollte er denn von dir? Du hast doch mit ihm gar nichts zu tun.“
 

„Ähm..“ Kenshin fühlte sich ertappt. „Er hat mir nur etwas von Katsura-sama übergeben, weiter nichts.“ Er war in die Defensive gegangen, obwohl Katsura ja geschrieben hatte, er solle sich jemanden suchen, der mit ihm die Liste durchging. „Naja...“ fügte er deshalb schnell hinzu, „...eigentlich brauche ich Hilfe. Ich muss mir unsere Geheimverstecke in Kyoto einprägen. Vielleicht...“
 

„...soll ich dich begleiten? Natürlich“. Freute sich Yoshida. „Du bist ja erst seit ein paar Tagen hier! Ich kann dir alles zeigen. Sie sind überall in der Stadt und am Stadtrand verteilt, aber ich denke, bis es dunkel wird, haben wir es geschafft, alle abzulaufen. Moment...“ zwinkerte er, „ich hole mir noch schnell etwas Sake als Wegzehrung“.
 

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Es dauerte wirklich Stunden, alle geheimen Unterschlüpfe auszukundschaften und Yoshidas Sake war schon längst leergetrunken, bevor sie überhaupt den dritten Punkt auf der Liste erreicht hatten.

Teilweise waren es Herbergen, Kneipen, ein paar Bordelle, Spielhallen und sogar Privathaushalte. Überall stellte Kenshin sich kurz vor und prägte sich die Umgebung genau ein.
 

Er war überrascht, das Familien mit Kindern den Ishin Shishi Notunterkunft zur Verfügung stellten.

„Bringen sie sich damit nicht selber in Lebensgefahr?“

„Sie haben ihre Gründe.“ Erklärte Yoshida. „Katsura-sama hat viele Freunde. Er hat schon Vielen das Leben gerettet. Und viele Menschen glauben an seine Sache und sind dafür bereit zu sterben.“

Wie wir.
 

Als sie einigermaßen erschöpft vom vielen Laufen das letzte Fluchtversteck, einen Tempel unweit der Stadtgrenze, verlassen hatten, kletterte bereits der fahle Mond über die dunklen Baumwipfel.
 

„Hast du Lust, mit mir heute Abend zur Spielhalle zu gehen?“ fragte Yoshida. „Buntaro ist leider mit Katagai und Katsura unterwegs und wird ein paar Tage weg sein. Daisuke hat auch Dienst“.
 

Eine ablehnende Antwort lag Kenshin schon auf den Lippen, doch irgendwie entschloss er sich, doch mitzugehen.
 

Gesellschaft tat ihm gut. Besser, als alleine mit seinen trübseligen Gedanken zu sein.
 

Als sie in das schillernde Rotlichtviertel Kyotos einbogen, konnte Kenshin seine Erstauntheit doch nicht ganz unterdrücken. All die Lichter und der Trubel. Er sah fast wieder so aus, wie der unschuldige Junge, der vor wenigen Tagen nach Kyoto gekommen war und große Augen angesichts dieser großen und merkwürdigen Stadt gemacht hatte.

„Na, steht dir der Mund offen bei all den schönen Frauen hier?“ stichelte Yoshida.

Kenshin errötete. „Oro... ich bin eher erstaunt, dass hier so viel los ist. Sind wir nicht mitten in einer Revolution?“

Yoshida schüttelte den Kopf. „Baka. Auch wenn es Nachts auf den Straßen von Kyoto Blut regnet, wollen sich die Menschen nicht ihre Lebensfreude nehmen lassen. Jeder Tag kann der letzte sein - gerade deswegen suchen die Menschen Zerstreuung und Ablenkung. Und wo kann man die besser finden als hier?“
 

Schüchtern betrat Kenshin hinter Yoshida eine der Spielhallen. Er war zwar mit ein paar Würfelspielen vertraut, fühlte sich aber trotzdem unwohl. Auch spürte er die immerwährenden Blicke und hörte spöttische Kommentare über seine Größe und sein Alter.
 

„Na Kleiner!“ rief einer der Männer laut, „solltest du nicht schon längst im Bett sein?“. Beifälliges Gelächter antwortete ihm. Kenshins Fäuste ballten sich als er den Mann mit seinem bösesten Blick fokusierte.

„Na Kenshin.“ Beschwichtigte ihn Yoshida. „Was funkeln deine Augen so? Vergess’ den blöden Kerl, der hat nur Mist im Kopf. Hockt die ganze Zeit in Spielhallen herum, ein Taugenichts. Nicht die Zeit wert, sich über ihn zu ärgern! Zahl es ihm lieber heim!“

Ehe er sich versah, hatte ihn Yoshida zu dem Spieltisch der Männer gezerrt, die bereits lüsternd ihre potentielle Beute begutachteten.

„Und Kleiner... hast du überhaupt einen Einsatz, den du machen kannst?“

Als Antwort legte Yoshida ein paar Ryo in die Mitte.

„Los, zeig’s den Kerlen, Kenshin. Verlieren ist keine Option, klar?“
 

Die Würfel wurden geworfen.

Die Männer machten ihre Einsätze.

„Gerade oder Ungerade?“ fragten sie Kenshin.

Dieser hatte die Würfel genau beobachtet und antwortete sicher: „4 und 6. Gerade.“

Mit einem siegessicheren Lächeln hob der Mann, der Kenshin immer noch für ein törichtes Kind hielt, den Würfelbecher. Zu seinem Ärger musste er feststellen, das Kenshins Vorhersage eingetroffen war.

„Pah.. Anfängerglück!“ Ungerührt machte er seinen nächsten Einsatz.

Doch auch beim zweiten Versuch lag sein Widersacher weit daneben, Kenshin jedoch genau richtig.

So ging das Spiel weiter, und Kenshins Gegenspieler wurden mit jeden verlorenen Wurf immer wütender und verbissener. Yoshida sowie andere Zuschauer beobachteten mit ungläubiger Miene den Spielverlauf.

Zunehmend unfreundlicher werdende Kommentare nach jedem Sieg Kenshins veranlassen Yoshida schließlich, seinen Freund zu bremsen, der offensichtlich Spaß an dieser spielerischen Form der Rache an seinen Spöttern gefunden hatte.
 

„Lass uns jetzt gehen, Kenshin!“ drängte er. „Du hast bestimmt das vierfache von meinem Einsatz rausgeholt, ich denke, es reicht jetzt.“

Kenshin bemerkte, das Yoshida sich nicht wohlfühlte und folgte seinen Bitten.

Sie drängten sich durch die Traube von Männern, die sich um ihren Spieltisch gesammelt hatte und die alle misstrauisch und ungläubig die zwei Jungen musterten, die in Richtung Ausgang eilten.

Draußen, in der kühlen Nachtluft angekommen, bestürmte ihn Yoshida sofort mit Fragen.

„Wie hast du das gemacht??! Kami-sama, ich habe noch nie so eine Glückssträhne gesehen! Kannst du mir das beibringen?“
 

Den restlichen Abend versuchte Kenshin vergeblich, Yoshida zu erklären, wie er die Bewegung und Rotation der Würfel beobachtete und so mit ziemlich sicherer Wahrscheinlichkeit die Zahlen voraussagen konnte. So saßen sie beide bei Kerzenstein noch bis in die späte Nacht hinein in ihrem Zimmer der Herberge, die Würfel zwischen ihnen auf dem Boden.
 

Kenshin freute sich und lachte, als er Yoshidas verkniffenes Gesicht nach erneut falsch geratenen Würfelzahlen sah. Er fühlte sich so leicht und fröhlich, wie seit Wochen nicht mehr.

„Yoshida.“ Dachte er, „Danke für deine Gesellschaft.“

Dieser schüttelte immer wieder nur ungläubig den Kopf.

„Wie kannst du denn die Bewegung der Würfel sehen? Das geht doch alles viel zu schnell!“

„Naja, Bewegungen vorherzusagen ist sozusagen Teil des Hiten Mitsurugi Ryu und mein Meister in den Bergen hat mir es beigebracht.“
 

Yoshidas Mund klappte auf. Sprachlos starrte er Kenshin an. Dann verpasste er ihm eine Kopfnuss.

„Oro?!“ Mut kullernden Augen rieb sich Kenshin seinen Schädel. „Was sollte das denn?“

„Wa- Was hast du gesagt? Hiten Mitsurugi Ryu?“ japste Yoshida mit erstickter Stimme.

„Das habe ich gesagt, de goza – ..“

„Du beherrscht diese Technik? Ich dachte, die sei Legende!

Kami-sama... na das erklärt zumindest dein Geschick beim Würfelspielen.

Wooow, wie muss dann dein Geschick mit dem Schwert erst sein!!

Ich habe schon die anderen Männer von deinem Training im Innenhof reden gehört. Ich dachte, sie haben maßlos übertrieben. Einige nannten dich sogar einen Meister der Schwertkunst...“
 

„Das ist wirklich übertrieben.“ Lachte Kenshin. „Sessha hat sein Training nicht vollendet und ist daher auch kein Meister“.

Yoshida pfiff anerkennend durch die Zähne.

„Hiten Mitsurugi Ryu... ist das nicht eine absolut tödliche Schwertkunst?“

Kenshin blickte Yoshida nicht an.

„Ja. Jede Technik ist darauf ausgelegt, den Gegner blitzschnell zu töten. Durch die Geschwindigkeit bleibt ihm keine Zeit, zu parieren“. Und selbst wenn, dachte Kenshin sich, es gibt trotzdem kein Entkommen. Denn jede Technik des Hiten Mitsurugi basiert nicht auf einem, sondern auf zwei Schlägen.

Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen den Beiden.
 

Schließlich stand Yoshida auf und drehte Kenshin den Rücken zu. Kenshin spürte, dass Yoshida verwirrt war und auch etwas verängstigt, wenn er sich auch Mühe gab, dies zu verbergen.

„Ich bin, wie du weißt, neugierig, Kenshin. Wie kommt es, dass du, obwohl du nur wenige Jahre jünger bist wie ich, bereits diese tödliche Technik beherrscht? Wer hat sie dir beigebracht. Und... zu welchem Zweck?“
 

Yoshida strengte sich an, seiner Stimme einen normalen und beifälligen Tonfall zu verleihen, doch Kenshin spürte deutlich außer Neugier auch die plötzliche innere Unruhe seines Zimmergenossen.
 

Es schmerzte ihn erkennen zu müssen, das Yoshida ihm nicht mehr so vorbehaltlos wie vor wenigen Minuten gegenüberstand. Aber noch viel mehr schmerzte es ihn, Yoshida nicht die Wahrheit – den Zweck dieser Schwerttechnik und seines Aufenthaltes in Kyoto - erzählen zu können. Er fürchtete sich zu sehr, die Augen seines Freundes vor Angst geweitet und sein Gesicht voller Ablehnung zu sehen, wenn er erführe, wer sein Zimmergenosse eigentlich war. Außerdem sollte ja geheim bleiben, wer er war.
 

Ein Hitokiri.
 

Nein. Er wollte Yoshidas Freundschaft nicht verlieren. Er hatte ihn doch gerade so glücklich gemacht, abgelenkt. Er war ein Freund, dem er vertraute. Und er wusste, dass es umgekehrt noch genauso war. Und er würde das mit keiner unüberlegten Antwort zerstören.
 

„Zufall. Durch Zufall nahm mich mein Meister nach dem Tod meiner Eltern auf. Damals war ich 8 Jahre alt.

Er brachte mir sein Können bei, weil er wollte, dass ich die Linie der Meister des Hiten Mitsurugi Ryu fortführe. Es war ein hartes Training... und ich machte schnell Fortschritte.

Dann fingen die Unruhen an.

Er war dagegen, sich in den Konflikt zwischen Shogunat und Kaisertreuen einzumischen. Er wollte lieber Einsiedler bleiben. Deshalb entschloss ich mich, ihn zu verlassen und mich den Patrioten anzuschließen, in der Hoffnung, mit meinem Schwert vielleicht das Schicksal von vielen Unglücklichen und Unterdrückten ändern zu können“.
 

Seine Antwort war überzeugend. Er hatte nicht gelogen, allerdings auch nicht die ganze Wahrheit erzählt. Doch Yoshida war offensichtlich befriedigt, denn er entspannte sich merklich und entschuldigte sich ehrlich für seine „aufdringliche Neugier“.
 

„Keine Gute Eigenschaft von mir.“ Lächelte er. „Schon meine Eltern haben erfolglos versucht, mir das abzugewöhnen.“ Und wären sie sich für die Nacht umkleideten, brachte er Kenshin noch mit einigen Anekdoten aus seiner eigenen Kindheit zum Lachen.
 

Als sie schließlich das Licht löschten und sich hinlegten, war es, als ob zwischen ihnen alles beim Alten wäre. Fast.
 

Denn Kenshin, der Yoshida vertraute, war schnell eingeschlafen und konnte deshalb nicht bemerken, wie Yoshida sich ohne Schlaf auf seinem Futon hin und her wälzte.
 

„Auch wenn ich gutgläubig bin, Kenshin, dumm bin ich nicht,“ dachte er im Stillen, während er die Decke anstarrte.

Kenshins Antwort war ehrlich gewesen, das wusste er mit Sicherheit. Diesem Jungen sah man es einfach an, dass er nicht gut lügen konnte.

Jedoch war es ihm instinktiv so, als ob einiges nicht zusammenpasste.

Wie ein Puzzle, in dem wichtige Teile fehlten.

Bringt ein Meister der Schwertkunst einem Kind so eine tödliche Technik bei, nur um ihn anschließend das Leben eines Einsiedlers führen zu lassen? Unwahrscheinlich.

Eben so unwahrscheinlich erschien es ihm, dass Katsura Kogoro das Potential dieses Jungen nicht erkannt haben sollte. Und ihn deshalb mit harmlosen Botenaufträgen beschäftigte.

Dazu hätte er ihn nicht nach Kyoto holen müssen.

Nein, Yoshida war sich sicher: Kenshin tat mehr für Katsura, als seine Kimonos aus der Wäscherei zu holen.
 

Er hörte Kenshin im Schlaf murmeln. Offensichtlich schlief er nicht besonders gut. Vielleicht hatte er einen Alptraum?
 

War würde er tun, wäre er Katsura und hätte er jemanden mit Kenshins Können? Wozu würde er einen herausragenden Schwertkämpfer einsetzen... Jemanden, dessen Technik so tödlich und schnell war, dass...
 

Yoshida wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken.

Doch es überlief ihn eiskalt, als sich einige Puzzle-Teile zusammen zu fügen schienen.
 


 

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Nach Träumen, deren Inhalt Kenshin so schnell wie möglich vergessen wollte, stand er am nächsten Morgen wie gewohnt früh auf, um sich durch die freundliche und tröstende Gegenwart Okami-sans aus der Düsternis der Nacht reißen zu lassen.
 

Kaum hatte er die Küche betreten, ließ er sich schon von ihrer mütterlichen Art einnehmen und bald waren die Schrecken der Träume vergessen.

Abermals musste er die flirtenden Mädchen abwimmeln, die irgendwie ständig um ihn herum scharwenzelten und dringend seine Hilfe für die kleinsten Arbeiten benötigten. Doch selbst für die albernen Mädchen war er dankbar. Sie waren Teil der normalen Welt, eines normalen Alltags...

Er mochte jetzt nicht an den vorgestrigen Abend erinnert werden – lieber an den gestrigen.

Es hatte so gut getan, mit Yoshida zu lachen. Zum ersten Mal hatte das Gefühl, einen Freund gefunden zu haben.
 

Yoshida, der ebenfalls eine unangenehme Nacht hinter sich und deswegen länger geschlafen hatte, traf Kenshin beim Frühstück.

Trotz Augenringe gab er sich Mühe, frisch und fröhlich zu wirken. Dennoch war etwas seit gestern Abend anders. Er sah den Jungen mit den roten Haaren mit anderen Augen. Er glaubte ihn bis jetzt zu kennen, doch auf einmal war alles an ihm seltsam und fragwürdig geworden.
 

Erschreckt stellte er fest, das Kenshin bemerkt hatte, wie er ihn anstarrte und schaute schnell weg. Irgendwie schämte er sich. Ja, er wusste nichts von Kenshin, aber war das gleich ein Grund, das Schlimmste zu denken? Er war bis jetzt nett zu ihm gewesen und hatte ihm mehr persönliches anvertraut als irgendjemandem anders. Er mochte Kenshin, auch wenn er oftmals verschlossen und ernst wirkte.

Er versuchte, seine unguten Gefühle beiseite zu schieben. Es gelang ihm bis auf ein leises Gefühl der Beklemmung. Das blieb.
 


 

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Uff, geschafft. Ich hoffe, es war nicht zu langatmig. Ich habe versucht, eine gewisse Atmosphäre aufzubauen, die sich in den nächsten Kapiteln noch verstärkt – Misstrauen und Angst. Also seid gespannt. Im nächsten Kapitel geht’s richtig ab. Denn Kenshin bekommt seinen nächsten Auftrag. Und der ist nicht so einfach wie der erste.
 

Japanische Wörter:
 

Obi = Bund der Hose, in den die Schwerter gesteckt werden
 

Ohayo = Hallo, Guten Morgen
 

Gaijin = Ausländer (eigentlich nicht sehr höflich gemeint)
 

Ano = Mh, Naja, Also, Ähm...

Kapitel 5 - Am Scheideweg

Kenshin zweifelt, ob er als Attentäter wirklich das Richtige tut. Und noch dazu ist sein nächster Auftrag ganz und gar nicht einfach...
 


 

Divine Justice – Göttliche Gerechtigkeit
 

Kapitel 5 – Am Scheideweg
 


 

Wie immer versammelten sich die Samurai der Ishin Shishi in Kyoto nach dem Frühstück, um ihre Aufträge für den heutigen Tag entgegen zu nehmen.

Katagai war mit Buntaro und den anderen Männern von seinem Einsatz zurück gekommen und würde nun neue Einsatzgruppen zusammenstellen. Auch Yoshida und Daisuke würden neue Aufträge bekommen.

Kenshin hingegen, dem seine Aufträge auf andere Weise übergeben wurden, nutzte die freien Vormittagsstunden für einen Einkauf.
 

Mit genug Geld in den Taschen machte er sich auf den Weg in das Gewimmel der Innenstadt. Die Strassen waren vollgestopft mit Menschen und an die Hauswände quetschten sich viele kleine Stände, aus denen die Händler mit heißerer Stimme ihre Ware den vorbeigehenden potentiellen Kunden anpriesen.
 

Gerade, als Kenshin sich bei einem freundlichen alten Mann einen dunkelblauen Haori für den kommenden Winter ausgesucht hatte und bezahlen wollte, setzte um ihn herum aufgeregtes Gemurmel ein, übertönt von wütenden Stimmen. Er suchte mit den Augen nach der Quelle dieser Unruhe und fand diese mehr spürend als sehend - es war eine Gruppe von vier Samurai, denen trotz früher Stunde bereits die Hitze des Alkohols im Gesicht stand und die sich um einen kleinen Verkaufstand mit Gemüse scharten.

Der größte der Samurai, offensichtlich auch der Anführer dieser Gruppe, zog plötzlich sein Katana aus der Scheide und hieb auf das Holzgerüst des kleinen Ständchens ein.

Polternd stürzte es über dem Händler und seinem Gemüse zusammen.
 

Den Haori vergessend bahnte sich Kenshin durch die sich bereits vor Neugier angesammelte Menschenmenge und blieb in der vordersten Reihe stehen, die Hände zu Fäusten geballt, während er beobachtete, wie der kleine Händler, mit zitternder Stimme um Vergebung bittend, zwischen Brettern und Kohlgemüse hervorkroch.
 

Der Samurai, der soeben diese Verwüstung angerichtet hatte, lachte über den Anblick, der sich ihm bot und seine Kameraden stimmten mit ein.

Er genoss offensichtlich die Aufmerksamkeit der Menge und wandte sich mit immer noch gezogenem Schwert und lauter Stimme dem zu, der vor ihm auf Knien am Boden lag und dem bereits Tränen in den Augen standen.
 

„Nicht nur, dass du mir Geld schuldest. Du hast es auch noch gewagt, mir die Ehre vorzuenthalten, die mir gebührt. Du weißt, was darauf als Strafe steht.“
 

Zur Demonstration hieb er einen ihm vor die Füße gerollten Kohlkopf in zwei Hälften.
 

Der Mann wimmerte vor Angst und die Samurai lachten noch mehr.

Kenshins Augen glühten. Langsam glitt seine Hand in Richtung Schwertgriff. Er würde nicht zulassen, das der Kopf des Händlers das gleiche Schicksal erlitt wie der Kohl am Boden.
 

Da erinnerte er sich plötzlich an Katsura und seine Warnung, unter allen Umständen unauffällig zu bleiben. Seine Existenz sollte geheim sein. Wenn er jetzt diese vier Samurai zum Kampf fordern und sie besiegen würde, wäre das schon zuviel Aufmerksamkeit.
 

Fieberhaft überlegte er, wie er trotzdem helfen konnte, bevor die Situation eskalierte. Da fiel sein Blick plötzlich auf einen dicken Rettich unweit seiner Füße.
 

Während der bösartige Samurai - angefeuert durch den Alkohol und die Rufe seiner Kameraden - in Begriff war, zur blutigen Tat zu schreiten, griff sich Kenshin – schnell wie der Blitz – den Rettich und warf ihn mit aller Kraft dem Übeltäter an den Hinterkopf.
 

Dieser grunzte vor Schmerz laut auf und drehte sich um, mit blutunterlaufenen Augen die Menge nach demjenigen absuchend, der es gewagt hatte, ihn so ehrlos mit Gemüse zu bewerfen. Unbemerkt schnappte sich Kenshin in der selben Sekunde den unbeachteten Gemüsehändler und ehe die Samurai sich ihrem Opfer wieder zuwenden konnten, war es verschwunden.

Verdutzt und wutentbrannt blieben die vier Samurai zurück, die Menge lachte teils, teils wunderte sie sich über das plötzliche Verschwinden des Mannes. Einige meinten, verschwommen einen roten Blitz gesehen zu haben und abergläubisch mutmaßten sie, dass vielleicht ein Dämon den Gemüsehändler geholt habe. Nach wenigen Minuten aber hatten sich alle zerstreut und auch die vier Samurai waren tobend nach Hause gestampft ohne weiteren Schaden anzurichten.
 

Der Gemüsehändler jedoch, der bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte, bedankte sich überschwänglich und ehrfürchtig bei dem Jungen, den er für einen guten Geist hielt.

„Kami, du hast mir das Leben gerettet, dir sei tausend Dank!“

Kenshin hob den Mann auf, der vor ihm auf den Knien lag und drückte ihm Geld in die Hand. „Mach, dass du die Stadt verlässt. Geh zurück auf’s Land und bleib den Winter über da. Kauf dir von dem Geld genug Vorräte. Kyoto ist kein Ort, an dem es zur Zeit sicher ist“, warnte er ihn zum Abschied. Dann verschwand er schnell im Gewirr der Menschen und ließ den ungläubig auf das Geld in seinen Händen starrenden Gemüsehändler zurück.
 

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Es wäre übertrieben, zu sagen, dass Kenshin gut gelaunt war. Aber er war zufrieden mit sich selbst. Er hatte gerade jemandem das Leben gerettet. Und er hatte dazu noch nicht einmal sein Schwert ziehen müssen. Einigermaßen ausgelassen verbrachte er den restlichen Vormittag in der Stadt, aß an einer Imbissbude ein paar Nudeln zu Mittag, erinnerte sich an den Haori und nachdem er einen Schrein aufgesucht hatte, um für die Seelen seiner Familie und der Familie des Gemüsehändlers zu beten machte er sich endlich am späten Nachmittag auf den Rückweg zur Herberge.
 

Vielleicht wäre vieles anders gekommen, wenn er mehr Zeit zum Nachdenken gehabt hätte. Vielleicht wäre ihm dann der Unterschied aufgefallen zwischen seinem Dienst als Vollbringer der göttlichen Gerechtigkeit und der gerade geleisteten guten Tat.

Doch wie es der Geist der Jugend will, wären ihm die kleinen Dinge, die oft mehr ausmachen als große Taten, gar nicht aufgefallen – zu sehr war sein Geist darauf ausgerichtet, Großes zu vollbringen. Die Welt zu verändern.

Er hätte sich wahrscheinlich nicht damit zufrieden geben können, die Unterdrückten so zu retten wie den Gemüsehändler – gewaltfrei.

Nicht, weil er Gewalt mochte. In Wahrheit verabscheute er sie.

Aber er war ein Schwertkämpfer.

Und die Mittel, die ihm gegeben wurden, etwas zu verändern, waren ein Schwert und eine tödliche Philosophie.
 

Den neuen Haori über der Schulter tragend war Kenshin noch keine fünf Minuten in der Herberge, als Izuka auf ihn zu kam und ihn beiseite zog.

Trotz nun ausreichenden Wintersachen fröstelte es Kenshin, als er unter Izukas vielsagendem Blick den Umschlag in seine Taschen gleiten spürte.

Bleich und schweigsam ging er in sein Zimmer, legte seine Einkäufe dort ab, zog sich mechanisch die Choshuu-Uniform an und ging mit schweren Schritten und starren Blickes durch die Tür hinaus, durch die er gerade erst frohen Mutes hereinspaziert war.
 

Jegliche positiven Emotionen waren vergessen. Statt dessen sah Kenshin sein erstes Opfer, Hanzo Tamamoto, vor sich, am Boden liegend, blutend.

Mit diesen Bildern vor Augen erreichte er das Wäldchen, ohne dass er überhaupt etwas von dem Weg mitbekam, den er gerade dorthin zurückgelegt hatte.

Langsam zog er sein Katana und betrachtete sein Spiegelbild in der Klinge. Er fragte sich, ob er fähig war, noch einmal zu Töten.

Ja, er hatte verdammt noch mal Katsura sein Wort gegeben. Und das würde er unter keinen Umständen brechen.

Aber dennoch hatte er Angst. Angst, wohin ihn der Pfad des Tenchuu bringen würde. In den Wahnsinn? Oder in den Tod? Früher oder später würde er sicherlich jemandem gegenüber stehen, der ihn im Schwertkampf besiegen würde.
 

Trotzdem... Katsura baute auf seine Fähigkeiten. Und hier saß er nun und hatte die Möglichkeit das Schicksal zu verändern. Das neue Zeitalter durch seine Taten schneller herbei zuführen. Und? Er Zögerte!

Grimmig packte er den schwarzen Umschlag und riss ihn auf.

Drei Namen!

Nicht nur einer, sondern gleich drei!

Kenshin schnappte nach Luft. Drei. Drei. Drei Menschen.
 

Seine Hand hob sich und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

„Nicht denken!“ befahl ihm eine innere Stimme. „Handeln. Jetzt ist es an der Zeit zu handeln! Du willst doch nicht den Verstand verlieren wie andere vor dir? Du willst doch nicht zu schwach sein, um die Menschen zu retten und ihnen ein friedliches Zeitalter zu ermöglichen?!“

„Nein!“ rief Kenshin. „Ich werde nicht zu schwach sein. Nie mehr.“
 

Mechanisch exerzierte er seine Kata von der ersten bis zur letzten Übung durch, immer wieder sich selbst ermahnend, nicht zu zögern, nicht zu denken, sondern zu handeln, Schritt für Schritt.
 

„Schritt für Schritt...“ murmelte er, als er geschwitzt nach vollendeter Übung an einem Baum lehnte und das Papier mit den Namen zur Hand nahm.

Er vermied es, sie noch einmal zu lesen.

Es waren nur Namen, Namen auf einem Blatt Papier, und bald würden sie vergessen sein. Dennoch wusste er, dass er zwar die Namen vergessen könnte, aber niemals die Gesichter, zu denen sie gehörten.

„Nicht denken, nicht denken!“ Er biss die Zähne zusammen und atmete tief durch.

Schritt für Schritt.
 

Ort: Shinamoto-Strasse

Zeit: zwischen 23- und 2 Uhr.
 

Kenshin las, dass zwei der Männer dem dritten Begleitschutz gaben, der ein öffentlicher Feind der Ishin Shishi und im speziellen Choshuus war, und daher ständig Bündnißversuche dieser Provinz mit ihren Nachbarn oft mit tödlichem Ausgang sabotierte.

Es folgte eine Beschreibung der Männer, insbesondere die des politischen Gegners der Ishin Shishi, der laut Brief wohl ein kleiner, fetter Mann war.

Er ging gewöhnlich an diesem Tag der Woche in seine Stammkneipe in der Shinamoto-Strasse. Allerdings war er sich seiner Unbeliebtheit bei den Patrioten wohl bewusst, war deswegen niemals allein unterwegs. Nicht nur seine Bodyguards sondern auch sein Ruf als ein Schwertkämpfer erster Klasse eilten ihm voraus.
 

Katsura warnte Kenshin am Ende des Briefes noch einmal eindringlich, besonders vorsichtig zu sein. Niemand durfte ihn sehen, es durfte keiner Entkommen, sonst war sein Leben verwirkt. Vor allem, es musste schnell geschehen, da die Shinamoto-Strasse ein belebter Ort mit vielen Imbissbuden und Trinklokalen war.

Im Vergleich zu seinem ersten Auftrag war die Lage also weitaus kniffliger.
 

Kenshin prüfte den Himmel. Es musste jetzt ungefähr kurz vor 20 Uhr sein.

Er brauchte einen Plan.

In der Shinamoto-Strasse gab es keine Bäume, in deren Blättern man sich verstecken konnte.

Aber Häuser!

Kenshin erinnerte sich auf dem Weg zurück in die Stadt. Die Shinamoto-Straße lag im Altstadt-Viertel Kyotos. Dort, wo es besonders dicht bebaut war. Dennoch konnte man sich einigermaßen in den schachbrettartig angeordneten Strassen zurechtfinden, auch wenn man so wie er noch nicht oft dort gewesen war.

Leider war die Shinamoto-Strasse lang und ohne viele Querstrassen. Zügig legte Kenshin den Weg in Richtung Altstadt zurück und eine halbe Stunde später stand er am Eingang der besagten Strasse, hielt sich unauffällig im Schatten, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erreichen.

Es waren wenig Leute unterwegs, doch die Gastwirte begannen gerade erst, ihre Abendlokale zu öffnen. Mehr Leute würden bald kommen.
 

Kenshin passte einen günstigen Moment ab, in dem er sich unbeobachtet fühlte, und glitt einem Schatten gleich auf das Dach eines niedrigen Hauses.

Wie eine Katze sprang er leichtfüßig und geschwind von Dach zu Dach, lautlos und schnell.

Wenige Augenblicke später sah er unter sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Kneipe. Flach auf die Dachziegel gekauert wartete er.

Sein Jagdinstinkt war erwacht.

Zu sehr erinnerte die Situation ihn an sein Training mit Hiko. Unzählbare Male hatten sie sich gegenseitig aufgelauert, Stunden mit Warten verbracht, dann blitzschnell zugeschlagen.

So würde er es heute auch machen müssen.
 

Angestrengt beobachtete er die Menschen, die vorbei gingen. Es wurden mit zunehmender Dunkelheit ziemlich viele, so dass Kenshin befürchtete, er könnte sein Zielobjekt übersehen.

Doch da, endlich, erspähte er eine Gruppe von drei Männern, die sich zielstrebig dem Lokal vor ihm näherte. Einer der Männer war auffallend klein und dick. Das mussten sie sein!
 

Sie betraten das Lokal, ein kurzer Lichtschimmer glitt durch die geöffnete Tür über die Strasse und Kenshin duckte sich schnell hinter die Ziegel.

Alle seine Sinne waren angespannt und er war hochkonzentriert, denn er spürte die starke den starken Kämpfergeist, das Ken-Ki des eher plumpig wirkenden Mannes – trotz seiner Gestalt war er sicherlich kein leichter Gegner. Er musste jetzt vorsichtig sein, kein Fünkchen seiner Gesinnung durfte nach außen treten, denn das würde sein Gegner sofort spüren.
 

Kaum hatten die Männer die Wirtschaft betreten, als Kenshin die ihm bekannte Ki von Izuka und die seiner zwei Kumpanen spürte. Er sah von seinem Versteck aus, wie sie sich möglichst unauffällig in der Nähe der Kneipe an einen Nudelstand setzten, scheinbar in ein unterhaltsames Gespräch vertieft, in Wahrheit die Tür des Lokals keine Minute aus den Augen lassend.
 

Genauso konzentriert blieb Kenshin auf den Ziegeln liegen, keinen Moment unaufmerksam, alle seine Sinne auf die Männer in der Kneipe konzentriert.

Er bastelte immer noch an einem Plan.

Hier auf der offenen Strasse konnte er Katsuras Auftrag nicht erfüllen. Zu viele Zeugen, die es nicht geben durfte. Was er brauchte, war ein dunkler, unbeobachteter Ort.

„Ja...“ dachte er sich, als er durch die Nacht die Strasse rauf und runter spähte, „...so könnte es funktionieren.“
 

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Gegen Mitternacht begann sich die Strasse allmählich zu leeren. Da es unter der Woche war, gingen die meisten schon früher zu Bett, so dass nur noch vereinzelte Gruppen unterwegs waren.

Doch für Kenshin, der immer noch bewegungslos auf dem Ziegelsteindach kauerte, war es für seine Zwecke immer noch zu viel Betrieb und vor allem zuviel Licht, das durch die Fenster der Kneipen nach außen schien.
 

Kenshin rieb sich gerade die Augen, als er gegen ein Uhr fühlte, dass Bewegung in die von ihm erwarteten Männer kam. Er spürte die gutgelaunte und sorglose Stimmung seiner Opfer, doch zwang er das darauf hin einsetzende flaue Gefühl in der Magengegend durch seine Willenskraft nieder.

„Handeln... nicht denken, Handeln!“ beschwur ihn seine innere Stimme.

Er strich sich den Pony aus der Stirn und beobachtete, wie die Männer das Lokal verließen. Sie fühlten sich offensichtlich sicher, denn keiner von ihnen achtete groß auf ihre Umgebung und schon gar nicht auf die Dächer, auf denen ihnen ein schwarzer Schatten folgte.
 

Kurz vor dem Ende machte die Shinamoto-Straße eine scharfe Kurve nach links, in deren Scheitelpunkt eine kleine Seitengasse, zu schmal für Fahrzeuge, nach rechts abbog.

Keine Menschenseele war in dem düsteren Gässchen unterwegs und Kenshin sah seine Gelegenheit nach dem langen Warten endlich gekommen.

Geschwind sprang er in die Gasse und wartete, bis er die Männer vor sich auf der Strasse um die Kurve biegen sah.

Als sie ihm den Rücken kehrten, trat er aus dem Dunkeln und rief mit frostiger Stimme ihre Namen, während er gleichzeitig seine bisher zurückgehaltene Ki aufflammen ließ.

Mehr erschrocken über die plötzliche feindselige, nein, sogar tödliche Aura, die ihnen entgegensprang als über die weiche, junge Stimme drehten sie alle drei Männer mit einem Ruck um.

Schnell trat Kenshin in die Seitengasse zurück, jedoch langsam genug, dass die Männer einen kurzen Blick auf ihn erhaschen konnten.

Auf ein Zeichen des kleinen Dicken sprang der eine seiner Beschützer mutig mit gezogenem Schwert in die Gasse. Der andere blieb vorsichtig, den Schwertgriff umfassend, auf der Strasse stehen. Die Beute hatte angebissen. Fast.
 

„Verdammt.“ Kenshin überlegte fieberhaft, wie er die anderen zwei auch in die Gasse locken könnte, denn so würden sie ohne Zweifel früher oder später die Aufmerksamkeit der vorübergehenden Leute auf sich ziehen.

Ihm musste schnell etwas einfallen.
 

In nur mäßigem Tempo zog er sein Schwert und führte einen zögerlichen Angriff gegen den Mann vor ihm, nur um dann schnell ein paar Schritte weiter ins Dunkel zurückzuweichen.

Der Bodyguard, der durch Kenshins stümperhaft wirkenden Angriff neue Selbstsicherheit gewann, nahm die Verfolgung auf.

Doch kaum war er ein paar Schritte nach vorne gegangen und damit für die auf der Strasse Zurückgebliebenen im Dunkeln verschwunden, zog Kenshin blitzschnell sein Schwert nach Art des Battoujutsu und enthauptete den Mann mit einem Streich.
 

Geräuschlos fielen Rumpf und Kopf zu Boden.
 

„Ich dachte Yabu Sekura wäre ein angesehener Schwertkämpfer – und kein Feigling, der seine Männer vorausschickt, für ihn zu sterben, weil er sich zu sehr vor dem Dunklen fürchtet!“ rief Kenshin provozierend zu den angestrengt in das Dunkel spähenden restlichen zwei Männern. Er hoffte, dass sie das Zittern in seiner Stimme nicht bemerkten.
 

Wutentbrannt ob der offensichtlichen Beleidigung und aus Neugier betraten sie endlich die Seitengasse.

„Imatzu?“ rief der übrige Bodyguard ängstlich seinen Begleiter.

Eine kalte Stimme antwortete ihm: „Er wird nicht kommen“.

„Nani?...“ Die Augen des Mannes weiteten sich vor Schrecken, als er schemenhaft einen am Boden liegenden Körper vor ihm in der dunklen Gasse ausmachen konnte und eine Gestalt, die mit im Mondlicht glänzendem Schwert daneben stand.
 

Mit einem Kampfesschrei stürzte sich der Bodyguard auf den Mörder seines Freundes im Dunklen vor ihm, doch ehe er nach ein paar Schritten sein Schwert ziehen konnte, traf ihn ein seitlicher Hieb und sein Schrei wurde zu einem lauten Gurgeln, bevor er tot auf dem Boden aufschlug.
 

Yabu Sekura, der die Szene im Schatten der Düsternis beobachtet hatte, zog nun endlich sein Schwert. Mehrere Attentate hatte er schon überstanden, den letzten Hitokiri sogar selbst erledigt. Doch diesmal schien die Situation für ihn brenzliger und der Attentäter eine Nummer größer als der letzte, denn die Männer, die er sich als Begleitschutz ausgesucht hatte, waren ausgebildete Schwertkämpfer aus namhaften Schulen gewesen. Sicherlich keine Stümper, die man mit einem Schlag erledigt, so wie dieser Hitokiri es getan hatte.
 

Hasserfüllt rief er zu der Schattengestalt: „Wer bist du?“

„Choshu Ishin Shishi. Mein Name spielt keine Rolle.“ Wieder diese kindliche, weiche, aber dennoch kalte Stimme.

„Was willst du?“

„Im Namen der göttlichen Gerechtigkeit und für ein neues Zeitalter musst du heute Nacht hier sterben!“

„Ha!“ lachte Yabu unbeeindruckt. „Hab ich’s mir doch gedacht. Die verfluchten Patrioten hatten es ja schon die ganze Zeit auf mich abgesehen“. Er spuckte aus.
 

„Ich spucke auf Verräter wie euch. Ihr wollt ein neues Zeitalter, aber was bringt ihr den Menschen? Unfrieden! Ihr zerstört die alte Ordnung! 300 Jahre des Friedens hat der Shogun Japan geschenkt und ihr wollt das Chaos. Wer hier verdient hat zu sterben, seit ihr!“

Mit einer für sein Gewicht überraschenden Leichtfüßigkeit sprang Yabu seinem Widersacher entgegen, der dem ersten Streich nur mit Mühe parieren konnte.
 

Nie hätte Kenshin mit so einer Schnelligkeit und Kraft gerechnet. Zudem hatten ihn Yabu’s Worte verwirrt. Seine Zweifel, die er den ganzen Abend erfolgreich unterdrückt hatte, begannen plötzlich wieder laut zu werden.
 

Brachten sie wirklich Unfrieden und Chaos?
 

Gerade noch rechtzeitig sah Kenshin den Stahl, der im Mondlicht glitzerte, bevor er ausweichen konnte und das Schwert knapp neben ihm die Wand traf und eine Kerbe im Holz hinterließ.

Er spürte ein Brennen auf seinem Oberarm. Yabus Schwert war durch seine Deckung gestoßen.
 

Yabu spuckte erneut aus. Sein Verdacht, hier einen Meister der Schwertkunst vor sich zu haben, hatte sich wohl nicht bestätigt. Noch dazu war der Hitokiri offensichtlich noch ein halbes Kind.

„Und du Schwächling hast die Stirn, mich herauszufordern? Ich bin ein Meister des Kenboku Shio Ryu“. Und damit sprang er unverhofft nach vorne und holte zu einem tiefen Schlag aus. Kenshin parierte, doch im nächsten Moment wandelte Yabu den tiefen Schlag zu einem Streich nach oben um und erwischte zwar nicht Kenshins Arm, aber den Ärmel seines dunkelblauen Gi.
 

„Ha!“ keuchte Yabu und der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. „Der nächste Schlag wird der letzte sein. Ihr Ishin Shishi seit zum Untergang verurteilt. Erkennt ihr nicht die Übermacht, die ihr gegen euch habt? Keiner will euren Zielen folgen.

Die Menschen wollen in ihrer alten Ordnung bleiben. Samurai bei Samurai. Bauern bei Bauern. Händler bei Händler. So wie es Jahrhunderte über funktioniert hat. Und so wird es auch für immer bleiben. Wie könnt ihr nur diese gerechte, göttliche Ordnung in Frage stellen?“
 

Kenshin hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Sein Herz raste. Adrenalin brachte seinen ganzen Körper in Wallung. Yabus Worte hatten ihn verunsichert und unachtsam gemacht. Seinem Gegner war es zwei Mal gelungen, durch seine Denkung zu brechen. Er hatte seinen Willen nicht genug gestählt. Seine Gedanken nicht genug auf das Ziel ausgerichtet. Seine Ohren nicht genug vor den Worten seines Feindes verschlossen.
 

Doch jetzt war sein Blick wieder klar. Er erinnerte sich an den Gemüsehändler von heute morgen. Mazaki, den Bauern, der zur Kihei-Tai gegangen war... Akane-san...

Wie konnte er nur die Unterdrückung, die all diese Menschen erleiden mussten, als „gerechte Ordnung“ bezeichnen?
 

Plötzliche Wut floss heiß durch seinen Körper und brachte seine Augen zum glühen. Yabu wich erschrocken zurück.

Vor ihm stand kein Junge mehr, sondern ein bedrohliches Wesen mit leuchtenden Augen, von dem eine Ki ausging, die sofortigen Tod versprach.
 

Trotzig packte er sein Schwert und wollte zu seinem finalen Angriff ausholen, doch da sah er, wie sein Gegner in Battoujutsu-Stellung ging.

Er lächelte, als er seine Taktik änderte und dieselbe Position einnahm.

Niemand hatte ihn bis jetzt im Kenboku Shio Battoujutsu geschlagen – es war eine der schnellsten Techniken überhaupt.
 

Beide Gegner fixierten sich einige Sekunden.

Dann sprangen sie beide vor.

Noch ehe Yabus vorgesetzter Fuß den Boden berühren konnte, hatte Kenshin sein Schwert schon mit voller Kraft gezogen und es quer über den Brustkorb des Mannes schnellen lassen.

Ungläubig sah Yabu auf seinen durchschnittenen Leib bevor er umfiel.
 

Schnell kontrollierte Kenshin, ob ihn auch niemand in der Gasse gesehen hatte.

Von fern drangen die Stimmen und das Licht der Shinamoto-Strasse in das Dunkel, doch offensichtlich hatte niemand dort dem Kampfeslärm bemerkt. Fast niemand.
 

Kenshin spürte, wie sich ihm drei bekannte Ki’s näherten – Izuka und seine Handlanger, die den Männern in einigem Abstand gefolgt waren.

Wenige Sekunden später tauchten auch schon ihre Köpfe am Eingang der Gasse auf.

„Ah, Himura-san. Schnell.”

Die Männer hasteten an ihm vorbei zu den blutigen Körpern am Boden.
 

„Verschwinde endlich hier!“ herrsche Izuka Kenshin an. „Es wundert mich, das der Lärm von eurem Kampf nicht schon die halbe Stadt aufgeweckt hat. Wir hatten Mühe und Not, die Leute auf der Strasse von eurem Scharmützel abzulenken. Verschwinde! Wir kümmern uns um den Rest. Ich möchte dich später in der Herberge sprechen!“

Schnell nahm Kenshin das Reispaper, was einer der Männer ihm reichte, und wischte sein Schwert ab. Dann steckte er es in die Scheide und verschwand wortlos über die Dächer, wie er gekommen war.
 

„Schnell, schnell!“ trieb Izuka währenddessen seine Männer an. Augenblicklich hatten sie die Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ auf den Leichen platziert und als wenige Sekunden später die Einheiten des Shoguns, die von auf dem Lärm aufmerksam gewordenen Passanten alarmiert worden waren, eintrafen, waren sie ebenfalls verschwunden.
 

--
 

„Oi, Izuka! Warte!“

„Was ist, Umino?“

„Nah, nicht so schnell. Hatomo.“ Umino wies auf den Genannten, der gerade an einem Baum seine Notdurft verrichtete.

Als besagter sie eingeholt hatte, brach er das Schweigen.

„Izuka, das war Himura? Der verschüchterte kleine Junge aus dem Speisesaal? Der mit dem tölpelhaften Yoshida rumhängt? Kami-sama..“. Er pfiff durch seine lückenhaften Zähne.
 

„Ja Hatomo, da hast du richtig gesehen!“
 

„Aber wie kann das sein?“ warf Umino ungläubig ein, „Er ist doch nur ne halbe Portion? Ist der nicht erst 14? Wie kann er die Kraft haben, die Männer so zu zerhauen? Ich meine, habt ihr den einen gesehen? Der war glatt in der Mitte geteilt! Was meint ihr, was man dafür an Kraft brauch?!“
 

„Und nicht nur das!“ ergänzte Izuka. „Er hat Yabu Sekura mit einem Schlag getötet. Battoujutsu gegen Battoujutsu. Und von Yabu’s Kenboku Shio-Stil hat man gehört, dass er noch nie im Battoujutsu besiegt worden sei. Erinnert euch an Hitokiri Benshu - der war nicht schlecht, hat immerhin zwei Monate für uns gearbeitet, aber Yabu hat ihn mit einem Streich erledigt!“

„Kami-sama...“ murmelte Hatomo erneut. „Das ist doch kein normaler Junge. Habt ihr seinen Blick gesehen, als er dastand, blutüberströmt? Ich hatte das Gefühl, der hat glatt durch mich hindurch gesehen. Dann noch die roten Haare. Und die Augen haben so merkwürdig geglitzert...“

„Brrr...“ schüttelte Umino sich. „Ich hatte ja schon mit einigen Hitokiri zu tun, aber der hier ist unheimlich. Er wirkt so schüchtern und schwach, und im nächsten Moment metzelt er Menschen wie Grashalme nieder. Ich sag’s euch, das ist nicht natürlich. Ist er ein Mensch?“
 

„Ihr Tölpel!“ unterbrach Izuka die Männer, „Ihr wisst wie ich, dass er nur seinen Job macht. Mir kam er recht normal vor, bei Tageslicht jedenfalls. Ihr wisst, ich bin nicht besonders abergläubisch. Aber sein Talent ist wirklich grandios. Einen Meister der Schwertkunst so leicht zu besiegen... Ein Glück, dass Himura sich uns und nicht dem Shogunat angeschlossen hat!“

„Oh ja!“ bestätigten die anderen zwei eifrig nickend. „Ein Glück für uns. Ich könnte keine Nacht mehr ruhig schlafen, wenn ich so jemanden zum Feind haben müsste“.

„In der Tat...“ überlegte Izuka. „Ein netter Junge, tagsüber jedenfalls. Aber zum Feind haben möchte ich ihn nicht. Mit ihm auf unserer Seite sind wir gut dran.“
 


 

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Schattengleich legte Kenshin den Weg zur Herberge von Dach zu Dach springend zurück.

In seinem Kopf rauschte es immer noch und er hörte sein Herz wild in seiner Brust hämmern. Dieser Yabu war wirklich ein ausgezeichneter Schwertkämpfer gewesen. Er hatte ihn zwei Mal kalt erwischt. So etwas durfte ihm nicht noch mal passieren. Dennoch hatte der Kampf ihn in allen seinen Sinnen stimuliert.
 

Er war ein würdiger Gegner gewesen, und sein Battoujutsu, wenn auch viel zu langsam, um gegen das des Hiten Mitsurugi Ryu ankommen zu können, war perfekt ausgeführt.
 

Insgesamt empfand er den ganzen Auftrag jedoch als Desaster.
 

Sein Plan war nicht aufgegangen. Es hatte zu lange gedauert, erst der Kampfeslärm, dann auch noch die Konversation mit Yabu, die ihn kurzzeitig so verunsichert hatte, das dessen Schwert seinen Oberarm erreicht hatte. Warum hatte er ihn auch so lange reden lassen?
 

Gedankenverloren tastete er nach der Wunde an seiner Schulter. Es war nur ein kleiner Kratzer.
 

Nichts desto trotz ärgerte sich Kenshin. Es war stümperhaft gewesen. Nächstes Mal würde er es besser machen müssen, sonst würde er nicht lange der Bote des Tenchuu sein.
 

Er hastete weiter und spürte die kühle Nachtluft eiskalt auf seiner Brust ... kleben?

Wie in Trance sah er an sich hinab. Was da an ihm klebte und so kalt und nass war, war sein dunkelblauer Gi. Nein, sein größtenteils schwarzer Gi.

Dunkelblau schwarzgefärbt mit Blut.
 

Da war er plötzlich wieder. Der metallische Geruch.

Unfähig, sich weiter zu bewegen, sackte Kenshin auf einem Dach zusammen und erbrach sich mehrmals.

Tränen standen ihm in den Augen und er wagte den Blick kaum zu senken, aus Angst, sich erneut betrachten zu müssen.
 

Er war blutüberströmt. Gi und Hakama waren voll davon, genauso seine Hände und... sein Gesicht. Er ekelte sich vor sich selbst.

Wie sollte er so die Herberge betreten? Wenn ihn so einer der Männer sah...
 

Er änderte die Richtung und erreichte wenige Augenblicke einen kleinen Flussarm, der als Kanal die Strasse entlang floss. Auch wenn das Wasser höchstwahrscheinlich nicht gerade sauber war, sprang Kenshin hinein.

Das Wasser reichte ihm gerade mal bis zum Bauchnabel, aber er tauchte mehrmals unter, schrubbte mit den Händen sein Gesicht und seine Haare, seinen Oberkörper und seine Hakama.
 

In Verbindung mit Wasser schien das Blut noch intensiver zu riechen. Er hatte sogar den Geschmack im Mund.
 

„Vier Männer!“ dachte er entsetzt. „Vier Männer! Vier Männer habe ich schon getötet. Ich bin noch nicht mal eine Woche in Kyoto und habe schon vier Männer getötet. Wie soll das weitergehen?!“.

Er schrubbte sich verbissen weiter ab, ohne das Gefühl, sauberer zu werden.
 

Wie schon beim ersten Mal sah er die Gesichter der Männer vor sich, sah sich selbst ihr Leben auslöschen. Hörte ihre Schreie.

Er schüttelte den Kopf. Was hatte er da gerade eben getan?

Menschen in den Hinterhalt gelockt.

Und getötet.

Die Beschützer Yabus schienen Freunde zu sein...

Er erinnerte sich an das schmerzverzerrte und hasserfüllte Gesicht des zweiten Bodyguards, als er die kopflose Leiche seines Freundes am Boden gesehen hatte.

Er fühlte sich wie ein Monster.
 

Tropfend und nach gammeligem Wasser riechend stieg er endlich aus dem Kanal und eilte zur Herberge zurück.

Izuka-san wollte ihn jetzt noch sprechen. Doch er hatte das Gefühl, kaum fähig zu sein, jetzt einem Menschen zu begegnen oder sich zu unterhalten, da er schon Mühe hatte, sich fortzubewegen ohne zusammenzubrechen.
 

Er konzentrierte sich nur auf seine Schritte, ein Fuß nach vorne, der nächste, und wieder links, rechts, links....

„Nicht so viel Denken!“ sagte ihm wieder eine innere Stimme.

„Aber...“ schrie es in ihm, „wie kann das, was ich tue, richtig sein??!!“

„Du hast deinen Schwertarm Katsura-sama zur Verfügung gestellt. Er hat zu entscheiden, was Richtig und was Falsch ist, nicht du. Du hast seinem Urteil zu vertrauen!“
 

Links.. rechts.. vorwärts gehen.. nicht stehen bleiben...
 

„Ich... kann es nicht mehr tun. Es... ist zu schrecklich...“

„Du Schwächling!“ herrschte er sich an. „Du willst doch nicht zu schwach sein? Du weißt doch, wofür du diese Dinge tust! Für ein neues Zeitalter!“

„Ich weiß! Es muss sein.. Es ist nur so... schwer.“

„Einer muss es tun. Und du bist ausgewählt! Wenn du so die Zeiten ändern kannst, dann tue es so!“

„So... schwer...die Gesichter...“

„Du denkst zu viel! Es sind doch nur deine Feinde! Sie stehen dem neuen Zeitalter im Weg! Erinnere dich an die Wut, die du auf Yabu hattest, als er von der Edo-Zeit als eine Zeit voller gerechter Ordnung sprach. Erinnere dich an die Wut, die du empfandest, als du zusehen musstest, wie Menschen vor dir starben und du sie nicht beschützen konntest... soll dir so etwas noch einmal passieren?!“

„Nein!“ rief Kenshin in sich hinein.

„Nicht Denken! Handeln. Katsura-sama wird die Zeiten verändern. Und ich bin sein Schwertarm. Ein Schwertarm ist nicht zum Denken da. Ein Schwertarm führt ein Schwert. Ein Schwert tötet. Und zwar den Feind! Für die göttliche Ordnung!“
 

Das vorwärtsgehen viel ihm leichter. Er spürte den Druck in seiner Brust nachlassen und konnte wieder freier atmen.

Die Panik in ihm hatte sich gelegt. Er fühlte sich einigermaßen ruhig.

Das leichte Zittern kam von der Kälte.

Schließlich war er nass und es war kurz vor dem Wintereinbruch.

Geschwind legte er die letzten Meter zurück.

„Jetzt nur noch schnell ins Badehaus...“ dachte er. „Und aufwärmen..“

Er hatte das Gefühl, dass die Kälte sogar von seinem Herzen Besitz ergriffen hat.
 


 

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Wörter:
 

Haori = Winterumhang/Mantel
 

Kami = (guter) Geist
 

Shinamoto-Strasse sowie Kenboku Shio Ryu sind von mir frei erfunden.
 

Der Titel dieses Kapitels hat mir einige Schwierigkeiten gemacht. Doch beim Überarbeiten hat der Sinn dann doch ganz gut gepasst, hoffe ich.
 

^-^ Bis zum nächsten Kapitel: Kenshin muss versuchen, mit den großen und kleinen Schwierigkeiten seines neuen Lebens als Attentäter klar zu kommen. Er erhält unerwartete Unterstützung von ganz verschiedenen Personen...

Kommentare und Anregungen sind natürlich immer gern gesehen!

Kapitel 6 - Die Wirtin vom Kohagiya

Ein neues Kapitel... wie immer würde ich mich sehr über Kommentare freuen! J
 


 

Izuka will Kenshin Ratschläge geben. Yoshida ist plötzlich weg. Und da ist auch noch Okami-san, die von Kenshins Existenz als Attentäter weiß...
 


 


 

Kapitel 6 – Die Wirtin vom Kohagiya
 


 

Okami-san war froh über ihr geringes Schlafbedürfnis. Früher war sie ein echter Morgenmuffel gewesen. Kein Wunder, denn meistens hatte sie sich die Nächte um die Ohren geschlagen – nicht immer zum Vergnügen, sondern meistens ihres Berufes wegen.
 

Als sie schließlich genug Geld beisammen hatte, um ihr eigenes Lokal zu eröffnen, kamen gleich am ersten Abend die Yakuza des hiesigen Stadtviertels und zerstörten ihr die halbe Einrichtung. Damals war Katsura Kogoro zufällig ein Gast in ihrer Herberge mit Namen Kohagiya – er regelte den Vorfall mit den Yakuza. Und nicht nur das... Er sorgte für Rache. Denn die Männer hatten sich an dem Abend noch mehr genommen als das Geld aus den Kassen...
 

Seitdem war sie ihm treu ergeben. Und fühlte sich geehrt, ihm und den Choshuu Ishin Shishi Unterschlupf zu gewähren.

Trotzdem war es anstrengend. Mit Aki und Kiku hatte sie zwar etwas Unterstützung, aber dennoch waren alle Zimmer hoffnungslos überbelegt.
 

Heute Abend jedoch genoss Okami-san auf der Veranda sitzend einen heißen Tee. Katsura war mit einigen Männern aufgebrochen und heute waren ihm weitere zur Unterstützung nachgefolgt - und das hieß: Weniger Arbeit.
 

Das war ihr erster freier Abend seit Monaten. Eigentlich wollte sie die Zeit nutzen, um wenigstens einmal früh zu Bett zu gehen und richtig ausgeschlafen zu sein.

Doch sie hatte schon nach wenigen Minuten feststellen müssen, das sie überhaupt nicht müde war. Es war ihr eben zur Gewohnheit geworden, die halbe Nacht aufzubleiben, immer bereit, falls einer der Männer irgendetwas benötigte.
 

Mit einem Seitenblick auf die Uhr nippte sie erneut an ihrem Tee.

Schon fast halb Zwei! Wenn sie ausgetrunken hatte, würde sie sich hinlegen, ob der Schlaf nun kommen wollte oder nicht.
 

Es war still in Herberge, die meisten Männer waren bereits von ihrem Dienst oder Vergnügen zurückgekehrt. Selbst Aki und Kiku, die mit zwei der Samurai ihren freien Abend genossen hatten, schliefen schon tief und fest ihren Rausch aus.

„Wahrscheinlich werden die zwei mich mit ihrem Schnarchen auch den Rest der Nacht wach halten...“ überlegte sie lächelnd. Sie hatte die Mädchen, wenn sie auch etwas flatterhaft waren, sehr gern. Sie waren herzensgut und hatten besseres verdient, als im Milieu des Gion-Viertels aufzuwachsen.
 

Gerade, als Okami aufgestanden war, um ihren steifen Rücken zu strecken – „Jaja, das Alter macht sich langsam bemerkbar“ – hörte sie das Knarren der Eingangstür.

„Oh, noch ein Nachzügler?“ Neugierig spähte sie in den Innenhof, um zu sehen, wer wohl so spät noch aus gewesen war – und erschrak.
 

Eine tropfnasse Gestalt watschelte benommenen Schrittes durch den Innenhof in Richtung Badehaus, eine Wasserspur hinter sich lassend.
 

„...Kenshin?“ dachte sie ungläubig und rieb sich die Augen. Der Junge war verschwunden, aber die Wasserspur, die bis ins Badehaus führte, noch da. Ein Zeichen, dass sie nicht geträumt hatte.

Okami-san überlegte. Sollte sie dem Jungen jetzt folgen und ihn fragen, was das alles sollte? Oder lieber alles ignorieren und schlafen gehen?

Vielleicht war er ja betrunken und jemand hatte ihn zur Ernüchterung ins Wasser getaucht... ja, das schien sehr wahrscheinlich zu sein. Der arme Junge. Naiv wie er doch war hatten sich bestimmt einige Männer einen Spaß daraus gemacht, ihn betrunken zu machen.
 

Mit Handtüchern bewaffnet ging Okami zum Badehaus, aus dem es bereits plätscherte.

Leise und vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt breit – sie wollte den Jungen ja nicht erschrecken oder seine Privatsphäre verletzen – aber sie sah, dass er noch angezogen war.
 

Er hatte längst ihr Kommen bemerkt. „Okami-san...“ murmelte er mit tonloser Stimme ohne sich zu ihr umzudrehen und das erschreckte sie noch mehr. Irgendetwas war nicht in Ordnung.

„Ich... bin nur gekommen, um dir ein paar Handtücher zu bringen.“ Meinte sie sanft.

Sie bekam keine Antwort.

„Da... ich lege sie dir hier vor die Tür.“

Kaum getan eilte sie verwirrt in die Küche und setzte Wasser auf. Was hatte der Junge bloß? Seine sonst so freundliche, wenn auch zurückhaltende Gegenwart hatte gerade eben sehr beängstigend auf sie gewirkt.
 

Okami-san konnte Eins und Eins zusammenzählen. Immerhin war sie die Wirtin dieser Herberge, ihr blieb nichts verborgen. Deshalb wusste sie, auch wenn es Katsura ihr nicht wortwörtlich so erzählt hatte, was die Bestimmung des Jungen war.
 

Er sollte der neue Hitokiri sein.
 

Der letzte dieser Sorte – allesamt waren es gefährliche, blutrünstige, emotionslose Männer gewesen, mit einem Lebenslauf, den man besser nicht zu Papier brachte – war in einem Gefecht vor einigen Wochen umgekommen. Es hatte sie gewundert, dass Katsura-sama die Stelle so lange unbesetzt gelassen hatte, wo sie doch so wichtig für das Gelingen der Revolution war.
 

Doch schon seit seiner Ankunft des Jungen hatte sie es mehr geahnt als gewusst: Die Stelle war wieder neu besetzt. Spätestens, als sie den Jungen vom Küchenfenster aus im Hof trainieren sah, hatte sich ihr Verdacht bestätigt. Nachdem sie daraufhin Katsura angesprochen hatte – sie war wirklich wütend gewesen – hatte er es nicht geleugnet.
 

Sie brachte Katsura-sama zuviel Ehre entgegen, um an ihm, seinen Worten oder seinen Taten zu zweifeln. Jedoch konnte sie es in ihrem Herzen nicht gutheißen, einen Jungen wie Kenshin, der so unschuldig, rein und idealistisch zu sein schien, für derartige blutrünstige Aufgaben zu missbrauchen.

Sie wusste wie Katsura, dass es den Jungen zerstören würde.
 

Deshalb hatte sie insgeheim beschlossen, ihm soviel Unterstützung zu geben, wie sie konnte. Sie würde keine Angst vor ihm haben, so wie dass die Männer vielleicht bald hätten. Denn ihre mütterlichen Instinkte betrogen sie nicht. Sie war sich sicher, das Kenshin ein von Herzen gutmütiger und friedliebender Mensch war.

So gutmütig, dass er bereit war, das wertvollste, was ein Mensch besitzen konnte unwissend für das Glück anderer Menschen opfern – seine unschuldige Seele.
 

---
 

Eimer nach Eimer über sich ausleerend, wusch Kenshin das restliche Blut und das dreckige Wasser des Kanals von sich ab.
 

Das unheimliche, bernsteinfarbene Glitzern war längst schon aus seinen Augen verschwunden und einem stumpfen Blau gewichen.
 

Sein Herz zuckte schmerzlich in seiner Brust, als er die Handtücher vor der Tür sah. Okami-san war so gut zu ihm gewesen. Nun, da sie ihn so gesehen hatte, musste sie ihn verachten...

Er nahm eines der weißen Handtücher und rubbelte sich schnell trocken.
 

Im Eiltempo schrubbte er nun bereits zum zweiten Mal in dieser Woche, nur mit einem Handtuch bekleidet seine Choshuu-Uniform sauber, wobei er wie beim ersten Mal krampfhaft versuchte, an nichts zu denken.
 

Zur gleichen Zeit wankten zwei Samurai, offensichtlich mehr als betrunken, im Mondlicht durch die Eingangstür in Richtung ihrer Zimmer. Als sie Kenshin im Hof hocken sahen, halbnackt, die Wäsche schrubbend, brachen sie in Gelächter aus und lallend amüsierten sie sich über „Katsura’s kleinen Dienstjungen“.

Kenshin wendete seinen starren Blick nicht einmal von der Wäsche vor ihm ab und mit einem Schulterzucken gingen die Männer schließlich zu Bett.
 

Kenshin hängte die tropfende Uniform auf und beeilte sich, zum Zimmer zu kommen und sich umzuziehen. Schon auf dem Flur wusste er, das Yoshida nicht anwesend war und daher schmiss er das Handtuch einfach in eine Ecke und zog sich hastig seine zivilen Kleidung an.

Wenige Minuten später stand er vor Izukas Zimmer, aus dem schwacher Kerzenschein durch das Reispapier der Schiebetüren leuchtete.

Leise klopfte Kenshin an das Holz des Türrahmens und Izukas helle Stimme gebot ihm Einlass.
 

Steif setzte sich Kenshin auf das Kissen gegenüber von Izuka und seinen zwei Handlangern. Er vermied es, ihre Gesichter anzusehen doch spürte er ihren Wiederwillen, mit ihm in einem Raum sitzen zu müssen. Und etwas anderes... was war es? Respekt? Oder Angst?
 

„Warum hat das so lange gedauert?“ fuhr in Izuka, offensichtlich kein bisschen ängstlich, barsch an. „Ich warte schon über eine halbe Stunde.“

Kenshin fixierte die Sake-Flaschen auf dem Tisch zwischen ihnen und antwortete schließlich mit leiser Stimme: „Ich ... musste mich erst sauber machen.“

„Na...zum Glück ist der Sake noch warm.“ Izukas Stimme war nun versöhnlich, als er Kenshin und sich zwei Schälchen voll goss.

„Hier.“ Er schob eines der Schälchen in Kenshins Richtung. „Schon mal Sake getrunken?“

Kenshin schüttelte den Kopf. Als er auf die im Kerzenlicht schimmernde Flüssigkeit sah, musste er plötzlich an seinen Meister denken. Sake und sein Shishou... zwei Dinge, die untrennbar miteinander verknüpft waren.

Fast hätte sich ein wehmütiges Lächeln in sein Gesicht geschlichen.
 

Mit einem genüsslichen Schlürfen hatte Izuka bereits sein Schälchen gelehrt und schenkte sich ohne Scham gleich das Zweite ein. Auch dieses trank er in einem Zug, bis er bemerkte, dass Kenshin seinen Sake immer noch nicht angerührt hatte.

„Hey Himura. Trink, sonst wird er kalt.“

Erneut schüttelte Kenshin den Kopf. Ihm war jetzt nicht danach, Sake zu trinken und schon gar nicht wollte er an seinen Meister erinnert werden.

„...dann nicht!“ Izuka nahm Kenshins Schale und trank sie ebenfalls leer.
 

Kenshin spürte abermals die misstrauischen Blicke der Männer in Izukas Rücken und wünschte sich, dieser würde endlich zur Sache kommen. Er fühlte sich auf einmal sehr erschöpft.

„Nun, Himura, du bist wohl nicht besonders kommunikativ. Aber du sollst mir sowieso nur zuhören...“ Izuka hatte die Flasche endlich ausgetrunken und seine Wangen waren bereits leicht gerötet. „... das war nichts!“
 

Kenshin hob den Blick.

„Deine Mission heute Abend – ich gebe zu, sie war nicht besonders leicht – wäre um ein Haar fehlgeschlagen. Wenn ich nicht mit Umino und Hatomo vor dem Eingang der Gasse einen lauten Wortstreit angefangen hätte, wären nicht binnen fünf, sondern binnen einer Minute die Bakufu-Truppen alarmiert gewesen.“

Schweigsam wartete Kenshin darauf, dass Izuka weitersprach.

„Naja... wenigstens hast du die Typen erledigt. Ehrlich gesagt...“ er beugte sich über den Tisch und sein nach Sake riechender Atem wehte zu Kenshin herüber, „... ich habe nicht gedacht, das du Yabu Sekura erledigen kannst.“

Mit einem Lachen setzte er sich wieder zurück. „Die Jungs wollten sogar schon mit mir wetten...“
 

Mit einem kalten Blick fixierte Kenshin die beiden abgehalfterten Samurai, die daraufhin unruhig hin und her zu rutschen begannen.

„Egal!“ Alle zuckten zusammen, als Izuka mit der Faust auf den Tisch schlug, dass die Sakeschälchen hochsprangen.
 

„Wer nach dem, was heute Abend geschehen ist, noch solche Wetten abschließt ist bekloppt! Wie du den Typen erledigt hast! Der Wahnsinn. Ein glatter Schlag, aufgeschlitzt von rechts unten nach links oben, schneller als das Kenboku Shio Battoujutsu! Mein Kompliment.“

Mit steinerner Miene begegnete Kenshin Izukas Enthusiasmus.

„Du darfst dich ruhig freuen, Junge!“ rief dieser stahlend.
 

„Freuen?...“ Ungläubig hielt Kenshin inne. Was gab es an der Tatsache, einen Menschen aufgeschlitzt zu haben, zu freuen?

„Yabu Sekura war wohl einer der fähigsten Schwertmeister, die sich zur Zeit in Kyoto befinden. Sein Name ist überall in Japan bekannt. Noch nie wurde er in seinem Kenboku Shio Battoujutsu geschlagen! Es war bisher immer absolut tödlich.“

„Dann war ich wohl tödlicher...“ Kenshins ausdruckslose Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
 

„Oh ja!“ lachte Izuka, als er sich aus der zweiten Sakeflasche einschenkte. „Darauf kannst du deinen Arsch verwetten!

Aber hör mir gut zu! Du musst vorsichtiger sein! Nach dem heutigen Abend werden alle Shogunats-Anhänger ihre Sicherheitsvorkehrungen verdoppeln. Die werden ganz schon Schiss haben vor dem Hitokiri, der Yabu gekillt hat!“

Kenshins Augenbraue zuckte bei den letzten Worten.

„Jedenfalls, so etwas wie heute darf dir nicht noch mal passieren!“
 

Auch die zweite Flasche war geschwind geleert, Izukas Blick wurde glasig und seine Zunge schwer.

„Wenn ich dir nen Ratschlag geben darf: Du musst noch schneller werden! Gib den Arschlöchern einfach keine Zeit, ewig mit dir herumzudiskutieren!

Dafür bist du nicht da, Katsura-sama redet sich die Zunge fusselig, aber du wirst für’s Töten bezahlt. Also Himura: Das nächste Mal bist du schneller, kapiert?! Schnell, akkurat, unsichtbar – so soll ein Hitokiri sein.

Außerdem... ich geb dir nen Tip: wenn du nicht so ne Sauerei machst, mussudich und deine Klamotten Nachts nich mehr Stunden waschen, ne? Du willst doch deinen Job ordentlich erledigen und Katsura nich in die Scheiße reiten!“
 

Kenshin’s Finger hatten sich in dem Stoff seines Gi’s gekrallt. Der betrunkene Izuka nahm, im Gegensatz zu seinen immer ängstlicher schauenden Männern das gefährliche Glitzern in seinen Augen nicht wahr.
 

„Hai Izuka-san. Der Job wird ordentlich erledigt.“ Presste er schließlich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor.
 

„Gut gut.“ Gluckste Izuka. „Merke dir einfach: Wenn du Mitleid mit deinen Feinden hast, hast du Mitleid mit den Falschen. Die haben auch kein Mitleid, wenn sie dich mal zu fassen kriegen sollten. Hoffen wir, dass du diese Erfahrung nie machen musst. Du kannst jetzt gehen.“
 

Mit kaltem Blick stand Kenshin auf und verließ den Raum. Hinter sich hörte er Seufzer der Erleichterung von Umino und Hatomo, gerade als er die Schiebetür schloss.

Wütend stapfte er auf sein Zimmer. Vor seiner Tür entdeckte er ein Tablett mit heißem Tee und ein paar Reisbällchen.

Er ließ es einfach stehen und schloss die Schiebetür.

Wie konnte Izuka es wagen, ihm was von Schnelligkeit zu erzählen? Soweit er sich erinnerte, hatte er ihn noch kein einziges Mal beim Kämpfen beobachtet.

Und das mit dem Blut... glaubte Izuka etwa, dass es toll war, so auszusehen? Wie soll man es vermeiden, jemanden mit dem Schwert zu töten und dabei kein Blut abzubekommen? Vielleicht war es möglich aber... dafür hatte er wohl noch nicht genug... Übung.
 

Ein Schauer rann ihm den Rücken hinab als er sein Schwert betrachtete, was bereits von vier Menschen das Leben gefordert hatte.
 

Izuka-san sprach von Mitleid... hatte er denn Mitleid mit seinen Feinden?

Vielleicht fiel ihm das Töten ja deswegen so schwer.

„Mitleid ist dumm.“ Sprach seine Innere Stimme. „Wie Izuka schon sagte: Es sind Feinde! Die werden auch kein Mitleid mit mir haben.“

Ihm fiel der Gemüsehändler wieder ein. Auch er hätte kein Mitleid von diesen Samurai erfahren. Menschen, die anderen kein Mitleid gewährten, verdienten selbst auch keines!
 

Doch er konnte einfach das Gefühl der Schuld nicht beseitigen, wie er es auch drehte und wendete. Ein Teil von ihm wusste, was seine Bestimmung als Hitokiri war. Ein anderer Teil wollte das nicht akzeptieren.

Er musste an die zwei Bodyguards von Yabu denken. Sie waren Freunde gewesen. Sie wurden wahrscheinlich einfach nur für ihren Job bezahlt, nichts weiter...
 

Es tat ihm so Leid.

„Nicht denken!“ befahl die innere Stimme. „Handeln. Ein Schwert hat keine Gefühle. Ein Schwert kennt kein Mitleid.“

„Doch...“ dachte sich Kenshin. „Wenn ich auch für ein neues Zeitalter töten muss.... dann kann ich wenigstens schnell töten. Ein schneller Tod. Das ist die einzige Gnade, die ich gewähren kann...“
 

Kenshin starrte gedankenverloren auf Yoshidas Bett. Endlich begann er sich zu fragen, wo sein Zimmergenosse eigentlich war. Es musste jetzt mindestens schon vier Uhr nachts sein. Normalerweise kam selbst Yoshida so spät nicht nach Hause.

Lag da nicht etwas auf dem Futon?
 

Kenshin stand auf und fand einen zusammengefalteten Zettel auf Yoshidas Kopfkissen. „An

meinen rothaarigen Zimmergenossen!“ stand mit krakeliger Schrift darauf geschrieben.
 

Er faltete den Zettel auf.
 

Hey Kenshin.

Ich konnte nur bis Mittag auf dich warten, aber du bist nicht gekommen. Deswegen der Zettel.

Heute Morgen hat mich Katagai in eine neue Einheit eingeteilt.

Stell dir vor, ich darf jetzt mit Buntaro und einigen anderen Katsura-sama auf seiner Reise in die Provinz Tosa begleiten. Dort sollen wohl einige Bündnisse getroffen werden, auch Ausländer werden dabei sein! Vielleicht sehe ich sogar mal einen mit gelben Haaren. Das muss noch komischer Aussehen wie dein roter Schopf!

Wir werden wohl einige Wochen weg sein. Allerdings will Katsura-sama noch vor Einbruch der großen Schneefälle wieder nach Kyoto zurückkehren.

Daisuke ist ganz schön neidisch, dass er nicht mitkann. Ich hoffe, du bist nicht auch neidisch?

Ich vermisse dich und freue mich auf die Rückkehr, dann kann ich dir viele neue, tolle Geschichten erzählen!

Pass gut auf dich auf, Kenshin!
 

Yoshida
 


 

Kenshin lies die Hand mit dem Zettel sinken, unschlüssig, wie er sich nun fühlen sollte.
 

In seinem Inneren fühlte er sich so erschöpft wie noch nie. Die Bluttaten des Abends pochten beständig an der Tür zu seinem Bewusstsein und er musste sich konzentrieren, sie zu unterdrücken. Nichts hätte er im Moment lieber getan, als mit Yoshida zu sprechen. Sich von ihm ablenken zu lassen. Und vielleicht sogar alles zu erzählen.

Alles loszuwerden – es nicht wie einen riesigen Stein um den Hals mit sich herumtragen zu müssen. Seine inneren Gefühle jemandem anvertrauen. Jemandem, der verstehen würde. Jemanden, der wusste, dass er kein kaltblütiger Killer war.
 

Aber äußerlich in seinem Gesicht spiegelten sich keine Reaktionen auf den Brief wieder, keine Inneren Gefühle schafften den Weg aus ihrem gut verschlossenen Gefängnis heraus, kein Schrei der Enttäuschung und des sich Verlassen-Fühlens schlich sich über seine Lippen.

Warum auch? Irgendwie fühlte er sich erleichtert, allein zu sein.

Außerdem... vielleicht war es besser für Yoshida, weg von Kyoto zu sein. Der Zettel fiel zu Boden.

Weg von ihm...
 

--
 


 

Er stand!

Endlich hatte er es geschafft, aufzustehen.

Die Sonne dämmerte bereits am Horizont und färbte den Morgenhimmel in ein frisches Rot.

Körper vor ihm warfen ihre langen Schatten.

Sie lagen auf dem Boden, der bedeckt war mit zertrampeltem Getreide, vermischt mit Erde und getrocknetem Blut.
 

Die Wut über seine Hilflosigkeit war einer tiefen Trauer gewichen.

Alle tot...

Die verhassten Banditen, die sie überfallen hatten.

Die Sklavenhändler.

Die Mädchen, die ihn, wenn auch nur für kurze Zeit, als ihren Bruder aufgenommen hatten.
 

Doch der Tod macht vor niemandem halt.

Und im Tod sind alle gleich.

Was vor ihm hier auf dem Boden lag, das waren nur Körper. Leblose Hüllen der Menschen, die er vorher vielleicht gelacht oder Pläne mit ihrem Leben gemacht haben.

Alles vorbei.
 

Er hatte sie nicht retten können.
 

Langsamen Schrittes ging er auf den Wagen zu, der Wagen seiner Besitzer. Auf ihm türmten sich ihre paar Habseligkeiten und Gerätschaften zur Arbeit. So waren sie zur Erntezeit durch das Land gezogen. Auf der Suche nach reichen Bauern, die Aushilfsarbeiter benötigten, denn billige Hilfskräfte wurden immer gebraucht.

Das, was er suchte, fand er schließlich unter einigen Bündeln. Die Schaufel.
 

Dann begann er im immer heller werdenden Tageslicht zu graben. Gruben für diejenigen, die diesen trügerisch strahlenden Morgen nicht mehr erleben würden.
 

Der kleine Junge grub. Grub den ganzen Tag. Bis schließlich die Abenddämmerung hereinbrach.

Er sah auf seine kleinen Hände, schwielig und voller Blasen von der harten Arbeit.

Plötzlich waren seine Hände viel größer. Er war nicht mehr acht, sondern 14 Jahre alt. Seine Arme waren vom vielen Training gestählt und seine Hände umschlossen kraftvoll den Griff der Schaufel.

Um ihn herum gähnten unzählige Gräber wie schwarze Münder aus dem Boden.
 

Er drehte sich zu den Leichen um, die er beerdigen wollte.

Sie waren verschwunden. Statt dessen lagen da vier Körper. Leichen, deren Gesichter sich in sein Gedächtnis gebrannt hatten.

Sie starrten ihn mit offenen Augen an.

„Warum gräbst du?“ fragten sie ihn stumm.

„Um die Toten zu beerdigen.“ Hörte sich Kenshin antworten.

„Mit einem Schwert kann man keine Gräber schaufeln.“

Erschrocken sah Kenshin, dass er nicht mehr die Schaufel, sondern sein Schwert in der Hand hielt, von dessen Spitze in einem dünnen Rinnsal Blut zu Boden tropfte.
 

„Du tränkst den Boden mit Blut!“ riefen die Stimmen der Toten anklagend. „Ohne dieses Schwert müsstest du diese Gräber gar nicht schaufeln!“

Die Stimmen wurden immer lauter und immer anklagender.

„Du bist schuld! Ohne dich gäbe es all diese Gräber nicht. Sie her!“

Die Gräber im Boden wurden immer mehr, endlos um ihn herum schienen sie sich zu erstrecken, kein Baum, kein Fels, nur schwarze Gruben in der Erde.

„Schau!!“ schrieen die schrillen Stimmen. „All das sind die Gräber für deine Opfer! Es werden immer mehr! Wer schaufelt ihre Gräber? Wer?“

Plötzlich krochen Arme aus den Gruben, tasteten nach ihm, er war eingekreist, tote Körper wälzten sich langsam auf ihn zu, mit schrecklichen Gesichtern in denen nur der Wunsch nach seinem Tod geschrieben stand. Sie packten ihm am Bein, zogen ihn zu sich herunter, er sah sich in eine der Gruben fallen, sein eigenes Grab...
 

Schweißgebadet schreckte Kenshin aus seinem Futon hoch. Die Decke hatte er weggestrampelt und sie lag neben ihm auf dem Boden.

Am ganzen Körper zitternd tastete sich seine Hand über den kühlen Holzboden bis sie sich endlich um den Heft seines Schwertes schloss. Fast hätte er es gezogen, in Erwartung, auf feuchter Erde zu liegen und die widerlichen Körper immer noch auf sich zukriechen zu sehen Erleichtert stellte er fest, dass er allein war, nicht in einem Grab, sondern in seinem Zimmer im Kohagiya und dass der Morgen bereits am Himmel dämmerte.
 

Mit geschlossenen Augen setzte er sich auf, mit dem Rücken an die Wand, das Schwert griffbereit gegen seine Schulter gelehnt.

Die Träume wurden schlimmer. Seit seinem ersten Auftrag hatte er keine Nacht mehr ohne einen Albtraum zugebracht.

Doch heute Nacht war es besonders schlimm gewesen. Der Albtraum, der ihn seit jenem schicksalshaften Ereignis seiner Kindheit verfolgte, war zurück gekommen und zwar mit Verstärkung - in Form seines schlechten Gewissens angesichts der jüngsten Vergangenheit.

Langsam öffnete er seine schweren Augenlieder und lächelte traurig der aufgehenden Sonne entgegen.

Was hatte er erwartet? Leute töten und dabei Nachts gut schlafen? Es geschah ihm ganz recht. Die Toten hatten allen Grund, ihn heimzusuchen. Und er würde sie nicht daran hindern.

Wenig Schlaf und Albträume waren ein geringer Preis, den er für seine Taten gerne bezahlen wollte. Auch wenn er tagsüber die Reue verdrängte – immerhin war sie nachts in seinen Träumen noch da. Ein Zeichen vielleicht, dass er kein kaltblütiger Mörder war.
 

Er beschloss, die Schrecken der Nacht schnell abzuschütteln und aufzustehen.

Im Zimmer lagen noch die Handtücher, die Kenshin nun einsammelte, um sie Okami-san zu bringen. Mit schlechtem Gewissen machte er sich auf in Richtung Küche – ihm war das Tablett, das Nachts noch vor seiner Tür gestanden hatte, heute morgen jedoch schon weggeräumt war, eingefallen.

Die gute Okami-san...

Er ging über den Innenhof, in dem noch die Stille der frühen Morgenstunden lag. Tau war auf den Blättern zu einer weißen Reifschicht gefroren. Doch aus der Küche drang bereits leises Geschirrklappern und es stiegen bereits Rauchfahnen aus dem Kamin

auf.

Reumütig hatte er kaum durch die halb geöffnete Küchentür gespitzt als ihm schon ein „Ohayo Kenshin!“ entgegenschallte.

„Ohayo Okami-san...“ antwortete er schüchtern. „...Die Handtücher...“

Unbeholfen stand er da, mit den ganzen Handtüchern im Arm, unfähig, Okami in die Augen zu schauen.

„Leg sie einfach da drüben hin, mein Junge!“ zwitscherte Okami, was ihn noch mehr verwirrte, doch er tat, wie geheißen.

„Früh auf wie immer, was? Hast du Hunger? Ich habe hier noch ein paar Reisbällchen...“

Schamesrot begann Kenshin sich zu entschuldigen. „...Ah, Okami-san, wegen gestern Nacht... Ich wollte nicht unfreundlich erscheinen, angesichts all der Güte, die ich von euch erfa- ...“

„Kein Wort mehr!“ unterbrach ihn die Gastwirtin und hielt ihm einen Reisball unter die Nase.
 

Seufzend biss Kenshin hinein und der gute Geschmack weckten seine Lebensgeister. Dankbar aß er auch noch die zwei weiteren Bällchen auf, währen Okami sich am Herd beschäftigte, den Jungen jedoch keinen Moment aus den Augen ließ.

Blass sah er heute Morgen aus, mehr wie ein Gespenst. Wie zart und fragil er doch wirkte... kaum zu glauben, dass er fähig war, ein Schwert in solcher Meisterschaft zu führen...
 

„Kenshin...“ begann sie schließlich, die Gelegenheit, mit Kenshin allein zu sein beim Schopf ergreifend. „Du bist ein Samurai Choshuus, deswegen überlasse doch mir nächstes Mal das Wäschewaschen...“

Kenshin blieb der letzte Reisball im Hals stecken.

„Nein!“ keuchte er in seinem Hustenanfall, „sie – hust – nicht meine Wäsche – husthust – anfassen – röchel.“

„Nah nah...“ Okami-san klopfte Kenshin einige Male auf den Rücken, bis er wieder zu Atem kam.

„Keine Wiederrede! Deine Wäsche landet von nun an bei mir, dann musst du sie auch nicht mehr Nachts waschen...“

Kenshin starrte auf seine Hände. „... Es hat gute Gründe, warum ich meine Wäsche nachts wasche...“
 

„Ich weiß!“

Überrascht blickte Kenshin in Okami-sans Gesicht. Sie wusste alles. Dennoch schenkte sie ihm ein warmes Lächeln, auch wenn ihre Augen sorgenvoll und traurig waren.

„Aber...“ wiedersprach er, „... ich will nicht, das ihr es seht...“
 

Okami-san setzte sich neben Kenshin und legte den Arm um ihn.

Dieser versteifte sich angesichts dieser ungewohnten Berührung. Er konnte sich gar nicht erinnern, wann ihn das letzte Mal jemandem umarmt hatte... andererseits... es fühlte sich gar nicht so schlecht an. Schließlich entspannte er seinen Körper wieder etwas.

„So ist’s gut... nun hör mir mal zu, mein Junge.“ Okami fixierte Kenshins verwirrt dreinschauende blauen Augen. „Ich bin die Wirtin der Kohagiya-Herberge. Ich habe schon einiges gesehen in meinem Leben. Und glaub mir, viele Dinge davon waren nicht sehr schön.

Ich kenne den Geruch von Blut. Ich habe es viele Male aus der Kleidung von Männern gewaschen. Glaub also nicht, das ich ohnmächtig werde, wenn du mir deine Wäsche vor die Tür legst!“

„Aber ich ... das Blut...“

„Schhhh. Ich weiß, woher das Blut kommt. Es macht mir nichts aus, die Sachen für dich zu waschen.

Ich bin nur eine Frau. Wenn ich ein Samurai wäre, würde ich Katsura-sama vielleicht mehr nützen. Ich würde ein Schwert tragen, und für ihn kämpfen, egal welchen Dienst er für mich vorgesehen hat – so wie du.

Doch leider...“ sie stand mit einem Seufzen auf, „... bin ich nur eine alte Kurtisane, und ich tue meinen Dienst auf die Art, die ich kann.

Deine Aufgabe ist soviel wichtiger. Du hast meine und Katsura-samas völlige Unterstützung.
 

Außerdem...“ fügte sie mit einem letzten intensiven Blick in seine Augen hinzu, „... sehe ich, welche Schmerzen dir das Waschen bereitet. Lass mich wenigstens diese Last von dir abnehmen... du hast schon so schon genug Sorgen...“
 

Mit offenem Mund sah Kenshin Okami-san hinterher, die sich geschäftig wieder an ihre Arbeit machte, ein Kinderlied vor sich her summend.

Er wusste, dass es hier um mehr als nur um seine Wäsche ging...

Eine Wärme durchströmte plötzlich seinen Körper, die er glaubte, längst vergessen zu haben. Sie rief Erinnerungen in ihm wach, an lachende Stimmen, das Gesicht seiner Mutter, die ihm liebevoll über die Wange strich...
 

Lächelnd senkte er den Kopf und sein roten Haare fielen ihm ins Gesicht.

Viele Jahre hatte er diese Erinnerungen tief in sich vergraben, um in der Welt bestehen zu können. Auch jetzt würde er es wieder tun müssen, denn hier, in Kyoto, wie auch schon in den Bergen bei seinem Meister gab es für Gefühle dieser Art keinen Platz. Im Herzen eines Hitokiri schon gar nicht.

Dennoch... Es tat gut zu wissen, dass es diese Erinnerungen noch ihn ihm gab.

„Danke Okami-san...“ sagte er mit klarer Stimme, bevor er den Raum verließ. „...Für alles.“
 

--
 


 

Kein Kampfesgetummel in diesem Kapitel... Ich habe versucht, die doch sehr ernste Atmosphäre etwas zu entspannen. Außerdem ist dieses Kapitel auch wieder so eine Art Zwischenspiel, bevor der arme Kenshin wieder in den Abgrund gezogen wird.

Zudem wollte ich den Charakter von Okami-san und ihre Beziehung zu Kenshin etwas erläutern.
 

Nächstes Kapitel: Kenshin bekommt eine neue Mission und erkennt, dass er als Attentäter noch viel lernen muss...
 

Kohagiya-Herberge: Hauptversteck der Choshuu-Ishin Shishi in Kyoto.

Gion-Viertel: Rotlichtmeile Kyotos

Bakufu – Die Militärregierung des Shogunats.

Provinz Tosa: später mit Choshuu im Kampf gegen das Shogunat verbündete Provinz.

Kapitel 7 - Talent zum Töten

Kenshin lernt bei seinem nächsten Auftrag das Geschäft eines Hitokiris besser zu verstehen...
 


 

Kapitel 7 – Talent zum Töten
 


 

Es war bereits spät am Morgen, als Izuka erwachte. In seinem Kopf hämmerte es, als hätte jemand auf ihn eingeschlagen.
 

„Uaahh...“ Stöhnend setzte er sich auf. Im Augenwinkel sah er die Sakeflaschen auf dem Tisch stehen, einige lagen auf dem Boden. „So viel habe ich gestern getrunken?“

Er kratzte sich seine Bartstoppeln. Es waren zu viele Bilder in seinem Kopf gewesen und unangenehme Gedanken...
 

Kaum war er aufgestanden und hatte sich frische Kleidung angelegt, als es auch schon an der Tür klopfte.

„Ja, wer stört?“ rief er ungehalten.

„Wir sind’s, Umino und Hatomo. Wir wollten dich zum Frühstück abholen.“

Izuka war zwar irgendwie schlecht, aber er war sich sicher, dass das nicht am vielen Sake sondern an dem leeren Bauch lag. „Ich komme.“
 

Sie waren mit die Letzten, die den Frühstücksraum betraten.

Wie immer waren ihre Sitzplätze ganz in der Ecke des Zimmers noch frei.

Als Izuka durch den Raum schritt, sah er, wie die Männer ihn missmutig beobachteten und die Gespräche verstummten. Er war ihre Abneigung schon gewohnt. Aber er hatte auch ihren Respekt. Immerhin war er ein enger Vertrauter ihres Anführers Katsura Kogoro.

Heute schienen die Männer allerdings besonderes Interesse an ihm zu haben, denn kaum hatte er sich mit Umino und Hatomo auf die Matten niedergelassen, als aufgeregte Gespräche wieder einsetzten.
 

„Wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen...“ bemerkte Umino spöttisch. „Drei Mal darfst du raten, worüber sie so eifrig diskutieren...“

Izuka nickte. Also hatten die Ereignisse der letzten Nacht bereits die Runde gemacht. Kein Wunder.

Unauffällig ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach dem Mann, der für den Gesprächsstoff gesorgt hatte.

Da saß er, mit gesenktem Kopf, allein an einem Tisch nahe dem Fenster.

„Was für ein seltsamer Junge.“ Grübelte Izuka. „Er sieht deprimiert aus, obwohl er gestern eine Heldentat vollbracht hat, von der in Jahren noch gesprochen wird. Wenn man ihn so anschaut, glaubt man es auch irgendwie kaum...“
 

Izuka wusste, dass die Identität von Himura Kenshin nicht lange geheim gehalten werden konnte. Die Männer wurden früher oder später herausfinden, das er der neue Hitokiri war. Das war auch bei den Attentätern vor ihm so gewesen.

Jetzt war das allerdings problematischer als früher. Denn die Lage in Kyoto hatte sich dramatisch zugespitzt– ihre Missionen wurden zunehmend gefährlicher, jede Unternehmung konnte viel entscheiden. Es war zusehends schwieriger, an die gegnerischen Parteien heran zukommen. Doch jetzt gab es Himura-san.
 

Izuka lächelte.
 

Schon nach einer Woche wusste er, das Himura mehr als nur einer von vielen gewöhnlichen Hitokiri sein würde. Er hatte das Talent zum Töten.
 

Wenn die Männer erfahren hatten, das Himura der derzeitige Hitokiri war, würde er eine Rede halten müssen. Er würde sie ermahnen müssen, diesmal die höchste Geheimhaltung über seine Identität zu bewahren. Kein Sterbenswörtchen durfte nach außen dringen. Himura existierte nicht. Die Identität von dem Attentäter der Choshuu-Fraktion musste unter allen Umständen geheim bleiben! Besser gesagt: Das Choshuu einen Attentäter beauftragte, musste geheim bleiben... wer will schon eine neue Regierung, die Mörder bezahlt?
 

Doch bis dahin würde er den Männern nichts sagen. Himura sollte so lange unerkannt bleiben wie möglich.
 

Plötzlich drehte sich Himura, der offensichtlich seinen Blick spürte, zu ihm um. Izuka erschrak, als ihn zwei eisblaue Augen kalt fixierten. Doch schnell gewann er seine Fassung wieder und zwinkerte Kenshin fröhlich zu. Dieser wandte ungerührt sein Gesicht wieder von ihm ab und versteckte es erneut unter einen Vorhang von rotem Haar.
 

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Am liebsten wäre er im Boden versunken.

Kaum hatte er den Raum betreten – er war einer der ersten gewesen – da höre er schon Gesprächsfetzen über Yabu Sekura.
 

„Hast du schön gehört,“ belauschte er einige Männer am Nebentisch, „gestern Nacht hat es wieder Blut geregnet.“

„Ja, in der Shinamoto-Straße. Es soll Sekura erwischt haben, DEN Yabu Sekura.“

„Wahnsinn. Er gehört doch zu den besten Schwertkämpfern des Landes!“

“Gehörte! Wie man erzählt, bestand er nur noch aus zwei Hälften, als man ihn fand…”

„Kami-sama. Wer mag das wohl getan haben?“

Der eine Mann lachte. „Na wer wohl? Als das Bakufu ihn fand, lag auf seinem Rücken ein weißer Zettel mit der Aufschrift Tenchuu.“

„Choshuu? Aber wir haben doch gar keinen Hitokiri mehr, soweit ich weiß.“

“Wir wissen halt nicht alles. Die Hitokiri operieren im Verborgenen, der einzige hier im Raum, der alles mitbekommt, ist Izuka-san“

„- und seine Handlanger.“

„Wer mag es wohl getan haben?“
 

Die Männer ließen ihre Blicke durch den nun fast vollen Frühstücksraum schweifen - ihre Augen blieben auch einige Sekunden lang an Kenshin hängen, der seine Hand um die Essstäbchen krampfte.
 

„Auf jeden Fall...“ kamen die Männer zu dem Schluss, „muss es ein Meister des Battoujutsu gewesen sein. Denn jeder weiß, das Yabu Sekuras Battoujutsu-Stil ungeschlagen war.“

„Oh ja!“ riefen die Männer grimmig. „Dieses Schwein hat einige von unseren Leuten auf dem Gewissen. Gut, dass er endlich aus dem Verkehr gezogen wurde. Schade, dass wir nicht wissen, wer es getan hat. Ich würde demjenigen gerne meinen Glückwünsche aussprechen! Er muss wirklich Talent haben!“
 

Die Männer diskutierten weiter, ohne das Kenshin ihnen noch Beachtung schenkte. Er hätte nicht erwartet, so etwas wie Dankbarkeit in ihren Stimmen zu hören. Anscheinend musste dieser Yabu wirklich ein großer Feind der Ishin Shishi gewesen sein. Dennoch, er war ja nicht der einzige, der gestern Nacht sein Leben verloren hatte...
 

Kenshin versuchte, sich ganz auf das Essen zu konzentrieren und die Gespräche der Männer rings um ihn auszublenden. Er hatte das Gefühl, das heute auffällig viele zu ihm herschauten und tuschelten. Auch das versuchte er zu ignorieren. Plötzlich wurde es still und ohne aufzusehen wusste Kenshin, dass Izuka und seine zwei Spießgesellen den Raum betreten hatten.

Sie waren nicht sonderlich beliebt und wurden normalerweise gemieden. Heute allerdings schien bei den Männern die Neugier über die Angst und Abneigung zu siegen.

Kenshin spürte Izukas Augen - Warum starrte er ihn so an? Er entgegnete kalt Izukas Blick, doch dieser zwinkerte ihm nur fröhlich zu. Schnell sah Kenshin wieder nach unten.

Dieser Izuka war wirklich ein seltsamer Mann.
 

Endlich kam auch Daisuke und setzte sich neben Kenshin.

„Mann hab ich einen Hunger!“ begrüßte er ihn kurz und begann schon damit, das Frühstück in sich hineinzuschaufeln.

„Du schauscht ja ausch...“ Daisuke hatte Kenshins tiefe Augenringe bemerkt.

„Hm... ich habe nicht so gut geschlafen...“ antwortete Kenshin leise.

„Und das ohne Yoshidas Geschnarche? Die Chance musst du doch nutzen und schlafen wie ein Stein.“

Kenshin lächelte ein bisschen. Yoshidas Schnarchen war ihm lieber als die Nacht alleine mit seinen Gedanken.
 

Mit einem erleichterten Seufzer verschlang Daisuke den letzten Reisball.

„Und,“ begann er gerade zu fragen, „wie war dein gestriger Tag? Hab dich ja gar nicht gesehen...“, doch seine Aufmerksamkeit wurde von Izuka auf sich gelenkt, um dessen Tisch sich eine Traube von Männern gebildet hatte.
 

Das hatte Kenshin befürchtet.

„Was ist denn da los?“ fragte ihn Daisuke.

„Schluss!“ rief Izuka gerade. „Ihr wisst doch, dass sind Sachen von größter Geheimhaltungsstufe! Ihr werdet zu gegebener Zeit eingeweiht.“ Dann drängelte er sich mit Umino und Hatomo im Schlepptau durch die Männer und verließ den Saal.
 

Daisuke packte einen der Männer am Nebentisch an der Schulter. „Was ist passiert?“

Freudestrahlend erzählte ihm dieser vom Ableben des berühmten Yabu Sekura.

Daisuke konnte seinen Ohren kaum trauen und drehte sich entgeistert wieder zu Kenshin um.

„Hast du gehört? Das ist ja ein fantastischer Erfolg für die Ishin Shishi!“
 

Kenshin nickte nur mit ausdrucksloser Miene. „Entschuldige mich,“ sagte er dann leise und verließ den Raum.

Daisuke starrte ihm mit gerunzelter Stirn hinterher.

Schon seit seiner Ankunft war ihm an diesem Kenshin etwas seltsam vorgekommen, mochte Yoshida ihm auch noch so sehr vertrauen. Er würde ihn im Auge behalten...
 

--
 


 

Kenshin stieg den steinigen Pfad zu dem ihm inzwischen wohlbekannten Wäldchen am Stadtrand Kyotos empor.

Ohne an irgendetwas zu denken, exerzierte er seine Kata.

Langsam kehrten seine Lebensgeister wieder in ihn zurück. Er fühlte sich lebendig, als er all die Schwerttechniken durchging. Es war, als ob er eins war mit seinem Schwert und er fühlte die Freunde an der Kunst des Schwertkampfes. Wenn es da nicht noch das gegeben hätte, wozu das Schwert eigentlich da war...
 

Plötzlich hörte er es hinter sich im Unterholz knacken und er schärfte seine Sinne. Ein Mann näherte sich ihm. Blitzschnell duckte sich Kenshin hinter einen Baum.

„Himura-san...“ hörte er eine ihm leider wohlbekannte Stimme rufen. Er ließ Izuka noch ein bisschen näher an sich herankommen, bevor er unerwartet aus seinem Versteck hervortrat.
 

Erschrocken zuckte dieser zusammen. „Verdammt, musst du mich so erschrecken, Himura?“ Er tastete nach seinem klopfendem Herz.

„Was willst du?“ fragte Kenshin kurz angebunden. Er hatte das Gespräch von gestern Nacht nicht vergessen.
 

Izuka lächelte mit Blick auf Kenshins gezogenes Schwert. „Hier trainierst du also? Nicht mehr im Innenhof vom Kohagiya?”

Langsam steckte Kenshin sein Schwert in die Scheide. „Zu viele Zuschauer.“

„Tss...“ Lässig brach Izuka einen Zweig ab. „Du gehst nicht gerade mit deinem Talent hausieren, was?“
 

Kenshin schaute ihn nur Ausdruckslos an.

„Hier!“ Izuka hielt ein Bündel empor. “Okami-san hat mir gesagt, wo ich dich finden kann und sie hat mir gleich dein Mittagessen mitgegeben. Die Alte kümmert sich ja wirklich rührend um dich...“. Der spöttische Unterton in Izukas Stimme verdüsterte Kenshins Gesicht.
 

„Komm, setzt dich zu mir!“ forderte ihn Izuka auf und Kenshin gehorchte.

Gemeinsam aßen sie schweigend das mitgebrachte Essen und sahen auf Kyoto vor ihnen im Tal herab.

„Kaum zu glauben..“ murmelte Izuka, „dass diese Stadt tagsüber so friedlich aussieht. Und nachts regnet es in den Straßen Blut...“
 

Er spürte, wie Kenshin sich neben ihm versteifte.
 

„Himura-san...“ Izuka druckste etwas herum. “Ich hoffe, ich habe gestern nicht überreagiert. Ich wollte nicht harsch zu dir sein... aber jeder fängt irgendwann mal klein an und muss erst noch dazu lernen...“
 

Mehr als ein leichtes Nicken als Antwort brachte Kenshin nicht über sich.
 

„Ich wollte dir nur noch mal sagen, wie sehr wir alle unsere Hoffnungen in dich setzten! Ich, Katsura, Katagai, die ganzen Ishin Shishi von Choshuu... dein Können ist in diesem blutigen Krieg wirklich wichtig.“
 

Er sah, wie Kenshins traurig schauende Augen in die Ferne starrten.
 

„Hör mir zu, Junge!“ Er packte Kenshin an der Schulter, der diese Berührung höchst unangenehm fand und sich noch mehr anspannte. „Es ist Krieg. Und der Krieg ist nichts Schönes. Er rechtfertigt Taten, die nicht schön sind. Himura, du bist unsere wichtigste Waffe in diesem Krieg! Weißt du warum? Weil du für das Töten geschaffen bist. Du hast das Talent zum Töten!“
 

Damit stand Izuka auf und warf Kenshin gleich zwei schwarze Umschläge vor die Füße.

„Hier. Du weißt, es wäre eine Schande, wenn man von seinem Talent keinen Gebrauch macht. Wir bauen auf dich, Himura-san.“
 

Mit diesen Worten war er verschwunden und ließ Kenshin alleine zurück.
 

--
 

Mit seinem Daisho ausgestattet betrat Kenshin eine kleine, düstere Taverne im Südbezirk Kyotos. Der Wirt, erfreut über jeden Gast, mochte er auch noch so jung sein, wies ihm unter eifrigen Verbeugungen einen Platz ganz hinten in der Ecke zu.
 

„Hier, ehrenwürdiger Samurai, der gewünschte Eckplatz. Darf ich ihnen gleich das Beste unserer bescheidenen Gastwirtschaft anbieten, ehrwürdiger Samurai?“
 

Kenshin, den diese Art der Schmeicheleien unangenehm waren, winkte ab. „Nein Danke, nur ein leichtes Essen, eine Nudelsuppe bitte.“ Er war es nicht gewohnt, wie ein Samurai behandelt zu werden. Diese ständigen Verbeugungen...
 

Schnell setzte er sich, Rücken zur Tür und Blick auf den Raum, in die kaum beleuchtete Ecke, froh, im Schatten zu verschwinden. Jetzt war er für die anderen Gäste geradezu unsichtbar, konnte aber jeden Einzelnen genau beobachten.

Er lehnte sein Schwert neben sich und starrte düster auf die speckige Tischplatte, an der noch Essensreste klebten. Irgendwie erinnerte ihn das an Izuka.
 

Dieser Mann war merkwürdig. Er war freundlich zu ihm, keine Frage. Aber auch nicht viel freundlicher als zu anderen. Seine Art war – wie die Tischplatte – irgendwie... schmierig.

Einerseits diese Freundlichkeit, andererseits Berechnung. Kenshin fühlte deutlich, dass er hinter seiner Fassade ein Mann ohne viel Gewissen, dafür aber mit viel füchsischer Schläue war. Nicht umsonst war er ja der Leiter der Geheimoperationen der Ishin Shishi und damit auch Vertrauter von Katsura Kogoro. Das war eigentlich der Hauptgrund, warum Kenshin seine unguten Gefühle beiseite schob. Denn wenn Katursa-sama Izuka vertraute, dann würde er das auch tun.
 

Sein Gedankenfluss wurde von dem dümmlich lächelnden Gastwirt unterbrochen, der ihm die bestellte Nudelsuppe brachte. „Guten Appetit, ehrwürdiger Samurai.“ Wünschte er und stellte den Teller ab. „Lassen sie es sich schmecken.“
 

Kenshins Augen verengten sich, als er dem Mann hinterher sah. Kaum zu glauben, überlegte er, dass dieser Mann einer unserer fähigsten Informanten ist.
 

Die Adresse zu der stinkigen Taverne hatte er in einem der beiden Umschläge gefunden. Der Wirt hatte glänzende Kontakte zur Unterwelt von Kyoto. Hier in seinem Haus fanden viele wichtige Treffen zwischen allen möglichen Parteien statt: Politiker, Waffenschieber, Drogenhändler... und immer hörte der unscheinbare und trottelig wirkende Wirt eifrig mit, um anschließend wichtige Informationen an das Netzwerk der Ishin Shishi weiterzugeben.
 

Heute, so hatte der Wirt Izuka mitgeteilt, trafen sich zwei Personen, die ganz oben auf der schwarzen Liste der Patrioten standen. Hiragana Nara und Kobo Osamu.
 

Der erstgenannte, Nara, war aus Aizu und der persönliche Ratgeber und rechte Hand eines der führenden Mitglieder im Kaiserlichen Rat. Er selbst war einer der Mitverantwortlichen, die Choshuu vor einigen Monaten auf Befehl des Shoguns vom Hof des Kaisers vertrieben und damit aus dem Rat ausgestoßen hatten. Choshuu war daraufhin mit seiner Opposition gegen das Bakufu in den Untergrund abgetaucht.

Es war ein herber Schlag gewesen, von den zwei anderen mächtigen Provinzen Aizu und Satsuma offen im Stich gelassen zu werden. In den folgenden Monaten war es immer wieder zu Gefechten zwischen Choshuu-Anhängern und Aizu- und Satsuma-Anhängern gekommen, die Kyoto in Bürgerkriegsähnliche Zustände versetzten.
 

Womit wir bei Kobo Osamu wären, seines Zeichens Anführer einer für das Shogunat eingestellten Gruppe aus Satsuma. Durch zwielichtigen Handel reich geworden, hatte er die Gunst vieler verarmter Samuraifamilien aus Satsuma gekauft und versuchte nun, ein Bündnis mit Aizu auf die Beine zu stellen. Das Ziel dieses offensichtlich größenwahnsinnigen Mannes war es, dass Satsuma mit Aizu das widerspenstige Choshuu annektieren sollte und damit seinen eigenen Macht- und Gebietseinfluss erheblich erweitern konnte.
 

Und diese zwei Männer sollten sich nun hier in Kürze treffen. Sie hatten wohl absichtlich diesen öffentlichen Ort gewählt, da sie sich selber nicht so ganz über den Weg trauten. Kobo Osamu war ein Gauner und ein Händler, wohingegen Hiragana Nara Samurai aus einer angesehen Familie und seinen Werten sowie dem Shogun treu ergeben war

.

Die Ishin Shishi hatten zu spät von dem Treffen erfahren, um es noch verhindern zu können. Deswegen war Plan B in Kraft getreten – er. Seine Aufgabe war es nun, zu verhindern, das jemals etwas, das bei dem Treffen beschlossen werden sollte, realisiert wird.
 

Langsam aß er die dampfenden, viel zu salzig schmeckenden Nudeln. Er bemerkte, wie der Wirt, dessen Gesichtsausdruck von dümmlich zu berechnend gewechselt hatte, ihn verstohlen vom Tresen aus musterte. Sein Blick glitt von seinen zwei Schwertern zu seinen Haaren und zurück. Kenshin würgte die Hälfte der schrecklichen Nudeln herunter, nur um etwas im Magen zu haben und winkte dann den Wirt zu sich.
 

„Die Nudeln waren gut.“ Sagte er.

„Das freut mich, ehrenwerter Samurai.“ erwiderte der Wirt, der sein Gesicht wieder in eine Maske von dümmlicher Gutmütigkeit verwandelt hatte.

„Ich hoffe... Tante Iku geht es gut?“ fragte er wie vereinbart.

„Sie ist wie geplant zu ihren Eltern aufs Land gefahren.“ Plapperte der Wirt fröhlich. „Noch etwas zu trinken, wie die anderen Gäste?“
 

Unschlüssig blickte Kenshin den Wirt an. Die geheime Bedeutung dieses Satzes wusste er nicht. Der Wirt schielte auffällig zu den anderen Gästen und Kenshin sah, dass sie alle etwas zu trinken vor sich stehen hatten. „Oh ja.“ Beeilte er sich zu sagen. „Etwas Sake bitte.“

Wie dumm von ihm. Natürlich wäre es verdächtig, wenn er in einem Trinklokal säße mit nichts als der dreckigen Tischplatte vor sich.

„Gerne, ehrwürdiger Samurai.“ Zwinkerte ihm der Wirt zu. „Übrigens, wenn ich es wagen darf: Ihre Schwerter sind wirklich ausgezeichnet gearbeitet. Damit erregen sie bestimmt viel Aufmerksamkeit!“
 

Mit großen Augen blinzelte Kenshin seine Schwerter an. Die sahen doch ganz normal aus...

„Ach ja.“ Sprach der Wirt weiter und holte etwas aus einem Hinterzimmer. „Hier, ihr Haori. Den haben sie letzte Woche hier vergessen.“

Der Wirt legte - mit einem vielsagenden Blick auf Kenshins Schwerter - den Haori auf die Bank.
 

„Ahh...rigatou..“ stammelte es Kenshin, dem es langsam dämmerte.

Was für ein Anfänger er doch war. Natürlich würde er sich als Samurai, und als so junger noch dazu, hier in diesem runtergekommenen Schuppen verdächtig machen. Die meisten Gäste hier waren Händler oder Handwerker, und wenn sie Waffen dabeihatten, waren diese wegen dem Waffengesetz natürlich versteckt.
 

Unauffällig legte er sein Katana auf die Bank und drapierte den Haori darüber. Sein Wakizashi stellte er griffbereit neben seine Füße unter den Tisch. Als schließlich der dampfende Sake vor ihm stand und er seinen Kopf ins Dunkel lehnte, war seine Tarnung perfekt.
 

--
 


 

Kenshin wagte nicht, den Alkohol vor ihm anzurühren, aus Angst, das er dann vielleicht keine hundertprozentige Kontrolle mehr über sich haben könnte – er hatte das oft bei seinem Meister erlebt. Der hatte allerdings mehr als zwei Flaschen gebraucht, bevor überhaupt irgendeine Veränderung an ihm festzustellen war...

Er nippte kurz an dem Schälchen. Nie zuvor hatte er Sake getrunken. Es schmeckte bitter. Sofort kam die Erinnerung an seinen Shishou, der ihm so viel über Sake beigebracht hatte...
 

Diese Erinnerungen konnte er jetzt nicht gebrauchen! Kenshin konzentrierte alle seine Sinne wieder auf den Raum. Außer ihm waren nur noch zwei weitere Gäste anwesend, beide allein und offensichtlich tief in Gedanken an ihren Tischen sitzend. Er schloss kurz die Augen und versuchte, irgendeine feindselige Stimmung von ihnen zu erspüren, doch anscheinend schienen sie harmlos zu sein.
 

Während Kenshin weiterhin so tat, als ob er Sake trinken würde, betrat eine Gruppe von 4 Männern die Gaststube. Ihr selbstsicherer Gang, die gepflegten Kimonos und das obligatorische Schwerterpaar zeichnete sie sofort als Samurai aus. Einer von ihnen hatte eine ausrasierte Stirn, was ihn als Beamten des Shoguns und damit als Hiragana Nara identifizierte. Die anderen drei Samurai blickten sich misstrauisch im Raum um und beäugten die Gäste und den Wirt, der sofort herbeihüpfte und um sie herumscharwenzelte.

Grummelnd bestellten sie Sake und setzten sich an einen Tisch.
 

„Dieser Osamu lässt uns warten...“ murrte einer der Samurai.

„Lass das meine Sorge sein. Behaltet ihr die Tür und die Gäste im Auge,“ entgegnete die erstaunlich sanfte Stimme Nara’s.

Einer der Samurai hatte Kenshin in seiner dunklen Ecke bemerkt und fixierte ihn misstrauisch. Kenshin versuchte, so belanglos wie möglich an seinem Sake zu nippen und das Starren zu ignorieren. Irgendwie kamen ihm die Männer so bekannt vor...
 

Kenshin verschluckte sich an seinem Sake und musste Husten. Natürlich! Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Das waren die Samurai, die gestern dem Gemüsehändler so zugesetzt hatten.

Für einen kurzen Moment flammte Wut in seinen Augen auf, doch er sah schnell von den Männern weg und versuchte wieder, ausdruckslos ins Leere zu gucken.
 

Doch dem Mann, der ihn die ganze Zeit im Auge behalten hatte, war die Veränderung in seinem Gesicht nicht entgangen. Er stand auf und schlenderte lässig zu Kenshins Tisch herüber.
 

„Na...“ begann er, „... so jung und schon alleine Abends aus?“

Unschuldig sah Kenshin fragend an ihm hoch.

Der Samurai beäugte den Haori, der neben Kenshin auf der Bank lag und unter dem sich ganz leicht etwas abzeichnete. Sein Lächeln weitete sich boshaft.

„Darf ich mich zu dir setzen? Sicher willst du nicht alleine Sake trinken...“
 

Gerade tastete seine Hand nach Kenshin’s Haori, als eine wütende Stimme von Nara’s Tisch rief: „Baka, lass den Jungen in Ruhe, der ist doch noch ein Kind. Kobo Osamu kommt gleich, also nimm deinen Platz ein.“

Mit einem höhnischen Grinsen wandte der Mann sich von Kenshin ab und setzte sich wieder zu seinen Kameraden.

Kenshin sah ihm ausdruckslos hinterher, während er sich unmerklich entspannte und das unter dem Tisch verborgene Wakizashi, das seine rechte Hand umkrampft hatte, wieder hinstellte.
 

Das war knapp gewesen!
 

In dem Moment ging die Tür auch schon auf und Kobo Osamu betrat mit ebenfalls drei Leibwachen die Spelunke. Sie waren mit Holzschwertern bewaffnet, doch Kenshin war sich sicher, das im Inneren dieser Schwerter Klingen aus Stahl verborgen waren.
 

Die beiden Männer begrüßten sich mit einer Reihe von steifen Verbeugungen und nahmen dann Platz. Die beiden Leibwachen positionierten sich im ganzen Raum verteilt, die Hände in der Nähe ihrer Schwertgriffe und keinen Moment unaufmerksam.

Kenshin war wirklich froh, dass ihm der Wirt den Wink mit dem Zaunpfahl gegeben hatte – ohne Sake und mit Schwertern wäre er sofort aufgefallen.

So aber sahen die Männer nur einen schmächtigen Jungen in einer dunklen Ecke, der gedankenverloren in seinen Sake starrte. Liebeskummer vielleicht, oder Krach mit den Eltern.. jedenfalls keine Bedrohung.
 

Der Wirt schenkte geschäftig den Männern Sake aus, während Hiraguna Nara und Kobo Osamu sich in ein Gespräch vertieften. Sie hielten ihre Köpfe gesenkt und tuschelten leise, doch nach einer Weile wurden ihre Stimmen immer lauter, bis Nara schließlich mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
 

Sofort sprangen die Samurai auf und auch die Leibgarde von Osamu sah alarmiert zu ihrem Boss. Dieser winkte nur ab. „Alles in Ordnung, nicht wahr, mein Freund?“ lächelte er seinen Gegenüber boshaft an. Dieser erwiderte das falsche Lächeln mit einem Blick, der hätte töten können.

„Noch ein bisschen Sake, meine Herren, zur Entspannung?“ trällerte der Wirt und war schon am Tisch um nachzuschenken.

Die beiden Männer kümmerten sich nicht um ihn und diskutierten hitzig weiter.

Ab und zu erhaschte Kenshin einige laute Worte wie: „Erpressung“, „keine Wahl“ und irgendwas von „Handelslizenzen“.
 

Er zuckte zusammen, als plötzlich der Wirt neben ihm stand und ihm noch eine Nudelsuppe brachte. „Bitte schön.“ Meinte er und schob eine Serviette unter den Tellerrand. „Guten Appetit.“
 

Kenshin nahm langsam die Serviette und faltete sie vorsichtig auf. Er fand eine Nachricht des Wirtes.
 

Osamu plant, Nara zu erpressen, um die Gunst des Shogunats bei Handelslizenzen mit den Gaijin zu erlangen. Ich weiß jedoch, dass Nara in letzter Zeit absichtlich ihn belastende Informationen gestreut hat – vermutlich wollte er so die Vertrauenswürdigkeit Osamu’s testen. Wahrscheinlich hat er schon längst einen Anschlag auf ihn geplant.
 

Nun, das war unerwartet. In seinen Umschlägen hatte gestanden, dass er nach dem Treffen zuerst Osamu ausschalten sollte. Dann sollte er unverzüglich Nara in seiner Stadtvilla abpassen.
 

Jetzt jedoch schien es, als ob Hiragana Nara ihm die Hälfte der Arbeit abnehmen wollte. Alles, was er jetzt noch tun konnte, war abzuwarten, wie die Dinge sich entwickeln würden.
 

Er war auf der Hut. So wie die Dinge jetzt standen, könnte jeden Moment ein Kampf ausbrechen. Was nicht das schlechteste wäre...

Alle seine Sinne waren alarmiert.

Das Gespräch zwischen Nara und Osamu schien sich wieder etwas zu entspannen, doch Kenshin spürte die tödliche Ki, die von den Samurai ausging.

Plötzlich lachte Nara. Die zwei Männer schienen sich gerade über etwas einig geworden zu sein. Zufrieden nickte Osamu seinen Leibwächtern zu, die sich entspannten.
 

„Eine Runde Sake für alle!“ rief Nara aus, und dann war die Hölle los.
 

Die Samurai, die offensichtlich nur auf dieses Stichwort gewartet hatten, zogen blitzschnell ihre Schwerter, während Hiragana Nara einen Dolch zog und ihn Kobo Osamu ins Herz rammen wollte. Laut kreischend schaffte er es, auszuweichen und der Dolch traf ihn nur in die Schulter. Blutend und fluchend flüchtete er hinter seine Leibwächter, die total perplex ebenfalls ihre versteckten Schwerter und Dolche zogen. Einer war zu langsam und wurde von einem der Samurai mit einem Vertikalen Schlag aufgeschlitzt. Tische wurden umgeworfen, Sakeflaschen zersplitterten am Boden, die verängstigten zwei Gäste flüchteten sich zum Wirt hinter die Theke.
 

Kenshin packte sein Wakizashi und sein Katana, blieb jedoch ruhig in der Ecke sitzen.
 

„Du Bastard. Du hast mich reingelegt!“ schrie Osamu wutentbrannt, während ihm das Blut aus der Schulter tropfte.

„Wer legt hier wen rein.“ Hiragana Nara’s vorhin noch sanfte Stimme war plötzlich kalt wie Eis. „Tötet ihn.“ Befahl er seinen Männern.

Mit Gebrüll stürzten die Leibwächter sich aufeinander.

Gespannt beobachtete Kenshin, wie die Samurai kämpften. Es war offensichtlich, das sie viel stärker waren und ihre Schwerttechnik war nicht schlecht. Allerdings kein Vergleich mit Yabu Sekura...
 

Binnen weniger Minuten waren die Leibwächter des Händlers tödlich verwundet, allerdings hatte es einer geschafft, auch einem der Samurai einen versteckten Dolch in den Bauch zu stoßen.
 

Der blasse und blutüberströmte Kobo Osamu war an die Wand zurückgewichen und saß nun in der Falle. „Bitte...“ flehte er. „Ich habe genug Geld...“

„Geld?“ lachte Nara. „Glaubst du, dass ich noch an Geld interessiert bin? Nachdem du tot bist, werde ich dein Vermögen sowieso beschlagnahmen...“

„Du Bastard!“ spukte Osamu aus, während er an der Wand hinunterrutschte. Die Wunde in seiner Schulter war tief und er hatte viel Blut verloren.

Langsam zog Hiragana Nara sein Schwert. Kenshin hielt den Atem an.

„Abschaum wie dich braucht das Bakufu nicht!“ Damit hieb Nara dem am Boden liegenden mit einem Schlag den Kopf ab.
 

Heftig atmend blickte die Gruppe Samurai auf die angerichtete Verwüstung.

Das Lokal sah aus, wie wenn eine Bombe eingeschlagen hätte. Zerstückelte Tische und Stühle lagen am Boden, der von Scherben und Blut übersäht war. Der eine Samurai mit dem Dolch im Bauch lag noch wimmernd in der Ecke.

Hiragana Nara trat auf den Wirt zu und schnappte ihm sein Handtuch weg, um damit sein blutiges Schwert sauber zu wischen. „Entschuldigung die Sauerei. Ich hoffe, das bleibt unter uns.“ Er legte dem Wirt zwei Goldstücke auf den Tresen.

„Keine Sorge,“ meinte nicht der Wirt, sondern eine sanfte, junge Stimme.
 

Verblüfft drehten sich die Männer zu der Gestalt um, die nun aus der dunklen Ecke trat. Sie hatte seltsam rote Haare und hielt seinen Kopf gesenkt.

„Junge, was willst du?“ blaffte ihn der Samurai an, der ihn auch schon vorhin auf dem Kicker gehabt hatte. „Renn lieber heim zu Mama und sei froh, das du dein Leben behalten hast.“
 

Erst jetzt sahen sie, dass der Junge ein Daisho in den Händen hielt.

„Ein Samurai?“ rief Nara überrascht. „Woher bist du?“

„Choshuu...“ antwortete Kenshin leise.

Mit einem Entsetztenschrei sprangen die zwei noch übrigen Leibwächter mit gezogenen Schwertern vor Nara.

„...Ishin Shishi.“ Beendete Kenshin seinen Satz und zog nun ebenfalls sein Katana und sein Wakizashi.
 

„Katsura Kogoro...“ zischte Hiragana Nara zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Er ist für all die Attentate in letzter Zeit verantwortlich...“

Doch Kenshin hatte aus seinen Fehlern gelernt. Das Gespräch mit Yabu Sekura war nicht gut für ihn gewesen. Er hatte ihn mit seinen Worten abgelenkt und sogar mit seinem Schwert fast verwundet. Das würde ihm diesmal nicht passieren.
 

„Hiragana Nara.“ Verkündete er leise mit kalter Stimme und in seinen Augen war ein tödliches Funkeln, „Für deine Vergehen erfährst du nun die göttliche Gerechtigkeit.“

„Tötet ihn!“ schrie Nara und stürzte mit den anderen zwei Samurai auf ihn zu.
 

Dank des Hiten Mitsurugi Ryu konnte Kenshin blitzschnell alle ihre Bewegungen voraussehen.

Ein vertikaler Schlag von dem Samurai links, gleichzeitig in gerader Stich nach vorne von dem Samurai rechts.

Kenshin duckte sich schnell unter dem auf seinen Oberkörper zielenden Schlag des ersten Samurai und hieb ihm mit der Linken sein Wakizashi in die rechte Seite. Gleichzeitig stach der Samurai rechts neben ihm ins Leere und stolperte über den glitschigen Boden nach vorne. Kenshin hieb ihm mit der Rückhand sein Katana quer über den Rücken. Der Mann keuchte auf vor Schmerz, während Kenshin den linken Samurai mithilfe seines Kurzschwertes einmal herumdrehte und in das immer noch nach vorne gezückte Schwert des anderen Samurai warf.
 

Im Augenwinkel sah er Naras Angriffschlag auf seinen Rücken, doch Kenshin war schneller und nutze den Schwung seiner Drehung für einen Streich mit seinem Katana quer über Naras Kehle. Gurgelnd brach er am Tresen zusammen und Blut spritze auf sein Geld und das Gesicht des Wirtes.
 

Der letzte Samurai, der sowieso schon blutend am Boden lag, hatte alles mit aufgerissenen Augen beobachtet, doch ehe er auch nur blinzeln konnte, stand Kenshin schon vor ihm.

„Ist es nicht dein Hobby...,“ bemerkte er kalt, „Die Schädel von Gemüsehändlern wie Kohlköpfe zu spalten?!“

„Bitte...“ wimmerte der Mann und wurde ohnmächtig.

Kenshin ließ sein Schwert sinken. Kein Grund, diesen Mann zu töten. Er würde in wenigen Sekunden verblutet sein.

Er kniete nieder und wischte seine Schwerter an der Kleidung des Ohnmächtigen ab, bevor er sie in ihre Scheiden steckte. Mit einem letzten Blick auf den Wirt verließ er, vorsichtig zwischen den Scherben und Holzsplittern hindurchgehend, das Lokal.
 

Der Wirt schaute ihm entgeistert hinterher. „In einem Streich...“ murmelte er vor sich hin.

„In einem Streich hat er gleich drei Samurai erledigt.“

Er wischte sich mit der Schürze das Blut vom Gesicht und scheuchte die unter Schock stehenden Gäste, die immer wieder „Ein Dämon.. Ein Dämon...“ vor sich hin brabbelten zur Hintertür hinaus. Dann nahm er das Geld vom Tresen, wischte alles Blut sorgfältig davon ab und verstaute es in seiner Tasche.

Er öffnete eine Schublade und holte eine Reihe Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ heraus. Vorsichtig rutschte er auf dem von Blut und Sake glitschigen Boden zu den Leichen und platzierte die Zettel auf ihnen.

Schnell zog er sich dann im Hinterzimmer um und packte seine schon bereitliegenden Sachen.

Er würde eine Weile untertauchen müssen, aber schon bald würde er in einem anderen Stadtteil ein neues Trinklokal aufmachen... Wenn ihn jemand fragen sollte, würde er von dem Hitokiri erzählen, der diese Verwüstung angerichtet hatte... Natürlich keine Details... nur davon Ablenken, dass er selbst auch beteiligt gewesen war.
 

„Der Hitokiri...“ sinnierte der Wirt. „Was für ein seltsamer Junge... Ein Dämon in der Tat.

Hab noch nie jemanden gesehen, der so schnell drei Leute auf einmal erledigt hat. Dabei hat er sich so stümperhaft aufgeführt... seine Schwerter da einfach so auf der Bank stehen zu lassen, wie dumm... “
 

Fröstelnd hastete der Wirt durch die kühle Nachtluft. „Naja,“ kam er zu dem Schluss, „Unauffälligkeit ist wohl nicht so sein Ding... aber Talent zum Töten hat er!“
 

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Wie immer würde ich mich über Kommentare u.ä. sehr freuen!

Dieses Kapitel ist länger geworden, wie ich eigentlich beabsichtigt hab.

Nächstes Mal sind Yoshida und Daisuke wieder mit von der Partie... und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt...
 

Kata: Die für eine Schwerttechnik charakteristischen Schwertübungen
 

Daisho: Schwerterpaar, Kurzschwert (Wakizashi) und Langschwert (Katana).
 

Gaijin: Ausländer

Kapitel 8 - Der Brief

Der Hitokiri Choshuus stürzt die Stadt ins Chaos. Doch noch bleibt seine Existenz bis auf wenige Eingeweihte unentdeckt. Wie lange wird Kenshin seine Identität als Hitokiri noch vor seinen Freunden geheim halten können? Und wie lange kann er sich noch gegen die Kälte des Attentäter wehren, die mehr und mehr in seine Seele dringt?
 


 


 

Divine Justice – Göttliche Gerechtigkeit
 

Kapitel 8: Der Brief
 


 

Das blankpolierte Dach des Iamasu-Schreines erglühte rot in der untergehenden Sonne. Der Winter kam früh dieses Jahr. An den Bäumen des nahe liegenden Wäldchens sah man, dass der Herbst bereits seinem Ende entgegen ging, denn nur noch vereinzelt hingen einige traurig raschelnde Blätter an den Zweigen der Bäume. Die meisten waren, nachdem sie sich mit letzten, kräftigen Farbtönen vom Leben verabschiedet hatten, braun zu Boden gefallen und zerbröselten nun unter den Schritten eines jungen Mannes, dessen schlanke und schmächtige Gestalt sich den Weg durch das Unterholz bahnte.
 

Das Sterben der Natur stimmte den nach Einsamkeit Suchenden melancholisch. Die verknöcherten, kahlen Äste, die schwarz in den Abendhimmel ragten, warfen bizarre Schatten auf den Waldboden, auf dem die Blätter noch ein letztes Mal aufleuchteten, bevor die Sonne hinter dem Horizont zu versinken begann und alles im Dämmerlicht des Abends versank.
 

Seufzend machte Himura Kenshin sich auf den Weg zurück in die Stadt, die sich, zwischen den Bergen eingebettet, vor seinen Füßen erstreckte. Es würde das letzte Mal in diesem Jahr gewesen sein, dass er diesen Ort der Ruhe hatte besuchen können. Er spürte an der eisigen Luft, dass es heute Nacht höchstwahrscheinlich frieren oder sogar schneien würde. Nicht, dass er Probleme damit gehabt hätte, in einem verschneiten Wald zu trainieren – die Kälte des Winters machte ihm nach den harten Trainings-Jahren bei seinem Shishou nichts mehr aus. Aber da die Bäume, so kahl wie sie nun waren, ihm keinen Schutz mehr vor den neugierigen Blicken der Mönche und Besucher des Iamasu-Schreines bieten würden, würde es sinnlos sein, nochmals hierher zu kommen.
 

Grimmig verschmälerte sich Kenshins Mund zu einer dünnen Linie. Er hatte unsichtbar zu sein. Und selbst Mönchen war heutzutage nicht zu trauen.
 

Er ließ die Hand an seinem Schwertgriff, während er über einigen Umwegen zurück zum Kohagiya eilte. Vorsicht war geboten, denn seit dem Vorfall in einer Taverne, bei der acht Menschen getötet wurden, war alles, was Waffen trug, auf der Hut.
 

Acht Menschen waren vor gut zehn Tagen in einem total verwüsteten Trinklokal gefunden worden. Alle waren tot, das Lokal schwamm im Blut und als man später zwei Augenzeugen ausfindig machen konnte, waren das offenbar welche von der Sorte, die schon zuviel Sake in ihrem Leben getrunken hatten, als gut für sie war. Denn alles, was sie stotternd über den Vorfall berichten konnten, war, das die Männer aufeinander losgegangen seien, bevor ein Schwertkämpfer mit leuchtenden Augen und Haaren, mindestens zwei Meter groß, wie ein Berserker alle niedergemacht hatte. Es musste ein Dämon gewesen sein, versicherten die zwei Zeugen immer wieder, ein Rachedämon. Die Bakufu-Soldaten schickten die Männer schließlich kopfschüttelnd nach Hause. Doch in einem Punkt hatten sie Recht: das es hier um Rache ging, war mehr als offensichtlich, denn auf den Körpern der Toten hatte man Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ gefunden.
 

„Dieser Dämon scheint mir eher ein Hitokiri gewesen zu sein,“ hatte einer der Soldaten gemeint, während ein anderer die Leichen untersuchte. Mit einem anerkennenden Pfiff hatte er sich schließlich erhoben und das Blut von seinen Händen abgewischt. „Ein Hitokiri, der sein Handwerk versteht.“ Sein Kamerad hatte verachtend auf den Boden gespuckt. „Keine schlechte Bilanz – acht Tote auf einmal.“
 

Was die Männer des Bakufu nicht wussten, war, das der Hitokiri nicht acht, sondern nur drei Menschen mit eigener Hand an jenem Abend getötet hatte. Wenn man es genau nahm, sogar nur zwei. Doch das alles hatte keine Bedeutung. Wichtig war nur, das alle tot waren und auf welche Weise oder von wessen Hand auch immer, war relativ egal.
 

Kenshin rieb sich die müden Augen.

Die folgenden zehn Tage hatten für ihn nur in einem Rausch aus Adrenalin und Blut bestanden.
 

Kaum war es bekannt geworden, dass nach Yabu Sekura nun auch Hiragana Nara und Kobo Osamu der „göttlichen Gerechtigkeit“ zum Opfer gefallen waren, hatten alle Shogunats-Anhänger ihre Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Misstrauen hatte sich wie ein giftiger Hauch über die Stadt gelegt, denn keiner wusste, wer genau für die Attentate verantwortlich war, wenn man auch in einigen Kreisen bereits munkelte, dass die Morde wohl die Taten eines einzelnen Hitokiri gewesen sein mussten – offensichtlich eines sehr talentierten Schwertkämpfers – und der Auftraggeber jemand aus der Choshuu-Fraktion sein könnte, die sich zur Zeit im Untergrund zu formieren begann.
 

Für Kenshin bedeutete der Zuwachs an Sicherheitsmaßnahmen mehr Arbeit. Er hatte die zehn Tage größtenteils mit auf der Lauer liegend verbracht. Oftmals musste er Stunden, einmal sogar die ganze Nacht warten, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, in der er seine Feinde erledigen konnte. Tagsüber hatte er dann meistens versucht, den verlorengegangenen Schlaf nachzuholen. Doch bei dem Lärm und Betrieb in der Herberge konnte und wollte er auch gar nicht tief schlafen, denn jedes Geräusch, das etwas lauter oder verdächtiger war, ließ ihn sofort hellwach nach dem Griff seines Schwertes tasten.
 

Er hatte versucht, sich zu beruhigen. Sich einzureden, dass hier in der Herberge ein sicherer Ort war. Doch er konnte sich nicht entspannen.

Immer, wenn er die Augen schloss, kamen schreckliche Bilder hoch. Gestern hatte er versucht, an seinen Fingern abzuzählen, wie viele... Doch als ihm die Finger ausgingen, hatten seine Hände so heftig das Zittern angefangen, dass er schnell aufgehört hatte.
 

„Ruhig…” hatte er sich ermahnt und wie ein Tantra vor sich hingemurmelt: “Eine Waffe hat keine Gefühle. Sie führt Befehle aus. Für ein neues Zeitalter, in dem Menschen in Frieden leben können.“
 

Doch das dies in den Strassen Kyotos noch lange nicht der Fall sein würde, hatten ihm die letzten Tage gezeigt. Oftmals kamen jetzt verwundete Männer ins Kohagiya, fast jede Nacht gab es Krawalle und Anschläge, einzelne Gruppen lieferten sich Straßenschlachten, die Shinsengumi hatten ihre Einheiten verdoppelt und verschiedene Hitokiri töteten aus dem Hinterhalt.

Es herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände und Chaos.
 

Nur immer da, wo die weißen Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ auf den blutenden Körpern lagen, wusste man mit Sicherheit, das es sich um wichtige, gut geschützte Leute handeln musste, die nur von einem herausragendem Schwertkämpfer – manche behaupteten sogar, einem Rachedämon – getötet worden waren.
 

Choshuu war es durch diese geheimen Operationen gelungen, viele wichtige Gegner auszuschalten. Wie Izuka Kenshin erzählt hatte, war es jetzt die Absicht, die Situation etwas zur Ruhe kommen zu lassen.

„Die pissen sich jetzt alle ein vor Angst,“ hatte er gelacht. „Die werden sich erst mal alle bis an die Zähne bewaffnen und in ihren Villen verschanzen. Und Katsura kann während dessen die verschiedenen Fraktionen von Choshuu vereinen, damit wir alle an einem Strang ziehen. Erst dann werden uns sie anderen Provinzen nicht mehr als wilder Haufen von Rebellen, sondern als einheitliche Macht wahrnehmen und sie werden weichgekocht genug für Bündnisse sein.“ Er hatte Kenshin auf die Schulter geklopft. „Bald hast du Pause. Nur noch ein, zwei wichtige Aufträge vor Wintereinbruch, dann ist erst Mal etwas Ruhe...“
 

Übermüdet hatte Kenshin ihm mit halbem Ohr zugehört und war danach wie fast jeden Nachmittag in sein Wäldchen verschwunden, um die Müdigkeit und den Schrecken der Nächte durch seine Schwertübungen abzuschütteln.
 

Jetzt war es wohl vorerst vorbei mit dem unbeobachteten Schwertraining. Doch er fühlte sich nicht besonders wehmütig. Das Training hatte ihm die letzten Tage kaum noch Freude bereitet, da es nichts anderes mehr war, wie ein mechanisches Durchexerzieren mit dem Ziel, am Ende einfach nur so erschöpft zu sein, um nicht mehr denken zu müssen. Immer wenn er auf sein Schwert sah, bildete er sich ein, Rückstände von Blut auf der Klinge zu sehen und oftmals war er mehr mit dem Putzen der Schwerter beschäftigt wie mit dem eigentlichen Trainieren. Wenn er dann soweit war und die ersten Schritte seiner Kata durchging, fühlte er sich angenehm leer. Manchmal übte er Stundenlang, um seine tödlichen Schwünge immer und immer mehr zu perfektionieren und seine Schnelligkeit bis zum äußersten zu bringen.
 

Das schnelle Töten war in den letzten Tagen Dreh- und Angelpunkt seiner Operationen geworden. Meistens waren seine Ziele von Leibwächtern geschützt und Kenshin konnte nur einmal sein Opfer weglocken und das Leben der Leibwächter verschonen. In den anderen Fällen musste er sich offenbaren – und folglich alle töten. Im Training mit Hiko hatte er zwar nur mit seinem Meister trainiert. Doch der Hiten-Stil war so angelegt, dass man die Techniken problemlos so anwenden konnte, um mehrere Gegner blitzschnell hintereinander zu erledigen. Nicht zu vergessen die legendäre Fähigkeit, die Angriffe der Gegner vorauszusehen...
 

Für mehr oder weniger heimliche Zuschauer, wie Izuka vor ein paar Tagen gewesen war, schien es deshalb so, als ob Kenshin trotz mehrerer Schläge alle Mann in einer einzigen Flut aus Bewegung tötete. Mit offenem Mund hatte er den schmächtigen Jungen angestarrt, der nach vollbrachter Tat die Leichen der Männer betrachtete, als würde er sie gerade zum ersten Mal sehen. Izuka hatte sich schnell aus seiner Erstarrung gelöst den verwirrt wirkenden Jungen davon gescheucht.
 

Kenshin hatte wie gebannt auf sein Schwert gestarrt und sich gefragt, ob das wirklich er gewesen war, der gerade ohne Nachzudenken die drei Männer getötet hatte.

Doch wie immer in letzter Zeit kam da die Stimme in seinen Gedanken zur Hilfe, die ihn anwies, ruhig zu bleiben, eine Waffe zu sein, an das neue Zeitalter zu denken. Und so viel Zeit zum Nachdenken hatte er auch nicht, da wenig später meist schon der nächste schwarze Umschlag den Weg in seine Hände fand.
 

Nur noch zwei Aufträge...dann erst mal ausruhen.

Ob er sich darüber freuen sollte, plötzlich so viel Zeit zu haben und im Kohagiya festzusitzen, wusste Kenshin noch nicht.

Er betrat die Herberge und ging auf leisen Sohlen in sein Zimmer. Trotz seiner Haarfarbe hatte er es in den letzten Tagen geschafft, unauffällig zu bleiben. Meistens zog er sich in sein Zimmer zurück und er sprach mit keinem, außer Izuka-san oder Okami-san. Ihre Gesellschaft genoss er im Gegensatz zu der von Izuka, denn alle Zettel, die sie ihm überreichte, beinhalteten nicht Namen und Gewissheit auf noch mehr Blut in den Strassen sondern Lebensmittel oder kleinere Dinge, die Kenshin vom Markt besorgen sollte.

Kenshin kam ihren Bitten gerne nach, denn so konnte er den tristen Wänden seines Zimmers, das ihm oftmals viel zu eng erschien, entfliehen. Außerdem hatte er langsam den Dreh heraus, sich unbemerkt unter die Leute zu mischen. Wenn er seinen Hut aufhatte, wurde er kaum von den Menschen beachtet und so konnte er für normale Augen fast unsichtbar oftmals schon bei Tag seine Opfer beschatten ohne, dass sie ihn bemerkt hätten.
 

Auch die Männer hier im Kohagiya schenkten ihm kaum Beachtung, weil er an keiner ihrer wichtigen Missionen teilnahm.
 

„Junge...“ hatte ihm sogar mal einer der Samurai zugeraunzt, „...sei froh, dass du nicht da draußen bist. Auf den Strassen regnet es Blut!“

Kenshin hatte ihm ausdruckslos hinterher gesehen und fast laut losgelacht, während sich sein Magen verkrampft hatte.

„Wenn er nur wüsste...“
 

Jedes Mal, wenn er die Herberge betrat, hatte er Angst, einer der Männer könnte bemerken, wie er ins Badehaus eilte und sich das Blut vom Körper wusch.

Kenshin hatte versucht, Izuka-sans Rat zu befolgen, doch je mehr Gegner er auf einmal hatte, desto schwieriger war es, nicht von Blut bespritzt zu werden. Und selbst wenn er einigermaßen sauber blieb, fühlte er sich dreckig und eklig und der Geruch brachte ihn jedes Mal mehr an den Rand des Wahnsinns. Im Badehaus wurde das Waschen schon zum fanatischen Akt und bis er das Gefühl hatte, dass seine Hände nun sauber seinen, verging immer mehr Zeit.

Immerhin fiel er zur Zeit nicht auf, da oft Verwundete noch spät in der Nacht ankamen. Doch Kenshin wusste, dass die Männer neugierig waren, wer genau denn nun der Vollbringer der „göttlichen Gerechtigkeit“ sein mochte. Es gab ja nicht nur den einen Unterschlupf in Kyoto, außer dem Kohagiya gab es noch mindestens drei andere Unterkünfte, in denen Einheiten der Ishin Shishi stationiert waren.
 

Auch an diesem Abend, nach s

einem Abschied von dem Wäldchen, betrat Kenshin das Kohagiya möglichst unauffällig und versuchte, mit der Wand hinter sich zu verschmelzen und in sein Zimmer zu verschwinden, ehe er von irgendjemandem bemerkt werden konnte. Heute hatte er keinen schwarzen Umschlag bekommen... er wusste gar nicht, wie er sich jetzt fühlen sollte. Es war ihm in den letzten Tagen schon zu einer grausigen Routine geworden: mehr oder weniger früh aufstehen, vielleicht ein paar Worte mit Okami-san wechseln und bei ihr seine gewaschene Wäsche abholen um sie nach erledigter Arbeit am Ende der Nacht blutverschmiert wieder hinzulegen.
 

Seit seinem Abend mit Yoshida vor über zwei Wochen war es der erste freie Abend. Kaum war er im Zimmer, fühlte er die innere Unruhe in sich hochsteigen, der ständige Anstieg seines Adrenalinspiegels immer dann, wenn die Nacht hereinbrach und er wusste, das es kein Entrinnen zwischen Ihm und der Ausführung der Befehle in den schwarzen Umschlägen gab...
 

Erschrocken zuckte er zusammen, als es plötzlich klopfte. Ehe Kenshin „Herein“ sagen konnte, schob ein Mann die Tür schon auf und lächelte schief auf ihn herab.
 

„Daisuke..“ stellte Kenshin überrascht fest.
 

„Hey Himura!“ grüßte dieser fröhlich und betrat das Zimmer. „Lang nicht mehr gesehn!“

Schweigend senkte Kenshin den Blick. „Was willst du?“ fragte er.

„Nicht so freundlich,“ antwortete Daisuke ironisch. „Wenn ich ungelegen komme, geh ich wieder! Ich wollte nur mal schauen, was du so machst. Du siehst ja aus wie ein Geist. Ich dachte, wir könnten was trinken gehen. Aber wenn ich störe...“
 

Daisuke war schon auf halbem Weg zur Tür hinaus, als sich Kenshin „Warte!“ sagen hörte.
 

Er war selbst über sich überrascht. Eigentlich wollte er ja alleine sein. Doch er wusste auch, was ihm das Alleinsein so brachte – schlimme Gedanken, die zu nichts führten und später Albträume, denen er nicht entkommen konnte.
 

Lächelnd drehte sich Daisuke um und winkte Kenshin zu sich. „Komm, wir gehen einen heben!“ Kenshin folgte ihm nach draußen auf die Strasse.

Sofort waren alle seine Sinne alarmiert. Die Möglichkeit, dass ihn jemand erkennen würde, war zwar gleich Null – aber trotzdem könnte vielleicht jemand des Bakufu auf die Idee kommen, ihn verdächtig zu finden und dann würde er schnell flüchten müssen. Kenshin schielte hoch zu den Dächern. Das war immer noch der beste Fluchtweg von allen, denn die meisten konnten gar nicht so hoch springen.
 

„Was schaust du dich denn die ganze Zeit so um? Ist da oben was auf dem Dach?“ schnitt Daisuke’s Stimme plötzlich durch seine Gedanken.

„Ah, nein. Ich denke nur nach,“ meinte Kenshin und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Daisuke nickte, aber Kenshin spürte, dass er irgendwie aufgeregt war.

„Wenn hier einer aufgeregt ist, dann bin ich das,“ murmelte er, ärgerlich ob seiner Übervorsichtigkeit, in sich hinein.
 

„Wann kommt Yoshida eigentlich wieder?“ fragte Kenshin um das entstandene Schweigen zu brechen.

„Oh, die Schnarchnase? Ich glaube, er hat was von drei Wochen erzählt. Könnte also bald wieder da sein. Ich hab gehört, das alle wichtigen Ishin Shishi jetzt erst mal im Kohagiya zusammengetrommelt werden. Katsura soll die nächsten Tage eintreffen, da wird Yoshida dabei sein. Ach ja...“ Daisuke kramte in seiner Tasche und förderte schließlich einen zerknitterten Brief zutage.

„Der ist für dich, hat Yoshida geschickt. Er kam schon vorgestern, aber ich hab dich ja kaum gesehen...“

Dankbar nahm Kenshin den Brief, der aussah, als ob er schon einmal gelesen wurde und öffnete ihn.
 

Lieber Kenshin, altes Haus,
 

ich komme mir ja schon richtig doof vor, einen Brief zu schreiben, wo wir doch schon in weniger als 10 Tagen wieder in Kyoto eintreffen werden. Aber alles, was wir hier zu tun haben, ist rum sitzen und die Bosse, die wichtige Entscheidungen treffen, anzustarren. Das heißt zumindest, dass alles gut läuft.

Bei euch in Kyoto scheint es ja etwas spannender zuzugehen, wie man so hört... selbst uns erreichen die Nachrichten von dem ständigen Kämpfen nachts in den Strassen.

Ich hörte einmal Katsura-sama und Katagai-san von dir sprechen, sie lobten deine Arbeit. Ich hoffe, dass du vorsichtig bist, was auch immer du tust. Auf den Strassen ist man nicht sicher. Und nimm dich bloß vor den Hitokiri in acht! Die töten jeden, der ihnen in den Weg kommt, sei es absichtlich oder zufällig. Wie man sich erzählt, macht zur Zeit einer die Strassen unsicher, der sehr gefährlich ist. Die Männer meinen, er sei kein Mensch sondern eher ein Dämon, weil er so schnell und so viele auf einen Streich töten kann. Allerdings wissen von unserer Gruppe nur Katagai-san, Ich und einige andere (natürlich auch Katsura-sama), dass es der neue Hitokiri der Ishin Shishi ist. Trotzdem, auch wenn er auf unserer Seite ist, lass dich nicht mit ihm ein. Mit Hitokiri pflegt man keinen Umgang, denn schon im nächsten Moment können sie dich niedermetzeln, weil ihnen dein Gesicht nicht passt.

Auf dein Gesicht freu ich mich jedenfalls, alle anderen Männer hier bis auf Buntaro sind mindestens 10 Jahre älter wie ich und reden nur über langweilige Dinge wie...
 

Kenshin konnte nicht weiterlesen. Er starrte auf die Wörter „Hitokiri“ und „niedermetzeln“, solange, bis seine Augen brannten. Langsam faltete er den Brief zusammen.

Wie konnte er es Yoshida verübeln, so zu denken? Er wusste ja von nichts. Er war nur ein normaler Kämpfer wie die anderen Männer auch...

Er schwor sich, ihm so schnell wie möglich die ganze Wahrheit zu erzählen, wenn er zurückkäme. Ob er ihn dann verachten würde oder nicht - diese Lüge noch länger vor dem einzigen Mensch, mit dem ihm hier in Kyoto eine tiefere Freundschaft verband, aufrechtzuerhalten, konnte er nicht ertragen. Er kniff den Mund zusammen und steckte den Brief in seinen Ärmel.
 

„Und?“ fragte Daisuke. „Wichtige Neuigkeiten?“ Er hatte Kenshin’s Reaktionen auf den Brief genau beobachtet, vor allem, weil er wusste, was in dem Brief stand. Ein paar Mal war es ihm, als ob sich so etwas wie Entsetzen in seinen Augen spiegeln würde, doch dann sahen sie wieder genauso ausdruckslos aus, wie in letzter Zeit immer.
 

Kenshin schüttelte den Kopf.

Die zwei bahnten sich ihren Weg weiter durch die belebten Strassen.

Ab und zu rempelten die Leute Kenshin im Vorbeigehen an, der sich daraufhin jedes Mal versteifte, einen plötzlichen Schlag aus dem Hinterhalt erwartend.

„Wenn die Leute nur wüssten, wen sie da anrempeln...“ überlegte er finster. Er musterte die vorbeigehenden und es war ihm plötzlich so, als ob sie ihn alle verstohlen anstarren würden. Nicht mit einem spöttischen Blick wegen seinen Haaren, sondern mit einem wissenden Blick - als ob auf seiner Stirn das Wort „Killer“ geschrieben stand.
 

Ihm brach der Schweiß aus. Er fuhr, die Hand am Schwertgriff, herum, als ein paar Männer unverhofft neben ihm aus einer Gasse traten. Seine Augen verschmälerten sich. Das Lachen der Menschen auf der Strasse klang verdächtig und schrill. Das Geflüster zweier Mädchen vor ihm hörte sich wie drohendes Zischen an. Plötzlich nahm er den Geruch von Blut wahr und er blickte hastig an sich hinunter, halb in Erwartung, dass er vielleicht vergessen hatte, sich umzuziehen. Als sie schließlich die Kneipe erreicht hatten, stürmte Kenshin nassgeschwitzt hinein und ließ sich keuchend auf einen Eckplatz mit Blick auf die Tür fallen.
 

„Meine Güte,“ bemerkte Daisuke, „was ist denn mit dir los? Du bist ja total fertig.“

Kenshin atmete tief durch. Verlor er jetzt etwa die Nerven? Oder gar den Verstand? Er sah sich im Raum um, der zum Glück recht leer war. Nein, hier saßen keine Feinde, nur er und Daisuke, die niemandem auflauerten, sondern nur wie ganz normale Menschen etwas trinken wollten.

Etwas atemlos bestellte Kenshin zwei Flaschen Sake und etwas zu knabbern. Kaum kam das warme Getränk, goss er sich auch schon ein Schälchen ein, nickte Daisuke kurz zu und trank es in einem Zug leer.

Daisuke beobachtete ihn über den Rand seines Schälchens hinweg und trank dann selber mit einem Lächeln auf den Lippen schnell leer. Ein Plan hatte in seinem Kopf Gestalt angenommen.
 

Kenshin verschluckte sich fast und setzte die Schale laut am Tisch ab. Sofort spürte er eine Wärme in sich aufsteigen. Genau das, was er jetzt brauchte. Er fühlte sich kalt. Nicht wegen den frischen Temperaturen – es würde diese Nacht frieren – sondern wegen etwas anderem. Vielleicht war es der Brief gewesen.

Die Erkenntnis, dass er wahrscheinlich bald seinen besten und einzigen Freund hier in Kyoto verlieren würde.

Die Erkenntnis, dass das wahrscheinlich nicht das schlimmste war, was ihm und Yoshida passieren konnte.

Was hatte er geschrieben? ... „Mit Hitokiri pflegt man keinen Umgang“... Wie Recht er doch hatte. Wer will sich schon mit einem Mörder abgeben...
 

„Schmeckt dir der Sake nicht?“ riss ihn Daisuke aus den Gedanken. „Du starrst in dein Schälchen, als ob du gleich reinkotzen willst.“

„Nein,“ erwiderte Kenshin, „der Sake schmeckt gut.“

„Du hast vorher nicht oft Sake getrunken, Himura, oder?“ fragte Daisuke, der die leichte Röte, die bereits in Kenshins Gesicht aufstieg, bemerkt hatte und ihm nachschenkte.

„Nein,“ war Kenshins einzige Antwort. Wenn er jetzt über etwas nicht sprechen wollte, dann waren das die Erinnerungen an eine gewisse Person, die Diskussionen über Sake bei ihm auslösten.
 

Während sie tranken, begann Daisuke über irgendwelche belanglosen Dinge zu sprechen, doch Kenshin hörte ihm kaum zu. Statt dessen kroch langsam in ihm ein ungutes Gefühl hoch. Verstohlen musterte er Daisuke, der trotz der lockeren Atmosphäre unruhig auf seinem Platz hin und her rutschte und mit den Fingern der linken Hand auf den Tisch trommelte. Kenshin schloss kurz seine Augen und versuchte, die Emotionen seines Gegenübers wahrzunehmen. Er spürte Vorsicht, Misstrauen, Angst und etwas anderes... ob er wohl Bescheid wusste?
 

„Na, schon müde?“ Daisuke hielt Kenshins geschlossene Augen wohl für ein Zeichen, dass der Alkohol seine Wirkung tat und frohlockte innerlich. Schnell bestellte er die zweite Runde.
 

Kenshin zwang sich zu einem schiefen Lächeln, als der neue Sake kam und Daisuke ihm erneut einschenkte. Er hatte Daisuke und Buntaro eigentlich ganz gerne, sie waren außer Yoshida seine einzigen Bekannten – aber als enge Freunde würde er sie nicht bezeichnen. Was hatte Daisuke jetzt vor?

Kenshin spürte bereits ein warmes Kribbeln in den Fußzehen, allerdings war sein Kopf nach wie vor klar. Nur eines war anders... die Gedanken waren auf einmal so leicht. Er fühlte sich nicht mehr so schwermütig wie die letzten Tage. Nein, statt Schuldgefühle oder Bilder blutiger Gesichter war jetzt eine angenehme Leere in seinem Kopf, fast wie nach einem anstrengenden Training...

Er lehnte sich zurück und trank ein weiteres Schälchen. Nicht, dass es ihm wirklich gut schmeckte... aber er wollte noch ein bisschen den Zustand der inneren Gelassenheit anhalten. Trotzdem ließ seine Aufmerksamkeit und seine Vorsicht keine Sekunde nach. Er spürte Daisukes forschenden Blick.
 

Dieser sah nun endlich seine Gelegenheit gekommen. „Mensch,“ begann er zögerlich, „findest du nicht auch, dass es in letzter Zeit ganz schön abgeht in Kyoto? Ich meine, viele Leute haben die Stadt schon verlassen, weil sich nachts die verschiedenen Fraktionen gegenseitig niederstechen.“

Kenshin versteckte seine Augen hinter einem roten Haarvorhang. Hier lag also der Hund begraben. Daisuke wollte ihn ausfragen!

„Wir sind im Krieg...“ antwortete er vorsichtig. „Leider trifft es da auch die Menschen, die damit nichts zu tun haben. Gut, wenn sie die Stadt verlassen, auf dem Land ist es sicherer.“

„Hm...“ nickte Daisuke zustimmend. „Man sollte es vermeiden, Nachts viel unterwegs zu sein. Leider haben wir da keine Wahl, nicht? Unsere Aufträge erledigt man am besten, wenn es dunkel ist, nicht? Haha!“

Kenshin sagte nichts.

„Naja... ein Glück haben wir ja Katsura-sama, der weiß wohl, was er macht. Du scheinst ja gute Kontakte zu ihm zu haben. Bekommst deine Aufträge von ihm persönlich und so...“

Ausdruckslos schaute Kenshin ein sein Schälchen. Worauf wollte Daisuke hinaus?
 

„Ich hoffe, das er uns Ishin Shishi zum Sieg führt, du nicht auch?“ fragte Daisuke weiter.

„Ich hoffe, dass so schnell wie möglich eine Zeit des Friedens für die Menschen, die jetzt in Angst leben müssen, beginnt,“ entgegnete Kenshin schließlich.

„Gut gesagt!“ bestätigte Daisuke. „Und alles, was wir dazu beitragen können, ist, unsere Pflicht so gut es geht zu erfüllen, egal welche.“

„Mh.“
 

„Ich meine, bist du nicht auch der Meinung, das jedes Mittel recht ist, um das neue Zeitalter so schnell wie möglich zu erreichen? Es ist die göttliche Gerechtigkeit, das Tenchuu. Egal, wie -...“

Daisuke verstummte, als Kenshins Augen unter dem roten Haarvorhang wieder auftauchten und ihn anfunkelten. Kenshin spürte die plötzliche Angst seines Gegenübers, doch er dachte überhaupt nicht daran, irgendwas dagegen zu tun. Statt dessen starrte er ihn nur noch eindringlicher an und bemerkte mit Genugtuung, wie sich langsam Schweißperlen auf Daisukes Stirn bildeten.
 

„Manchmal...“ sprach Kenshin schließlich leise und die plötzliche Kälte in seiner Stimme ließ Daisuke zusammenzucken, „... muss man Dinge tun, die einem wie Wahnsinn erscheinen. Allerdings darf man nie vergessen, wofür. Auf sich selbst kann man dabei nicht immer Rücksicht nehmen. Da bist du doch sicher meiner Meinung, Daisuke?“

Dieser nickte schnell, immer noch verstört durch die wie verwandelte Stimme und den stechenden Blick des Jungen. Niemals hätte er gedacht, dass einer, der acht Jahre jünger wie er war, ihm so eine Angst einflössen konnte.
 

Kenshin packte plötzlich eine tiefe Traurigkeit und sein gerade eben noch stechender Blick wich einer ausdruckslosen Maske, die ihm in den letzten Tagen immer häufiger ein angenehmer Begleiter geworden war. Hinter ihr konnte er alle seine Gefühle verstecken.
 

Er trank seine Schale leer, legte einige Münzen auf den Tisch und verabschiedete sich knapp. Daisuke sah ihm hinterher, als er den Raum verließ.

„Ich wusste es...“ entfuhr es ihm und er schüttete hastig den Rest der Flasche in sich hinein. Diese kalten Augen... Das war kein normaler Junge.

Und dann die Reaktion, als er von Tenchuu gesprochen hatte...

Er musste es sein.
 

Auf dem Weg zurück zur Herberge schimpfte sich Kenshin selbst für sein Verhalten. Warum war er so kühl zu Daisuke gewesen. War er zu misstrauisch? Vielleicht hatte er ja gar keine Hintergedanken und war einfach nur neugierig?

„Unwahrscheinlich,“ meldete sich eine Stimme in seinem Kopf zu Wort. „Lieber zu vorsichtig als zu nachsichtig. Vertrauen ist eine Schwäche, die sich ein Hitokiri nicht leisten kann. Kontrolliere deine Emotionen. Sei immer auf der Hut. Du bist Katsura-samas persönliche Waffe und musst perfekt funktionieren. Unwichtige Gedanken über Gefühle und ob dich jemand mag oder nicht mag haben da keinen Platz. Nur zweitklassige Schwertkämpfer zeigen ihre Gefühle. Ein Gegner würde sich so was sofort zunutze machen. Nein, ich muss meine Gefühle tief in mir begraben, damit ich für einen Gegner undurchschaubar und ohne Schwachpunkt erscheine.“

Kenshin nickte innerlich. Doch trotz seiner Aufgewühltheit blieb sein Gesicht weiterhin starr und ausdruckslos.
 

Mit Hitokiri pflegte man keinen Umgang. Für jemand so Gutmütigen wie Yoshida hatte er zuviel Blut an den Händen.
 

Wenn Daisuke ihm nicht schon zuvor käme, würde er Yoshida bei seiner Ankunft sofort alles erzählen. Und ihm raten, sich von ihm fern zu halten. Für jemandem, der Menschen aus dem Hinterhalt tötet, gehörte es sich nicht, Freunde zu haben.

Starr blickten seine blauen Augen geradeaus.
 

Kenshin bemerkte gar nicht, wie ihn dieses Mal keiner anrempelte. Die Menschen wichen vor ihm zurück und machten ihm Platz, denn sie spürten eine unheimliche Aura von ihm ausgehen, die nichts Gutes verhieß. Auch war sein Gesicht nun vekniffen und emotionslos. Vor allem diese hellen, blauen Augen... Nur, wer sich nicht abschrecken ließ und die Gelegenheit hatte, näher hinzusehen, sah vielleicht die Traurigkeit, die Leere und Einsamkeit, die die Augen des Jungen stumpf werden ließen.
 

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Anmerkungen: Wird Kenshin wirklich langsam paranoid? Oder führt Daisuke wirklich etwas im Schilde? Ihr werdet es im nächsten Kapitel erfahren... ;)

Kapitel 9 - Feuer und Eis

Kenshin bekommt neue Aufträge. Doch ihm droht Verrat – und zwar aus den eigenen Reihen...
 

Zur Erinnerung eine kurze Aufstellung aller wichtigen Personen:

Himura Kenshin – schon seit über einem Monat der Hitokiri der Patrioten aus Choshuu

Yoshida Omi – Zimmergenosse von Kenshin und bisher sein engster Freund.

Daisuke und Buntaro – Freunde von Yoshida
 

Okami-san – Wirtin des Kohagiya, dem Unterschlupf der Chushuu Ishin Shishi.
 

Katsura Kogoro – Anführer der Choshuu Ishin Shishi

Katagai – Stellvertretender Befehlshaber Katsuras und seine rechte Hand.

Izuka – Befehlshaber Katsuras über den Geheimdienst und die Auftragsmorde.

Hatomo und Umino – Handlanger Izukas
 


 

Göttliche Gerechtigkeit
 

Kapitel 9 – Feuer und Eis
 


 

Der Sake ließ Kenshin in einen traumlosen Schlummer gleiten und ihn die unangenehmen Erinnerungen an Daisuke mit seinen noch viel unangenehmeren Fragen vergessen. Die Albträume, die ihn sonst – mit jedem Leben, das er ausgelöscht hatte, heftiger - heimsuchten, kamen dieses Mal nur ganz am Ende der Nacht, so dass er relativ erfrischt gerade richtig zum Frühstück aufwachte.
 

Beim Anziehen fand er Yoshidas Brief, legte ihn zusammengefaltet wie er war in eine Schublade und verbannte die Gedanken daran aus seinem Kopf. Erst, wenn Yoshida wieder hier wäre, konnte er sich die Zeit nehmen, über seine Gefühle und ihre Freundschaft nachzudenken. Heute aber wären Gefühle nur hinderlich und würden nichts weiter als eine störende Ablenkung bedeuten, denn nach dem Frühstück stand ein Gespräch mit Izuka auf dem Plan und sicherlich würden auch die ein oder anderen schwarzen Umschläge mit von der Partie sein, überlegte Kenshin grimmig.
 

Er schaute noch schnell in der Küche bei Okami-san vorbei, die ihn liebevoll-schmollend daran erinnerte, dass er ihr schon ein paar Tage lang nicht mehr bei der Arbeit geholfen hatte.

Kenshin zwang sich zu einem schiefen Lächeln und entschuldigte sich, dass ihm das wegen seiner Arbeit nicht möglich gewesen wäre.

Sofort verfinsterte sich das Gesicht der Wirtin und am liebsten hätte sie den Jungen einfach in den Arm gedrückt, vor allem als sie seine verloren ins Leere starrenden Augen sah. Andere mochten seine Art und seinen Blick für Verschlossenheit oder Kälte halten, doch Okami-san wusste, dass es die tiefe Trauer und der Wiederstreit zwischen Pflichtgefühl und Gewissen war, was dem Jungen so zusetzte und was ihn dazu veranlasste, seine Gefühle vor der Außenwelt zu verschließen.

Okami wusste, wie sensibel der Junge in seinem Inneren war und sie ahnte, dass die äußere Härte und Gefühlskälte nur Mauern waren, um seine Verletztheit vor Anderen abzuschirmen und ihn nicht schwach erscheinen zu lassen.

Stärke war es, nach was er am meisten verlangte, erkannte Okami plötzlich. Er wollte stark sein, so stark um die ganze blutige Last der Revolution alleine auf seinen Schultern tragen zu können. Wie kindisch und wie naiv...

Auch wenn Kenshins Gesicht im letzten Monat auf wundersame Art und Weise gealtert schien – er war immer noch ein Kind, alleine gelassen mit zu viel Verantwortung.
 

Jedoch, als sie sich ihm näherte und ihn umarmen wollte, stieß sie plötzlich zurück, als ob sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen wäre. Der Blick des Jungen, der in Gedanken schon bei seiner Arbeit war, war plötzlich unheimlich. Sie schaffte es nur, ihn aufmunternd den Arm zu tätscheln, doch diese kurze Berührung alleine schien ihm schon unangenehm zu sein und er verbeugte sich steif und verließ schnell die Küche.
 

Irgendetwas schein ihn noch unnahbarer als zuvor gemacht zu haben, überlegte Okami-san, während sie wütend und besorgt die letzten Reisbällchen fürs Frühstück zusammendrückte.
 


 

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Daisuke war beim Frühstück sehr zurückhalten und schweigsam. Kenshin ertappte ihn immer wieder dabei, wie er mit zusammengekniffenen Augen auf ihn starrte, den Kopf schüttelte oder die Fäuste ballte.

Doch irgendwie fühlte er, dass nicht nur er alleine Grund für die Aufgewühltheit Daisukes war. Deswegen fragte er nach.
 

„Nun ja...“ kam Daisukes zögerliche Antwort. „Ich bekomme heute einen neuen Auftrag...“. Doch die Möglichkeit, genauer darauf einzugehen, blieb Daisuke versagt, da schon die allmorgendliche Lagebesprechung anstand. Kenshin verließ den Raum und wartete geduldig vor Izukas Zimmer auf seine ganz eigene Lagebesprechung.
 

Mit dem gleichen schiefen Grinsen wie immer im Gesicht kam Izuka nach einer halben Stunde herbeigeeilt und bat Kenshin, kurz einzutreten. Im Zimmer überreichte er ihm dann zwei schwarze Umschläge. Sofort befiel Kenshin wieder eine innere Anspannung und in seinen Fingerspitzen kribbelte es, denn er wusste, dass die Menschen, deren Namen in diesen Umschlägen geschrieben standen, nur noch wenige Stunden von ihrem sicheren Ende trennte.
 

„Beide müssen heute Nacht unbedingt erledigt werden, auch wenn es dich dein Leben kostet!“ Izuka redete von dem Umschlägen, nicht von Menschen, bemerkte Kenshin.

„Du weißt, Katsura-sama kommt in ein paar Tagen zurück. Einige meiner Informanten haben mir gemeldet, dass wohl irgendwo über die Reise-Route Informationen durchgesickert sind. Es kann also sein, dass ein direkter Anschlag auf Katsura-sama geplant wird!“
 

Kenshins Augen verschmälerten sich. „So ein Anschlag wird nicht stattfinden.“
 


 

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Der Geruch von Ton und feuchtem Moos durchströmte Kenshins Nase. Er streckte seine steifen Glieder und starrte in den dunkler werdenden Himmel.

Bereits am Nachmittag war er die Aufträge sorgfältig durchgegangen. Zuerst, am frühen Abend, war ein Auftrag in der Nähe einer der Schreine, die sich die Berghänge am Rande Kyotos emporzogen, dran. Nichts neues, dachte Kenshin sarkastisch.

Dann allerdings folgte der zweite Umschlag. Er würde die Zielperson dieses Mal zu Hause aufsuchen müssen...
 

Er hatte also ein paar Stunden damit verbracht, die beschriebenen Orte, an denen er zuschlagen sollte, auszukundschaften, genauso wie die Fluchtwege und Notverstecke in der Nähe. Dann hatte er sich schon vor Sonnenuntergang auf die Lauer gelegt und zwar auf dem Dach des Schreines. Da lag er jetzt auf den hubbeligen Tonziegeln, die Löcher in seinen Rücken drückten und sah den Tag in der Dämmerung versinken. Wie immer bescherte ihm diese Zeit des Wartens unangenehme Gedanken, doch es fiel ihm schon leichter wie noch vor ein paar Tagen, seinen Geist in einen Zustand der Leere zu versetzen. Er stählte seinen Willen, prüfte seine Schwerter und rief sich immer wieder ins Gedächtnis, dass er wie seine Klingen funktionieren musste – schnell, akkurat, bedingungslos – und dass die Menschen, die Opfer seines Schwertes wurden, für eine gerechte Sache starben.
 

Gerade, als die letzten Sonnenstrahlen hinter den Bergen versunken waren, spürte Kenshin, wie sich einige Männer näherten. Er versuchte, ihre Anzahl abzuschätzen und war erleichtert, dass es nur drei Personen zu sein schienen, darunter auch seine Zielperson, die er heute Nachmittag schon heimlich beobachtet hatte und deren Ki er kannte.
 

Doch irgendetwas war seltsam. Ihm war, als würde er kurz, für einen klitzekleinen Moment nur, noch zwei weiter Ki’s fühlen. Doch als er sich konzentrierte, konnte er wieder nur die drei Männer, die sich jetzt in schnellen Schritten dem Schrein näherten, spüren. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte er sich getäuscht.
 

Die Männer hatten den Schrein fast erreicht. Kenshin spannte sich an und sprang vom Dach, um ihnen den Weg zu versperren. Gleichzeitig ließ er seine Ken-Ki aufflammen, die den Männern ihren sicheren Tod versprach.

Erschrocken sprangen diese zurück, als plötzlich eine kleine, aber furchteinflössende Gestalt mit roten Haaren wie ein Geist vor ihnen aus dem Nichts auftauchte. Sofort sprangen die zwei Leibwächter vor und zogen ihre Schwerter.
 

Kenshin sah die Angst in ihren Augen und die Schweißperlen auf ihrer Stirn, doch er durfte kein anderes Mitleid wie einen schnellen Tod zeigen und zog mit unbewegter Miene langsam sein Schwert.
 

„Asakura Yukonori,“ begann er gerade seinen todbringenden Monolog, als er es wieder spürte – zwei starke Energien, die unverhofft hinter ihm aufflackerten.

Die Männer vor ihm starrten ihn nur verängstigt abwartend an, doch er bemerkte, wie der Blick des Hinteren, Asakura, immer wieder zum Tempeleingang hinter ihm glitt.
 

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Es war, als ob sie auf etwas warten würden – als ob sie ihn erwartet hätten!
 

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„Hatomo, Umino! Wo steckt ihr Faulpelze?“ Izukas wütende Stimme halte im Innenhof der Herberge wieder.
 

„Izuka-san!“ Mahnend reckte Okami ihren Kopf aus dem Küchenfenster. „Mach bitte nicht solch ein Geschrei, oder willst du die ganze Nachbarschaft auf uns aufmerksam machen?“
 

„Diese alte Schachtel, hört doch immer jedes Wort...“ murmelte Izuka in seinen Bart, bevor er Okami ein extra schiefes Grinsen schenkte. „Verzeiht, ehrenwerte Okami-san.“ Er schenkte er eine spöttische Verbeugung, bevor er davon rauschte. Okami sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Sie hatte diesen Mann noch nie gemocht, auch wenn er ein Vertrauter Katsuras war. Irgendwie erschien ihr sein schiefes Grinsen eine Spur zu schief.

„Hoffentlich gibt Kenshin-san sich nicht zu viel mit diesem Typ ab,“ überlegte sie, als sie sich wieder dem Geschirrspülen in der Küche zuwandte.
 

Izuka war inzwischen in die Stadt gehetzt. In der ersten Kneipe fand er auch schon seine beiden Gehilfen bei einer Runde Sake sitzen.

„Hier steckt ihr?! Ich suche mich hier dumm und dämlich!“
 

„Was ist denn los, Izuka-san?“ maulte Hatomo, der sich gerade ein neues Schälchen eingeschenkt hatte. „Wir wollten uns doch erst in einer Stunde treffen.“

„Planänderung!“ Izuka schnappte ihm das Schälchen aus der Hand und trank es in einem Schluck leer. „Wir müssen gleich los,“ erklärte er den verdutzen Männern während er seinen Schnurrbart abwischte, „ich habe Nachricht erhalten, dass Asakura Wind bekommen haben könnte, dass wir heute Nacht einen Killer auf ihn angesetzt haben.“

Umino machte große Augen. „Woher?“

„Was weiß ich? Wir können nur hoffen, dass der Junge gut genug ist, um den Hinterhalt rechtzeitig zu bemerken. Rechtzeitig schaffen wir es jetzt sowieso nicht mehr zu dem Schrein.“

„Also los!“ Hatomo gab das Stichwort und alle drei standen auf und verließen in Windeseile die Kneipe ohne zu bezahlen.

„Moment,“ meinte Izuka beim gehen, „einer fehlt noch. Hätte fast vergessen, dass wir heute Abend ja zu viert sind!“
 

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Der vierte Mann, den Izuka jetzt suchte, beeilte sich gerade, so schnell wie möglich zurück zur Herberge zu kommen. Wenige Stunden vorher, kurz nachdem er seinen neuen Auftrag bekommen hatte, war er in die Stadt geeilt und hatte sich erst einmal eine große Schale Sake genehmigt.
 

Zitternd hatte er sie in einem Zug gelehrt. Was er da gerade erfahren hatte, hatte seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er hatte mit einem Mörder gefrühstückt, mit einem Mörder Sake getrunken und ihm auch noch neugierige Fragen gestellt! Wie unwissend er dabei mit seinem Leben gespielt hatte! Jeden Moment hätte er mit Blick in kalte, blaue Augen sterben können! Und er hatte sie die ganze Zeit getäuscht, sie alle. Am meisten natürlich den naiven Yoshida, der keine Ahnung hatte, dass er sich das Zimmer mit einem kaltblütigen Killer teilte. Ein Killer, dessen Gesicht immer so regungslos war und dessen Blick als höchstes Maß der Gefühle nur kalte Wut ausstahlen konnte.
 

Was, wenn dieser Verrückte ihn eines Tages einfach so aus Mangel an Beschäftigung tötete? Ihm schien das Auslöschen eines Lebens nicht viel auszumachen, nach seiner ruhigen und kalten Art zu urteilen. Und solche Menschen sollten anstelle des Shogunats an die Macht kommen?
 

Nein, er hatte etwas unternehmen müssen, vergewisserte er sich jetzt wieder aufs neue. Und er würde nicht nur sein Leben schützen, sondern auch das von Asakura, der jetzt gewarnt war. Und das von seinem Partner, der unter Lebensgefahren die Informationen über Katsura Kogoros Reiseroute nach Kyoto geschmuggelt hatte.

Und wenn dieser Plan jetzt versagte, dann würden sie einen Neuen schmieden.
 


 

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Blitzschnell warf Kenshin sich zur Seite, als ein Wurfmesser von hinten aus dem Tempel geflogen kam, nun knapp mit einem Zischen an seinem Ohr vorbeiflog und den linken Leibwächter genau ins Auge traf. Mit einem Aufschrei brach der Mann zusammen, während sich seine Kameraden fluchend ebenfalls wie Kenshin auf den Boden warfen.
 

Wurfmesser, überlegte Kenshin blitzartig. Versteckte Ken-Ki und Wurfmesser. Das konnten nur Ninja sein! Also ein Hinterhalt. Kenshin rollte sich ab und überbrückte mit einem doppelten Salto die freie Strecke zwischen sich und einem Baum, hinter dem er vor dem wahren Regen an Wurfmessern, die jetzt auf ihn einprasselten, in Deckung gehen konnte. Noch nie zuvor hatte er gegen Ninja und ihre hinterhältigen Techniken gekämpft, doch sein Meister hatte ihm viel über sie erzählt. Fieberhaft überdachte er seine Lage. Anscheinend hatte Asakura diese Ninja zu seinem Schutz angeheuert, da er einen Anschlag erwartet hatte. Und da er diesen Anschlag von dem in den letzten Tagen bekannt gewordenen Hitokiri der Choshuu Ishin Shishi erwartet hatte, hatte er wohl sehr gute Ninja angeheuert. Wie viele waren es? Zwei oder mehr?
 

Aus dem Augenwinkel sah Kenshin, wie die zwei Männer am Boden langsam in Richtung Waldrand krochen. Der dritte lag regungslos da, den Kopf in einer Blutlache und das Messer noch im Gesicht steckend. Einer weniger, schoss es Kenshin durch den Kopf. Aber die anderen - sie durften auf keinen Fall entkommen!
 

„Also in die Offensive...“ knurrte Kenshin und stürmte hinter dem Baumstamm hervor. Mit unglaublicher Geschwindigkeit preschte er auf der freien Fläche vor dem Tempelgebäude vorbei, so dass ihn die Wurfgeschosse nicht treffen konnten. Vor sich sah er jetzt die zwei Männer, die sich aufgerappelt hatten und mit panischem Blick über die Schulter losgerannt waren. Mühelos holte den noch übrigen Leibwächter ein und holte schon zum Battoujutsu-Schlag aus, als plötzlich ein zweiter, schwarz gekleideter und vermummter Ninja vor ihn sprang und den Schlag mit zwei sichelförmigen Messern abfing.

Kenshin fluchte und nutzte den Schwung seines Schlages, um sich in einem Salto über den Mann hinweg zu katapultieren. Mit der Rückhand ließ er sein Schwert nach hinten schnellen, doch der Ninja war schneller und sprang rechtzeitig zur Seite auf einen Baum.
 

Kenshin fluchte erneut. Was sollte er tun? Er konnte den Ninja nicht auf Teufel komm raus verfolgen, denn das Opfer, dessen Name in dem schwarzen Umschlag stand, hatte Priorität. Doch die Kampfeslust hatte ihn gepackt. So herausfordernde Gegner wie Ninjas hatte er noch nie gehabt. Ein Kampf mit ihnen konnte ihn nur stärker werden lassen. Und warum nicht sein Leben riskieren? Er war ein Mörder, sein Leben war die Arbeit wert, die er leistete. Und wenn er seine Gegner nicht töten konnte, worin bestand dann noch der Sinn seiner Existenz?
 

Die Männer würden mindestens fünf Minuten brauchen, bis sie den Stadtrand und das nächste Haus erreichen. Und so wie es jetzt aussah, hatten sie vor, sich im Wald zu verstecken. Genug Zeit also, sich zuerst dem Ninja zuzuwenden. Außerdem würde dieser ihn wohl kaum untätig wieder gehen lassen. Also sprang Kenshin hinterher und verfolgte ihn durch die Baumkronen.
 

Nach kurzer Verfolgungsjagd, bei der Kenshin die Äste ins Gesicht peitschten, stellte sich sein Gegner endlich und es folgte ein Schlagabtausch, doch in dem dichten Baumgestrüpp hieb Kenshin mit seinem langen Katana mehr Äste ab, als seinen Gegner zu treffen, der mit seinen kurzen Sicheldolchen klar im Vorteil war.

Plötzlich sprang Kenshin unvermutet von hinten die Ki des ersten Ninja entgegen und eher er ausweichen konnte, hatte eines der Wurfmesser seinen linken Oberschenkel gestreift.
 

Kenshin spürte zwar nur ein leichtes Brennen, ließ sich aber vom Baum fallen, als ob er ernstlich getroffen sei und sah im Augenwinkel, wie die Ninja ihm hinterher sprangen. Derjenige mit den Wurfmessern warf ihm von der Baumkrone aus eine Ladung entgegen, doch Kenshin zog noch im Fallen sein Schwert so schnell, dass durch den Luftdruck die Messer in ihrem Flug aufgehalten wurden. Blitzschnell packte er eines der ihrem Schwung beraubten, zu Boden fallenden Messern und warf es mit voller Kraft zu dem verdutzten Ninja zurück, den es genau in der Stirn traf.
 

Mit einem Überschlag landete Kenshin sicher auf seinen Füßen und sprintete sofort in die Richtung der zwei Männer, die schon tiefer in den Wald vorgedrungen waren. Er spürte deutlich, wie ihm die jetzt vor Wut und Rachegelüsten aufflammende Ki des zweiten Ninjas folgte.
 

Kenshin ließ sich zurückfallen und sah aus dem Augenwinkel, wie der Ninja ausholte und sein sichelförmiges Messer nach seinem Rücken warf.

Blitzschnell drehte sich Kenshin um und fing das Messer am Griff auf. Von der plötzlichen Reaktion seines Kontrahenten überrascht, hatte der Ninja kaum Zeit, zu bremsen, bevor er auch schon in die Reichweite von Kenshin’s Arm lief und seine Kehle von seinem eigenem Sicheldolch durchschnitten wurde.
 

„Hat dir niemand beigebracht,“ bemerkte Kenshin kalt zu dem dumpf auf den Boden fallendem Körper, „dass es sich nicht gehört, jemandem ein Messer in den Rücken zu werfen?“
 

Er wandte sich von dem Ninja und der immer größer werdenden Blutlache um ihn ab und sprintete den zwei noch verbliebenen Männern hinterher. Er schärfte seine Sinne und spürte ihre Angst – ihren kalten Schweiß, ihr panisches Rennen, die hastigen Blicke, die sie nach ihm über ihre Schultern warfen. Die Jagd begann. Die Männer hatten nicht die geringste Chance, ihm zu entkommen.
 

Binnen weniger als einer Minute konnte er trotz der Dunkelheit zwischen den Bäumen die zwei Gestalten vor ihm erkennen. Ihren plötzlichen Angstschreien nach zu urteilen, hatten sie ihn wohl auch entdeckt.
 

Kenshin lächelte ohne Freude, als er das des Sichelmessers, das er immer noch in der Hand hielt, abwog. Zum Glück, meinte die inzwischen schon vertraute, gefühllose Stimme in seinem Kopf, interessierte es weder Ninja noch Hitokiri, was sich gehört.
 

Das Sichelmesser traf den hinteren Mann – den noch übrigen Leibwächter – während dem Rennen in den Rücken und er fiel mit einem erstickten Schrei zu Boden. Sofort rappelte er sich mit schmerzverzerrtem Blick wieder auf, denn er war zwar schwer, aber nicht tödlich verwundet und versuchte weiterhin, seinem unausweichlichem Schicksal zu entfliehen. Doch ein gehetzter Blick über die Schulter ließ ihn vor Entsetzten aufkeuchen, denn der Hitokiri war bereits wenige Meter hinter ihm und das erbarmungslose Glitzern seiner Augen löschte jede Hoffnung auf ein Entkommen aus. Vor Angst gelähmt starrte er auf denn Mann – nein, erkannte er entsetzt, den Jungen – der nun sein Leben beenden würde.

„Bitte...“ keuchte der Leibwächter, „Ich...“

„Ich hege keinen Groll gegen dich,“ schnitt ihm der Hitokiri das Wort ab. Seine Stimme war die weiche Stimme eines Jungen, aber sie war kalt wie Eis und ohne jeden Ausdruck fuhr sie fort, „aber für ein neues Zeitalter muss ich jetzt dein Leben fordern.“
 

Das letzte, was der Leibwächter sah, bevor sich kaltes Eisen durch sein warmes Herz bohrte, waren die Augen dieses Jungen, die so seltsam bernsteinfarben glitzerten und die Haare, die im nun hinter den Wolken hervorbrechendem Mondlicht rötlich aufflammten und während es um ihn dunkel wurde, kam es ihm in den Sinn, dass die ganzen Geschichten, die sein Vater ihm damals über Kyoto und die vielen Rachedämonen, die diese Stadt wegen ihrer langen, blutigen Vergangenheit heimsuchten, erzählt hatte wohl doch wahr gewesen waren...
 

Stumm murmelte Kenshin ein Gebet an die Götter, dass sie ihm den Frevel, den er heute Nacht hier in der Nähe eines heiligen Ortes anrichtete, verzeihen mögen und nahm dann die Fährte des Mannes auf, ohne dessen Tod das bisherige Blutvergießen sinnlos gewesen wäre.
 

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„Ein Dämon?“
 

Yoshida schaute fragend in die vom Lagerfeuer erleuchteten Gesichter seiner Kampfgefährten. Sie alle saßen dicht gedrängt um die Flammen, eingemummelt in ihre Haori, denn hier in den Bergen, eine halbe Tagesreise von Kyoto entfernt, war die Luft bereits eisig.
 

„Naja, so erzählt man es sich jedenfalls,“ antwortete einer der Männer in der Runde achselzuckend.
 

„Was für abergläubisches Geschwätz. Damit kannst du vielleicht deine Oma erschrecken,“ lachte ein weiterer Soldat und Yoshida stimmte mit in das Gelächter ein.
 

„Spotte nur,“ sagte der erste Mann beleidigt. „Aber ich finde das gar nicht so abwegig. Kyoto ist seit über tausend Jahren die Residenzstadt des Kaisers und war vor dem Shogunat auch Hauptstadt. Ihr könnt erahnen, wie viel Blut bereits durch seine Gassen geflossen sind.“
 

„Und fließen wird!“ ergänzte ein weiterer Mann. „Damit endlich wieder Frieden herrscht!“
 

„Jaja,“ winkte der erste Mann ab, der mit seiner Geschichte noch nicht fertig war.

„Jedenfalls gibt es genug Legenden, die behaupten, dass dieses viele Blut böse Dämonen angezogen hat. Ab und zu tauchen sie wie aus dem Nichts in den Strassen auf und stillen ihren Blut und Rachedurst....“ Die Augen des Mannes glitzernden unheimlich im roten Feuerschein.
 

Yoshida hielt den Atem an. „...Wie dieser Attentäter, der das Tenchuu überbringt – die göttliche Gerechtigkeit. Die Rache an den Ungerechten.“

Die Männer nickten alle und warfen Blicke über ihre Schultern zu dem Zelt Katsura Kogoros. Mit gedämpfter Stimme sprachen sie weiter.
 

„Auch wenn er zu uns gehört – zu den Ishin Shishi – habe ich trotzdem Angst, ihm zu begegnen. Man erzählt sich, auch er sei wie ein Dämon.“
 

„Ich habe gehört,“ warf ein weiterer Soldat ein, „dass er leuchtende Augen haben soll und leuchtende Haare.“
 

„Und ich habe gehört, dass er bevorzugt kleine Kinder frisst! Was seid ihr doch für ein ängstlicher Haufen!“ rief wieder der zweite Soldat, senkte dann aber schnell wieder die Stimme. „Ein Hitokiri ist er, nichts weiter. Er erledigt die Drecksarbeit für unsere hohen Herren. Und zwar wichtige Aufträge. Ohne seinen Job würde sich die Revolution nur noch weiter herauszögern!“
 

„Ja,“ sagte ein Anderer, „mit ihm kann die eigentliche Revolution bestimmt schon bald beginnen. Schaut doch, wie viele sich den Ishin Shishi schon angeschlossen haben. Der Terror auf den Strassen schwächt das Bakufu Tag für Tag.“
 

Yoshida nickte. Auch die Arbeit eines Mörders schien für ein neues Zeitalter wichtig zu sein. Er hoffte nur, dass er diesem gruseligen Hitokiri nie begegnen musste.
 

Neben ihm saß sein Freund Buntaro und starrte in die züngelnden Flammen.

„Ein Spiel mit dem Feuer,“ überlegte er im Stillen. „Und jeder spielt mit. Katsura und die Ishin Shishi genauso wie das Bakufu. Und ich.“
 

Gestern nur war er knapp den Flammen entkommen – seine kurze Abwesenheit im Lager war aufgefallen und nur mit Mühe hatte er seinen Vorgesetzten mit irgendwelchen Ausreden zufrieden stellen können. Doch die Informationen, die er in dieser kurzen Zeit hatte weitergeben können, waren sein Leben wert. Jetzt konnte er nichts mehr tun. Katagai behielt ihn von nun an im Auge.
 

Ein Ast knackte, während die heißen Flammen ihn verschlungen und Funken sprühten in den bereits dunklen Nachthimmel.
 

Entscheidend ist, sinnierte Buntaro, wer sich als erstes an den Flammen verbrennt.
 

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Eiskalt hatte er gerade einen wehrlosen Mann getötet.
 

Irgendetwas in ihm hoffte, dass Asakura Yukonori sich ihm stellen und nicht wie sein Leibwächter in letzter Kraft wie ein Wurm vor ihm wegkriechen würde. So ein Tod war demütigend und ohne Würde. Kenshin hätte gerade eben fast gezögert, den Leibwächter zu töten, wenn ihn nicht seine innere Stimme dazu angetrieben hätte, die Sache endlich zu beenden, bevor Asakura die Stadt erreicht hatte.
 

Noch einmal würde er nicht jemandem das Messer in den Rücken werfen, wenn er nicht dazu gezwungen war. Das Gefühl war alles andere als gut gewesen...

Einem Schatten gleich rannte er mit der Geschwindigkeit des Hiten Mitsurugi in einem Bogen um den vor ihm flüchtenden Mann herum, um ihn schließlich von vorne zu stellen.
 

Asakura Yukonori fiel fast nach hinten um, als die zierliche Gestalt plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm stand.

„Kami-sama, verfluchter Hitokiri...“ knirschte er mit den Zähnen. „Bist du ein Mensch?“

Stumm schritt Kenshin auf ihn zu und ging mit der Hand am Schwertgriff in Angriffsstellung.

„Was..“ lachte sein Gegenüber plötzlich bitter los, „... erst wirfst du meinem letzten Beschützer ein Messer in den Rücken und jetzt forderst du mich nach allen Regeln der Schwertkunst zu einem Duell heraus? Findest du das nicht etwas heuchlerisch?“
 

Kenshin zögerte. Der Mann gegenüber hatte seine Waffe noch nicht angerührt.
 

„Ob ich mein Schwert ziehe, oder nicht,“ fuhr Asakura fort, „du tötest mich sowieso, es macht keinen Unterschied.“
 

Oh doch, dachte Kenshin. Der Unterschied bestand in dem Gefühl, einen Menschen im Kampf oder einen Menschen aus dem Hinterhalt zu töten.

„Wenn du deine Waffe ziehst, kannst du als Kämpfer und nicht als Feigling sterben,“ antwortete er schließlich leise.
 

Der Mann lachte wie ein Wahnsinniger weiter. „Macht das einen Unterschied beim Töten? Ob sich dein Opfer wehrt oder nicht? Wahrscheinlich willst du, dass sich dein Opfer noch so lange wie möglich wehren kann. Dass es bis zum letzten Atemzug kämpft. Tolles Gefühl, jemanden ganz langsam umzubringen und ihm dabei noch die Hoffnung zu geben, er hätte eine Chance zu überleben. Ihr Hitokiri seid doch alle gleich!“
 

Trotz aller Selbstkontrolle weiteten sich Kenshins Augen vor Entsetzten.

Was dachte der Mann von ihm? Er war doch kein Sadist. Ihm machte das Töten doch keinen Spaß. Es musste eben getan werden, für das verdammt noch mal neue friedliche Zeitalter, dass verdammt noch mal so schnell wie möglich kommen sollte, bevor ihn sein Verstand in all dem Wahnsinn hier verließ.
 

„Asakura Yokonori,“ begann er seinen todbringenden Text erneut, dieses Mal jedoch mit brüchiger Stimme, „ich komme, um deinen Tod für ein friedliches Zeitalter zu fordern.“

„Ein friedliches Zeitalter?“ höhnte der Adressierte, „Was weißt du schon davon? Du bist eine Kreatur, die sich von Dunkelheit und Blut ernährt, eine Kreatur des Krieges, ein Dämon. Töten ist deine Existenz. Was willst du mir über ein friedliches Zeitalter beibringen? In einem friedlichen Zeitalter würdest du nicht existieren, ist dir das klar?“
 

Kenshin nickte innerlich. Ja, das war ihm klar. Doch es war ihm egal. Auf seine Existenz kam es schon lange nicht mehr an. Sie war an jenem Tag, an dem drei Mädchen ihr Leben zu seinem Schutz hingegeben hatten, unwichtig geworden. An jenem Tag hatte er geschworen, auf sein Leben keine Rücksicht mehr zu nehmen, sondern alles in seiner Macht stehende dafür zu tun, anderen Menschen ein Leben ohne Leid und Unterdrückung zu ermöglichen. Und ob er bei dem Versuch sterben würde, war vollkommen egal. Für jemanden wie ihn, der sich bereits die Hände mit dem Blut von über 20 Menschen beschmutzt hatte, war in diesem Zeitalter sowieso kein Platz.

Er würde seinen Weg über die Leichen seiner Feinde fortsetzten müssen, bis das neue Zeitalter erreicht wäre. Es war egal, wie viele Menschen er tötete – am Ende würden weitaus mehr Menschen davon profitieren.
 

Schließlich antwortete er, diesmal mit festerer Stimme: „Du hast einen hinterhältigen Anschlag auf Katsura Kogoro geplant. Für dich wäre ich einer friedlichen Welt auch kein Platz.“

„Katsura!“ spuckte Asakura aus. „Wie kann ich zulassen, dass dieser verrückter Fanatiker, dieser Sohn einer drittklassigen Hure, eine dreihundert Jahre dauernde Herrschaft voller Frieden stürzt?!“
 

Zeit, das Gespräch zu beenden. Ob der Mann nun seine Waffe ziehen wollte oder nicht. Kenshin konnte seine Reden nicht mehr ertragen.

Mit einem Streich brachte Asakuras Kopf zum fliegen und ihn damit zum Schweigen.

Dann fiel ihm sein Schwert aus den zitternden Händen und er sank gegen den nächsten Baumstamm. Ein paar Minuten saß er einfach da und hielt sein Gesicht in seinen Händen.

Sein Atem ging schnell und er fühlte sich, als ob er nicht der Jäger, sondern der Gejagte gewesen wäre.
 

Mit einer Ohrfeige brachte er sich wieder zu Verstand. „Der gleiche Fehler!“ herrschte er sich selbst wütend an. „Der gleiche Fehler wie bei Yabu Sekura! Was bilde ich mir eigentlich ein? Der Mann hatte recht – was machte es für einen Unterschied?“

Er musste seine Opfer töten, so oder so. Warum die Sache also noch so lange hinauszögern und sich Reden anhören müssen, die seine Konzentration verwirrten. Die ihn aufwühlten und verunsichern. Jeder Skrupel und jede Barmherzigkeit verzögerten nur den Anbruch des neuen Zeitalters.
 

Wenn er so weitermachte, würde er nicht lange überleben.

Vielleicht wäre er irgendwann einfach so erschüttert, dass sein Gegner ihn töten konnte. Oder vielleicht wäre er zu unfähig, seinen Gegner zu töten und dann wäre sein Leben verwirkt und er müsste es selbst beenden. Oder Katsura-sama würde das für ihn übernehmen, denn wer will sich im Gelingen einer Revolution schon auf einen Hitokiri verlassen, der lieber mit seinem Opfern halbe Kaffeekränzchen hält, als sie zum Schweigen zu bringen?!
 

Doch der Tod seines Körpers war die eine Sache. Was ihn hier bedrohte, war noch eine ganz andere Art von Tod – der Tod seiner Seele, seines Empfindens, seines gesunden Verstandes.

Was hatte Izuka nach seinem ersten Auftrag zu ihm gesagt? Manche Hitokiri verlieren einfach irgendwann den Verstand. Das viele Blut und so...

Doch es war nicht das Blut, was ihn in den Wahnsinn treiben würde, es waren die ständigen Zweifel an seinem Tun. Der Konflikt zwischen der einen Seite in ihm, die ihre Pflicht um jeden Preis erfüllen wollte, und die andere Seite, die immerzu wisperte: „Es kann nicht richtig sein, es muss noch einen anderen Weg geben.“
 

Kenshin kniff die Augen zusammen. Er war kein Mörder. Er war kein Sadist.

„Doch...“ erinnerte ihn wieder die Stimme in seinem Kopf. „Du bist ein Mörder, wenn vielleicht auch kein Sadist. Du MUSST ein Mörder sein. Es ist deine bedingungslose Pflicht. An dem Tag, an dem du dich dazu entschieden hast, Katsura-samas Waffe zu werden, hast du einem unschuldigen Leben den Rücken gekehrt.“
 

Kenshin nickte stumm als die Wahrheit dieser Worte endlich in sein Herz sanken.

Wenn er in dieser Revolution von Nutzen sein wollen würde, musste er die Rolle ausfüllen, die Katsura für ihn vorgesehen hatte. Nur so konnte er helfen. Er musste stark sein, stärker als alle anderen.
 

Er musste den Weg für das neue Zeitalter ebnen und dafür über Leichen gehen. So dass in Zukunft die Menschen in Unschuld leben konnten!
 

Doch um dieses Ziel zu erreichen, gab es nur einen Weg: Er musste sich endlich der Stimme in seinem Kopf hingeben.
 

Er musste seinen eigenen Willen, seine Gefühle, Zweifel, Ängste, was auch immer tief in sich begraben. Wenn er seine Aufträge vernünftig ausführen wollte, dann musste er zur Personifikation des Tenchuu werden. Zu einem Schwert, dass alles Böse, was dem neuen Zeitalter im Weg steht, sofort vernichtet!

Er musste das Talent zum Töten, das er laut Izuka besaß, perfektionieren.
 

Stark sein. Stärker werden.

Der Stärkste aller Hitokiri.
 


 

Kenshin Himura stand auf. Eine seltsame Ruhe hatte ihn erfasst, als er langsam sein Schwert an der Kleidung des Toten abwischte.

Der blanke Stahl glitzerte jetzt wieder kalt wie Eis im Mondlicht – genau wie seine Augen.
 


 

--
 


 

Nächstes Kapitel:
 

Kenshins nächster Auftrag scheint fast unmöglich. Unbemerkt soll er in eine schwerbewachte Villa eindringen und einen Mann töten. Doch Kenshin riskiert alles, denn sonst könnte ein Attentat auf seinen Auftraggeber Katsura Kogoro geplant werden.
 

Zu der Geschichte mit den Dämonen bzw. Rachegeistern in Kyoto: Diese Gruselgeschichten werden sich im Volksmund wirklich erzählt. Die sehr alte Stadt hat wirklich viel mitgemacht und stand oft im Zentrum blutiger Auseinandersetzungen. Ein paar geschichtliche Fakten für Interessierte:

794 entsteht Kyoto als neue Hauptstadt und bleibt bis 1869 kaiserliche Residenzstadt. Als langjährige Hauptstadt kam es dort zu vielen blutigen Unruhen und Machtkämpfen der verschiedenen Fürsten, vor allem vor und zur Zeit der streitenden Lehensreiche (Sengoku). Kyoto blieb Hauptstadt, bis der erste Shogun Tokugawa Ieyasu um 1605 den Hauptsitz nach Edo, heute Tokyo, verlegte.
 

(Ken-)Ki: Die „Aura“ eines Schwertkämpfers
 

Bakufu: Shogunatsregierung
 

Choshuu Ishin Shishi: Patrioten/ Kaisertreue aus Choshuu
 

Tenchuu: haha, das Wort, das eigentlich die ganze Fanfiction kennzeichnet: Einerseits kann es mit „göttlicher Gerechtigkeit“ übersetzt werden. Es wird aber auch mit „Rache des Himmels“ übersetzt. Rache und Gerechtigkeit liegen wohl nicht so weit entfernt... Vor allem nicht in der weiteren Handlung meiner Geschichte ;)... doch mehr wird nicht verraten...Bis zum nächsten Kapitel. Kenshin bekommt neue Aufträge. Doch ihm droht Verrat – und zwar aus den eigenen Reihen...

Kapitel 10 - Zerbrochen

Der Hinterhalt ist gescheitert, Kenshins ist bereits auf dem Weg zu seinem nächsten Auftrag. Dieser jedoch erweist sich als äußerst schwierig, doch Kenshin ist bereit, sein Leben für Katsura zu riskieren. Hinter seinem Rücken jedoch werden bereits neue Pläne gegen ihn geschmiedet...
 


 

Kapitel 10 – Zerbrochen
 


 

Kerzenschein tauchte das dezent aber teuer eingerichtete Wohnzimmer und die zwei teetrinkenden, am Boden auf Kissen sitzenden Personen in einen warmen Halbschatten. Die Stille, die sich über den Raum gelegt hatte, wurde nur durch das Ticken einer Uhr und ab und zu durch das Räuspern eines Mannes unterbrochen.
 

„Was ist denn los?“ Besorgt wanderte der Blick Narus von dem zitternden Teebecher in der Hand ihres Mannes zu seiner verschwitzten Stirn.

„Nichts, nichts, meine Liebe.“ Sasuke Yamaka stellte den überschwappenden Teebecher geräuschvoll zurück auf sein Tablett und wischte mit einem Tuch zuerst die Schweißperlen auf seiner Stirn und anschließend den vergossenen Tee weg.
 

Traurig schaute Naru in ihren Teebecher, den sie im Gegensatz zu ihrem Mann schon leergetrunken hatte. „Ich bin deine Ehefrau!“ meinte sie schließlich trotzig. „Wenn du mir nicht erzählst, was dich bedrückt, wem dann? Deiner Geliebten?“

Sasuke seufzte.

„Politik, meine Liebe, und Intrigen. Macht und Korruption. Das alles bedrückt mich. Du weißt, dass ich mit dir nicht über meine Arbeit sprechen will.“

„Sasuke...“ Naru warf sich in seine Arme und er tätschelte ihr etwas unbeholfen die Schulter. „Mach dir keine Sorgen, Liebes. Du weißt doch, ich kann auf mich aufpassen.“
 

Naru seufzte und ließ ihren Mann los. Wie immer mochte er es nicht besonders, umsorgt zu werden. Sie stand auf. „Auch wenn du mir nichts erzählt, ich habe die vielen Männer in unserem Garten bemerkt. Ich bin schließlich nicht blind. Es stehen mindestens doppelt so viele Wachen um unser Haus wie sonst.“

Sasuke erhob sich nun ebenfalls. „Ich bin eben nur vorsichtig. Du brauchst dich wirklich nicht zu sorgen. Bring jetzt lieber die Kinder zu Bett.“

Naru ging und tat, was er ihr gesagt hatte, nicht ohne noch zu flüstern: „Ich habe einfach so ein ungutes Gefühl...“.
 

Sasuke erhob sich und ging auf einen Rundgang durch das doch recht weitläufige Gelände seines großen Anwesens. Sanft zog sich der Hang vor seiner Haustür den Berg hinab in Richtung Stadtzentrum. Wie viel es ihn gekostet hatte, diesen Lebensstandart zu erreichen. Wie viel er dem Shogunat geopfert hatte. Er krallte seine Hand um den Türpfosten. Niemals würde er es zulassen, dass so ein paar abgehalfterte Rebellen diese Regierung stürzten und ihm all das nahmen.

Zugegeben, es war riskant gewesen, sich an der Verschwörung gegen Kogoro zu beteiligen. Aber die Quelle, die ihn über Katsura Kogoros Reiseroute informiert hatte, war sicher. Und so eine Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen. Außerdem, wenn er dem Shogunat den Kopf des Führers der Choshuu Ishin Shishi brachte... nicht auszudenken, was für eine Belohnung er erhalten würde!
 

Sasuke Yamaka beendete seinen Rundgang. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er die vielen Wachen, die sich rund um seine Stadtvilla scharten und das Gelände absicherten. Einerseits wollte er sich geschützt fühlen. Aber andererseits kosteten ihn diese ganzen zusätzlichen Samurai auch ein Vermögen.
 

Befriedigt, dass alle Wachmänner auf der Hut und alle Eingänge abgesichert waren, ging er schließlich in sein Arbeitszimmer, um sich auf Morgen vorzubereiten. Gleich bei Sonnenaufgang würde er sich mit Asakura Yukonori treffen um die letzten Details für ihren Anschlag zu planen und sich auf den Weg zu machen. Sie waren sich einig, dass sie so schnell wie möglich zuschlagen mussten. Sasuke betete inständig, dass es noch nicht nach außen gedrungen war, dass sie ein Attentat planten. Immerhin hatte ihm Asakura versichert, seine Informationen stammen aus erster Hand und aus einer sicheren Quelle. Angeblich sogar von jemandem, der mit Katsura persönlich unterwegs war. Hoffentlich waren diese Informationen keine Falle zur Prüfung seiner Loyalität.
 

Er lächelte. „Selbst wenn,“ dachte er, „ein Hitokiri wird nicht bis zur Villa durchkommen können, bei den vielen Wachen...“

Gähnend streckte er sich, als seine Frau Naru im Schlafkimono das Arbeitszimmer betrat, um ihm eine gute Nacht zu wünschen.

„Bleib nicht mehr so lange wach, ja? Du arbeitest zu hart!“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie den Raum verließ.

„Ja, ja. Ich komme bald nach.“ Sasuke gähnte erneut. Er hatte kein Verlangen, seiner Frau schnell ins Bett zu folgen. Ihr Körper war von einer schönen Knospe zu einer vertrockneten Blume geworden und längst befriedigte er seine sexuellen Sehnsüchte mit anderen Geliebten. Außerdem störte ihn ihre fürsorgliche und neugierige Art.
 


 

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Inzwischen war Kenshin Himura trotz einiger weniger Blutspritzer auf seiner Kleidung so unauffällig wie ein Schatten durch das Stadtzentrum geeilt. Er war auf dem Weg zu dem Mann, dessen Namen in dem zweiten schwarzen Umschlag stand und der ihn quer durch die Stadt genau ans andere Ende führte. Er mischte sich unter die drängelnden Menschen und schon bald hatte er die wimmelnden Strassen hinter sich gelassen und war in den nobleren Vierteln am bergigen Stadtrand angekommen. Sofort verwandelte er sich von einem unbedarften Passanten in einen gesichtslosen Schatten und glitt auf eines der Dächer am Rande von Sasuke Yamakas Villa. Im schwummrigen Licht sah er, dass wohl die Anzahl der Wachen beträchtlich aufgestockt worden war.
 

Hatte Kenshin heute Nachmittag bei seiner Auskundschaftung noch insgesamt knappe zwanzig Wachen gezählt, so schien es jetzt fast das doppelte zu sein. Unauffällig umrundete er das große Anwesen, umliegende Bäume und Hausdächer boten ihm den nötigen Sichtschutz. Doch sehr zu seinem Missfallen entdeckte er keinen Punkt, von dem aus er unbeobachtet zu dem Haus hätte vordringen können. Er biss sich auf die Lippe, als er den schwachen Lichtschein bemerkte, der aus einem der Fenster im ersten Stock nach außen drang. Dort musste Sasukes Arbeitszimmer liegen, in dem er, wie in seinem Umschlag vorhergesagt, immer bis spät in die Nacht anzutreffen war. Dass Sasuke eine Frau und zwei Kinder hatte, hatte auch in dem Umschlag gestanden, doch Kenshin schüttelte diese Gedanken schnell von sich.
 

Nur einen kräftigen Steinwurf entfernt. Und doch unmöglich auf direktem Wege zu erreichen.
 

Eigentlich war es sein Plan gewesen, unbemerkt direkt zum Hauptgebäude der Anlage, der Wohnvilla von Sasuke, zu gelangen und sich in das Haus zu schleichen.
 

Plan B wäre, Sasuke zu einem Kampf in den Hof zu locken – kalt kalkulierend schätzte Kenshin die potentielle Opferzahl bei dieser Aktion auf annähernd alle Wachen, also 40 Leute und ihm wurde angesichts dieser Zahl doch etwas mulmig. Nicht, dass er es nicht schaffen würde, mit so vielen auf einmal fertig zu werden – er packte seinen Schwertgriff fester - doch die Wahrscheinlichkeit, verletzt zu werden oder jemanden entkommen zu lassen, der ihn erkannt hatte, war einfach zu groß.

Außerdem – vierzig Männer als Preis für einen einzelnen Namen in seinem Umschlag - das war sehr teuer erkauft!
 

Zurück zu Plan A. Leicht verzweifelt beäugte Kenshin die vielen Wachen. Wie sollte er da unbemerkt bis in die Villa kommen? Wenn ihn auch nur einer sehen würde, gäbe es sofort Alarm und die Hölle wäre los. Dann hätte er keine andere Wahl, als doch zu Plan B zu schreiten. Seine Hand schloss sich fest um den Griff seines Schwertes. Diese Alternative war so gut wie gar keine Alternative.
 

Vorsichtig schlich sich Kenshin näher an die Mauer, die das ganze Anwesen – Garten, Villa, Diensträume – umgab. Auch vor der Mauer, immer in Sichtweite voneinander, waren Soldaten aufgestellt.

„Kuso...“ fluchte er. Was er jetzt brauchte, war ein Ablenkungsmanöver, um irgendwie über die Mauer auf das Dach eines der Dienstgebäude springen zu können.

Misstrauisch beäugte er den Himmel, der jetzt von einem eierförmigen Mond beleuchtet wurde. Eine verräterische Helligkeit. War der Himmel gegen ihn?
 

Als ob der Himmel sich entschlössen hätte, es ihm anders zu beweisen, trieb plötzlich ein Wolkenfetzen vor den strahlenden Mond und es waren laute Stimmen zu hören, die sich aus einer Seitenstrasse der Villa näherten. Die Stimmen schwollen immer mehr an, bis sie schließlich in ein wildes Gekreische mündeten und die Wachen packten alarmiert ihre Schwertgriffe und fixierten die dunkle Strasse, aus der die Stimmen kamen.
 

Ohne zu zögern, nutzte Kenshin diese einmalige Chance und sprang wie der Blitz über die Mauer des Anwesens auf das Dach des Diensthauses. Regungslos blieb er flachgedrückt liegen und lauschte. Doch anscheinend hatte niemand seinen Sprung gesehen, da alle durch das Geschrei auf der Strasse abgelenkt gewesen waren.
 

Unter sich hörte Kenshin zwei Samurai in Richtung Tor laufen.
 

„Was ist da los?“ fragte einer von ihnen nach draußen.

„Nur ein paar Besoffene!“ kam es von dort. „Geht wieder zurück auf eure Posten!“

Mürrisch stapften die Samurai wieder zurück auf ihren Platz vor dem Dienstgebäude, auf dem Kenshin lag.

„Ich hätte jetzt auch gern etwas Sake!“ klagte der Eine.

„Ja, dieser Geizhals Yamaka, könnte echt mal ein bisschen Verpflegung springen lassen. Da steht man sich die ganze Nacht die Beine in den Bauch und zu trinken gibt es nicht mal Wasser.“
 

Während die beiden Samurai über ihren Auftraggeber zu lästern begannen, schwang sich Kenshin geräuschlos durch das Hinterfenster in das Gebäude für das Dienstpersonal.

Schweißperlen standen ihm nun auf der Stirn. Jetzt saß er in der Falle.

Die Situation sah wirklich nicht gut für ihn aus.
 

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Ungefähr zeitgleich rannten ganz am anderen Ende der Stadt vier Männer keuchend eine Bergstrasse hoch und erklommen die Treppen zu einem Schrein.
 

Doch anstelle eines frommen Gebetes begrüßte Izuka die heilige Stätte mit einem saftigen „Zur Hölle, verdammt noch mal!“

Er hielt sich die Seite, als er endlich oben angekommen war, dicht gefolgt von seinen schnaufenden Männern. „Ich hatte den Weg hierher irgendwie etwas kürzer in Erinnerung. Und weniger steil.“
 

Die Männer stoppten überrascht auf dem Tempelvorplatz. Sie hatten erwartet, hier im hellen Mondlicht irgendwo die Leichen der drei Männer, die Himura-san hatte erledigen sollen, vorzufinden. Doch statt dessen sahen sie nur einen einzigen Mann, der offensichtlich ein Wurfmesser im Gesicht stecken hatte, auf dem gepflasterten Boden liegen und einige weitere Messer in einem der heiligen Bäume nahebei stecken.
 

„Was sagt man dazu?“ Düster zog Izuka eines der Messer aus dem Baum und befühlte die Klinge.

„Ninja?“ mutmaßte Hatomo. Umino nickte zustimmend. „Ein Hinterhalt. Ob der Junge sie erledigt hat?“
 

„Erledigt hat?“ dachte die dritte Person panisch, die an diesem Abend Izuka zum ersten Mal begleitete und auf diese Chance viel riskiert hatte. „Es sollte eigentlich umgekehrt sein...“
 

Izuka war unterdessen schon ein Stück in Richtung Wald gelaufen. „Die Spuren führen hier lang!“ rief er den anderen drei Männer zu, die folgten.

Zum Glück stand der Mond bereits hoch am Himmel und tauchte den Wald in helles Silber, so dass zwischen den lichten Stämmen einigermaßen gute Sicht herrschte.
 

„Da!“ rief Umino und winkte die Anderen zu einem Baumstamm, an dem es glitzerte. Halb über den unteren Ästen hing eine schwarz vermummte Gestalt mit dem Kopf nach unten, ein Wurfmesser in der Stirn steckend. Langsam sickerte ein dünner Rinnsal Blut am Baumstamm hinab und versickerte dumpf im Waldboden.
 

„Alle Achtung!“ rief Hatomo ehrfürchtig aus, den dieses Bild nicht im geringsten zu erschüttern schien. „Mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Und dann sag mir doch einer, dass Himura-san keinen Humor hat.“

„Ein etwas makaberer Humor, wenn du mich fragst,“ meinte Umino skeptisch.
 

„Der hier drüben auch!“ winkte inzwischen Izuka die Männer weiter. Nachdem sie ihn eingeholt hatten, sahen sie den zweiten Ninja mit aufgerissenem Hals am Boden liegen.

„Nicht schlecht,“ kommentierte Izuka, darauf bedacht, nicht in die riesige Blutlache auf dem Waldboden zu treten, „mit Ninja so einfach fertig zu werden.“
 

Ein Plätschern unterbrach plötzlich die nächtliche Stille. Überrascht wandten sich die Männer zu dem Vierten in ihrem Bunde um, der sich, an einen nahen Baum gelehnt, geräuschvoll übergab.
 

„Nana,“ tätschelte Umino unbeholfen seinen Rücken. „So ist das immer, wenn man unerwartet so was sieht, Daisuke. Du wirst dich schon dran gewöhnen. Himura schlitzt seine Opfer zwar immer mit ganz schön brutaler Gewalt auf, aber immerhin ziemlich akkurat. Wenn ich da an den Hitokiri vor ihm denke, was der immer angerichtet hat. Der gab seinen Opfern nicht so einen schnellen Tod...“
 

Daisuke hob den Kopf und blinzelte Umino aus tränenden Augen an. „Himura,“ schoss es ihm durch den Kopf und sein Magen drehte sich erneut um. „Wenn er überlebt hat...“
 

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Vom Dach eben hatte Kenshin einen Blick über den Innenhof und Garten der Anlage werfen können. Die Villa wurde auf beiden Seiten von Dienstgebäuden flankiert, die Gebäude bildeten somit ein rechteckiges U, in dessen Mitte sich der Garten erstreckte, in dem sich nun die Wachen tummelten. Er saß jetzt in dem Dienstgebäude zur linken Seite der Villa. Alles, was er tun musste, war, irgendwie auf das Dach der Villa zu gelangen. Doch die Diensträume schlossen nicht direkt an das Wohnhaus an, sondern hielten einen Abstand von etwa zehn Metern. Nicht zu groß zum Springen, aber zu groß, um beim Springen nicht gesehen zu werden. Denn in den Lücken zwischen den Gebäuden waren natürlich auch Wachen positioniert. Wenn er diese zwei Wachen auf seiner Seite irgendwie weglocken könnte... Dann könnte er vielleicht unbemerkt zur Villa gelangen.
 

Kenshin kauerte sich hinter ein paar Reissäcke. Offensichtlich war er zum Fester genau hinein in eine Vorratskammer gesprungen. Draußen vor der Tür hörte er die zwei Samurai, die das linke Dienstgebäude auf der Garten-Seite bewachten, immer noch lästern und inzwischen waren auch die anderen zwei Samurai, die die Lücke zwischen den beiden Gebäuden im Auge behalten sollten, miteingestiegen.
 

Anscheinend stieg bei ihnen allen das Verlangen nach einem Schluck Sake. Leise flüsternd einigten sie sich, dass zwei von ihnen schnell heimlich ihren Posten verlassen würden, um den Sake zu holen, während die anderen zwei zur Sicherheit zurückblieben. Aber es musste leise und unauffällig sein, da sonst der Anführer der Leibgarde, der den Haupteingang zur ganzen Anlage bewachte, auf sie aufmerksam werden würde und dann wäre die Hölle los.
 

In Kenshins Kopf begann ein neuer, verzweifelter Plan zu reifen.
 

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Nach einem verzweifelten, neuen Plan suchte nun auch Daisuke. Denn es war eindeutig, dass der Hinterhalt mit den Ninja am Tempel nicht funktioniert hatte. Inzwischen hatten sie nicht nur die Leiche des zweiten Leibwächters gefunden sondern auch die von Asakura.
 

Mit diesem Mann hatte Daisuke vor wenigen Stunden noch gesprochen und jetzt seinen Kopf zwei Meter von seinem Körper entfernt zu finden, hatte ihn erneut zum Würgen gebracht.
 

Verrat. Ein schlimmes Wort. Jedoch relativ harmlos in der Theorie. Jetzt allerdings lernte Daisuke die grausame Wirklichkeit kennen und wie ein Messerstich ins Herz traf ihn die Erkenntnis, dass – wenn sein Verrat jemals ans Licht käme – sein Kopf genau wie der von Asakura durch die Luft fliegen würde. Wenn nicht noch schlimmer...
 

Zitternd hielt er sich an einem Baumstamm fest. Doch die anderen drei Männer waren schon weitergeeilt, um die Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ auf den Körpern der toten Männer zu platzieren. „Bleib lieber zurück!“ rief ihm Hatomo zu, während sich Izuka zu dem einen der Toten hinabbeugte und das Sichelmesser in seinem Rücken mit interessiertem Gesichtsausdruck genauer beäugte.
 

Daisuke drehte sich um. Er hatte genug gesehen um sein eigenes Schicksal zu ahnen.

Nein, dachte er verbissen, dazu würde es nicht kommen. Deswegen brauchte er so schnell wie möglich einen neuen Plan.
 

Keuchend beobachtete er sie aus einiger Entfernung, seine Augen in die Ferne und bloß weg von dem blutigen Körper vor ihm gerichtet.

„Himura,“ durchzuckte es erneut sein Gehirn und er fühlte plötzlich trotz der Angst eine teuflische und verwegene Idee in sich aufkeimen.
 

Nein, er war noch nicht am Ende.

Buntaro und er hatten schon den Hitokiri vor Himura-san ans Messer geliefert. Nicht umsonst hatten sie dafür gesorgt, dass zufällig der beste Schwertkämpfer der Stadt, Yabu Sekura, am Ort des Geschehens vorbei kam und den Attentäter mit seinem berühmten Battoujutsu erschlug. Um so mehr erschütterte es ihn jetzt, zu wissen, dass es Himura war, der Yabu ohne Mühe getötet hatte.
 

Doch auch das Shogunat musste jetzt ahnen, wie gefährlich der neue Attentäter der Ishin Shishi war. Höchstwahrscheinlich war bereits eine hohe Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt. Wenn er und Buntaro ihn ausliefern würden... dann wäre ihnen ein sehr reicher Lohn sicher. Bestimmt nicht mit der kläglichen Summe zu vergleichen, die sie als Bestechungsgeld erhalten hatten. Für Verrat an einem so gefährlichen Mann – Jungen, korrigierte Daisuke sich – wurden sie bisher kaum angemessen bezahlt.
 

„Doch das wird sich ändern,“ flüsterte Daisuke in die Dunkelheit der Bäume und sein Plan begann weiter, Gestalt anzunehmen, „wenn wir ihnen Himura ausliefern... und zwar lebend!“
 


 

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„Oi...“ rief der eine der Samurai und hielt seine Kerze hoch, um das innere des Lagerraums auszuleuchten. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
 

Feuerholz, Reissäcke, Gemüse.... Sake!
 

„Da hinten!“ befahl er seinem Kamerad, der zu der dunklen Ecke schritt, in der sich mehrere Sake-Flaschen türmten.

Gerade wollte er nach den zwei vordersten Flaschen greifen, als er plötzlich in seinem linken Augenwinkel eine Bewegung im Schatten sah.
 

„Was war das da drüben?“ fragte er beunruhigt seinen Kameraden.

„Keine Ahnung!“ antwortete dieser gelangweilt, „wahrscheinlich ein paar Ratten oder so. Komm schon, beeil dich.“
 

Doch der andere Samurai war nicht so nachlässig und wollte sich vergewissern. Er trat ein Stück in Richtung der Reissäcke, als er plötzlich ein kaltes, blaues Glitzern im Dunkeln sah.

Bevor er irgendetwas sagen konnte, hatte Kenshin ihm sein Schwert in den Kopf gehauen, war hinter den Reissäcken hervor über den zusammenklappenden, Blut versprudelnden Mann gesprungen und hielt nun seine befleckte Klinge dem zweiten Samurai an die Kehle.
 

Ab jetzt lief seine Zeit.

Der zweite Samurai starrte entsetzt auf die blutige Klinge an seinem Hals und ließ zitternd die Kerze fallen. Sofort trat Kenshin sie aus.

„Wer... was...“ stotterte der Samurai panisch.

„Still!“ zischte Kenshin zwischen zusammengebissenen Zähnen. Sein Gehirn lief auf Hochtouren.

„Ruf leise deine Kameraden,“ flüsterte er dem Samurai ins Ohr. „Sie sollen dir eine neue Lampe bringen.“
 

„Hey!“ kam es auch schon von draußen, „Alles in Ordnung da drinnen?“

Der Samurai schluckte, als Kenshin ihm nachdrücklich die Klinge noch etwas fester an den Hals presste und er bereits sein warmes Blut die Brust hinab tröpfeln spürte.

„M – Meine K- Kerze ist a-ausgegangen...“ wimmerte er kläglich.
 

„Baka.“ Die zwei draußen verbliebenen Männer lachten. „Habt ihr jetzt Angst im Dunkeln?“
 

„Ich geh schnell rein,“ sagte der Samurai, der die Stirnseite des Gebäudes bewacht hatte. „Geh du vor an meinem Platz, damit, falls der Aufseher uns bemerkt, wenigstens einer vor dem Gebäude steht.“

„Warte. Wir können den Sake ja auch schnell drinnen trinken, dann erwischt uns wenigstens nicht der Hauptmann. Und wenn er fragt, wo wir waren, dann sagen wir einfach, wir hätten was verdächtiges im Lagerraum gehört,“ grinste der Andere.
 

Dann ging sie beide in Lagerraum, doch ehe sie Lampe anzünden konnten, hatte Kenshin ihnen mit einem Schlag die Schädel gespalten, nicht bevor er den anderen Samurai genau wie den ersten ausgeschaltet hatte. Unerwartet traf ihn dabei ein Schwall warmes und klebriges Blut ins Gesicht. Angewidert versuchte er, den aufdringlichen Geruch zu ignorieren, auch wenn es schwer fiel, weil ihm das Blut nicht nur in die Nase, sondern sogar in den Mund gespritzt war. Schnell fuhr er sich mit dem Ärmel über die Augen und strich sich den klebrigen Pony aus der Stirn. Ab jetzt blieben ihm nur noch wenige Sekunden. Der Mann vor dem Dienstgebäude würde ihn jetzt nicht bemerken, wenn er aus dem Seitenfenster, das zur Villa hinüberging, herausspränge.
 

Schneller wie der Wind schwang sich Kenshin aus dem Fenster an der Lücke zwischen den beiden Gebäuden und preschte zur Villa. Er schärfte seine Sinne und fühlte, dass in dem Raum genau vor ihm keiner zu sein schien. Deswegen sprang er anstatt auf das Dach gleich zum Fenster hinein.
 

Er fand sich in einer winzigen, staubigen Rumpelkammer und schaffte es gerade so, einen riesigen Stapel Blumenkübel mit der Hand vor dem Umfallen zu bewahren. Bei dem Lärm, den scheppernder Tontöpfe machten, hätte er sich die Mühe auch gleich sparen und an der Tür klingeln können.
 

Vorsichtig öffnete er die kleine Tür und fand im Flur, wie erwartet, nur einen einzigen, schon im Halbschlaf dämmernden Wachmann. Offensichtlich schienen diese Samurai ihre Pflicht wirklich nicht besonders ernst zu nehmen.
 

Geräuschlos pirschte sich Kenshin an den Schlafenden an und bevor er überhaupt realisieren konnte, dass jemand vor ihm stand, war er auch schon tot.
 

Kenshin blieb regungslos stehen und lauschte. Er hörte im ersten Stock zwei Wachmänner miteinander flüstern. Er verdoppelte seine Anstrengung und versuchte, alle noch im Wohnhaus verbliebenen Ki’s ausfindig zu machen. Im Erdgeschoss befanden sich die ungefähr sieben Soldaten im Flur nahe dem Haupteingang. Er selbst war jetzt im Flur auf der Hinterseite des Gebäudes. Aus einer Grundriss-Skizze in seinem schwarzen Umschlag wusste er, dass es zwei Treppenaufgänge gab, einen vorne im Haus, wo die sieben Samurai standen und eine kleinere Treppe weiter hinten, die von dem Dienstpersonal genutzt wurde und wo er jetzt stand.
 

Wie nachlässig, dachte Kenshin, als er vorsichtig die Treppe hinauf schlich, darauf bedacht, die alten Holzstufen nicht knarren zu lassen. Er spürte, dass die Bewachung im ersten Stock wirklich nur aus zwei Männern bestand. Was er auch spürte, war die deutliche Ki von Sasuke Yamaka – und die Frau und die zwei Kinder. Sie durften ihn auf keinen Fall sehen, sonst...
 

Ja was, sonst? Kenshin versteinerte auf der staubigen Holztreppe. Der Gedanke, dass er auch Frauen oder Kinder töten musste, um das Geheimnis seiner Identität zu wahren, war ihm selbst in seinen wildesten Albträumen noch nie gekommen. Das war definitiv etwas, was er nicht tun würde. Selbst ein neues Zeitalter voller Frieden rechtfertigte nicht den Tod eines unschuldigen Kindes. Niemals, da war sich Kenshin sicher. Auch wenn das sein Leben kosten könnte.
 

Keine Fehler, schärfte er sich erneut ein. Er musste so schnell sein, dass die Familie nichts mitbekam. Wie der Blitz schoss Kenshin die knarzende Treppe hoch und bevor die Samurai oben am Treppenende sein blutverschmiertes Gesicht erkennen konnten, hatte er sie beide mit einem Schwerthieb erschlagen. Dumpf polterten die Körper die Treppe hinab, doch Kenshin sah ihnen nicht hinterher, sondern schlitzte mit einem weiteren Schwung seines Schwertes einfach die mit Reispapier bespannte Trennwand zu Sasukes Arbeitszimmer auf.
 

Mit aufgerissenen Augen fand er sein Opfer am Schreibtisch sitzen.

Sasuke hatte kaum die Zeit, sich aus seinem Stuhl zu erheben, als er auch schon den tödlichen Streich in den Oberkörper erhielt und wieder im Stuhl zusammensackte. Blut spritzte und floss über die Papiere auf dem Tisch, die Kenshin schnell an sich raffte und in die Kerze hielt, deren einsames Licht das Zimmer erleuchtete. Schnell brannte der Haufen und was nicht brannte, wurde durch das feuchte Blut unleserlich.
 

Gegenüber riss eine verschlafene Frau die Schiebetür auf. „Sasuke..?“ murmelte sie, bevor ihre Augen sich vor Entsetzten weiteten, als sie die zerhauene Wand, den brennenden Schreibtisch und ihren blutüberströmten Mann sah.

Ihr gellender Schrei durchdrang das ganze Haus und auch Kenshin, der bereits schon wieder im Erdgeschoss war und eigentlich unbemerkt den Weg zurückgehen wollte, den er gekommen war.
 

Auf das hysterische Schluchzen der Frau, in das nun auch ihre Kinder miteingestimmt waren, folgte eiliges Fußgetrappel, draußen vor der Villa wurden Befehle gerufen und sofort strömten alle Wachen in den Innenhof.
 

Kenshin löste sich aus seiner Versteinerung, die ihn bei diesem schrecklichen Schreien befallen hatte und unterdrückte ein Fluchen. Mit Glück und Heimlichkeit war es jetzt wohl vorbei.
 

Also doch Plan B... ?

Er spürte es in seinen Fingerspitzen Kribbeln, als er seine beiden Schwerter zog. Er konnte unmöglich alle töten oder den selben Weg zurückgehen. Alle Männer kamen nun in den Innenhof und vor die Villa gelaufen. Am besten würde es sein, wenn er jetzt auf die Hinterseite der Villa gelangen könnte und von dort aus über die Mauer. Da würden ihn die wenigsten Männer sehen was im Gegenzug die wenigsten Toten bedeutete.
 

Ohne weitere Überlegungen stürmte Kenshin aus dem Fenster der Abstellkammer und tötete die zwei Wachen, die sich bereits in der Lücke zwischen den Gebäuden eingefunden hatten. Wie ein Wahnsinniger rannte er dann auf die Rückseite des Gebäudes in die schmale Gasse, die Haus und Mauer bildeten. Er sah fünf Männer, die sich ihm in den Weg stellten und spürte zwei weitere, die ihn von hinten einholen würden. Schnell sprang er hoch und warf sich ein einem Salto den fünf Samurai entgegen, die, total überrascht von dem plötzlichen Angriff aus der Luft, seinen zwei Schwertern wenig entgegenzusetzen hatten. Sekunden später rannte Kenshin bereits, fünf fallende Körper im Rücken, den zwei anderen Samurai entgegen. Mit einem Schlag holte er aus und erledigte den ersten, doch gerade, als er zum nächsten Schlag ausholen wollte, spürte er plötzlich noch jemanden in seinem Rücken.
 

Ein Schuss durchbrach die Stille der Nacht und Kenshin warf sich instinktiv zu Boden. Die Kugel traf den Samurai vor ihm genau in der Brust.

Geschmeidig wie eine Katze rollte sich Kenshin ab und sprang auf das Dach der Villa.

„Feuerwaffen!“ keuchte er entsetzt. Warum hatte er das nicht vorher bemerkt? Er war zu nachlässig gewesen. Der Schuss würde binnen Sekunden alle Männer auf die Rückseite der Villa locken. Verzweifelt warf er sich dem Wachmann mit dem Gewehr entgegen, der gerade noch panisch mit dem Nachladen beschäftigt war. Kurz, bevor Kenshin über ihm war, gelang es ihm jedoch, den nächsten Schuss abzufeuern.
 

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Nach ein paar Schälchen Sake hatte Daisuke wieder zu sich selbst gefunden und die Übelkeit, die ihm angesichts der blutigen Körper im Wald befallen hatte, abgeschüttelt. Jetzt, kaum eine Stunde nach diesem grausligen Erlebnis, saß er zusammen mit Umino, Hatomo und Izuka im Kohagiya und wartete auf die Rückkehr des Mannes, den nie mehr wieder zu sehen er eigentlich gehofft hatte.
 

Er bekam eine Gänsehaut, wenn er nur daran dachte, dass er gestern noch mit diesem Hitokiri etwas trinken war. Wenn er es sich jetzt so im Nachhinein überlegte, hatte er gleich gespürt, dass mit diesem seltsamen Jungen etwas nicht stimmte. Seine ungewöhnlich blauen Augen, die einen oftmals so stechend ansahen, sein ernstes oder meist einfach nur ausdrucksloses Gesicht...
 

„Ha!“ dachte er voll neuer Selbstsicherheit. Er hatte mächtige Freunde. Sie würden diesem Killer schon das Handwerk legen. Er musste nur noch warten, bis Buntaro von seinem Ausflug mit Katsura zurückkam. Und Yoshida.
 

Ja, lächelte er boshaft in sein Sake-Schälchen, morgen würde sein Plan beginnen. Und ausgerechnet Yoshida, der unwissende, naive Yoshida war der Schlüssel zu seinem Gelingen.
 

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Die Kugel hätte Kenshin genau ins Herz getroffen, hätte er nicht sein Schwert blitzartig vor sich gehalten.

Kenshin spürte seine Hand vibrieren und hörte das helle, durchdringende Geräusch splitternden Metalls. Er brannte plötzlich an seinem Hals, doch ohne zu zögern hieb er dem Samurai mit dem Gewehr den Rest seines Schwertes in den Schädel und floh über die Mauer in hohem Salto auf ein benachbartes Dach.
 

Sein Herz raste, als er durch die frostige Nachtluft über die Dächer hetzte. Er hatte die wenigen Samurai, die versucht hatten, seinem Schatten zu folgen, schon längst abgehängt und sie hatten von ihm nicht mehr gesehen wie eine schemenhafte Gestalt in der dunklen Nacht. Trotzdem... er hätte unmöglich alle Zeugen ausschalten können... Nicht, dass es ihm an den Fähigkeiten dazu gemangelt hätte, bemerkte selbstsicher eine emotionslose Stimme in seinem Kopf. Ein Kribbeln kroch erneut über seinen Rücken als er sich kurz über die Zahl der Opfer bewusst wurde, die sein Schwert dennoch in dieser Nacht gefordert hatte.
 

Endlich, schon fast bei Kohagiya angekommen, bemerkte Kenshin, dass er immer noch den Griff seines nun nutzlosen Schwertes, das von der Kugel zersplittert war, in der Hand hielt. Jetzt spürte er auch erneut den brennenden Schmerz an seinem Hals. Er steckte sein Wakizashi ein und tastete nach der Wunde. Offensichtlich war ein Splitter seines Schwertes in seinem Hals stecken geblieben. Sein ganzer Körper war über und über mit Blut bespritzt, doch nur ein winziger Teil davon schien aus der Wunde am Hals zu kommen. Es war also keine wichtige Ader getroffen. Er würde zu Okami-san und den Mädchen gehen müssen um sich von ihnen verarzten zu lassen. Sie kümmerten sich auch immer um die Verletzungen der anderen Männer.
 

Plötzlich hörte er in seinen Ohren wieder diesen Schrei, der Verzweiflung, Hass und Fassungslosigkeit so entsetzlich vereint hatte. Er hatte dieser Frau und ihren Kindern gerade Ehemann und Vater genommen. Irgendwie hatte er das Bedürfnis, auch laut aufzuschreien. Doch Sekunden später fühlte er wieder eine vertraute Leere in sich aufsteigen und ihn wie einen Schutzmantel umfangen. Nein, redete er sich ein, er war nur ein Mörder und er fühlte nichts. Hier ging es nicht um seine Empfindungen – der Mann musste sterben für ein neues Zeitalter. Der Mann war eine Bedrohung für Katsura Kogoro gewesen. Er würde Izuka-san bitten, nächstes Mal nicht mehr so viel Information über die Familie seiner Opfer mit in die Umschläge zu schreiben. Sie raubten ihm irgendwie seine nötige Konzentration und... Selbstbeherrschung.
 

Langsam wanderte sein Blick wieder zu dem abgebrochenen Schwert in seiner blutigen, rechten Hand. Von der Klinge war nur noch ein kurzer Stumpf übrig, der matt und traurig im Mondschein schimmerte.
 

Irgendwo in ihm regte sich ein wehmütiges Gefühl. Es war das Schwert, dass er damals von Hiko bekommen hatte.
 

Mit einem Achselzucken warf er es in den Kanal.
 

Zur Zeit nutzte ihm das Schwert seines Meisters nichts. Was er brauchte, war ein Schwert, um die göttliche Gerechtigkeit über die Feinde der neuen Ära zu bringen.

Ein Schwert, mit dem man kurz und schmerzlos töten konnte.

Kein Schwert, in dessen Klinge sich sein Gewissen in Form von Hiko Seijuro’s Gesicht spiegelte.
 

Mit einem leisen Blub verschwand das Schwert im trüben Wasser des Kanals. Die letzte Erinnerung an Kenshins Meister wurden von den Wellen davongetragen.

So wie das zerbrochene Schwert unter den Wassermassen, so verschwanden auch die Gefühle und Erinnerungen an seinen Meister in Kenshin. Er begrub sie tief in sich.

Sie waren hinderlich.
 

Jetzt musste er sich nur noch die Bruchstücke aus seinem Hals ziehen lassen.

Die Wunde brannte. Irgendwie brannten auch seine Augen, doch er wusste nicht, warum.
 

Mehr als nur ein Schwert wurde in dieser Nacht zerbrochen.
 


 

--
 

Anmerkungen: Ich hoffe, die Szene in der Villa war nicht zu verwirrend. Ich habe in meinem Kopf den Plan des Geländes vor mir, aber es war schwer, das alles ohne Zeichnung zu beschreiben.
 

Nächstes Kapitel: Die Wahrheit über Kenshin kommt langsam ans Licht - doch Wahrheit und Lüge liegen nicht immer weit auseinander...
 

Japanische Wörter:
 

Kuso - Verdammt
 

Hiko Seijuro – Kenshins Meister, der ihm den Hiten Mitsurugi Ryu beibrachte.
 

Wakizashi – Kurzschwert
 

Baka - Idiot

Kapitel 11 - Wahrheit

Als Entschädigung für die Wartezeit ein ziemlich langes Kapitel... ^_^ Viel Spaß!
 


 

Kenshins Identität wird nun gelüftet - wie reagieren die Männer der Ishin Shishi darauf. Und vor allem: Wie reagiert sein Freund Yoshida?

Denn die Wahrheit hat oftmals mehr als nur ein Gesicht...
 


 

Divine Justice – Göttliche Gerechtigkeit
 

Kapitel 11 – Wahrheit
 


 

Einem Schatten gleich eilte die rothaarige, schlanke Gestalt über die Dächer Kyotos. Alles, was nach ihrem schnellen Vorübergleiten in der kühlen Nachtluft zurückblieb, war der süße Geruch von Blut, der die Gestalt wie ein Nebelhauch zu umgeben schien. Zielstrebig fand sie ein bestimmtes Haus und sprang, anstatt die Tür zu benutzen, über das Dach direkt in den Innenhof.
 

Er suchte, die Hand auf seinen blutigen Hals gepresst, eine bestimmte Person. Schwacher Kerzenschein drang aus den Küchenfenstern. Dort würde sie zu finden sein.
 

„Kenshin!“
 

Erschrocken hielt sich Okami-san die Hand vor den Mund, als sie den rothaarigen Jungen erblickte, der gerade die Küche geräuschlos betreten hatte. Es dauerte etwas, bis sie im Dämmerlicht seine über und über mit Blutspritzern übersäten Kleidung ausmachen und sich anschließend wieder aus der Erstarrung befreien konnte.
 

Mit zittriger Stimme schaffte sie es schließlich zu fragen: „Meine Güte... du bist verletzt?!“
 

Keine Begrüßung oder Worte der Beruhigung. „Nur am Hals,“ war Kenshins einzige, knappe Antwort. Er bereute es gerade, nicht zuerst zum Badehaus gegangen zu sein. Seine Wunde am Hals blutete zwar nur leicht, aber pochte unangenehm und musste dringend verarztet werden.
 

„Die Blutung muss sofort gestoppt und die Wunde gereinigt werden, sonst entzündet sich alles!“, erklärte Okami-san nun einigermaßen gefasst. Sie wandte sich schnell von ihm ab und eilte in einen Hinterraum, um Verbandszeug zu suchen, doch Kenshin sah in ihrem Gesicht, dass sie immer noch ziemlich erschüttert sein musste. Kein Wunder, dachte er voller Sarkasmus, denn sie begriff wohl gerade, dass, wenn er selbst kaum verletzt war, wohl das ganze Blut an seiner Kleidung von anderen Menschen kommen musste.
 

Okami kam unterdessen mit einer großen Kiste voller Verbandszeug zurück. Dann zündete sie einige Kerzen mehr an und befahl Kenshin, sich in ihrem hellen Schein niederzusetzen, damit sie seine Wunde am Hals in Ruhe untersuchen konnte.
 

Kenshin biss die Zähne zusammen, als sie Alkohol zum Desinfizieren auf den tiefen Kratzer gab und mit einer kleinen Pinzette nach einigen Versuchen schließlich einen zwei Zentimeter langen und dünnen Metallsplitter aus seinem Hals zog, der boshaft im Kerzenlicht glitzerte.

„Kami-sama... .“ Fassungslos legte Okami-san den Splitter mit der Pinzette schnell beiseite und tupfte das frische, nachquellende Blut ab. „Ein bisschen tiefer und das Ding hätte deine Halsschlagader getroffen.“
 

Kenshin beäugte den Splitter gelassen. War es nicht meistens so, dass ihn nur wenige Zentimeter, Schritte, Augenblicke oder Sekunden vom Tod trennten?

„Danke, Okami-san,“ sagte er, nahm Okami das Tupftuch ab, drückte es an seinen Hals, warf einen abschätzenden Blick darauf und erklärte, „die Wunde wird bald das Bluten aufhören.“ Damit wollte er schon den Raum verlassen, aber Okami-san hielt ihn zurück.
 

Wie konnte der Junge nur so teilnahmslos sein? Wo er doch heute Abend anscheinend knapp mit dem Leben davon gekommen war. Okami-san fragte sich, ob er wohl überfallen wurde oder ob es bei einem seiner ... Aufträge passiert war.

Ihr Blick fiel auf die leere Scheide von Kenshins Katana an seiner Hüfte.
 

„Dein Schwert...? Daher der Splitter?“

„Ja,“ meinte Kenshin nur. „Ich brauche so schnell wie möglich ein Neues.“
 

Er fühlte sich unangenehm angreifbar und verletzlich ohne ein Schwert an seiner Seite. Okami-san erriet seine Gedanken und verschwand kurz im Hinterzimmer, um nach einigem Poltern mit einem staubigen Schwert in der Hand wieder aufzutauchen.

„Hier.“ Sie streckte Kenshin das offensichtlich schon ältere und lange unbenutzte Katana entgegen. „Das ist mein altes Schwert, ein Geschenk von meinem Vater. Ich habe es für Notfälle aufgehoben. Aber zur Zeit, mit den vielen bewaffneten Männern rings um mich herum, werde ich es wohl nicht so dringend brauchen. Du kannst es haben, bis du dir ein neues Schwert anfertigen lassen hast.“
 

Etwas in Kenshins Augen wurde weicher und betreten starrte er auf das staubige Schwert in seiner Hand.

„Danke, Okami-san,“ murmelte er schließlich mit sanfter Stimme, „ich werde es so schnell wie möglich zurückgeben.“

Okami winkte nur ab. „Geh, Junge und mach dich sauber!“

Kenshin ließ sich das nicht zweimal sagen und eilte davon.
 

Auf dem Weg zum Badehaus begegneten ihm einige Männer, die ihm mitleidige Blicke zuwarfen und ihn mit Fragen löchern wollten, was passiert sei, doch Kenshin ignorierte sie und ging zielstrebig in das Badehaus. Die Männer schauten ihm hinterher und zuckten die Schultern. Immerhin war es in letzter Zeit nichts ungewöhnliches, blutüberströmte und verletzte Männer im Kohagiya zu sehen. Seit der neuen Serie von Attentaten der Ishin Shishi, die Shinsengumi in verstärkter Anzahl auf den Plan gerufen hatten, gab es fast jede Nacht Scharmützel und Kämpfe in den Strassen.
 

Einige jedoch runzelten die Stirn. Sie hatten die Gerüchte über den neuen Hitokiri gehört, den bisher keiner außer seinen Opfern zu Gesicht bekommen hatte. Und sie erinnerten sich noch an die Schwertübungen, die dieser Junge einmal im Innenhof zur Schau gestellt hatte...
 

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Im Badehaus angekommen, entledigte Kenshin sich hastig seiner Kleidung und schüttete sich einige Eimer eiskalten Wassers über den Kopf, bevor er begann, sie abzuschrubben. Wie immer überfiel ihn dabei eine Art manischer Eifer, vor allem, als seine Hände an der Reihe waren. Er untersuchte seinen Körper. Bis auf den Kratzer am Oberschenkel, den ihm der Ninja mit seinem Wurfmesser zugefügt hatte und der Wunde am Hals war er unverletzt.
 

Er roch um sich herum den metallischen Geruch kalten, von Wasser verdünnten Blutes und beeilte sich, das Badehaus zu verlassen und sich frische Kleidung anzuziehen, auch wenn dieser unangenehme Geruch ihn immer noch wie eine Wolke zu umgeben schien.
 

Als er seine zweite, frische und saubere Choshuu-Uniform angezogen hatte, nahm er das staubige Schwert von Okami-san und begann, es sorgfältig zu reinigen.

Es war kein teures Schwert und die Klinge war trotz eifrigem Polieren nicht recht zum glänzen zu bringen. Prüfend schwang es Kenshin einige Male durch die Luft, bevor er es einsteckte.

Ein Glück, dachte er, dass er erst einmal keine Aufträge bekommen würde. Er würde es nicht wagen, die ehrenhafte Leihgabe von Okami-san zu beschmutzen. Außerdem war er sich sicher, dass der brüchige Stahl kaum einem Schwertduell standhalten würde.
 

Er steckte das Katana in seinen Obi und machte sich auf den Weg zu Izuka-san.

Dieser musste nun bereits seine „erledigte Arbeit“ an dem Schrein begutachtet haben und nun auf seinen Bericht über die Geschehnisse in Sasuke Yamaka’s Villa warten.
 

Starr geradeaus blickend und das Tuch auf die nur noch leicht blutende Wunde am Hals drückend ging Kenshin langsam durch die nun still gewordene Herberge zum Zimmer von Izuka. Nach kurzem Klopfen betrat er mit gesenktem Blick den Raum. Er hasste es jedes Mal, wie auf dem Präsentierteller den einzigen Menschen gegenüber zu treten, die wussten, zu welch grausamen Taten sein Schwertarm fähig war. Immer, wenn er ihnen in die Augen sah und darin nur Furcht und Angst vor ihm entdeckte, packte er eine neue, dickere Eisschicht um sein Herz.
 

Er atmete tief durch. Irgendwann, das wusste er, würde diese Schicht dick genug sein und ihm würden Blicke dieser Art nichts mehr ausmachen. Izuka räusperte sich geräuschvoll und Kenshin bemerkte, dass er wohl schon einige zeitlang unbeweglich im Raum gestanden hatte. Schnell setzte er sich auf seinen angestammten Platz gegenüber vor Izuka.

Er zwang sich noch einmal zum tief Luftholen und blickte dann auf. Mit ausdruckslosem Gesicht musterte er den ihm zuzwinkernden Izuka und hinter ihm Umino, Hatomo und – seine Augen weiteten sich vor Überraschung...
 

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Ruhig Blut, ermahnte sich Daisuke und rutschte auf seinem Sitzkissen hin und her. Leider war Blut das einzige, an das er gerade denken konnte und zwar sein Blut, verteilt in abstrakt angeordneten Spritzern auf dem Fußboden.
 

Er hörte ein leises Klopfen an der Tür und sein Herz blieb stehen.

Wenn Himura nun wusste...

Nein, versicherte er sich schnell, es gab keine Möglichkeit, dass Himura ihn verdächtigte. Er durfte sich jetzt nur keinen Fehler erlauben. So ruhig wie möglich hob er seinen Kopf und musterte wie die anderen den Eintretenden.
 

Daisuke spürte, wie sich Umino und Hatomo neben ihm versteiften und auch ihm kroch eine Gänsehaut über den Rücken, als Himura durch die Tür trat und mit gesenktem Kopf unbeweglich mitten im Zimmer stehen blieb. War es nur ein Hirngespinst seiner eigenen Angst, oder wehte da plötzlich ganz schwach der unmissverständliche Geruch von Blut durch den Raum? Daisuke krallte seine Fingernägel in seine Handballen, während Himura sich nun setzte. Seinem überraschtem Gesicht nach zu urteilen, hatte er offensichtlich nicht mit Daisukes Anwesenheit bei diesem Treffen gerechnet.
 

Daisuke versuchte es mit einem Begrüßungslächeln, doch das Resultat schien wohl nicht sehr überzeugend zu sein, denn Himura’s Blick verdunkelte sich augenblicklich, er sah demonstrativ weg und begann mit monotoner Stimme über die Geschehnisse der Nacht zu berichten.
 

Izuka nickte ab und zu und stellte Zwischenfragen, während die Männer hinter ihm, allen voran Daisuke, Kenshin einfach nur anstarrten.

Da saß ein Junge, der um einige Jahre jünger war wie sie selbst und der mit einer Gelassenheit und Teilnahmslosigkeit von seinen Aufträgen – von Mord - sprach, als ob er von einem Spaziergang erzählen würde. Selbst, als er bei seinem waghalsigen Fluchtmanöver aus Yamakas Villa angelangt war und die Luft vor Spannung knisterte zeigte seine Stimme keinerlei Gefühlsregung. Weder Panik noch Wut noch Angst schien dieser Junge zu kennen, nur die Erfüllung seines Auftrages. Was für eine mächtige Waffe Katsura Kogoro da gefunden hatte.
 

„Scheiße,“ entwich es Izuka, „sie haben dich gesehen?“

„Nur die Wachen am hinteren Teil des Gebäudes. Sie haben mich mit den Schusswaffen aufgehalten.“

„Du konntest aber ungesehen entkommen?“ fragte Izuka nach.

„Keiner, der mehr als einen Schatten von mir gesehen hat, lebt noch,“ entgegnete Kenshin sachlich.
 

Himura berichtete nicht genau, wie viele Wachen er letztendlich getötet hatte, doch Daisuke rechnete mit mindestens zehn und Entsetzten klammerte sich wie ein Schraubstock um sein Herz.
 

Vielleicht war es doch nicht die richtige Entscheidung gewesen, sich mit dem Bakufu einzulassen, überlegte er reumütig. Vielleicht hätte er sich nicht von dem Geld verlocken lassen sollen, das sie ihm für den Austausch von ein paar Informationen bezahlt hatten. Hätte er gewusst, dass er sich mit so einem gefährlichen Feind einlassen musste, dann wäre im das Geld vermutlich egal gewesen. Sei’s drum, ermutigte er sich selbst, es gab jetzt kein Zurück mehr. Und wenn sein Plan gelang, dann wäre er vermutlich ein reicher Mann...
 

Als Kenshin geendet hatte, entstand eine Pause unangenehmen Schweigens, bis Izuka schließlich aufstand, aus einem kleinen Wandschrank Schreibutensilien herausfischte und etwas auf ein kleines Stückchen Papier krakelte.

„Hier,“ meinte er, als er geendet hatte und Kenshin den Schnipsel überreichte, „ich habe dir die Adresse von einem Schwertschmied aufgeschrieben, der den Ishin Shishi treu ergeben ist. Er ist es auch, der dir dein Wakizashi entworfen hat. Geh gleich morgen zu ihm und bestell dir ein neues Schwert. Natürlich tragen die Ishin Shishi die Kosten,“ zwinkerte er.
 

Kenshin nahm den Zettel entgegen, auf dem in kaum lesbarer Schrift der Name „Arai Shakku“ und eine Adresse geschrieben stand. „Danke, Izuka-san,“ sagte er mit leiser Stimme, verbeugte sich, stand auf und wollte schon das Zimmer verlassen, als Izuka ihm auf die Schulter klopfte.
 

Sofort war Kenshin alarmiert und spannte sich an. „Noch etwas?“ Doch noch ein Umschlag?

Izuka lächelte ihn nur an. „Gute Arbeit. Du hast Katsura vor den Plänen Yamakas gerettet. Auch wenn die Aktion ziemlich waghalsig von dir war. Ein Attentäter von deinem Kaliber sollte nicht so riskant handeln. Wir brauchen dich noch. “

„Wer auch immer Katsura-sama bedroht,“ antwortete Kenshin, seine Stimme jetzt eisig, „wird, solange ich atme, um jeden Preis mein Schwert zu spüren bekommen.“

Dann verließ der den Raum.
 

Kaum war die Tür zu, keuchten alle Männer erleichtert auf um dann auch schon wild durcheinander zu diskutieren.

„Hätte nicht gedacht, dass er es bis zu Yamaka schafft!“

„Waghalsig? Ich würde es eher selbstmörderisch nennen!“

„Wahnsinn... was ist das für einer, dass er es geschafft hat, trotz so vieler Wachen Yamaka zu erledigen?“
 

„Tss,“ zischte Izuka in sich hinein, „ich wette, der Kerl war noch nicht mal in Hochform, sonst wäre keiner der Leibgarden mehr am Leben...“
 

„Himura ist echt der beste Hitokiri, den wir je hatten!“ stellte Umino fest. „Mit ihm an unserer Seite können uns die Feinde nicht mehr wiederstehen. Er mäht sie einfach nieder wie Graßhalme! Einen Monat oder wie lang ist er jetzt bei uns und er hat schon all die gefährlichen Aufträge ausgeführt, bei denen vor ihm schon viele gescheitert sind!“
 

„Ja, zum Beispiel Yabu Sekura, wie man hört,“ mischte sich Daisuke ein.
 

„Oh, erinnere mich nicht daran!“ keuchte Hatomo. „Ich weiß noch, dass mir Himura damals so eine Heidenangst eingejagt hat. Stand da wie bestellt und nicht abgeholt und hat ausdruckslos auf Yabu niedergestarrt, den er gerade eben zerteilt hatte. Hab noch nie gesehen, dass einer mit solch einer Kraft durch Körper schneiden kann. Durch Knochen und alles, richtig zerteilt! Hat einfach nur gestarrt, total unheimlich. Als ob er gerade mit den Gedanken ganz wo anders wäre und es ihn gar nicht berührt, dass er gerade eben einen der besten Schwertkämpfer der Stadt getötet hat.“
 

Daisuke ballte die Fäuste. Eiskalt, überlegte er grimmig, eiskalt war dieser Junge. Er spielte allen etwas vom Unschuldslamm vor, aber in Wahrheit war er ein Wolf.

Seinen Verrat konnte er jetzt nicht mehr rückgängig machen. Von jetzt an gab es nur noch den Weg voraus. Sein Schicksal war nun an das Bakufu gebunden und mit ihm würde er stehen oder fallen.
 


 

--
 

Das vereitelte Attentat auf Katsura Kogoro war das Thema des nächsten Tages. Schon beim Frühstück riefen alle Männer wild durcheinander, tauschten Gerüchte aus und lobten in höchsten Tönen denjenigen, der den Anschlag auf ihren Anführer verhindert hatte.
 

„Der Himmel hat uns diesen Hitokiri geschickt!“ riefen sie aus und: „Wenn mir jemand sagt, wer der Attentäter ist, dann finanziere ich demjenigen einen ganzen Abend in Gion!“
 

„Das Angebot nehme ich gerne an!“ erklang Izukas amüsierte Stimme, der gerade den Frühstücksraum mit seinen Handlangern Umino und Hatomo im Schlepptau betreten hatte. Kurz hinter ihnen kam auch Daisuke mit tiefen Augenringen

herein.
 

„Starten die Ishin Shishi jetzt endlich in die Offensive?“ wollten die Männer begierig wissen.

„Wer ist der Hitokiri?“

„Rüstet Choshuu zum Kampf?“
 

Izuka wehrte all die auf ihn einprasselnden Fragen mit einer Handbewegung ab. „Nach dem Frühstück bekommt ihr ein paar Antworten auf eure Fragen. Katsura wird heute Nachmittag eintreffen und dann werden wir genau unsere Ziele und Vorhaben für’s neue Jahr besprechen.“
 

Die Männer ließen sich jedoch nicht so leicht abwimmeln. „Aber all die Attentate in letzter Zeit... es beginnt, oder?“

„Nun ja.“ Izuka zupfte an seinem Bärtchen. „Wir haben jetzt die richtigen Leute, die sich um unsere Feinde kümmern können. Aber es dauert noch einige Zeit, bis das Bakufu genug geschwächt ist und bis wir genug Verbündete gesammelt haben. Wir müssen uns noch in Geduld üben. Jetzt aber genug. Lasst mich in Ruhe essen, später bekommt ihr all die Informationen, die ihr wollt.“
 

„Ach was,“ flüsterte eine Gruppe von fünf Männern aufgeregt an ihrem Tisch, „dass heißt also nichts anderes, als dass eine neue Initiative von Attentaten gestartet wird.“

Der eine Samurai seufzte und konnte sich von dem Enthusiasmus seiner Kameraden nicht so ganz anstecken lassen. Mit düsterem Gesichtsaudruck starrte er in sein Essen.

„Wie viel Blut wird wohl noch über Kyoto regnen, bis wir endlich Frieden und Freiheit erreicht haben?“
 

„Was beunruhigt dich?“ fragte ihn ein anderer Mann.

„Ist das nicht offensichtlich? Die Ishin Shishi planen eine Kampagne von Auftragsmorden.“

„Und was ist dabei? Hitokiri sind doch nichts neues.“

„Ja, sicher. Aber ich frage mich, wie viele von diesen Hitokiri wohl in unserer Herberge einquartiert werden.“

„Ein einziger reicht und der ist schon seit Wochen hier!“ flüsterte unvermittelt eine Stimme hinter ihnen und sie drehten sich überrascht um.
 

„Bist du nicht Daisuke?“ fragte der eine Samurai interessiert. „Der immer mit dem trotteligen Yoshida zusammen ist?“

Daisuke schnaubte ungehalten und wollte sich wieder wegdrehen. „Warte,“ hielten die Männer ihn zurück und zogen ihn zu sich an den Tisch. „Du weißt mehr als wir? Erzähl!“
 

„Ich habe ihn gestern gesehen,“ flüsterte Daisuke den Männern verschwörerisch zu, „den neuen Hitokiri und ich sage euch, er ist ein Dämon in Menschengestalt.“

Mit großen Augen sahen sich die Männer untereinander an. „Und er ist bereits hier? Hier.... in dieser Herberge?“
 

Panisch blickten sich die Männer um, halb in Erwartung, plötzlich einen zwei Meter großen Samurai mit glühenden Augen und bluttriefendem Schwert mitten im Frühstücksraum auftauchen zu sehen.
 

Daisuke lächelte, als er den Männern von dem schmächtigen Jungen mit den roten Haaren erzählte, der bis jetzt kaum von ihnen beachtet worden war. Die allgemeine Verblüffung in den Gesichtern war kaum zu beschreiben.
 

Entgeistert blinzelten sich die Männer an. Dann lachten sie laut.

„Willst du uns für dumm verkaufen?“ meinte einer prustend. „Der Junge ist doch nichts weiter als Katsuras Anhängsel.“

„Im harmlosesten Fall. Immerhin sind seine Züge ziemlich weiblich.“ Die Männer brachen erneut in heftiges Gelächter aus.

„Idioten,“ knurrte Daisuke. „Ihr wisst doch, dass Katsura mit einer erstklassigen Kurtisane liiert ist.“
 

„Aber der kleine Junge - ein Hitokiri? Wie soll er mit seinen dünnen Armen den berühmten Yabu Sekura zerteilt haben?“

„Täuscht euch nicht!“ warf wieder der erste Samurai ein. „Ich habe ihn bei seinem Training im Innenhof beobachtet und ich sage euch, noch nie hab ich ein Schwert mit solcher Sicherheit und vor allem Schnelligkeit durch die Luft sausen sehen.“
 

„Wie ist überhaupt sein Name?“ fragte einer der Männer Daisuke. „Seine Familie ist nicht sonderlich bekannt, oder?“

„Nein,“ antwortete Daisuke, „er nennt sich Himura Ken -...“ Die Worte blieben ihm vor Schreck im Halse stecken, als genannter plötzlich den Raum betrat und sich, ohne irgend jemandem Beachtung zu schenken, in eine Ecke setzte und zu Frühstücken begann.
 

Die sechs Männer beäugten ihn teils belustigt, teils misstrauisch. Ja, wurden sie sich flüsternd einig, da war etwas in seiner Art, was unheimlich war. Diese Selbstsicherheit seiner Bewegungen. Und das immer so ausdruckslose Gesicht.
 

„Aber so zierlich. Und so jung?“ fragte einer der Männer.

„Heißt es nicht, hol sie dir, solange sie jung sind? Wenn die Gerüchte über sein Talent stimmen, dann hat Katsura das Richtige getan. Mit einem Patrioten wie ihm sind wir gut dran!“

„Und er sitzt da so alleine? Obwohl er gestern Katsura-sama das Leben gerettet hat? Wir sollten ihm danken...“ Drei der Männer nickten.

„Lieber nicht,“ warf Daisuke ein. „Vergesst nicht – er ist ein Auftragskiller. Seit er da ist, hat es mit dem Morden wieder begonnen. Wenn er bis jetzt der einzige Attentäter war, dann müssen wir davon ausgehen, das er alleine für die ganzen Morde in letzter Zeit verantwortlich ist.“
 

Die Männer blickten sich schweigend an und warfen ab und zu verstohlene Blicke in Richtung des ruhig dasitzenden und gedankenverloren aus dem Fenster starrenden Jungen.

Dieser Himura – und er sah wirklich noch sehr jung aus – war also für die ganzen Auftragsmorde verantwortlich? Das mussten doch die letzten zwei Wochen mindestens 20, nein, sogar noch weitaus mehr Leute gewesen sein.
 

Einer der Samurai kratzte sich ratlos am Kopf. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen... wie der da so ruhig sitzt.“

„Alles nur Tarnung,“ sagte Daisuke kalt. „Tagsüber scheint er der nette und unauffällige Junge von nebenan zu sein. Doch schaut euch seine kalten, blauen Augen an. Die sind unheimlich und sie sehen alles. Nachts schlitzt sein Schwert ohne Rücksicht alle auf, die auf seiner schwarzen Liste stehen. Und dann, am nächsten Morgen, sitzt er hier wieder so unberührt und ruhig, als ob nichts geschehen wäre...“
 

„Gefährlich...“ murmelten die Männer. Besser, man käme diesem seltsamen Jungen nicht mehr zu nahe. Nicht sein Aussehen war unheimlich, sondern die Tatsache, dass man ihn überhaupt nicht einschätzen konnte.

„Eiskalt,“ wisperten sie sich zu und, „kein Gewissen.“
 


 

--
 


 

Schon in der Nacht hatte Kenshin deutlich gespürt, dass Daisuke ihm nur noch mit Wiederwillen begegnete. Natürlich hatte er irgendwie mit nichts anderem gerechnet – wer würde sich schon freuen, mit einem Attentäter den Raum zu teilen?
 

Doch heute morgen beim Frühstück war es noch schlimmer gewesen. Er konnte hören, wie seine Taten in aller Munde waren. Die Männer lobten das vereitelte Attentat auf Katsura und ungläubig erzählten sie sich Gesichten über den Killer, der trotz fünfzig Wachen Yamaka in seinem eigenen, schwer gesicherten Haus erledigt hatte.
 

Kenshin war überrascht. Nie hätte er erwartet, so etwas wie Bewunderung oder Dankbarkeit in den Stimmen der Männer zu hören. Vielleicht, kam ihm der unglaublich erleichternde Gedanke, wäre es gar nicht so schlimm, wenn die Männer wussten, dass er dieser Hitokiri gewesen war. Vielleicht würden sie es akzeptieren, dass er nur die Befehle ihres Anführers Katsura ausführte und würden ihn einfach in Ruhe lassen.
 

Doch Sekunden später wurde Kenshin bereits eines besseren belehrt. Er fühlte die Blicke von Daisuke und den Männern, mit denen er am Tisch saß. Er konzentrierte sich und spürte, wie sich der Widerwillen in Daisuke fast in so etwas wie verzweifelter Hass gewandelt hatte.

Auch wenn er Daisuke nie besonders gemocht hatte, tat es ihm irgendwie weh, so etwas zu fühlen. Warum war er über ihn so erbost, überlegte Kenshin zynisch, er hatte ja schließlich niemanden aus seiner Familie umgebracht.
 

Jetzt hörte er die Männer lebhaft mit Daisuke tuscheln. Auch ohne die ständigen unverhohlenen Blicke in seine Richtung konnte er ahnen, dass er selbst Thema der Diskussion war. Also hatte Daisuke bereits fröhlich aus dem Nähkästchen geplaudert. Kenshin starrte wütend in sein halb aufgegessenes Frühstück. Er hörte Wörter wie „eiskalt“ und „kein Gewissen“ – wie würde das erst werden, wenn alle Männer nach dem Frühstück von Izuka seine wahre Identität erfuhren?
 

Dankbarkeit und Bewunderung hielt also nur solange an, bis den Männern bewusst geworden war, wer er in Wahrheit war, überlegte Kenshin grimmig.

Nicht der Kammerdiener Katsuras. Ein Killer.
 

Kenshin stand auf. Ihm war der Appetit vergangen.
 

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Kaum war das Frühstück beendet, trommelte Izuka die Männer zusammen. Insgesamt waren es nur knapp ein duzend Leute, denen er jetzt die Fakten über die Ereignisse der letzten Nacht erzählte. Ein weiteres Duzend Samurai würde erst heute Nachmittag zusammen mit Katsura ankommen.
 

Izuka musterte jeden der nun Anwesenden ganz genau, während er die Geschehnisse rund um Himura berichtete. Details über die Attentate ließ er bewusst aus, da einige der getöteten Personen von großer Wichtigkeit waren und diese Taten die Patrioten später in die Bredouille bringen konnten.. Die Tatsache, dass Himura in einen Hinterhalt mit Ninja geraten war, ließ er ebenfalls aus.

Wer auch immer der Verräter war, überlegte er, er war nicht alleine. Es musste mindestens zwei von ihnen geben. Einer, der mit Katsura unterwegs war und die Informationen über ihre Reiseroute hatte durchsickern lassen. Und der andere, der versucht hatte, Asakura vor dem Attentat auf ihn zu warnen.
 

Alles, was die Männer an Izuka sahen, war nur sein schiefes Grinsen. Doch hinter dem Grinsen hatte Izuka einen Mann ins Auge gefasst. Und er war sich nun plötzlich ziemlich sicher, wo er mit der Suche nach der undichten Stelle anfangen musste.
 

Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, starrten ihn die Männer mit offenen Mündern an. Izuka lachte. Auch er hätte nicht geglaubt, zu was der Junge fähig war, hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen. „Jetzt wisst ihr die Wahrheit.“
 

„Also hat Daisuke recht gehabt,“ meinte einer der Männer. „Wer hätte das gedacht?“

„Naja, ich habe gleich geahnt, dass mit dem Jungen irgendwas nicht stimmt,“ grummelte ein Anderer.

„Kuso... und so ein Hitokiri unter unserem Dach...“

Daisuke nickte bekräftigend.
 

„Ruhe!“ brachte Izuka die tuschelnden Soldaten zum Schweigen.

„Ich hoffe,“ sprach er mit eisiger Stimme weiter und sein schiefes Lächeln sah plötzlich gefährlich verzerrt und furchterregend aus, „dass diese Informationen niemals diesen Raum verlassen. Wenn auch nur einer ein Wort über diesen Jungen ausplaudert, und sei es in einem unbedachten Moment beim Trinken, dann schwöre ich euch, wird Katsura-sama es erfahren. Und wenn ihr dann Glück habt, viel, viel Glück, dann gewährt er euch die unverdiente Ehre, eurem Leben eigenhändig ein Ende zu setzten.“
 

Die Männer schluckten und nickten. Fast alle waren Katsura und seiner Sache treu ergeben. Und wenn dieser Junge Katsuras persönlicher Hitokiri war, dann würden sie nicht im Traum daran denken, ihm zu nahe zu kommen, geschweige denn, ihn zu verraten. Nur ein Mann zuckte bei dieser Drohung unmerklich zurück. Izuka hatte dieses winzige Zucken genau gesehen. Ein zufriedenes, schiefes Lächeln kroch wieder in sein Gesicht.
 


 

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Unterdessen stand Kenshin auf der Veranda im Innenhof und starrte blinzelnd in die Wintersonne. Er wappnete sich innerlich – Eisschicht um Eisschicht - dass er gleich den Männern begegnen musste, die nach ihrer Besprechung die Wahrheit über ihn kannten.

Schnell versuchte er, die dicke Mauer um sein Herz herum noch etwas dicker werden zu lassen.
 

Die Männer der Ishin Shishi hatten sich auch vorher nicht mit ihm abgegeben. Sicherlich würden sie das auch jetzt nicht tun. Und es war besser so. Sein Geschäft hier in Kyoto war das Töten. Und je weniger Menschen ihm dabei emotional in die Quere kämen, desto besser.
 

Trotz aller vorgetäuschten Gleichgültigkeit konnte Kenshin es nicht verhindern, dass Wut in ihm aufstieg, sobald er an den triumphierend blickenden Daisuke dachte, der seine Identität bereits vor Izuka-sans Besprechung mit Begeisterung ausgeplaudert hatte.

Nicht, dass Daisuke oben auf der Liste der Menschen, die ihm wichtig waren, gestanden hätte – aber dennoch fühlte Kenshin sich irgendwie verraten.
 

Die Zeit verging schnell, während er so auf der Veranda stand und ins Blaue hinein grübelte und plötzlich stand Izuka neben ihm und legte lächelnd die Hand auf seine Schulter.

Kenshin zuckte zusammen und schüttelte die Hand mit einem kalten Blick ab, worauf Izuka kurzzeitig gekränkt wirkte, schnell aber wieder das übliche, süffisante Grinsen im Gesicht hatte.
 

„Was?!“ fragte Kenshin ungehalten darüber, so plötzlich aus seinen Gedanken gerissen zu werden.
 

„Nana, nicht so unhöflich, Himura-san.“ Izuka zwirbelte sich genüsslich den Schnäuzbart. „Ich wollte dir nur mitteilen, dass inzwischen alle Ishin Shishi hier im Kohagiya von deiner Existenz als Attentäter wissen. Es sind nicht viele, wie du weißt, denn hier sind nur die engsten Vertrauten Katsuras versammelt. Ich habe sie aber trotzdem alle bei ihrem Leben schwören lassen, deine Existenz unter allem Umständen geheim zu halten. Du bist ja unsere versteckte Waffe, deswegen darf keiner je von dir erfahren und von dem, was du für die Ishin Shishi tust.“
 

Kenshin nickte. Irgendwie fühlte er sich erleichtert. Wenigstens wussten die Männer jetzt, woran sie bei ihm waren und würden nicht länger Verdächtigungen oder Vermutungen anstellen müssen.
 

„Dennoch, Himura,“ fuhr Izuka fort, „ich würde dir raten, dich mit keinem der Männer enger einzulassen. Man ist nie sicher vor Verrätern.“
 

„Verrätern?“ Kenshin zog eine Augenbraue hoch. „Ich dachte, das sind die engsten Vertrauten Katsura-samas?“
 

„Sicher, aber wie du vielleicht weißt, ist nicht jeder Mensch bereit, seinem Herrn bis in den Tod Treue zu halten, wenn gewisse andere Versuchungen bestehen – Geld, Macht und Einfluss zum Beispiel. Oder die Aussicht auf einen erlösenden Tod nach Stunden der Folter.“
 

Nachdenklich beobachtete Kenshin die nun im Innenhof umherstreifenden Samurai, die ihm und Izuka ab und zu bedächtige und sorgenvolle, jedoch meistens zweifelnde Blicke zu warfen.
 

„Du meinst also,“ sagte Kenshin langsam, „dass ich mich mit keinem der Männer näher anfreunden sollte, damit im Falle eines Falles meine Schwächen nicht bekannt werden?“
 

„Genau. Je mehr du dich an jemanden bindest, desto mehr kann das gegen dich verwendet werden. Aber das sollte dir ja nicht so viele Probleme bereiten. Du bist ja sowieso nicht der gesellige Typ. Bis später, Katsura erwartet dich heute Nachmittag nach seiner Ankunft in seinen Privatgemächern. Sei pünktlich!“ Damit stapfte Izuka davon. Kenshin starrte ihm hinterher.
 

Izuka hatte zweifelsohne recht, überlegte Kenshin. Als Attentäter war man sowieso ein Einzelkämpfer. Außerdem würde er dann keinen in seinen blutigen Alltag mit hineinziehen müssen. Yoshidas freundliches Gesicht kam ihm in den Sinn und er fühlte sich plötzlich leer und ausgebrannt. Heute also würde auch sein bisher einziger Freund alles erfahren. Hoffentlich bekäme er irgendwie Gelegenheit, es ihm selbst zu sagen...
 

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Ungeduldig hielt Daisuke von seinem Zimmerfenster aus Ausschau nach einer Gruppe Reisender. Nach einer Wartezeit, die ihm wie die Ewigkeit vorkam, in Wahrheit jedoch nur eine Stunde gedauert hatte, sah er endlich ein paar Wanderer in unauffälliger und schäbiger Kleidung. Sie sahen aus wie Bauern und hatten ihre Hüte tief in die Stirn gezogen. Nacheinander, fast beiläufig, verschwanden sie alle in der Herberge. Daisuke eilte nach unten, um Buntaro zu begrüßen. Und um Yoshida abzufangen.
 

Im Innenhof erklangen jetzt fröhliche Begrüßungen und geschäftige Kommandos von Okami-san, die bereits ein Mittagessen für die Ankömmlinge vorbereitet hatte. Katsura Kogoro und Katagai eilten sofort in ihre Privaträume, wo bereits das Essen und ein dampfendes Bad für sie bereit stand.
 

Die anderen Männer jedoch waren froh, nach der langen Reise ihre Kumpanen wieder zu treffen und noch während sie sich den Staub von den Wandersachen klopften wurde bereits wild durcheinander geredet. Von der langen Reise hungrig und verdreckt, beschloss man, das Essen gleich im Innenhof auf der Veranda sitzend einzunehmen.

Die Soldaten, die jetzt fast zwei Wochen nicht mehr in Kyoto gewesen waren, wollten alles wissen, was nur in Form von zumeist wilden Gerüchten an ihr Ohr gedrungen war. Gerne kamen die Kollegen, die bereits von Izuka alles erfahren hatten, ihren Wünschen nach. Sie erzählten von der neuen Offensive der Attentate und die Männer freuten sich, dass endlich Bewegung in die Sache kam, wenn sie es auch nicht unbedingt begrüßten, mit einem Hitokiri unter einem Dach leben zu müssen.
 

„Yoshida, Buntaro!“
 

Letzterer drehte sich um und sah Daisuke auf sich zukommen.

„Hey Daisuke,“ freute sich Buntaro erleichtert, „gut, dass du da bist. Wir haben,“ er senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, „viel zu bereden.“

„Oh ja,“ nickte Daisuke mit leuchtenden Augen. „Wo ist Yoshida?“

„Mh?“ Buntaro blickte sich überrascht um. „Gerade eben war er noch hier. Wir haben gerade angefangen, über die Attentate, über die wir selbst in Tosa so viel gehört haben, zu reden, aber da war er schon verschwunden. Sag mal, stimmt es wirklich, dass Himura...?
 

Daisuke schnitt ihm das Wort mit einem knappen Nicken ab. „Deswegen müssen wir ja dringend reden. Aber ich brauche Yoshida!“
 

„Suchst du mich?“ meinte eine fröhliche Stimme hinter ihm.

Schnell zwang sich Daisuke zu einem Lächeln. „Yoshida!! Schön, dass du wieder da bist!“

Yoshida nickte bestätigend. „Puh, hier ist ja was los. Kaum kommt man heim, da geht das Gerede los. Aber ich musste jetzt erst mal dringend aufs Klo. Ich hab’s gar nicht mitbekommen, was war da mit den Attentaten und Himura?“
 

„Ach, das erkläre ich am besten, wenn wir unter uns sind,“ meinte Daisuke und zwinkerte Buntaro unauffällig zu, der bereits über Kenshins Identität im Bilde war. „Kommt mal mit, wir reden besser allein.“

„Aber das Essen?“ protestierte Yoshida, als Buntaro ihm am Ärmel wegzog.

Buntaro schnauzte ihn an, dass es auch noch wichtigeres als Essen im Leben gäbe und beleidigt stapfte Yoshida hinter ihm her in eine leere Abstellkammer neben der Küche.
 

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Kaum ertönte das leise Quietschen der Eingangstür, da war Kenshin auch schon aus seinem leichten Schlummer erwacht, in den er, an sein Zimmerfenster gelehnt, nach dem Frühstück gesunken war. Hellwach lauschte er auf die lauten Stimmen, die nun durch die Herberge hallten.
 

Yoshida, Yoshida, Yoshida schoss es ihm wie ein Kugelhagel durch den Kopf. Wie sollte er seinem Freund jetzt alles erklären? Schon tagelang wusste er, dass dieser Augenblick der Wahrheit kommen würde, doch er hatte es bis jetzt immer gescheut, genauer darüber nachzudenken. Wie sollte er seinem Freund sagen, dass er ihm bisher die Wahrheit verheimlicht hatte?
 

Er hoffte inständig, Yoshida würde schnell hoch in sein Zimmer kommen, um sich von der Reise umzuziehen. Er wollte nicht, dass ihm jemand anderes die Wahrheit erzählte. Doch selbst hier oben im ersten Stock konnte er hören, dass die Männer im Innenhof bereits über ihn sprachen. Wenn Kenshin jetzt etwas nicht wollte, dann, zu diesen plappernden Samurai hinunter zu gehen und sich von ihnen anglotzen zu lassen.

Doch der Wunsch, Yoshida zu sprechen, war stärker.
 

Kenshin betrat den Innenhof, in dem nun die in schmutzige Reisekleidung gehüllten Samurai neben ihren Kumpanen, die in Kyoto geblieben waren, saßen und fröhlich über dies und das plauderten. Natürlich war das vorherrschende Thema, registrierte Kenshin mit sinkendem Mut, immer noch die Attentate. Es verwunderte ihn daher nicht, dass alle Gespräche, sobald die Männer ihn auf der Veranda stehen sahen, erstarben und alle Augen auf ihn gerichtet waren.
 

Kenshin vermied es, irgend jemanden direkt anzusehen und er spürte die Hitze in sich aufsteigen. Er mochte es ganz und gar nicht, plötzlich so viel Aufmerksamkeit von allen zu erhalten, vor allem, da er wusste, dass der Grund für das aufgeflammte Interesse an ihm nicht er selbst, sondern die Taten seines Schwertes waren. Außerdem spürte er deutlich, dass die Mehrzahl der Männer misstrauisch waren. Ein paar lächelnden mitleidig und signalisierten, das sie nichts von Kenshin und seinen Taten hielten. Und mehr als ein paar schauten ihn so zweifelnd an, dass es offensichtlich war, dass sie Kenshin für eine halbe Portion hielten und nicht so recht an seine blutigen Taten glaubten.
 

„Wahrscheinlich,“ hörte er deutlich zwei Männer ganz am anderen Ende des Innenhofes wispern, „ist er nur der Strohmann für den neuen Hitokiri. Wieso sonst hätte uns Izuka-san alles erzählen sollen? Je mehr Männer das Geheimnis kennen, desto leichter wird es ausgeplaudert. Und am Ende ist das Bakufu auf der Jagd nach diesem armen, schmächtigen Jungen und der wahre Hitokiri mordet fröhlich weiter.“
 

Strohmann? Kenshin versuchte, seine Wut in Zaum zu halten. Schnell versuchte er, Yoshida irgendwo ausfindig zu machen, doch er konnte ihn nirgends sehen. Er verfluchte seine Idee, überhaupt hier heruntergekommen zu sein und seinen sicheren, einsamen Raum verlassen zu haben.
 

Eilig ging er auf den Mann zu, der ihm am nächsten saß. Dieser hielt auf halbem Weg mit den Stäbchen zum Mund inne, als er den Jungen bemerkte, der offensichtlich mit ihm reden wollte. Er bemerkte auch, dass seine Kameraden neben ihm schnell ein Stückchen von ihm wegrückten.
 

„Gomen nasai,“ begann der Junge mit überraschend sanfter Stimme zu fragen, „weißt du zufällig, wo ich Yoshida finden kann? Yoshida Omi?“
 

Der Angesprochene legte seine Stirn in Falten. Nicht, weil er überlegte, wo Yoshida war, sondern weil er sich nicht vorstellen konnte, das dieser Junge mit der sanften Stimme wirklich ein Hitokiri war. Wenn es nicht Izuka gewesen wäre, der ihm diese Sache erzählt hätte, dann hätte er es nicht geglaubt.
 

Kenshin spürte, wie er von dem Mann gemustert wurde und atmete ungeduldig aus.

Er wollte so schnell wie möglich wieder aus dem Innenhof verschwinden. „Und?“ fragte er deshalb noch einmal nachdrücklicher, seine Stimme schon frostiger als noch zuvor.

Die Falten in der Stirn seines Gegenübers vertieften sich. So kalte, blaue Augen überlegte der Mann. Schließlich antwortete er etwas überheblich, „Yoshida? Der kleine, nervige Typ? Ich glaube, der ist gerade eben mit Buntaro-san gegangen, die wollten noch irgend etwas besprechen oder so. Keine Ahnung, wo sie hin sind.“ Dann wandte er sich wieder dem Essen zu.
 

Kenshin drehte sich um und ging wieder in die Herberge. In seinem Rücken hörte er das jetzt einsetzende Getuschel, das höhnisch und zweifelnd klang.
 

„Spinnst du?“ stupste ein anderer Samurai seinen Kameraden an. „Warum sprichst du so mit ihm? Willst du ihn auf dich wütend machen?“

„Ach was,“ entgegnete sein Freund, „schau ihn dir an. Er mag wohl dazu fähig sein, ein paar Leute aus dem Hinterhalt zu töten. Und vielleicht hatte Yabu Sekura gerade einen schlechten Tag und war betrunken oder so. Aber glaubt mir, in einem echten Kampf, auf Leben und Tod, da könnte er doch nicht mit uns kampferprobten Männern mithalten?! Wir haben schließlich jahrelang in namhaften Dojos trainiert - da war der Junge noch in dem Wald, wo er herkam und hat in seine Windeln gemacht.“

Die Männer lachten. Einer drehte sich jedoch etwas mulmig um und hoffte, dass der Junge das nicht gehört hatte. Irgendwie waren ihm seine Augen unheimlich.
 


 

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„Was wollt ihr denn jetzt von mir?“ maulte Yoshida inzwischen ziemlich ungehalten und riss seinen Arm aus Buntaros Klammergriff. „Und wo sind wir überhaupt?“

„In einer Besenkammer, ist das nicht offensichtlich?“ herrschte Buntaro ihn an, während er eine Spinne von seiner Schulter zupfte.

Angewidert betrachtete Yoshida das zappelige Tierchen, dass nun am Boden krabbelnd zwischen verstaubten Blumentöpfen verschwand. „Was auch immer ihr mir so wichtiges sagen wollt, beeilt euch, sonst bleibt nichts mehr zu Essen für mich übrig.“
 

„Ich möchte dir die Wahrheit sagen,“ begann Daisuke mit ernstem Blick.

„Wahrheit...?“ Yoshida blickte seinen Freund mit großen Augen an. Er spürte, dass es um irgendetwas Wichtiges ging und das Essen war vorerst vergessen.

„Die Wahrheit,“ fuhr Daisuke mit funkelnden Augen fort, „über deinen Zimmergenossen.“

Buntaro fuhr sich mit der Hand über die Augen. Warum musste Daisuke immer so theatralisch sein? Doch Yoshida schien davon äußerst beeindruckt. Er hielt die Luft an, während er zusammen mit Buntaro der unglaublichen Geschichte lauschte, die ihm Daisuke nun erzählte.
 

Es dauerte fast fünf Minuten, bis Daisuke mit seiner reichlich ausgeschmückten Rede zu Ende kam. „Und dann,“ schloss er, „hat er sich noch damit gebrüstet, wie viele Wachen er in Yamakas Villa erledigt hat. Es müssen mindestens 20 gewesen sein, hat er gegrinst, als ob es ihm Freude gemacht hat, die Leute abzumetzeln.“

„Ich... muss an die frische Luft,“ erklärte Yoshida mit tonloser, zitternder Stimme, als Daisuke geendet hatte und mit verwirrtem Gesichtsausdruck bahnte er sich seinen Weg aus der Herberge. Daisuke und Buntaro sahen ihm hinterher.

„Was sollte das?“ fragte Buntaro skeptisch. „Deine Geschichte eben war ganz schön drastisch... wolltest du ihm Angst machen?“
 

„Hör mir zu,“ packte Daisuke Buntaro bei den Schultern. „Es geht hier um alles!“

Er erzählte seinem Freund schnell von seinem missglückten Versuch, Asakura vor dem Attentat zu bewahren.

„Daisuke,“ zischte ihn Buntaro an, „dass war sehr dumm von dir!“

„Dumm? Ich wollte nicht, dass du es für umsonst riskiert hast, die Reiseroute von Katsura zu verraten!“

„Das war ja nett von dir gedacht, aber was machen wir jetzt?“ Düster starrte Buntaro in der staubigen Abstellkammer herum, in der sie noch immer standen.

„Ich habe einen Plan,“ erklärte Daisuke und seine Augen begannen zu glänzen. „Und dafür brauchen wir Yoshida.“

„Yoshida?“ Buntaro zog überrascht seine Augenbrauen hoch. „Wie kann der Trottel uns helfen?“
 

Daisuke lachte. „Überleg doch mal. Er ist bis jetzt Himura am nächsten gekommen. Die zwei haben sich sogar ein Zimmer geteilt. Ich denke, sie verbindet so etwas wie eine Freundschaft.“

„Freundschaft? Gerade eben hast du Yoshida doch noch erzählt, dass Himura ihn nur als Tarnung benutzt hat. Dass er als Hitokiri an keiner Freundschaft interessiert ist...“

„Teil meines Planes,“ rieb sich Daisuke fast vergnügt die Hände. „Ich habe alles genau durchdacht...“

„Dann...“ drängte Buntaro, „erzähl mir endlich von deinem Plan.“
 

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Kenshin saß in einem Zimmer und wartete, doch Yoshida kam nicht noch war seine Präsenz irgendwo in der Herberge zu spüren.

Er schaute auf die Uhr und stand auf. Noch länger konnte er nicht warten.
 

Als Katsura Kogoro den zierlichen und schlanken Jungen sein Zimmer betreten sah, war er fast ein wenig erschrocken. Trotz der Strapazen der schnellen und heimlichen Reise, die ihm selbst tiefe Ringe unter die Augen eingegraben hatte, sah Kenshin vor ihm noch viel erschöpfter aus. Sein kindliches Gesicht schien plötzlich gealtert und anstelle von großen, erwartungsvoll blickenden blauen Augen sah er jetzt ein Paar müder und stumpf wirkender Augen unter dem roten Haarvorhang hervorspitzen. Dennoch war sein Blick entschlossen wie eh und je.

Er lächelte den Jungen aufmunternd an und sah sehr zu seiner Erleichterung, wie wieder etwas Glanz in die Augen und Leben in sein Gesicht zurückzukehren schienen.
 

„Katsura-sama, es freut mich sehr, euch wieder wohlbehalten hier in Kyoto zu sehen!“
 

Katsura nickte. „Ohne dich wäre das nicht möglich gewesen. Ich muss mich vor dir verbeugen. Du hast mein Leben gerettet.“
 

Kenshin errötete leicht. „Ich habe nur getan, was Ehre und Pflicht gebieten.
 

Katsura lächelte. „Wie geht es dir?“
 

„Mir?“ Die Frage kam überraschend.
 

„Ja, dir, Kenshin. Du weißt hoffentlich, dass ich dir nicht gerne die Aufgabe zugetragen habe, die du jetzt erfüllst. Wenn du nicht mehr weiter kannst, dann hast du alles Recht der Welt, mir das zu sagen und wir finden eine Lösung.“
 

Kenshin blinzelte den Führer der Choshu Ishin Shishi vor sich verständnislos an. Hatte Katsura so eine geringe Meinung von ihm? Wie lange stand er jetzt schon in seinem Dienst? Einen Monat? Und Katsura glaubte, er wäre bereits am Ende?

Kenshin stählte sein Gesicht und straffte seine Haltung. Hatte er sich etwa zu sehr gehen lassen?
 

„Katsura-sama, ich habe euch meinen Schwertarm geboten. Ihr könnt solange darüber befehlen, wie ihr wollt. Mein einzigster Wunsch war und ist, euch auf die Art und Weise zu dienen, die ich kann. Ich bin weiterhin bereit unsere Feinde zu töten, auf dass ein neues Zeitalter errichtet werden kann, in dem die Schwachen und Hilflosen sicher leben können.“
 

„Das ist gut,“ nickte Katsura anerkennend.

Anscheinend war der Junge immer noch von dem starken Wunsch beseelt, die Welt zu verändern und den Unterdrückten zu helfen. Sein Gewissen schien rein von seinen blutigen Taten geblieben zu sein, auch wenn er seine Hände zu denen eines Mörders gemacht hatte.
 

Katsura beäugte Kenshin unauffällig und fragte sich, wie lange er diesen Zustand wohl noch erhalten konnte. Denn er wusste aus Erfahrung, dass das viele Töten einen Mann früher oder später um den Verstand bringen würde.

Und obwohl Kenshin einen starken Willen zu haben schien, wusste Katsura nicht, wie lange er sich wohl in den blutigen Strassen Kyotos behaupten können würde, bevor auch ihn der Wahnsinn einholte.
 

Seine Gedanken glitten ab zu seinem Freund Takasugi Shinsaku, der Anführer der Kiheitai. Auch dieser hatte ein sehr gewalttätiges Leben geführt, jedoch besaß er eine starke Frau an seiner Seite, die ihn vor der Dunkelheit in sich selbst beschützte.

Katsura hoffte, dass auch Kenshin einen Freund besaß, der mit ihm wenigstens einen Teil seiner dunklen Seite teilen würde.

Denn ohne irgendjemanden, ohne einen Freund oder Vertrauten, so überlegte Katsura in weiser Voraussicht, würde Kenshin ganz alleine mit sich selbst sein. Ganz alleine mit seinen guten Absichten und seinen bösen Taten – und das würde ihn früher oder später entzwei reißen.
 

„Die nächsten Tage,“ begann Katsura wieder zu sprechen, „hast du Zeit, dich deinem Training zu widmen. Du hast sozusagen frei. Ich habe Okami-san gebeten, dir einige Bücher von mir in dein Zimmer zu bringen, als geistige Ermunterung in deiner Freizeit. Außerdem ist Lesen ein gutes Mittel, sich auf andere Gedanken zu bringen,“ lächelte er.
 

„Arigatou, Katsura-sama.“
 

„Nach Ablauf einer Woche halte dich für neue Aufträge bereit. Mit Einbruch des neuen Jahres werden wir noch offensiver als bisher vorgehen. Du wirst viel zu tun haben, doch je schneller wir unsere Feinde beseitigen, desto schneller wird das Shogunat fallen. Du musst dein Bestes geben.“
 

„Das tue ich immer,“ bekräftigte Kenshin.
 

Katsura nickte. „Aber sei vorsichtig. Nicht jedem solltest du dich anvertrauen. Du weißt, irgendwo muss Information durchgesickert sein. Ich bitte dich also, auf der Hut zur sein. Wenn dir irgendetwas verdächtiges auffällt, bitte ich dich, Izuka-san sofort Bericht zu erstatten.“
 

Mit diesen abschließenden Worten machte sich Katsura nun auf den Weg, die Lagebesprechung für die Männer abzuhalten und Kenshin eilte hinauf in sein Zimmer, hoffend, Yoshida dort endlich anzutreffen. Enttäuscht musste er feststellen, dass Yoshida nicht einmal da gewesen zu sein schien, denn alles war unberührt und so, wie Kenshin es zurückgelassen hatte. Nur ein großer Bücherstapel war neu.

Kenshin setzte sich daneben und blättere lustlos in ein paar Bänden, während er innerlich angespannt auf Yoshida wartete.
 

Es dauerte eine Stunde, die Kenshin wie eine Ewigkeit erschien, bis er die Fußstapfen seines Freundes hörte und die Schiebetür sich langsam öffnete.
 

„Kenshin!“ Yoshida blickte überrascht seinen Zimmergenossen an, der offensichtlich auf ihn gewartet zu haben schien. Dann sah er hastig weg und schloss die Tür wieder langsam hinter sich. Mit dem Rücken zu Kenshin blieb er vor der geschlossen Tür stehen und ein betretenes Schweigen entstand.
 

Sein klopfendes Herz plötzlich spürend wünschte sich Kenshin, Yoshida wäre so forsch und neugierig wie sonst immer gewesen und hätte ihn einfach mit Fragen bestürmt. Diese stille, zurückhaltende Art seines Freundes war ihm fremd und er wusste nicht, was er sagen sollte.
 

„Yoshida,“ brach er schließlich das Schweigen, „ich ...“
 

„Wer bist du?“ unterbrach ihn Yoshida leise, seine Stimme deutlich aufgewühlt.
 

„Was?“ Kenshin war von dieser Frage überrascht und ihm wurde bewusst, dass er selbst keine Antwort darauf hatte. Wer war er?

War er noch der Junge, der Gutes tun wollte, anderen helfen und für ein friedliches Zeitalter kämpfen?

Oder war er in Wahrheit ein kaltblütiger Killer? War das Töten seine wahre Natur?

Es erschütterte Kenshin zutiefst, dass er plötzlich nicht mehr sicher wusste, wer oder was er eigentlich war.
 

„Stimmt es, dass du der neue Hitokiri von Katsura-sama bist? Der in den letzten Tagen die Stadt in Atem gehalten hat? Über dessen blutige Taten man sich bis in die Provinz hinein schon Geschichten erzählt?!“
 

Ja, das war er. Kenshin schaute betreten zu Boden. Yoshida wusste also bereits alles. War das nicht zu erwarten gewesen? Warum tat es nur auf einmal so weh in seiner Brust?
 

Yoshida sog scharf die Luft ein und begann, im Raum auf und ab zu laufen.

„Wenn es stimmt,“ sprach er weiter und seine Stimme verlor etwas von dem anklagenden Ton, „dann hast du uns allen das Leben gerettet. Ich habe gehört, dass unsere Reiseroute verraten wurde. Ohne dich wären wir alle in einen Hinterhalt geraten.“
 

„Yoshida, bitte...“ Kenshin hatte es endlich geschafft, seinem Freund in die Augen zu blicken.

Er erschrak, denn Yoshidas sonst so freundliches Gesicht war nun grimmig und seine Augen hart.
 

„Ich billige nicht alle Methoden der Ishin Shishi. Dazu gehören auch die Auftragsmorde. Aber ich weiß, dass auch solche Taten getan werden müssen. Und es tut mir für dich leid, dass du es tun musst, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich freiwillig dafür gemeldet hast. Auch wenn mir Daisuke etwas anderes erzählen will, du bist kein Mörder.“
 

„Daisuke!“ entfuhr es Kenshin und seine Augen blitzten auf.
 

„Du hast kein Recht, auf ihn wütend zu sein!“ fuhr in Yoshida an. „Er glaubt nur das, was alle glauben. Und daran bist du selbst schuld. Du lässt niemanden an dich ran kommen und wirkst immer ernst und verschlossen. Außer mir hat dich, seit du in Kyoto bist, keiner näher kennen gelernt. Du bist für die Leute ein Mysterium, geheimnisvoll und das macht dich für sie so gefährlich. Sie können dich nicht einschätzen!
 

Ich glaubte bisher, ich kann dich einschätzen. Ich wusste, dass du irgendeine gefährliche Aufgabe für Katsura übernommen hast. Und ich habe gespürt, dass dich irgendetwas dunkles belastet. Und so wie du jetzt aussiehst, so blass und ... und.... ausdruckslos! So sieht doch kein Mensch aus, der glücklich oder zufrieden ist, mit dem, was er tut. Mit dem, was er ist!“
 

„Natürlich...“ flüsterte Kenshin mit brüchiger Stimme, „bin ich nicht glücklich damit, Leute zu töten.“
 

„Dann hör auf!“ rief Yoshida wütend. „Du bist kein geborener Killer, wer auch immer dir das einreden will. Keiner kann dich zwingen, so eine Aufgabe auszuführen, auch wenn du vielleicht ein Talent dafür hast.

Du machst dich selbst damit nur unglücklich. Du zerstörst dich selbst. Wo ist der Junge, der hier in Kyoto ankam, naiv, gutgläubig, offenherzig? Mein Freund, mein Zimmergenosse? Der lächelnd die Deppen in der Spielhalle abgezockt hat?

Ich sehe hier nur jemanden vor mir sitzen, der aussieht, als ob ihn nichts und niemand auf der Welt interessiert. Der gleichgültig vor sich hinstarrt.“
 

„Gleichgültig?“ Kenshins Augen weiteten sich. Wirkte er wirklich so auf andere? Dabei war er jetzt doch überhaupt nicht gleichgültig – nein, er war sehr aufgewühlt. War seine ausdruckslose Maske schon so ein Teil von ihm geworden, dass er gar nicht mehr merkte, wenn er sie aufhatte?
 

„Wer auch immer du bist...Du hast mich angelogen,“ entwich es Yoshida schließlich und er klang gekränkt.

„Nein, ich habe dir nur nicht alles erzählt,“ meinte Kenshin und fühlte sich leicht verzweifelt. Irgendwie hatte er sich das Gespräch nicht so schrecklich vorgestellt. Wo kamen plötzlich all die bedrückenden Gefühle in ihm her? Sein Herz raste und er hatte plötzlich unglaubliche Angst, seinen einzigen Freund zu verlieren.
 

Doch war das nicht genau das, was er eigentlich beabsichtigt hatte? Yoshida von sich fern zu halten, ihn abzuschrecken, damit er sich nicht mit jemandem wie ihm abgab? Warum war sein Plan plötzlich so schwer auszuführen?
 

„Nicht alles erzählen,“ lachte Yoshida bitter. „Das ist fast das gleiche wie Lügen.“

„Ich hatte Angst, dich zu verlieren,“ rutschte es Kenshin heraus, und er verdammte sich selbst für die Aussage. War das nicht absurd? Erst wollte er die Wahrheit sagen, konnte aber nicht und wurde nun dafür ein Lügner genannt – und jetzt wollte er Lügen und statt dessen kam nur die Wahrheit über seine Lippen!
 

„Mich verlieren?“ wiederholte Yoshida und seine Gesichtszüge wurden plötzlich viel weicher. „Also bedeutet dir unsere Freundschaft wirklich etwas? Du hast mich nicht nur benutzt?“
 

Benutzt? Hat Daisuke das Yoshida etwa so erzählt? Wütend entgegnete er: „Ich habe dich nicht benutzt, ich wollte dich vor der Wahrheit schützen!“
 

„Schützen?“ Ungläubig aber auch ein bisschen erleichtert schaute Yoshida seinen Freund an.

„Das ist es doch, was du eigentlich willst, oder nicht? Menschen beschützen.“

Yoshida schaute aus dem Fenster. Plötzlich sah er lebhaft den Mann vor sich, den er im Kampf getötet hatte. Diese unliebsame Erinnerung war die schrecklichste seines Lebens. Wie viele Erinnerungen dieser Art hatte sich wohl sein dummer Freund schon zugemutet? Er schüttelte heftig den Kopf.

„Kenshin no Baka!“ rief er wütend. „Bist du wirklich so naiv? Du tötest Menschen und willst andere schützen? Wie passt das zusammen?“
 

Menschen schützen und töten... Woher kamen Kenshin diese Worte nur so bekannt vor? Nein, er wollte sich jetzt nicht erinnern, nicht daran. Er hatte alles endlich hinter sich gelassen, um weitermachen zu können. Wenn die Vergangenheit jetzt wieder zu ihm zurück käme, würde sie ihn wahrscheinlich zerstören. Das durfte er nicht zulassen. Warum wühlte Yoshida in seinen Gefühlen und Erinnerungen herum wie in einer Kiste, fragte eine gereizte Stimme in ihm. Woher nahm er sich das Recht?

Wütend rief er, „Tu nicht so, als ob du alles wüsstest! Du weißt gar nichts!“
 

Yoshida blickte ihn verletzt an und entgegnete leise, „hast du es vergessen? Die Nacht, in der wir uns unterhalten haben?“

Kenshins Augen weiteten sich plötzlich, als es ihm wieder einfiel. Er hatte damals Yoshida gefragt...

„Du hast mich gefragt, ob ich schon mal einen Menschen getötet habe. Du kannst dich vielleicht nicht mehr erinnern, aber ich werde mich für immer an die Antwort auf diese Frage erinnern können!“
 

„Yoshida... es tut mir leid.“
 

„Was tut dir leid? Das Töten? Wie kannst du immer weitermachen, wenn es dir leid tut?“
 

„Es... geht mit der Zeit leichter.“
 

Yoshida starrte seinen Freund fassungslos an.

Ja, es war leicht gewesen, diesen Mann, einen Feind, zu töten. Aber wenn er sich vorstellte, das gleiche noch einmal tun zu müssen...

„Leichter!? Du solltest dich reden hören. Du klingst wie ein Hitokiri.“
 

Kenshin entwich ein bitteres Lachen, doch Yoshida fuhr ungerührt fort.

„... Hast du den Respekt vor dem Leben anderer schon verloren? Oder den Respekt vor deinem eigenen Leben? Du könntest da draußen selbst getötet werden.“
 

„Na und?“ fauchte ihn Kenshin an. „Mein Leben kümmert mich nicht, nur die Sache zählt. Für Katsura und das neue Zeitalter gebe ich mein Leben gerne hin. Was zählt schon ein Leben im Gegensatz zu einer größeren Sache? Hast DU das vergessen?“
 

Yoshida spürte erneut Wut in sich aufflammen. Wie konnte dieser dumme Junge nur so reden? Da fiel es ihm unvermittelt wieder ein – Kenshin hatte ihm einmal erzählt, dass er keine Familie mehr hatte. Die Traurigkeit, die er dabei in seinen Augen gesehen hatte, hatten ihn darüber grübeln lassen, dass der Junge wohl kein leichtes Leben hinter sich hatte.

Vielleicht hatte er nie die Liebe einer Mutter gespürt? Oder er hatte das Gefühl, am Tod seiner Familie oder jemand Nahestehendem schuld zu sein? Vielleicht fiel es ihm deswegen leichter, zu töten – jemand, der den Wert seines eigenen Lebens nicht erkennt, kann auch nicht den Wert anderer Leben ermessen.
 

„Und die anderen? Die Menschen, die durch deine Hand sterben?“

„Diese Menschen,“ erklärte Kenshin sachlich, „sind jedenfalls nicht vergessen! Sie sterben alle für eine gute Sache, verstehst du das nicht?“
 

„Aber dein Leben ist dadurch zerstört! Du bist kein Mörder!“ Yoshida schüttelte voller Unverständnis den Kopf. „Doch, das bin ich,“ hörte er Kenshin leise erklären.

Yoshida hämmerte mit der Faust auf das Fensterbrett. „Ich kann das nicht glauben!“

Jetzt war es an Kenshin, den Kopf zu schütteln. „Du weißt doch gar nichts über mich, Yoshida. Du kennst mich nicht einmal richtig.“
 

„Bitte, dann helfe mir, dich kennen zu lernen! Erzähl mir die Wahrheit über dich und dein Leben. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Jeder erzählt mir etwas anderes. Daisuke erzählt mir, du bist ein kaltblütiger Mörder und hast nur so getan, als ob du mein Freund wärst, um nicht aufzufallen. Aber ich kann nicht glauben, dass das schon die ganze Wahrheit ist.“
 

„Was ist denn die Wahrheit, die du glauben willst?“ fragte Kenshin leise.
 

„Ich weiß nicht,“ warf Yoshida seine Arme hilflos in die Luft. „Vermutlich, dass du der nette, freundliche aber viel zu ernste Junge bist, für den ich dich die ganze Zeit gehalten habe. Dass du naiv und idealistisch in diese Sache hineingestolpert bist. Dass du nur aus Pflichtgefühl gegenüber Katsura diese Taten begangen hast. Und dass...“
 

Yoshida stockte und sah aus dem Fenster. Kenshin folgte seinem Blick und sah, dass draußen die ersten Schneeflocken vorbeiwirbelten.
 

„... sprich weiter.“ Kenshins Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern. Es tat weh, Yoshidas Worte zu hören, die so gut sein Inneres beschrieben und gleichzeitig zu wissen, dass er diesen Freund verlieren musste.
 

Yoshida schluckte. „Und dass du mich wirklich nur schützen wolltest. Das du dich geschämt hast und mir deshalb nichts erzählt hast. Das es dir Leid tut, Kenshin!“

Er atmete tief durch. „Auch wenn du so ausdruckslos schaust – dein Gesicht ist eine Maske. Ich weiß, dass es dahinter anders aussieht. Jemand wie du kann nicht Menschen töten, ohne etwas dabei zu empfinden. Warum tust du dir das selbst an? Du begräbst dein Gewissen in dir!“
 

Kenshin schaute zu Boden. „Ist das wahr?“ fragte er Yoshida und sich selbst.
 

„Es wäre die Wahrheit, mit der ich leben könnte. Mit der ich weiterhin dein Freund sein könnte. Doch als dein Freund würde ich dich bitten, aufzuhören. Denn früher oder später wird dich all das zerstören, und das will ich nicht.“
 

„Yoshida...“ Kenshins Stimme klang sanft und verletzlich. Yoshida wurde plötzlich bewusst, wie sehr es den Jungen belastet haben musste, all die Tage ganz alleine zu sein, mit niemandem zum Reden.
 

„Ich bin jetzt wieder da...“ beugte sich Yoshida zu Kenshin hinab, der immer noch auf dem Boden saß, das Gesicht hinter den roten Haaren verborgen. „Ich werde dich nicht im Stich lassen...“
 

„Yoshida. Nie hätte ich gedacht, dass du so ein guter Freund bist. Du durchschaust mich und blickst in mein Inneres, als ob es ein offenes Buch ist. Du interessierst dich nicht für meine Taten oder mein Schwert, sondern für mich. So wie ich wirklich bin. War. Vielleicht einmal vor zwei Wochen. Aber nicht mehr jetzt. Jetzt bin ich anders geworden. Ich bin gefährlich. Mit Kopf ist den Feinden inzwischen viel Wert. Sich mit mir abzugeben, kann tödlich enden. Und das will ich nicht. Denn auch du bist mein Freund und ich will dein Leben um jeden Preis schützen. Deswegen – bitte geh. Gehe in Freundschaft und behalte mich als deinen Freund und nicht als Mörder in Erinnerung. Hier im blutigen Kyoto hat unsere Freundschaft keinen Platz mehr. Bitte Yoshida. Geh und halte dich von mir fern!“
 

All das wollte Kenshin seinem Freund sagen, doch statt dessen füllte Schweigen solange den Raum, bis die Luft fast zum Schneiden dick schien.
 

Yoshida sah, wie Kenshin lange Zeit in seine Handflächen starrte und schließlich seine Schultern straffte und die Hände zu Fäusten ballte, fast so, als ob er sich jetzt endlich zu irgendetwas entschlossen hatte. Er trat näher heran und streckte seinen Arm aus, um Kenshin ermutigend und freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen. Ihre Blicke begegneten sich und Yoshidas Arm gefror mitten in der Bewegung. Nicht der ernste aber warme Blick des Jungen, den er gekannt hatte traf ihn, sondern die verengten, tödlich funkelnden Augen eines Killers.
 

„Du willst mich nicht im Stich lassen?“ musterte Kenshin ihn kalt und stand auf. „Du bist dümmer, als ich dachte, wenn du denkst, dass ich dich nötig habe oder brauche.

Ich brauche niemanden. Wenn du dich mit mir abgibst, dann behindert mich das nur.“
 

Yoshida taumelte zurück, von den Worten getroffen wie von einem Faustschlag ins Gesicht. „Behindern?“ Er hatte gerade seine Freundschaft und Unterstützung angeboten, und Himura nannte das eine Behinderung?

Kenshin blickte ihn grimmig an. „Ich erfülle eine äußerst wichtige Aufgabe in dieser Revolution. Und ich kann mir dabei keine Schwäche erlauben.“
 

„Und ich wäre deine... Schwäche?“ wiederholte Yoshida verwirrt, um Kenshins Worte zu verstehen.

„Bilde dir nicht ein,“ sagte Kenshin brüsk, „dass es dabei um dich geht. Es geht rein um die Tatsache, dass dich andere benutzen könnten, um an mich heranzukommen.“
 

„Und... unsere Freundschaft?“ fragte Yoshida vorsichtig. „Jeder Mensch brauch doch jemanden, dem er sich anvertrauen kann. Auf den er sich verlassen kann.“

„Falsch!“, schnitt Kenshins Stimme durch die Luft wie ein scharfgeschliffenes Schwert. „Man kann sich nur auf sich selbst verlassen. Nur auf seine eigene Stärke. Freundschaft ist eine Schwäche, die ich... die sich ein Hitokiri nicht erlauben kann.“
 

Täuschte sich Yoshida, oder hörte sich Kenshin so an, als ob er sich selbst nicht so ganz glauben könnte? Er fasste neuen Mut.

„Und bist du denn ein Hitokiri? Bist du tief in dir wirklich ein Mörder? Ich glaube das jedenfalls nicht!“
 

Kenshin drehte sich von ihm weg. „Du weißt nichts über mich.“
 

„Herrgott noch mal!“ rief Yoshida, langsam genervt von dem Gespräch, dass sich im Kreis zu drehen schien. „Dann sag es mir doch endlich. Wer du wirklich bist!“
 

Er lief zu Kenshin hin und baute sich vor ihm auf. „Sag mir die Wahrheit!“
 

„Die Wahrheit...Ich...“ Kenshin versteckte sein Gesicht wieder hinter seinem roten Haarvorhang und grub seine Fingernägel so fest in seine Handflächen, bis es schmerzte.
 

„... bin ein Killer.“
 

Seine Stimme wurde plötzlich viel tiefer als gewöhnlich und ihr Klang war emotionslos und so kalt, dass es Yoshida schauderte.

„Ich wurde mit dem Talent zum Töten geboren und darin trainiert. Und dieses Talent nutze ich nun. Und wehe, du kommst noch einmal in meine Nähe. Vielleicht... töte ich dann auch dich. Also verschwinde besser und such dir einen neuen Zimmergenossen.“
 

Mit diesen Worten ließ er Yoshida stehen und ging davon. Er versuchte, seinen Schritten etwas forsches und selbstsicheres zu verleihen, doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Boden unter ihm plötzlich wankte und er taumelte. Er beschleunigte seine schwankenden Schritte.
 

Nur weg, nur weg... das waren seine einzigen Gedanken.
 

Yoshida sah ihm hinterher. Die Worte seines Zimmergenossen – seines Freundes – hallten noch in seinen Ohren. „Ein Killer...“ flüsterte er in den leeren Raum. „Kenshin Himura... du bist so wenig ein Killer wie du ein guter Lügner bist.“
 


 

--
 


 

Naahh, das Kapitel hat ja ewig gedauert *g* Ich hoffe, die Länge entschädigt über die Wartezeit.

Seid ihr auch überrascht, wie viel Psychologie Yoshida eigentlich drauf hat? Trotz seiner trotteligen Art ist er ein ganz anderer Kaliber als Kenshin, er durchschaut ihn sofort.

Der Titel des Kapitels ist wohl offensichtlich – doch was ist die Wahrheit denn nun? Jeder hat eine andere und oftmals ist Wahrheit mehr Lüge...
 

Das nächste Kapitel ist schon in Arbeit, aber leider stecke ich da zur Zeit ganz schön drin fest. Feedback wäre daher sehr willkommen!!
 

Nächstes Kapitel: Kenshin trifft auf den berühmten Waffenschmied Arai Shakku.
 

Japanische Vokabeln:

-Kami-sama: Oh Gott!

-Ishin Shishi: Die Patrioten, die für die Wiedereinsetzung des Kaisers und die Abschaffung des Bakufu kämpften

-Shinsengumi: Truppe Elitekämpfer, die das Bakufu gegen die Revolutionäre aufstellte.

-Choshuu-Uniform: Hab ich aus dem OVA übernommen. Dort trägt Kenshin immer den charakteristischen dunkelblauen Gi (Kimono-Oberteil) und dazu dunkelgraue Hakama (weite Bind-Hose)

-Obi: Gürtel

-Katana (Langschwert), Wakizashi (Kurzschwert)

-Katsura Kogoro: einer der drei Patrioten, die die Meiji-Restauration herbeiführten

-Kohagiya: Herberge und Unterschlupf der Ishin Shishi in Kyoto

-Kuso: Verdammt

-Gomen nasai: Entschuldigung

-Bakufu: Militärregierung des Shogunats

-Hitokiri: wörtl. Übersetzt Menschenschlächter.

Kapitel 12 - Arai Shakku

Anm: z.Z. fällt mir das Weiterschreiben ziemlich schwer... es kann also etwas dauern, bis das Nächste fertig ist, sry ^^°

Für Kommentare und Feedback wäre ich sehr dankbar!
 

An dieser Stelle ein großes Dankeschön an ZMistress und Carcajou, die mich immer unterstützen und mir ermutigen, weiterzuschreiben.
 


 

Divinge Justice
 

Kapitel 12 – Arai Shakku
 


 

Einzelne, weiße Schneeflocken fielen langsam zu Boden, wo sie sich auf der staubigen Strasse sofort in dreckigen Matsch verwandelten.

Dennoch war an diesem Winternachmittag halb Kyoto auf den Beinen, um die wirbelnden Flocken zu begrüßen, denn Schnee war in dieser Gegend eher die Ausnahme als die Regel.
 

Durch die Menschenmengen drängelte sich auch ein schmächtiger Junge, dessen einziges auffälliges Kennzeichen sein rotes Haar war, auf dem sich nun in kleinen, weißen Punkten der Schnee zu sammeln begann. Kenshin Himura war weder mit Hut noch mit Haori unterwegs, aber es war ihm nicht kalt, im Gegenteil – er hoffte, dass die kalten Flocken die Hitze in ihm endlich abkühlen würden.
 

Doch sobald er an das so gar nicht nach seinen Vorstellungen verlaufene Gespräch mit Yoshida zurückdachte, flammte sofort wieder heiße Wut in ihm auf – Wut über sich selbst.

Er hatte versucht, so gut es ihm möglich gewesen war, Yoshida davon zu überzeugen, sich nicht mehr mit ihm einzulassen. Und jetzt lief er schon seit einer Stunde ziellos durch die Strassen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass das die richtige Entscheidung gewesen war.
 

Eigentlich müsste er sich jetzt doch erleichtert fühlen? Er hatte es hinter sich gebracht und hoffentlich Yoshida überzeugen können, sich nie wieder mit ihm abzugeben.

Doch warum fühlte er sich jetzt nur noch elender als zuvor?

Es führte kein Weg daran vorbei: Kenshin musste sich schließlich eingestehen, dass er nicht nur Yoshida sondern auch sich selbst belogen hatte. Nichts verlangte sein zerrissenes Herz im Moment mehr wie einen Freund, der die Dunkelheit, die ihn immer mehr einzunehmen schien, lindern konnte. Doch gleichzeitig kam er resigniert zu dem Schluss, dass dies wohl der einzigste Weg war, den es jetzt noch für ihn gab. Und es war besser für alle, wenn er diesen Weg alleine ging.
 

Die kalten Schneeflocken kitzelten seine nackte Haut und plötzlich fühlte er sich wieder ganz ruhig und gelassen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ohne ausreichende Kleidung in den Winter hinauszurennen? Wenn er sich jetzt erkälten würde und Fieber bekam, dann würde er Katsura und der Revolution gar nichts mehr nützen. Als Hitokiri brauchte er alle seine Sinne und eine Erkältung mit andauernden Hustenanfällen war sicher nicht das, was ein lautloser Schatten der Nacht benötigte. Fröstelnd zog er seinen dünnen Gi enger um sich. Er fühlte sich plötzlich so einsam wie nie zuvor in seinem Leben.
 

Ohne zu wissen, wohin in seine Schritte trugen, stand Kenshin plötzlich vor einem kleinen, ein wenig abseits gelegenen Häuschen. Er schaute auf die Adresse und kramte in seinem Ärmel nach dem Zettel von Izuka. Überrascht stellte er fest, dass er ganz unbewusst zu der Adresse gelaufen war, zu der er heute sowieso hatte gehen wollen.
 


 

Kenshin klopfte mit kalten Fingern an die hölzerne Tür und wartete. Nichts tat sich. Die Schneeflocken wirbelten nun immer heftiger um ihn herum und die Kälte kroch ihm langsam von seinen feuchten Füßen die Beine hoch.
 

Hier stand er in der Winterkälte und würde nun das zweite Schwert in seinem Leben erhalten. In Gedanken sah er sich plötzlich bis zu den Oberschenkeln in einem Wildbach stehen. Seine Arme zitterten von dem Gewicht des Schwertes, dass er zum ersten Mal in der Hand hielt. Eine ruppige Stimme forderte ihn auf, abermals anzugreifen. Er hörte seinen eigenen, kindlichen Schrei in den Ohren und spürte den Wiederstand des Wassers, als er über die glitschigen Steine nach vorne in die Richtung seines Meisters hechtete.

Kenshin blinzelte, das Rauschen des Baches und die höhnende Stimme seines Meisters noch immer in den Ohren. Wütend hämmerte er ein zweites Mal gegen die Tür. Warum mussten ihn gerade jetzt diese Erinnerungen wieder einholen? Anscheinend hatte das Gespräch mit Yoshdia doch mehr Gefühlsregungen in ihm ausgelöst, als ihm lieb war.
 

„Shakku-san?“ rief er nun ungehalten, als sich nach ein paar Minuten immer noch nichts tat. „Shakku Arai?“
 

Die Tür öffnete sich endlich, doch niemand stand auf der anderen Seite, um ihn zu begrüßen.

„Hai?“ ertönte es von weiter unten. Verdutzt sah Kenshin den kleinen Jungen, der ihm gerade einmal bis zum Bauchnabel reichte. „Seiku desu,“ erklärte das Kind forsch.
 

Kenshins wütender Gesichtsausdruck erlosch. „Ähm,“ stammelte er während er überlegte, ob Izuka-san ihm nicht doch versehentlich die falsche Adresse aufgeschrieben hatte. Er ging zu dem Jungen in die Hocke. „Seiku-san, kannst du mir sagen, ob hier Arai Shakku wohnt?“

Der Junge nickte und sein Blick verdüsterte sich. „Mein Vater ist hinten in seiner Schmiede.“ Es klang für Kenshin, als ob Verachtung in der Stimme dieses kleinen Jungens läge.

„Folgt mir bitte.“
 

Kenshin trat hinter Seiku durch die Tür und in einen kleinen Innenhof. Links und rechts von ihm lagen Wohnräume, aus denen ein verführerischer Essensduft zu ihm herüber wehte. Etwas abseits davon vor ihm stand ein kleines Gebäude, nach den vielerlei Gerätschaften zu urteilen, die davor verteilt herum lagen und standen, wohl die Schmiede, aus der allerdings weder Rauch noch Hämmern ertönte.

„Bitte, Samurai-san,“ verbeugte sich der Junge artig, „wartet hier kurz.“
 

Kenshin sah den Jungen seinen Weg zwischen Amboss und Kühlbecken hindurchbahnen und in der Schmiede verschwinden. Wenige Sekunden später tauchte er wieder auf. „Mein Vater empfängt euch gleich,“ verkündete er mit steinerner Miene. „Er hat noch einen anderen Gast, aber der wird gleich gehen.“

„Danke,“ nickte Kenshin dem Jungen zu, der gleich darauf verschwand, offensichtlich erleichtert, zu seiner Mutter ins Haus zurückkehren zu können.
 

Wo er jetzt so alleine im Innenhof wartete, versuchte Kenshin, seine innere Ruhe wieder zu erlangen. Wie er es auch schon vorher mit anderen unliebsamen Erinnerungen gemacht hatte, versuchte er auch jetzt, das Gespräch mit Yoshida irgendwo in ein möglichst abgelegenes Areal seines Gehirns zu sperren, die Tür davor zu schließen und den Schlüssel wegzuwerfen. Es tat gut, zu spüren, wie seine Gedanken sich wieder fokusierten – und mit Erschrecken stellte er plötzlich fest, dass er die zwei ungewöhnlich starken Ki’s, die aus der Schmiede kamen, bisher gar nicht wahrgenommen hatte.
 

Sein Mund verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Solche Unaufmerksamkeit konnte unter anderen Umständen tödlich sein. Es war wirklich an der Zeit, die hinderlichen Gefühle für Yoshida aus seinem Bewusstsein zu vertreiben. Alle seine Instinkte waren nun wieder messerscharf und seine Augen hatten sich verschmälert. Vorsichtig versuchte er, die zwei Kämpfer in der Schmiede einzuschätzen, ohne dabei viel von sich selbst preiszugeben. Wer wusste, wie viel von seinen eigenen Gedanken er durch seine Unachtsamkeit schon verraten hatte?
 

Die eine Ki war zweifellos die eines meisterhaften Schmiedes und Schwertkämpfers. Das musste Arai Shakku sein, von dem alle, sogar Katsura, in höchsten Tönen sprachen. Einer der besten Schwertschmiede im ganzen Land und treu den Ishin Shishi ergeben.

Die zweite Ki, das spürte Kenshin sofort, war ganz anders. Sie war seltsam unstet und flüchtig, als ob jemand versuchen würde, sie zu unterdrücken, es aber nicht so ganz gelang.
 

Nach einigen Minuten hörte Kenshin, wie die Männer sich verabschiedeten und kurze Zeit später kamen sie auch schon aus dem Gebäude. Unbewusst glitt Kenshins Hand näher an seinen Schwertgriff heran. Mit stechendem Blick fixierte er den Besucher, dem Arai Shakku zum Abschied zunickte und der nun über den Innenhof auf ihn zukam. Er hatte kurze, schwarze Haare, trug unauffällige, dunkle Kleidung, war groß gewachsen und sein Gesicht trug einen ziemlich verkniffenen Ausdruck.

„Choshuu?“ fragte der Mann mit rauer Stimme, als er neben Kenshin angekommen war und sie sich beide aus dem Augenwinkel musterten.

Kenshin nickte kaum merklich.

Der Mann lächelte. „Satsuma.“ Er blickte hinter sich in Richtung des Schmiedes. „Gute Adresse für Leute wie uns,“ sagte er und dann war er verschwunden.
 

Kenshin sah ihm nach. Dieser Mann musste ein Hitokiri wie er gewesen sein. Ob wohl die meiste Kundschaft von Arai Shakku solche Leute waren?
 

„Samurai-san?“ verbeugte sich der Schwertschmied jetzt vor ihm und Kenshin erwiderte höflich die Verbeugung.

„Nennen sie mich Himura,“ stellte Kenshin sich vor. Arai Shakku zog eine Augenbraue hoch. „Bist du nicht der Junge von Katsura-sama? Ich erkenne doch sofort mein Wakizashi an dir wieder!“ Er lachte mit tiefer, polternder Stimme, doch seine Augen blickten weiterhin ernst und musterten Kenshin aufmerksam.

Dieser nickte bestätigend. „Ich-...“

„Und du kommst,“ unterbrach ihn Arai, „um nun zu deinem Wakizashi noch ein passendes Schwert zu kaufen?“

Kenshin nickte abermals. Seine Gesichtszüge entspannten sich etwas. Anscheinend gehörte Arai zu der Sorte von Menschen, die nur Fragen stellten, die sie sich auch gleich selbst beantworten konnten.
 

„Dann lass uns in mein Lager gehen. Ich wette, wir finden das richtige für dich.“

Kenshin folgte Shakku in die Schmiede. Der schon etwas ältere Mann mit kurzen, bereits grau gewordenen Haarstoppeln schob mit leichter Hand ein paar Kisten beiseite und öffnete eine quietschende Falltür am Boden. Dann zündete er eine Kerze an und stieg leichtfüßig vor Kenshin hinab. „Entschuldigung für den vielen Staub und den unangenehmen Raum – aber das Bakufu hat nur allzu gern ein Auge auf Waffenschmiede. Sie kontrollieren streng die Anzahl an Schwertern, die wir herstellen und auch, an wen wir sie verkaufen. Deswegen muss ich alles, was mit den Patrioten zu tun hat, hier im Keller abwickeln.“
 

Unten angekommen verschlug es dem rothaarigen Jungen die Sprache. So viele Waffen hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen. Und was für Waffen!
 

Da waren nicht einfache Schwerter – es gab Schwerter mit glatter und zackiger Klinge, in gebogener oder gerader Form, einschneidig und zweischneidig, lang, kurz, dünn und dick.

Doch nicht nur Schwerter waren da an der Wand aufgereiht. Auch eine ganze Menge an verschiedensten Lanzen, Speeren und Hellebarden, Kampfmesser, Wurfgeschosse nach Art der Ninja oder seltsame Äxte und Beile mit verschiedensten Klingen waren an der Wand befestigt und glitzerten hungrig im Kerzenschein.
 

„Was kann ein Junge wie du brauchen?“ hörte Kenshin Shakku vor sich hinmurmeln. „Sicherlich kein Küchenmesser aber auch keine Schlachtaxt. Ein gutes, einfaches Schwert müsste es tun.“ Er ging auf einen der Schwertständer an der Wand zu und nahm ein Katana in einer dunkelroten Lackscheide heraus.
 

Kenshin nahm das Schwert entgegen, musterte die Scheide und zog es dann langsam heraus. Schon beim Ziehen spürte er, dass dieses Schwert nicht passend für ihn war.

Auch Shakku schüttelte den Kopf und nahm es ihm mit den Worten „Nein, ganz falsch“ wieder aus der Hand.

Brummeln beugte er sich zu einem Schwert weiter unten im Ständer hinab. „Dann vielleicht dieses?“

Er übergab Kenshin ein Katana, das in einer schweren, schwarzen Scheide steckte. Prüfend wog es Kenshin in seiner Hand, doch bevor er es überhaupt ziehen konnte, war das Schwert schon wieder aus seinen Händen verschwunden. „Wohl auch nicht,“ runzelte Shakku die Stirn.
 

„Normalerweise aber höchstens drei Versuche...“, hörte ihn Kenshin murmeln, während er in dem Kellerraum umherzuirren schien und schließlich mit einem freudigen „Aha!“ ein weiteres Katana aus einem der Ständer fischte.
 

„Hier,“ präsentierte er nun mit zuversichtlichem Lächeln Kenshin ein Schwert, das in einer schweren, eisernen Lackscheide steckte. Mühelos hielt Kenshin es auf Augenhöhe und zog langsam die Klinge. Arai Shakku beobachtete ihn dabei ganz genau.

Kenshin hatte das Schwert nun ganz von seiner schützenden Hülle befreit und schwang es vorsichtig ein paar Mal, um nichts in dem engen, vollgestopften Keller umzuwerfen. Das Lächeln im Gesicht von Arai Shakku erlosch so plötzlich wie eine Kerzenflamme im Gewittersturm.
 

„Offensichtlich,“ stellte er enttäuscht und auch etwas ungläubig fest, als er Kenshin das Schwert und die Scheide abnahm, „ist an dir mehr dran, als das Auge sieht.“ Seine Augenbrauen sträubten sich, während er Kenshin mit seinem Augen durchlöcherte , als ob er ihn eines seiner Messer in den Leib rammen würde. Kenshin hielt seinem durchdringenden Blick stand.
 

„Ja,“ meinte Shakku dann und nickte langsam, „ich glaube, ich verstehe jetzt einiges besser. Folge mir.“

Verwundert tat Kenshin, wie ihm geheißen und sah, wie Shakku am Ende des Kellerraumes einen Wandteppich zur Seite schob und die dahinter verborgenen Tür aufschloss.

„Die tödliche Krönung meiner kleinen Sammlung,“ lächelte er dabei Kenshin ohne Freude über die Schulter zu.
 

In dem Raum, den Kenshin jetzt betrat, befanden sich nur Schwerter – aber die seltsamsten, die Kenshin je gesehen hatte.
 

Einige sahen wie ganz normale Katana aus. Und auch Wakizashi und Kodachi waren dabei. Aber da gab es auch seltsame Kreationen aus verschiedenen Schwertern. Ihm fielen zwei Schwerter an der Wand auf, die dort überkreuz aufgehängt waren.

Shakku bemerkte Kenshins Blick. „Das hier,“ erklärte er begeistert und nahm die zwei Schwerter von der Wand, „ist das Renbattou.“ Er steckte die Schwerter am Stichblatt zusammen und hielt nun ein Schwert mit doppelter Klinge in der Hand.

„Die Parallel-Wunde, die dieses Schwert macht, ist so gut wie nicht zu verarzten. Die Wunde, wenn nicht sowieso schon tödlich, wird sich unheilbar entzünden...“ Er nahm die Schwerter wieder auseinander und hängte sie zurück.
 

Kenshins Augen verschmälerten sich und er stellte mit Unbehagen fest, das seiner anfänglichen Bewunderung und Sympathie für diesen Mann nun Skepsis und Verachtung zu weichen schienen. „Eine ziemlich gemeine Waffe.“

Der Angesprochene seufzte wissend.
 

„Ich weiß nicht,“ sagte er, „in welcher Verbindung genau du zu Katsura-sama stehst. Aber ich weiß, dass auch du wie er und wie ich für ein neues Zeitalter kämpfst. Mein Talent ist das Schmieden von Schwertern. Und ich unterstütze die Revolution, in dem die tödlichsten Schwerter schmiede.“
 

„Waffen, die nicht verteidigen – Waffen, nur mit dem Zweck, gut zu töten?“ fragte Kenshin kalt.
 

Arai Shakku sah ihn an, eine Augenbraue in gespielter Verwundern nach oben gezogen.

„Wie ich dich einschätze, solltest gerade du die Bedeutung einer solchen Waffe gut kennen, Himura-san.“
 

Kenshins Augen weiteten sich etwas, aber er brachte sein Gesicht schnell wieder unter Kontrolle. Dieser Shakku hatte wohl einen ebenso scharfen Verstand wie die Klingen, die er schmiedete. Er senkte den Blick. „Ich verstehe, Shakku-san,“ sagte er leise mehr zu sich selbst als zu dem Schmied.
 

„Siehst du das Schwert da drüben?“ Shakku hielt die Kerze etwas höher und Kenshin sah auf einem Schränkchen einen Haufen dünnwandiges Metall liegen, aus dem irgendwo ein Griff emporragte.

„Das ist meine finale Kreation – Hakujin no Tachi! Ein Schwert mit einer Schneide, die so dünn ist, dass es dadurch möglich wird, jede kleinste Bewegung der Klinge zu kontrollieren. Und man muss nicht einmal mehr in die Reichweite eines Gegners kommen, um ihn zu töten. Es ist leider noch nicht ganz ausgereift.“
 

Kenshin starrte den älteren Mann an. Er wurde nicht schlau aus diesem Gesellen. Einerseits hatte er seine fast schon väterliche Ausstrahlung, eine ruhige und gesammelte Ki, die fast schon friedfertig wirkte – und doch standen sie gerade in einem Keller voller absolut tödlicher Waffen!

Arai Shakku entging nicht Kenshins ratloser Blick.
 

„Du brauchst ein Schwert? Brauchst du ein Schwert, das gut schneidet oder brauchst du ein Schwert, das gut tötet?“

Kenshin schaute zu Boden. Shakku nickte bestätigend. „Also vermute ich richtig. Wir haben die selben Ideale, du und ich.“

Fragend schaute Kenshin wieder auf.

„Nun,“ erklärte Shakku, „wir beide sehnen uns nach einem friedlichen Zeitalter, auch wenn wir es selbst vielleicht nicht mehr erleben mögen. Und wir beide kennen die Mittel, die den Weg in diese neue Ära ebnen werden.“

Shakku trat nun zu einem der Schwertständer und nahm ein Katana in schwarzer, metallener Scheide heraus.
 

„Das neue Zeitalter wird durch Metall und Blut geboren. Und du bist jemand, der sein Leben dem Weg des Schwertes verschrieben hat. Mein sehnlichster Wunsch ist, dass die Schwerter, die ich schmiede, dazu beitragen, das neue Zeitalter schnell herbeizuführen. Ich hoffe, du kannst mir helfen, diesen Wunsch zu erfüllen – deswegen übergebe ich dir dieses Schwert hier.“
 

Kenshin sah ehrfürchtig auf das ihm dargebotene Katana. Die schwarze Scheide glänzte matt im rötlichen Kerzenschein. Langsam nahm er es aus Shakkus Händen, trat einen Schritt zurück und zog es schneller, als mit dem Auge sichtbar. Der plötzliche Luftzug ließ ihre Kleidung flattern.

Es fühlte sich gut in seinen Händen an. Nicht nur gut – perfekt.

Arai Shakku überkreuzte zufrieden die Arme über der Brust.
 

„Hmpf,“ nickte er. „Ihr habt euch gefunden. Die Klinge dieses Schwertes ist die schärfste, die ich je geschmiedet habe. Und es ist härter und stabiler als irgendein gewöhnliches Schwert. Mit dieser Scheide gelingt ein normaler Battoujutsu-Schlag mit doppelter Geschwindigkeit. Wie das allerdings bei deiner Geschwindigkeit noch möglich sein soll...“ Er lachte. Wieder dieses tiefe Poltern.
 

Kenshin ließ das Schwert langsam in seine Scheide zurückgleiten. Irgendwo in ihm regte sich eine kindliche Freude über die Schönheit dieses Schwertes, seine Eleganz, seinen Schwung, seine hervorragend gearbeitete und ausbalancierte Form. Bei dem Gedanken, gleich dieses Meisterstück, dass sich schon jetzt wie ein Teil seines Körpers anfühlte, auszuprobieren, leuchteten seine Augen kurz auf. Doch sofort legte sich wieder ein Schatten über das helle Blau. Ausprobieren woran, dachte er düster vorausahnend und spürte ein seinem Arm das inzwischen viel zu vertraute Gefühl, nicht durch Bambus oder Holz sondern durch Menschen zu schneiden.
 

Aus dem Augenwinkel hatte ihn Shakku genau beobachtet.

„Weißt du, Himura-san, du bist anders,“ riss seine tiefe Stimme Kenshin unvermittelt aus seinen Gedanken.

„Die Leute, die sonst zu mir kommen... du solltest ihre Gesichter sehen, wenn ich sie in diesen Raum führe. Sie leuchten!“ Selbst in dem flackernden Kerzenschein konnte Kenshin deutlich die Abscheu sehen, die Arai Shakku jetzt ins Gesicht geschrieben stand.

„Diese Menschen freuen sich, endlich die perfekten Waffen zum Töten gefunden zu haben. Ihre Augen glühen, weil sie daran denken, was sie alles mit diesen Werkzeugen des Todes anstellen können. Manche lachen sogar schon vor Vorfreude.“

Shakkus Stimme klang plötzlich alt und gebrochen.
 

„Mein Sohn,“ fuhr er fort, „Seiku... er ist jetzt zehn Jahre alt. Noch ein bisschen klein für sein Alter, ich weiß. Aber wenn man mich so anschaut, wird er bestimmt noch wachsen.“ Er seufzte. „Mein eigenes Kind verachtet mich für diese Schwerter. Er ist erst zehn und versteht doch schon alles. Er weiß, was die Männer tun, die kommen, um diese Schwerter zu kaufen. Und er denkt, auch ich bin ein böser Mann wie sie. Ist das nicht traurig?“

Seine Stimme klang plötzlich seltsam erstickt und Kenshin wandte respektvoll seinen Blick ab. Shakku räusperte sich geräuschvoll und sprach dann mit fester Stimme weiter.

„Auch wenn mich mein eigenes Kind verachtet – ich schmiede diese Schwerter für meine Kindeskinder, damit sie aufwachsen können, ohne je einen Krieg oder Unfrieden erlebt zu haben. Das ist mein Traum und das ist, was mich vorwärts treibt. Auch wenn es mir mit jedem Hammerschlag so scheint, als ob in mir etwas stirbt.

Himura-san. Ich sehe in deine Augen und sehe darin den selben Schmerz, den auch ich kenne.“ Er packte Kenshin bei den Schultern, der wie gebannt in das vom Kerzenlicht erleuchtete Gesicht des älteren Mannes starrte.
 

Dieser Mann war so widersprüchlich - ihm so ähnlich. Auch er hatte das Gefühl, bei jedem Leben, dass sein Schwert auslöschte, sich selbst zu töten.
 

„Versprich mir, dass du dieses Schwert nur im Dienste zukünftiger Generation führen wirst. Niemals aus Eigennutz. Oder aus der Lust am Töten. Damit würdest du den Geist, in dem es geschmiedet wurde, verraten. Und sei versichert, dass ein verratenes Schwert auch seinen Träger früher oder später verraten wird.“ Das Glitzern in Shakkus Augen unterstrich den Ernst seiner Worte.
 

„Versprich mir: Schwinge dieses Schwert für ein neuen Zeitalter.“
 

Kenshin senkte den Kopf. „Shakku-san... ich liebe die Kunst des Schwertkampfes. Und so ein Schwert wie das ihre ist eine zu großzügige Gabe für jemanden wie mich.“ Seine Stimme wurde leiser. „Ich muss zugeben, dass ich es nicht mit Blut besudeln möchte.

Jedoch muss ich es tun, um damit eine neue Ära einleiten zu können.“
 

„Tu es,“ bekräftigte ihn Shakku. „Töte gut mit diesem Schwert. Werde eins mit ihm und fege all diejenigen, die dem Frieden im Weg stehen, mit deinem Schwertarm hinweg, als ob du selbst die Verkörperung der göttlichen Gerechtigkeit wärst.“
 

Kenshin zuckte unmerklich zusammen und nickte dann langsam. „Das werde ich.“ In seinen Fingerspitzen kribbelte es. Er wandte sich zum Gehen.
 

„Und, Himura-san,“ rief ihm Arai Shakku nach, der jetzt nur noch in Gesellschaft seiner Tötungsmaschinen in dem Kellerraum stand und etwas verloren wirkte, „wenn du einmal das Gefühl haben solltest, die Klinge sei stumpf geworden – dann besuch mich doch einfach. Ich bin sicher, ich kann dir helfen.“
 

Fast so etwas wie ein Lächeln kroch Kenshin über das Gesicht, als er über die Stiege aus dem Kellerraum wieder in das Tageslicht trat.
 

--
 

Als hinter Kenshin die Holztür zum Anwesen des Schwertschmiedes Arai Shakku zufiel, war es bereits später Nachmittag. Die fröhlichen Schneeflocken hatten sich in einen bitterkalten Schneeregen verwandelt und die meisten Leute hatten es vorgezogen, sich in das warme Innere ihrer Häuser zurückzuziehen, so dass kaum jemand noch in den Strassen unterwegs war.
 

Doch Kenshin störte das Unwetter nicht. Er spürte nur das Gewicht des neuen Schwertes an seiner rechten Seite und das ungewohnte Gefühl von freudiger Erwartung. Fast in doppelter Geschwindigkeit wie sonst legte er den Weg zum Kohagiya zurück, legte unbemerkt das ihm geliehene, alte Schwert in die Küche neben den Herd, wo es Okami-san sofort finden würde und machte sich dann schnell auf den Weg zu seinem Zimmer, um sich trockene Kleidung anzuziehen.
 

Mit etwas mulmigem Gefühl schob er langsam die Tür auf und erwartete, alle Anzeichen von Yoshidas früherer Anwesenheit verschwunden zu sehen doch statt dessen musste er verblüfft feststellen, dass nicht nur Yoshidas Sachen wie immer an ihrem Platz lagen sondern auch Yoshida selbst mit überkreuzten Armen und trotzigem Blick auf seinem zusammengefalteten Futon saß und dort offensichtlich auf ihn gewartet hatte.
 

„Yoshida?“ rutschte es ihm fast schon erfreut über die Lippen. Schnell räusperte sich und probierte ein tieferes, bedrohlicheres „Yoshida!“

„Nicht gut, Himura,“ entgegnete der Angesprochene mürrisch. „Du solltest endlich anfangen, deinen Zimmergenossen ernst zu nehmen.“
 

Kenshin wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte wirklich alles in seiner Macht stehende versucht, um Yoshida von sich abzuschrecken, aber offensichtlich hatte es nicht funktioniert.

„Du bliebst... obwohl du die Wahrheit nun kennst?“

„Naja, jeder hat doch seine eigene Wahrheit, oder nicht?“ entgegnete Yoshida lässig. „Hör mir zu, Himura – ich mache dir ein Angebot. Ich bleibe, solange du willst. Und ich höre dir zu, wann immer du reden willst. Ok?“
 

Kenshin spürte, wie die gleichgültige Maske seines Gesichtes zerbröselte und ihn eine Wärme, die er fast schon vergessen glaubte, durchflutete. Er brachte kein Wort über die Lippen, aber Yoshida nickte bestätigend. „Ich an deiner Stelle wäre auch dankbar, so einen tollen Freund wie mich zu haben.“

„Freund...“ Kenshin sah zu Boden und sein roter Pony fiel ihm über die Augen, doch Yoshida konnte sehen, dass er lächelte.
 

„Und nun, Himura? Was hast du heute Nachmittag vor? Irgendwelche Aufträge?“

Sofort biss sich Yoshida auf die Lippen, als er sah, wie sich Kenshins Lächeln in Luft auflöste.

„Die nächsten Tage habe ich frei...“ sagte Kenshin schließlich leise.

„Gut!“ klatschte Yoshida in die Hände. „Dann lass uns also auch nicht von... anderen Dingen sprechen, ok?“
 

Kenshin nickte und begann, sich umzuziehen. Er zog seine zwei Schwerter aus dem Obi und legte sich ehrfürchtig auf seinen zusammengerollten Futon, bevor er seinem Wandschrank einen trockenen dunkelblauen Gi und dunkelgraue Hakama entnahm.

„Hast du ein neues Schwert?“ Yoshida beäugte die Waffen zu seinen Füßen. „Dein Altes sah schon ziemlich abgegriffen aus, aber das hier ist neu.“

„Ja,“ nickte Kenshin, „mein altes Schwert ist kaputt gegangen. Ich war gerade bei Arai Shakku...“

„Shakku Arai?!“ rief Yoshida entgeistert aus. „Der berühmte Schmied der Ishin Shishi?“

Kenshin musste schon wieder über seinen enthusiastischen Freund lächeln.

„Und? Hast du es schon ausprobiert?“

„Ich wollte mich erst umziehen, aber jetzt will ich es schon ausprobieren, ja.“

Yoshida sprang begeistert zur Tür. „Na dann los! Auf ins Dojo!“
 

Das Dojo, in dem die Männer der Choshuu Ishin Shishi trainieren konnten, lag genau neben dem Kohagiya und der Besitzer, ein Unterstützer der Ishin Shishi, hatte es netterweise Katsuras Männern zur Verfügung gestellt. Normalerweise hätte Kenshin darauf verzichtet, hier mit seinem neuen Schwert zu üben – der Raum entsprach nicht in mindesten seinen Ansprüchen. Er war zu klein, zu niedrig und – bei dem schlechten Wetter - zu vollgestopft mit Leuten. Doch heute war ihm das alles egal – er wollte endlich das Geräusch hören, dass sein neues Schwert beim Ziehen und Luftdurchschneiden machte. Wollte testen, ob er auch mit dieser neuen Waffe eins werden konnte, so wie mit seinem alten Schwert.
 

Sein altes Schwert – das war Hiko gewesen. Bei jeder Berührung mit dem vertrauten und abgegriffenen Schwert waren in seinen Gedanken noch die Worte seines Meisters herumgespukt und trotz seiner exzellenten Schwertführung war er sich immer ungenügend vorgekommen.
 

Dieses neue Schwert verkörperte wie nichts anderes seinen Neuanfang. Seine neuen Prinzipien. Seine Einstellung zur Revolution, zu Katsura Kogoro und zur Kunst des Schwertkampfes.
 


 

Als die beiden die Trainingshalle betraten, erstarb sofort der Lärm, der dort eben noch geherrscht hatte. Alle Männer – ob sie nun am Rand saßen oder mit erhobenen Bokuto in der Halle standen - sahen neugierig zu den zwei Neuankömmlingen hin. Vor allem Kenshin schien ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.
 

„Er trainiert? Mit dem Schwert?“ flüsterte einer der Männer.

„Endlich sehen wir, ob er wirklich so gut ist, wie man sich erzählt,“ meinte ein Anderer.
 

Kenshin ignorierte die Gespräche über ihn und suchte sich mit Yoshida einen freien Platz ganz am Ende der Halle. Kenshin legte sein Wakizashi an den Rand und lockerte sein neues Schwert. Yoshida legte seine Schwerter ebenfalls ab und nahm sich eines der Holzschwerter von der Wand. Beide begannen zuerst ein paar Aufwärm- und Atemübungen, dann folgten die einfachen Grundschwünge. Doch bereits bei den ersten Kata glitt Yoshidas Blick immer häufiger zu seinem Trainingspartner hinüber. Er schien plötzlich ein ganz anderer Mensch wie gerade eben noch zu sein. Seine sonst in letzter Zeit immer etwas traurig und stumpf blickenden Augen leuchteten nun und waren hochkonzentriert auf sein Schwert gerichtet.
 

Schon bald tat Yoshida gar nicht mehr so, als ob er sich aufwärmen würde sondern stand einfach nur mit offenem Mund da, das Bokuto noch in einem halbvollendeten Schlag erhoben. Auch die anderen Männer hielten mit ihrem Training inne und starrten nur den rothaarigen Jungen an, der tief in Gedanken die beeindruckendsten Kata vollführte, die sie je gesehen hatten.
 

Die Schwünge, die er vollführte, waren von einer unglaublichen Leichtigkeit und Eleganz, aber gleichzeitig äußerst kraftvoll und im Kampf von tödlichster Effektivität. Als Kenshin zu den schwierigeren Kata überging, waren einzelne Bewegungen gar nicht mehr auszumachen – alles verschwamm zu einer einzigen, fließenden Masse.
 

Plötzlich wurden die Schwünge langsamer, die Klinge wieder sichtbar und Yoshida hörte sich laut atmen. Anscheinend war Himuras Aufwärmtraining vollendet. Er steckte die Klinge ein und blieb ruhig stehen, die Arme locker an seinen Seiten hängend und die Augen geschlossen. Meditation, die üblicherweise ein Training beendet, dachte Yoshida und wurde sich plötzlich bewusst, dass er nicht einmal über die ersten Kata hinausgekommen war. Schnell packte er sein Bokuto fester. Auch die Männer wollten sich gerade wieder ihrem eigenen Training zuwenden und fingen schon an, miteinander aufgeregt über den Schwertstil dieses Jungen zu spekulieren, als plötzlich etwas wie ein heißer Wind durch das Dojo fegte.
 

Alle Gespräche erstarben auf der Stelle und alle Augen blickten instinktiv auf Kenshin, der die Quelle dieses unglaublichen und auch furchteinflössenden Kämpfergeistes zu sein schien.
 

Er stand einfach nur da, Katana immer noch eingesteckt, doch seine Augen jetzt geöffnet. Sie blickten strahlend und konzentriert auf einen imaginären Punkt irgendwo vor ihm. Sein Körper, gerade eben noch locker, schien plötzlich bis auf die letzte Faser angespannt und Energie versprühend.

Langsam beugte er sich zu seiner linken Seite, jede Bewegung bis ins kleinste Detail kontrollierend und seine Hand schwebte konzentriert über dem Griff seines Schwertes.
 

„Battoujutsu...“ flüsterten die Männer erwartungsvoll, „damit soll er Yabu Sekura geschlagen haben,“ und die Luft in der Halle schien plötzlich vor Spannung zu knistern. Yoshida spürte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand und es erschien ihm, als ob Kenshin bereits minutenlang in dieser Position verharrte und seinen imaginären Gegner fixierte.
 

Dann plötzlich, in weniger als dem Bruchteil einer Sekunde, schoss Kenshins Schwert wie ein Lichtblitz aus der Scheide und durchschnitt die Stille mit einem durchdringenden Zischen. Ehe Yoshida sich vergewissern konnte, dass er das gerade gesehene nicht geträumt hatte, hatte Kenshin sein Katana schon wieder eingesteckt und wiederholte die Prozedur, dieses Mal in der Hocke kniend mit einem Ausfallschritt nach vorne.
 

Yoshida blinzelte. Bevor der Schweißtropfen, der von seiner Nasenspitze geperlt war, auf dem Boden aufschlug, hatte Kenshin erneut einen Battoujutsu-Schlag ausgeführt, mit der gleichen, wahnsinnigen Geschwindigkeit wie beim ersten Mal.
 

Doch es ging weiter. Yoshida rieb sich nur die Augen, während Kenshin unterdessen in den verschiedensten, nur erdenklichsten Posen sein Schwert aus der Scheide schnellen ließ. Im sitzen, in der Hocke, beim Aufstehen, im Sprung nach vorne, im Sprung zurück, in einer schnellen Drehung, im Salto nach vorne, im Salto zurück...
 

Als Kenshin unvermittelt mit langsameren, einfachen Schwüngen weitermachte, erschien es Yoshida, als ob er aus einem Traum erwachen würde. War das gerade eben real gewesen? Er hatte gar nicht gewusst, ja nicht einmal in seinen kühnsten Träumen geahnt, dass es so viele Möglichkeiten des Battoujutsu gab.
 

Schließlich holte Kenshin zu ein paar letzten Schwüngen aus, die Klinge des Schwertes war jetzt wieder zu sehen. Die Zeit schien wieder weiterzulaufen. Die stromartige Spannung, die im Dojo geherrscht hatte, verflüchtigte sich. Nach ein paar routinemäßigen, abschließenden Schlägen steckte er sein neues Katana mit einem Seufzer wieder ein. Es hatte sich wie angegossen in seiner Hand angefühlt und allein schon von dem Geräusch, das es machte, während es die Luft durchschnitt, konnte Kenshin sagen, dass es unglaublich scharf geschmiedet war. Leider hatte er jetzt hier in diesem beengten Dojo nicht den Platz gehabt, um überhaupt von den Grundschlägen zu den speziellen Techniken der Hiten-Mitsurugi Schule überzugehen.
 

Er sah zu Yoshida hinüber und musste grinsen, weil das entgeisterte Gesicht seines Freunde wie ein nach Luft schnappender Fisch aussah. „Da-Das waren die beeindruckendsten Kata meines Le-lebens.“

Kenshin spürte die Hitze in sich aufsteigen, vor allem, als er plötzlich - nach der ehrfürchtigen Stille während seiner Übungen – das unvermittelt laut einsetzende Getuschel der Männer in seinem Rücken wahrnahm.

Irgendwie bereute er es plötzlich, hierher gekommen zu sein. Er hatte sich von seinen Gefühlen leiten lassen und der Versuchung nachgegeben. Wenn er etwas nicht wollte, dann soviel Aufmerksamkeit.
 

„Und das,“ fragte Yoshida immer noch etwas atemlos, „war also dein berühmter Hiten-Mitsurugi-Stil?“

Kenshin schüttelte leicht den Kopf. „Nein, nicht ganz. Das waren nur die ersten zwei Kata und ein paar Grund-Battoujutsu-Schläge. Die wirkliche Mitsurugi-Technik zeigt sich eigentlich erst bei den späteren Kata.“

Yoshida war wieder sprachlos. Sollte das etwa heißen, dass Kenshin noch nicht mal richtig angefangen hatte? Er schien ja nicht mal ansatzweise angestrengt oder erschöpft, geschweige denn auch nur halb so geschwitzt wie er.
 

Die anderen Männer redeten unterdessen ziemlich laut und unverhohlen über Kenshins kleine Aufführung. Die meisten von ihnen schienen wirklich schwer beeindruckt von seinem Können. Einige nickten ihm sogar ehrfürchtig und respektvoll zu. Trotz seines Alters schien dieser Himura bereits ein Schwertmeister zu sein.

Doch Kenshin spürte deutlich, dass die Mehrheit nun Angst vor ihm hatte. Es dämmerte ihnen anscheinend, dass er wirklich nicht der harmlose, kleine Junge war, für den sie ihn gehalten hatten, sondern – so wie Izuka es in seiner ihm eigenen, taktvollen Art offenbart hatte – eine Killermaschine mit tödlichem Talent.
 

„Kein Mensch kann sich so schnell bewegen, sage ich euch,“ hörte er die Männer reden. „Besser, man gibt sich nicht mit ihm ab. So was kann nicht menschlich sein.“

Kenshins Gesicht gefror zu einer ausdruckslosen Maske.

„Tut mir leid Yoshida, ich kann nicht länger hier bleiben. Das war eine dumme Idee...“

Schon eilte er in Richtung Ausgang.

„Himura, warte!“ rief ihm Yoshida noch nach und rannte hinterher, doch Kenshin war schon von alleine stehen geblieben. Allerdings sah Yoshida auch gleich, dass nicht sein Rufen der Grund dafür gewesen war. Vor Kenshin standen drei Männer in der Tür des Dojos und versperrten ihm den Weg nach draußen.
 

„Bist du fertig mit deiner kleinen Darbietung hier?“ höhnte der große, arrogant aussehende Samurai in der Mitte.

Kenshins Blick verdüsterte sich. Die Ki, die von den Männern ausging, war deutlich geprägt von Missgunst und Neid. Sie waren auf Ärger aus.

„Lasst mich durch,“ sagte er leise. Die Männer ignorierten ihn.

„Hier aufzutauchen und mit seinem Können anzugeben. Lächerlich!“ Der linke Samurai, ein großgewachsener, hagerer Mann, spuckte verächtlich aus. „Wir haben zwar nur deine letzten Schwünge gesehen, aber es hat dir offensichtlich gefallen, dich von allen anderen anstarren und bewundern zu lassen.“
 

„Wenn ihr nichts gesehen habt, dann solltet ihr lieber ruhig sein!“ hörte Kenshin hinter sich Yoshida wütend ausrufen.

„Ruhe!“ herrschte ihn der rechte Samurai an, ein schmieriger, kleiner Mann mit Glatze. „So jemand dahergelaufenes wie du kleiner Ronin hat nicht so mit uns zu sprechen. Wir sind aus der Familie der Iamatsu-Samurai, unser Name ist schon Jahrhunderte alt.“
 

„Wird Zeit,“ lächelte der Mann in der Mitte Kenshin überheblich an, „dass wir unserem kleinen Hitokiri hier seinen Platz in der Hierarchiepyramiede zuweisen.“

Er trat selbstbewusst vor und zog sein Schwert. Sein Körper war kräftig gebaut und gut trainiert. Er versäumte fast keinen Nachmittag, sein Talent mit dem Schwert im Dojo zur Schau zu stellen. Die Männer um ihn herum machten hastig Platz und bildeten einen Kreis.
 

Kenshins Gesicht verriet keinerlei Empfindung. Leise entgegnete er: „Ich habe nicht die Absicht, mit dem Schwert gegen irgendjemanden der Ishin Shishi zu kämpfen.“
 

„Ich bin nicht irgendjemand,“ rief der Samurai hasserfüllt, „ich bin Iamatsu Onaka. Zieh dein Schwert!“

„Ruhig Blut,“ mischten sich seine Begleiter beschwichtigend ein, „der Kleine hat recht. Wenn ihr mit Schwertern kämpft, dann verletzt du ihn wohlmöglich. Das wäre nicht gut, der Junge ist doch Katsuras Schützling.“

„Sein Laufbursche, nichts weiter,“ stieß Onaka zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er steckte sein Schwert wieder ein und ließ sich zwei Holzschwerter geben, von denen er eines Kenshin entgegenhielt. Dieser zögerte.
 

„Los, nimm es, Himura!“ rief Yoshida anfeuernd. „Zeig dem Kerl, dass er so nicht mit dir sprechen kann.“

„So, du hast also auch einen Namen,“ grinste Onaka süffisant, „und einen ziemlich unbekannten noch dazu. Wie kommt Katsura nur dazu, dich in seine Dienste aufzunehmen – ein Junge mit unbedeutendem Namen und unbedeutender Schwerttechnik. Katsura muss den Verstand verloren haben.“
 

Kenshins Augen verengten sich. Er riss Onaka das Bokuto aus der Hand. Dieser zog unbeeindruckt eine Augenbraue hoch. „So?“ höhnte er, „du hast also endlich den Mut gefunden, gegen mich anzutreten?“
 

„Du Depp!“ entgegnete Yoshida vom Rand aus und die meisten Männer nickten bestätigend. „Himuras Technik ist sehr wohl bekannt, es ist nämlich der Hiten Mitsurugi Stil...“

Die Männer versteinerten mitten im Nicken. Hiten Mitsurugi? Das erklärte natürlich einiges.
 

Onaka schien einen Moment lang erschüttert, fing sich dann aber gleich wieder. „Mitsorgui oder was? Wenn es so eine Technik überhaupt gegeben hat, dann ist sie schon lange ausgestorben. Wir werden ja sehen!“ Er ging in Angriffsstellung.
 

Kenshin tat es ihm gleich. Beide fixierten sich einen Moment lang und Onaka lächelte innerlich. Wenn auch dieser Junge einige gute Kata drauf haben mochte, seine Kämpfer-Ki war so gut wie nicht vorhanden. Mit einem Angriffsschrei stürzte er vor, doch ehe er sich versah, wurde ihm sein Boken aus der Hand geschlagen und er fand sich – nach Atem ringend - am Boden wieder.
 

„Iamatsu-san!“ Seine Begleiter sprangen vor und halfen ihm wieder auf die Beine.

„Was zur Hölle...“ Keuchend richtete sich Onaka auf. Er hatte den Schlag kaum kommen sehen. „Wie hast du das gemacht?!“ wollte er erbost den Jungen fragen, doch entsetzt musste er feststellen, das sich Kenshin schon auf halbem Weg zur Tür hinaus befand.

Sein Gesicht erblich vor kalter Wut. Noch nie war er so gedemütigt worden.

„Wie kannst du es wagen,“ spie er aus. „Mir kehrt man nicht einfach so den Rücken.“
 

Ohne Vorwarnung stieß er seine zwei Begleiter zur Seite und stürzte hinter Kenshin her. Seine Hand packte den Griff seines Schwertes.

„Himura, Achtung!“ schrie Yoshida auf, doch seine Warnung war nutzlos.
 

Kenshin wartete bist zum letzten Moment, dann schnellte er herum und parierte den Schlag Onakas, der auf seinen Hinterkopf gezielt hatte. Wie ein Blitz war sein Katana fast wie von selbst aus der Scheide geschossen.

Als Yoshida es wagte, seine Augen wieder zu öffnen, sah er Kenshin dastehen, sein blankes Schwert erhoben. Irgendwo hörte er das Klimpern von Metall, das zu Boden fällt. Keuchend schielte Onaka auf seine rechte Hand, die noch den Stumpf seines Schwertes umklammert hielt. Mühelos hatte Kenshins Katana den Stahl durchschnitten und die und die scharfe Seite der Klinge glänzte nun bedrohlich nahe an der Haut von Onakas Hals.
 

„Iamatsu Onaka,“ zischte Kenshin mit schneidender Stimme „versuche nie wieder, mich herauszufordern. Wir Ishin Shishi kämpfen nicht gegeneinander, nur miteinander – gegen unsere Feinde.“ Die Aura, die plötzlich von ihm ausging, war nicht konzentriert und stromgeladen wie ein Blitz, so wie sie bei seinem Training gewesen war. Statt dessen schien ihn ein Feuer von tödlicher Energie zu umgeben, so dass es schwer für die Männer war, auch nur wenige Zentimeter an ihn heranzutreten. Jeder schien instinktiv zu spüren, dass eine falsche Bewegung jetzt tödlich enden konnte und es ihnen eiskalt den Rücken hinab.

Kenshin beugte sich noch ein bisschen näher zu Onaka hin und wisperte ihm sanft, aber mit einem tödlichen Glitzern in den Augen, ins Ohr: „... beleidige nie wieder Katsura-sama. Wenn du gegen Katsura-sama bist, dann gehörst du zu meinen Feinden. Und als mein Feind,“ seine Stimme wurde noch leiser, „müsste ich dich töten.“
 

Mit kaltem Blick stieß Kenshin den Samurai von sich, steckte sein Schwert wieder ein und verließ das Dojo, gefolgt von dem hinter ihm herstolpernden Yoshida.
 

Zurück blieben die Männer, die immer noch im Kreis um den nun heftig schluckenden, schweißnassen Onaka und sein zerschlagenes Schwert standen.

Vor Wut dampfend stapfte er mit seinen zwei Gefährten im Schlepptau davon, ohne irgendjemanden noch eines Blickes zu würdigen. Kaum waren sie Weg, setzte eine heftige Diskussion im Dojo ein und jegliches Training war an diesem Tag vergessen.
 

„Iamatsu no baka!“ riefen einige Samurai.

Ein anderer sah ihnen kopfschüttelnd hinterher. „Wie kann man nur so leichtsinnig sein? Ich hätte wirklich gedacht, jetzt ist es aus.“ Ein anderen Soldat hob die durchtrennte Klinge vom Boden auf. „Ein klarer Schnitt,“ hauchte er fassungslos. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“

Die Männer nickten. „Kaum zu glauben, aber er muss bereits ein Meister seiner Schwertkunst sein!“

„Ein Meister des Battoujutsu,“ flüsterte der Soldat und seine Augen glühten. „Er wird uns den Weg für die Revolution ebnen, wie Izuka-san gesagt hat.“

„Battousai,“ murmelte irgendjemand, genau als eine windige Böe eiskalte Luft durch das Dojo wirbelte und alle Männer fröstelnd ihre Kleidung enger an sich zogen.
 


 

„Himura!“ rief unterdessen Yoshida seinem Freund zu, der auf die Strasse und dann davon eilte, „jetzt warte doch mal.“ Doch Kenshin wartete nicht und verschwand sogleich in der Menge. Sosehr sich Yoshida auch anstrengte, er konnte ihn nirgends mehr sehen.

„Verdammt, Himura,“ dachte Yoshida frustiert, „du hast doch richtig gehandelt. Warum läufst du jetzt davon?“
 

Doch Kenshin, der an diesem Tag nun schon zum zweiten Mal ziellos durch die Strassen hetzte, um seinen Kopf klar zu bekommen und sein Gemüt abzukühlen, war überhaupt nicht der Meinung, richtig gehandelt zu haben.
 

„Baka!“, schimpfte er sich selbst. „Wie konntest du dich nur so gehen lassen?“

Er hatte gerade eben diesem Onaka gedroht, ihn sogar verletzt! Und das, obwohl sie beide auf der selben Seite standen. Er hatte irgendwie immer angenommen, dass es allen Männern so ging wie ihm – das sie alle den Kampf gegen den Feind und ein neues Zeitalter als ihr höchstes Ziel sahen. Doch anscheinend, musste Kenshin jetzt bitter feststellen, war einigen Männern ihr eigener Name und die Ehre ihrer Familie wichtiger als Loyalität!
 

Er ballte die Faust. Nie hätte er sich von so jemanden so provozieren lassen dürfen. Er hätte dem Kampf schon vorher aus dem Weg gehen können. Wenn er seine Ki nicht unterdrückt hätte, dann hätte ihn dieser Okana wahrscheinlich auch nicht herausgefordert.

Er spürte, wie sich seine Fingernägel in sein Fleisch gruben.
 

„Gefühle,“ spuckte er aus, als ob dieses Wort ein tödliches Gift für ihn wäre. Sie ließen ihn weich werden, seine Wachsamkeit nachlassen, seine kontrollierten Bewegungen entgleisen.
 

Was war nur mit ihm los? Wo war seine übliche Gelassenheit geblieben? Früher hätten ihm so aufgeplusterte Typen keine Probleme bereitet. Doch gerade eben... er hatte überhaupt nicht nachgedacht, als er das Schwert gezogen hatte. Es war einfach Instinkt gewesen.

Um ein Haar, stellte Kenshin voller Entsetzen fest, hätte er ihm die Kehle durchgeschnitten.
 

Arai Shakku hatte Recht. Die Klinge war wirklich scharf.
 


 

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Anmerkungen:Nach dem letzten, ziemlich deprimierenden Kapitel wollte ich die Stimmung mal wieder etwas auflockern. Außerdem wollte ich unbedingt den Schwertschmied Arai Shakku, den wir ja aus dem Manga kennen, miteinbeziehen. Es hat mich interessiert, wie Kenshin ihn wohl kennen gelernt hatte usw.- denn er spielt ja keine unwichtige Rolle, schließlich hat er Kenshins Sakabattou geschmiedet. Übringens ist der kleine Seiku wirklich der erwachsene Mann, Shakkus Sohn, den wir aus Manga Bd.9 und 10 kennen *g*.

Und.... trommelwirbel.... endlich hören wir das erste mal etwas von Battousai! Ein Name, der bald nicht nur im Kohagiya die Runde machen wird.... doch dazu im nächsten Kapitel mehr.

Und ich habe die Hoffnung auf Reviews noch nicht aufgegeben!
 

Japanische Wörter:
 

Haori: Warmer Mantel

Gi und Hakama: Kimono-Oberteil und Hose

Arai Shakku: begann als herausragender Schwertschmied. Dann schmiedete er Schwerter, die nicht nur gut schneiden, sondern gut töten. Guter Bekannter der Ishin Shishi. Er will mit Schwert eine neue Ära schaffen.

Seiku desu: wörtl.: Ich bin Seiku. (Sohn von Arai Shakku)

Ki: Aura oder Energie eines Schwertkämpfers

Katsura Kogoro: Anführer der Choshuu Ishin Shishi

Choshuu: Provinz der Ishin Shishi

Satsuma: Mit Choshuu verbündete Provinz im Kampf gegen das Shogunat.

Wakizashi: Kurzschwert (Entsprechend: Katana: Langschwert)

Renbattou: Erfindung Arai Shakkus: Ein zusammensteckbares Schwert mit doppelter Klinge

Hakujin no Tachi: Schwert mit sehr langer, dünn geschmiedeter und extrem beweglicher Klinge (dies und das Renbattou benutzt der Schwertjäger Cho)

Dojo: Trainingshalle

Kata: vorschriftsmäßige Bewegungen/Formen einer Kampfkunst, eine Wiederholung der (für eine Technik) immer gleichen Bewegungsabläufe.

Bokuto: japanisches Holzschwert (im Westen auch häufig Bokken genannt)

Battoujutsu: Hauptmerk liegt dabei auf den Schneidetechniken der jeweiligen Schule. Allerdings beinhaltet es auch die Technik des Schwertziehens (heutzutage als Iaijutsu bekannt)

Baka: Idiot

Kapitel 13 - Gedanken eines Verräters

Kapitel 13 - Gedanken eines Verräters
 


 

Nachdem Yoshida erfolglos noch einige Minuten im Straßengedränge nach seinem rothaarigen Zimmergenossen Ausschau gehalten hatte, kehrte er frustriert in die Herberge zurück. Er wollte sich eigentlich zum Nachdenken in sein stilles Zimmers zurückziehen, doch kaum im Kohagiya angekommen, musste er feststellen, dass er draußen auf der Strasse wohl mehr Ruhe gehabt hätte als hier.
 

Überall im Gebäude standen die Samurai der Ishin Shishi in Gruppen herum und diskutierten lauthals über die aufregenden Ereignisse des Tages. Da die Patrioten mit ihren Aktionen gegen das Shogunat wohl wegen des hereinbrechenden Winters so eine Art Pause eingelegt hatten, hatten sie anscheinend nichts sinnvolleres zu tun, schlussfolgerte Yoshida missmutig.
 

Hauptthema war natürlich der rätselhafte, rothaarige Junge.

Die Männer, die vom Training zurückgekehrt waren, erzählten bereits eifrig ihren Kameraden von Kenshins atemraubender Darbietung seiner Schwertkunst im Dojo. Yoshida sah im Vorbeilaufen sogar zwei Männer, die Onakas Angriff auf Kenshin nachspielten, wobei der eine mit einer dramatischen Geste seine Schwertscheide dem anderen an den Hals hielt, der wiederum sein Gesicht in einer ängstlichen Grimasse verzerrte und röchelnd um Gnade bat. Yoshida hätte fast laut über diese Kabuki-würdige Vorstellung gelacht, wenn dieses Schauspiel nicht erschreckend nah an den wahren Tatsachen gelegen hätte.
 

Yoshida musste sich eingestehen, dass er zwar aufrichtig Kenshins sagenhaften Umgang mit dem Schwert bewunderte – doch die plötzliche, fast schon übernatürliche Reaktion seines Zimmergenossen hatte ihn auch erschreckt.
 

Ohne einen Blick über die Schulter war Himura wie der Blitz herumgefahren, als Osaka ihm in den Rücken fallen wollte – was für Instinkte musste ein Mensch beherrschen, um so schnell reagieren zu können? Und für eine kleine Sekunde nur hatte Yoshida genau wie all die anderen Männer im Dojo gedacht, Himura würde Iamatsu Onaka töten. Als er Kenshin angesehen und das plötzliche Glitzern in seinen Augen gesehen hatte, war er sich für einen kurzen Moment sicher gewesen, dass Blut fließen würde. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er schwören können, dass diese Gewissheit wie eine Aura von Himura aus durch das ganze Dojo pulsiert war. Er schauderte und versuchte sich zu trösten, in dem er sich einredete, dass es Onaka im schlimmsten Falle sogar recht geschehen wäre. Immerhin war der Kerl über alle Maßen arrogant und es war ein feiger Angriff in den Rücken gewesen.
 

In Gedanken versunken schlängelte sich Yoshida durch die Ansammlungen tuschelnder Samurai und wollte gerade die Tür zu seinem Zimmer aufschieben, als ihn eine Hand auf der Schulter herumfahren ließ.
 

„Daisuke!“ entfuhr es ihm überrascht. „Erschrecke mich nicht so!“ Yoshida versuchte, sein Herzklopfen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Anscheinend hatte ihn der Vorfall im Dojo doch mehr aufgeregt, als er es sich eingestehen wollte.
 

Daisuke fixierte ihn mit ernstem Gesichtsausdruck. „Ich habe in meinem Zimmer schon Platz gemacht.“

„Was?“ Yoshida brauchte etwas, bevor er verstand, worauf Daisuke hinaus wollte. „Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen, Daisuke, aber ich werde nicht in dein Zimmer ziehen. Ich bleibe bei Himura.“
 

Daisuke schlug mit der flachen Hand gegen den Türrahmen. „Yoshida, was willst du denn noch? Dein Zimmergenosse ist in Wahrheit ein kaltblütiger Hitokiri. Er hat dich die ganze Zeit hintergangen! Und wenn etwas bewiesen hat, dass er unberechenbar ist, dann doch der Vorfall vorhin mit Onaka. Alle sprechen schon davon.“
 

„Onaka ist ein Idiot. Er hat Kenshin herausgefordert.“

„Und das gibt ihm Grund dazu, ihm fast die Kehle aufzuschlitzen?!“

Yoshida holte tief Luft. „So war das doch gar nicht...“

„Natürlich nicht,“ schnaubte Daisuke. „Deswegen erzählen es auch alle Männer. Es hat sich schon überall herumgesprochen. Dein feiner Freund Himura, Katsuras Überbringer der „göttlichen Gerechtigkeit“, hätte heute fast einen aus den eigenen Reihen getötet!“
 

Yoshida machte protestieren den Mund auf und zu, doch entgegnen konnte er nichts. Auch er hatte das seltsame Funkeln in Kenshins Augen gesehen, während er Onaka sein Schwert an den Hals gedrückt hatte. Aber auch der Gesichtsausdruck von ihm, als er davon gestürmt war, hatte Bände gesprochen - anscheinend war Kenshin selbst über seine Reaktion genauso erschrocken gewesen wie alle anderen.
 

„Warum willst du mit diesem Hitokiri weiterhin einen Raum teilen? Stört es dich nicht, neben einem Killer zu schlafen?“

„Nein,“ meinte Yoshida nur gelassen und kratze sich am Kinn. Sein Gegenüber schüttelte verständnislos den Kopf. „Entweder du bist dir sehr sicher oder du bist sehr, sehr dumm.“

Yoshida schnaufte ungehalten. „Denk doch, was du willst. Ich glaube jedenfalls, Kenshin hat gelogen.“
 

„Gelogen?“ blinzelte Daisuke etwas perplex. „Was meinst du damit?“

„Nun ja, ich denke nicht, dass er mir aus böser Absicht heraus die sogenannte Wahrheit verschwiegen hat. Ich denke...“ Yoshidas Stimme wurde leiser und er nuschelte mehr zu sich selbst als zu seinem Gesprächspartner. „Ich denke, er wollte mich nur schützen. Er will lieber alles alleine auf seine Schultern nehmen und keinen mit rein ziehen...“

Daisuke schüttelte lachend den Kopf. „Oh Mann, wie kommst du denn auf diese bescheuerte Idee?“
 

Yoshida schnaubte wütend. „Du hast keine Ahnung, mein Freund. Außerdem,“ fauchte er beleidigt, als er sah, dass Daisuke weiterlachte, „geht dich das sowieso überhaupt gar nichts an! Du scheinst dich ja plötzlich ziemlich für Himura und mich zu interessieren.“

Daisukes Lachen wurde zu einem Hustenanfall. „Ich -“ keuchte er, als er wieder zu Atem kam, „- mache mir einfach nur Sorgen!“

„So?“ Yoshida zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. „Sieht dir gar nicht ähnlich.“

„Naja, ich... hey! Das war nicht sehr nett!“

„Aber die Wahrheit.“ Yoshida drehte sich zum Gehen um.
 

Daisuke legte beschwichtigend den Arm um seinen Freund und hielt ihn zurück.

„Es ist doch nur so: Ich will einfach wissen, in welcher Beziehung du zu Himura stehst. Wenn du trotz alledem sein Freund bist und ihm vertraust – gut! Dann akzeptiere ich deine Entscheidung und halte mich raus. Aber wenn du dir nicht ganz sicher mit ihm bist, dann kann ich nicht zulassen, dass du dich weiter mit ihm abgibst. Dann muss ich dich zwingen, ihm aus Weg zu gehen. Ich will nämlich nicht, dass dir etwas passiert. Du vertraust den Menschen zu leicht. Das ist deinen Schwäche!“
 

Yoshida schüttelte Daisukes Arm ab.

„Glaubst du nicht, dass auch ich mir darüber die letzten Stunden den Kopf zerbrochen habe? Doch ich kann nicht anders handeln, denn ich vertraue ihm und ich weiß, dass auch er mir vertraut – wenn ich jetzt gehe, dann hab ich das Gefühl, ihn zu verraten.“
 

„Gut,“ nickte Daisuke plötzlich überraschend verständnisvoll. „Dann ist es besser, wenn du weiterhin ein Zimmer mit ihm teilst. Versuche einfach, ihn besser kennen zu lernen. Wenn du alles über ihn weißt, dann fühlst du dich bestimmt sicherer. Ich meine, er ist ja auch nur ein normaler Mensch mit Stärken und Schwächen...“
 

Yoshida lächelte, mehr erfreut als erstaunt über Daisukes unvermittelte Sinneswandlung. „Ich wusste gar nicht, dass du auch mal vernünftig sein kannst. Schön, dass wir einer Meinung sind.“ Dann ging er in Richtung Badehaus, wo nun endlich auch für ihn eine freie Wanne zur Verfügung stand, um den Staub der langen Rückreise nach Kyoto abzuwaschen. Die Sonne war bereits am Untergehen und es war wirklich ein langer, anstrengender Tag gewesen.
 

Nachdem er sich gründlich abgerubbelt hatte, versenkte sich Yoshida genussvoll seufzend im heißen Wasser. Allmählich entspannte sich sein Körper und er begriff, wie sehr ihn dieser Tag körperlich und emotional gefordert hatte. Erst die lange Reise und dann die vielen, verstörenden Neuigkeiten. Und zu guter letzt das Fiasko im Dojo. Die Augen schließend versuchte Yoshida sich vorzustellen, was in seinem Zimmergenossen wohl vorgehen mochte. Das lange Gespräch vom frühen Nachmittag kam ihm wieder in den Sinn.
 

Er war sich sicher, dass Himura, wenn er auch von nun an ein Hitokiri sein mochte, in erster Linie nur gute Absichten hatte. Yoshida erinnerte sich an seine hellen, blauen Augen und die Aura von Idealismus, die der Junge die ersten Tage nach seiner Ankunft in Kyoto ausgestrahlt hatte. Allerdings erinnerte er sich auch ziemlich deutlich an den ganz anderen Ausdruck in Himuras Augen, als er ihm gedroht hatte, er würde ihn töten, sollte er sich nicht von ihm fernhalten. Trotz des heißen Wassers bekam Yoshida eine Gänsehaut, als er sich fragte, ob das der Blick war, den auch Himuras Opfer zu spüren bekamen.
 

Wie er es auch drehte und wendete, Himuras Aufgabe bestand darin, Menschen kaltblütig zu ermorden. Aber, und das war das absurde: Himura war kein Mörder. Auch wenn er selbst es so erscheinen lassen wollte.
 

Grimmig starrte Yoshida durch den Dampf, der von seinem Bad aufstieg. „Baka,“ murmelte er in die Schwaden. „Freundschaft und Schwäche? Kenshin, wer hat dir diesen Schwachsinn nur eingetrichtert? Nur mit Freunden im Rücken ist man wirklich stark. Niemand kann alles alleine schaffen. Auch du nicht, du bist kein Übermensch!“
 

Sicher, sein kleines Schwerttraining vorhin schien das Gegenteil zu bezeugen. Das waren die absolut tödlichst ausgeführten Kata, die Yoshida je in seinem Leben gesehen hatte und die Geschwindigkeit war dem Begriff der „göttlichen Gerechtigkeit“ würdig. Himura, und das brachte Yoshida fast um den Verstand, liebte die Schwertkunst und ihre Perfektion, aber er hasste das Töten. Und trotzdem tat er es, aus reinem Pflichtgefühl.

Wie konnte er das in sich vereinbaren, ohne zu zerbrechen?
 

Eines war sicher, dachte Yoshida entschlossen, während er untertauchte und sich die letzten Staubkörner aus den Haaren wusch. Er würde Himura beistehen. Er würde ihm Halt bieten und nicht zulassen, dass er sich selber zu dem machte, was andere bereits von ihm dachten. Er würde, trotz aller Wiederstände um und in ihm, sein Freund bleiben.
 

Er seufzte, als er aus dem warmen Wasser stieg und sich mit einem Handtuch abrubbelte. „Leichter gesagt als getan.“
 

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Gelassen hatte Daisuke Yoshida hinterhergesehen, bevor er sich auf den Weg zu seinem eigenen Zimmer gemacht hatte. Doch in seinem Kopf überschlugen sich bereits die Gedanken.
 

„Offensichtlich besteht zwischen Yoshida und Himura doch eine enge Verbindung“ , grübelte er. Bisher hatte geglaubt, ihre Freundschaft sei nur oberflächlich, aber Yoshidas Reaktion gerade eben hatte ihn eines Besseren belehrt.
 

Daisuke kannte Yoshida jetzt seit knapp zwei Jahren. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und vor allem in ihrer Freizeit beim Würfeln oder Trinken viel Spaß zusammen gehabt. Vor allem die unkomplizierte, offene Art hatte Daisuke an Yoshida immer geschätzt. Natürlich war der Junge weder ein Taktiker noch ein guter Schwertkämpfer und durch seine tollpatschige Art hatte er sich schon oft vor den anderen Ishin Shishi zum Narren gemacht.

Trotzdem gestand Daisuke ihm eine gute Menschenkenntnis zu.

Wenn Yoshida sich also entschlossen hatte, dem Hitokiri die Treue zu halten, dann würde er das auch um jeden Preis tun. Denn das war der Punkt, den Yoshida unter den anderen Ishin Shishi auszeichnete: er stand zu seinen Entscheidungen und war absolut loyal.
 

„Im Gegensatz zu mir,“ lächelte Daisuke zynisch in sich hinein.

Vor knapp anderthalb Jahren, als er nach Kyoto gekommen war, da war er vielleicht auch noch so wie Yoshida gewesen. Überzeugt hatte er sich mit ihm und Buntaro zusammen der patriotischen Bewegung gegen das Bakufu angeschlossen. Doch zu viel war in der Zwischenzeit passiert, was nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte.
 

Je mehr Blutvergießen er in dem aufkeimenden Bürgerkrieg erlebt hatte, desto mehr waren seine Ideale von ihm abgefallen wie die Schalen einer Zwiebel. Alles, was am Ende noch übrig geblieben war - der Kern seines Wesens - war sein Wille, diesen Krieg zu überleben.

Längst war ihm egal geworden, welche Seite nun am Ende gewinnen mochte. Für ihn stand nur fest, dass er Japan hinter sich lassen wollte. Irgendwo ein neues Leben anfangen. Nur weg von diesem ständigen Wahnsinn.
 

Sicher, es würde ihn besser schlafen lassen, wenn er wüsste, dass es Yoshida und Buntaro auch irgendwo gut ging. Doch wenn er sie opfern musste, um sich selbst zu retten, dann würde er es tun. Der einzige Mensch, der ihm je etwas bedeutet hatte, für den er sein Leben geopfert hätte, war schon tot. Verblutet in einer dreckigen Gasse in dieser verfluchten Stadt. Wenn noch mehr Menschen sterben mussten, damit er diese Hölle verlassen konnte, dann wäre das kein Problem für ihn. Alles, was an Gefühlen für andere Menschen in ihm gelebt hatte, war mit ihr zusammen gestorben.
 

Schnell fuhr sich Daisuke mit der Hand über die Augen. Jetzt war nicht die Zeit für solche Gedanken. Jetzt war die Zeit um Ziele zu verwirklichen. Rasch ging er zum Zimmer seines Freundes Buntaro und schloss die Schiebetür hinter sich.
 

„Und?“ Buntaro schien auf ihn gewartet zu haben.
 

Daisuke setzt sich ihm gegenüber auf ein Kissen am Boden. „Anscheinend ist Yoshida trotz allem entschlossen, Himura die Freundschaft zu halten.“

„Das ist schlecht.“ Buntaro strich sich über die Augen. „Jetzt wird der Junge mit in die ganze Scheiße hineingezogen.“
 

Daisuke schaute seinen Freund verblüfft an. Seit wann benutzte Buntaro solche Kraftausdrücke? Mit einem Schulterzucken fuhr er fort.

„Bis jetzt war die Schlüsselrolle unseres neuen Plans mein Platz in der Einheit von Izuka. Durch ihn und seine Komparsen erfahre ich jetzt immer die Aufträge und Einsatzorte von Himura.“

Buntaro nickte. „Und wenn die Lage günstig ist, dann verraten wir diese Informationen ans Shogunat. Nicht,“ ergänzte er mit einem schrägen Lächeln, „ohne danach mit einer reichen Belohnung spurlos zu verschwinden.“
 

„Genau!“ Daisuke stand auf und ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. „Denn wenn man jemand mit diesem Verrat in Verbindung bringt, dann uns. Izuka ist ja nicht blöd – wenn etwas durchsickert, dann wird er früher oder später schlussfolgern, dass ich der Verräter bin. Die Sache mit Asakura und seinen Ninja war schon gefährlich genug. Ich habe nur noch einen Versuch, bevor ich auffliegen würde. Und du stehst damit auch unter Verdacht, denn du bist mit mir befreundet und warst mit Katsura unterwegs. Wer also sonst könnte die Reiseroute verraten haben?!“
 

Buntaro wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er fragte sich immer noch, was ihn vor wenigen Tagen zu dieser leichtsinnigen Aktion verleitet hatte. Es entsprach normalerweise nicht seiner Art, zu handeln, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden. Hatte er sich tatsächlich eingebildet, dass mit Katsura Kogoros Tod die Revolution plötzlich aufhören würde?
 

Daisuke brachte ihn mit einem Fingerschnippen wieder von seinen Gedanken in die Realität zurück. „Unser Plan hat sich jetzt geändert. Dank Yoshida!“
 

Überrascht schaute Buntaro auf. „Yoshida? Außer ein paar nützlichen Informationen über Himura hat er doch kaum Nutzen für irgendjemanden.“
 

Daisuke schüttelte den Kopf. „Bist du auf den Kopf gefallen oder so was? Natürlich wird Yoshida genauso dran sein wie wir, wenn unser Verrat auffliegt. Denn er ist genauso mit uns wie mit Himura befreundet. Denkst du im ernst, es interessiert dann noch irgendjemanden, wer wie genau in den Verrat verwickelt war? Ein Killer - vermutlich sogar Himura selbst, wenn wir ihn nicht vorher erledigen können - wird auf uns alle drei angesetzt und damit ist für die Ishin Shishi die Sache erledigt.“
 

Eine neue Schweißperle rann Buntaro quer über die Stirn und kurz bevor sie ihren Lauf beenden und von seiner Nasenspitze tropfen konnte, wurde sie von zitternden Händen mit einem Taschentuch aufgefangen.
 

„Die Sache gerät außer Kontrolle,“ stellte Buntaro schwer atmend fest. „Ständig sitzt uns jetzt dieser Clan aus Aizu im Nacken, dem wir unsere Informationen verkauft haben. Und sie sind ungeduldig, wollen mehr wissen über die Hitokiri, die Geheimverstecke, die Informanten und Anführer der Ishin Shishi. Ich kann zwar mein Leben für mich alleine riskieren, aber Yoshida in die Sache mit reinziehen? Das wollte ich nicht!“
 

Ausdruckslos starrte Daisuke auf seinen Freund hinunter. „Für solche Gefühlsduseleien ist es jetzt etwas spät. Yoshida spielt von nun an in unserem Plan eine Schlüsselrolle. Er wird der Köder sein!“ Daisukes Augen glitzerten unheilverheißend.
 

Buntaro begegnete kalt dem Blick seines Freundes. „Unser Plan?“ wiederholte er, mit seiner tiefen Stimme jeden Buchstaben spitz betonend. „Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich in DEINEM Plan irgendein Wörtchen mitzureden hatte. Du erzählst mir nur die Hälfe von dem, was dir im Kopf herumspukt. Und ehrlich gesagt...“ Buntaro stand auf, steckte seine Schwerter in den Obi und tupfte noch ein letztes Mal seine feuchte Stirn ab. „Ehrlich gesagt, ich will gar nicht wissen, was genau du vorhast.“ Ohne einen weiteren Blick ging er aus dem Zimmer und für einen unbeteiligten Betrachter hätte sein Gang selbstbewusst wie eh und je gewirkt – doch Daisuke bemerkte die Hände, die sich nervös zuckend an seinem Gürtel festhakten. Außerdem hatte er Buntaro noch nie so viel schwitzen gesehen, nicht einmal im feucht-heißen Sommer, in dem sich Kyoto in einen Backofen zu verwandeln pflegte.
 

Offensichtlich war sein Freund gerade dabei, seinen sonst so kühlen Kopf zu verlieren. Daisuke drehte sich grimmig um und schaute aus dem Fenster. Einzelne, wirbelnde Flocken stoben vorbei und begannen sich bereits auf dem hölzernen Fensterbrett zu sammeln. Er strich mit seinem Finger durch sie hindurch und sah zu, wie sich der Schnee durch die Wärme seiner Haut schnell in Wasser verwandelte.
 

„Ich will meinen Kopf nicht verlieren,“ murmelte er dem Tropfen zu, der jetzt seinen Finger hinabrann, so wie es vorhin die Schweißperle auf Buntaros Stirn getan hatte.
 

„Yoshida ist jetzt der einzige, der noch Zugang zu Himuras persönlicher Seite hat. Wenn Himura ihm tatsächlich vertrauen sollte...-“ Daisuke zerrieb den Wassertropfen in seiner Handfläche. „-...dann schnappt die Falle zu.“
 

Daisuke dachte an die unheimlichen, blauen Augen des Jungen. Es war erst wenige Tage her gewesen, als er selbst nicht einmal im Traum damit gerechnet hatte, dass dieser stille und schmächtig wirkende Rotschopf ein Hitokiri sein könnte.

Merkwürdig - ja.

Mädchenhaft - mein Gott – und irgendwie so zerbrechlich hatte er ausgesehen. Doch jetzt, nachdem er die ganze Wahrheit kannte, wollte sich Daisuke nicht länger täuschen lassen. Himura war ein Killer von Natur aus und er tarnte sich in der Gestalt eines unschuldigen Jungen. Nicht nur ein Killer, korrigierte er sich – Jemand, der schon mit knappen fünfzehn Jahren sein Schwert mit solch tödlicher Präzision führen konnte, musste ein Dämon sein.
 

Daisuke schloss fröstelnd das Fenster.
 

Wann war es ihm gedämmert, dass diese Revolution sinnlos war? Als er dastand, nachts in einer verlassenen Seitengasse des Gionviertels, alleine? Nichts, außer der Hitze des Alkohols im Kopf und noch den süßen Geruch des Mädchens in der Nase, das er gerade besucht hatte.

Er sah ihr Gesicht vor sich, ihre leuchtenden, tiefschwarzen Augen und ihre helle Haut, so weiß und rein, wie der erste Schnee.

Wie der erste Schnee zu Boden fallend, mit dem Dreck der Strasse und dem Blut zu einer schlammigen Masse verschmelzend.
 

Sie war ihm nachgelaufen, an diesem Abend. Er hatte es nicht gemerkt, denn er war ein Eile gewesen. Bei ihr hatte er die Zeit fast vergessen und so hatte er rennen müssen, um noch den Treffpunkt der nächtlichen Überfallaktion der Ishin Shishi rechtzeitig zu erreichen.
 

Viel zu spät hatte er bemerkt, dass sie ihm gefolgt war. Und sie ihr. Die Shinsengumi.

Wie eine Horde blutrünstiger Dämonen waren sie in sekundenschnelle aus der dunklen Gasse hervorgeschossen, hatten Amasu – seine schneeweiße Amasu – mit einem beiläufigen Schwerthieb niedergehauen. Sie war die Geliebte eines Feindes. Sie war im Weg.
 

Nur mit Mühe hatten er sich mit den anderen Ishin Shishi den Weg zum Fluss freikämpfen können. Die letzte Rettung war ein Sprung in die vom feuchten Sommerregen angeschwollenen Fluten gewesen.

Als Daisuke keuchend und voller Schlamm einige Kilometer weiter schließlich Halt am Ufer gefunden und sich mit letzter Kraft auf die rettende Böschung gehievt hatte, schmeckte er plötzlich Salz. Es waren seine Tränen gewesen.
 

Nach wenigen Tagen war er wieder im Einsatz, seine Verletzungen so gut wie geheilt. Wie immer hatte er gelacht, getrunken, gescherzt, die Fassade aufrecht erhalten - doch in ihm war alles Leben erloschen.
 

Warum hatte sie die alte Ordnung stören müssen? Warum hatten sie eine Stadt wie Kyoto, die schon so viel Blutvergießen und Grauen erlebt hatte, abermals in ein blutiges Schlachtfeld verwandeln müssen? Warum hatte Amasu sterben müssen?
 

Hätten sie alles beim Alten gelassen, dachte er voller Bitterkeit, wäre viel unschuldiges Blut verschont geblieben. Sicher, es hätte weiterhin Ungerechtigkeiten gegeben, aber kein Staat ist perfekt. Auch der Neue würde es nicht sein. Wenn alles, was sie taten, nur darin bestand, solche Menschen wie Himura auf den Plan zu rufen – Menschen, die ohne mit der Wimper zu zucken ihre Opfer aus dem Weg räumten als wären sie nur hinderliche Steine auf einer ansonsten glatten Fahrbahn – es widerte Daisuke an.
 

Katsura Korogo, der Held der Revolution, benutzte halbwüchsige Kinder, um seine Feinde zu vernichten. Und dieser Mann wollte einen neuen Staat erschaffen? Frustriert schüttelte Daisuke den Kopf. Nein, nichts würde sich je ändern.
 

Er wollte nichts mehr, als dieses gottverlassene Land nie mehr wiedersehen. Er half, die alte Ordnung wieder herzustellen. Er half, seine Freunde und Kampfesgenossen zu verraten. Na und? Früher oder später würde dieser lächerliche Aufstand sowieso fallen. Er würde es vorziehen, bis dahin weit weg zu sein. Mit dem Geld, dass er für die Auslieferung dieses Hitokiri bekommen würde, könnte er ein neues Leben anfangen. Fern von sinnlosem Blutvergießen. Und vielleicht würde er ein neues Mädchen wie Amasu kennen lernen.
 

Eines war sicher: Er wollte diesen ganzen Sumpf, ganz Japan, sein ganzes altes Leben hinter sich lassen. Und bis dahin war er bereit, jede Sünde zu begehen, um dieses Ziel zu erreichen. Grimmig verließ er Buntaros Zimmer und ging in sein Eigenes. Er brauchte einen neuen Plan. Buntaro war nicht länger jemand, auf den er sich verlassen konnte. Jetzt blieb nur noch er selbst übrig. Er musste jetzt alle Fäden führen.
 

--
 

Buntaro verfluchte sich selbst, wie so oft in den letzten Tagen, als er durch den Schneematsch von Kyotos Strassen stapfte. Alles, wofür er bisher gekämpft und sein Leben riskiert hatte schien sich wie der Schnee am Boden in einen schlammigen Brei zu verwandeln und dann aufzulösen.
 

Er stürmte in die erstbeste Kneipe und bestellte sich warmen Sake.

Was war nur mit ihm los? Es war noch nicht einmal Abend und er war kein großer Trinker, doch jetzt saß er da und hatte, ehe es zu merken, schon das zweite Schälchen hinuntergestürzt.

Außerdem war er durchgeschwitzt – und das im Winter, ohne warmen Haori.
 

Seufzend stelle er sein Schälchen ab. Es war die Reue, die ihn so quälte, und Angst.

Reue, nicht richtig nachgedacht zu haben. Angst, dies mit dem Leben zu büßen.
 

Vor fast einem halben Jahr, im Sommer, hatte ihm Daisuke das Leben gerettet. Sie kannten sich schon länger, waren seit über zwei Jahren so etwas wie Freunde gewesen. Doch in dieser Nacht hatte sich alles geändert.
 

Buntaro war als Begleitschutz bei einem wichtigen Treffen zwischen zwei verschiedenen Clans der Choshuu-Fraktion eingeteilt gewesen. Auf dem Rückweg waren sie in einen Hinterhalt einer Einheit des Bakufu geraten. Bis an die Zähne bewaffnet waren diese Männer auf sie losgestürmt und hatten sie bald eingekreist. Buntaro konnte sich noch sehen, wie er – hoffnungslos unterlegen und bereits durch zwei tiefe Schnittwunden verletzt – versucht hatte, seinen Auftraggeber zu beschützen. In letzter Sekunde kam Daisuke mit einer Truppe Ishin Shishi an den Ort des Geschehens. Sie konnten ihre Angreifer in die Flucht schlagen, doch der Führer des einen Choshuu-Clans starb noch auf der Strasse an seinen Verletzungen. Daisuke hatte Buntaro heimgetragen und notdürftig verarztet. Während er sich um seine Wunden gekümmert hatte, hatten sie viel miteinander geredet. Daisuke hatte ihm von Amasu erzählt, seiner Geliebten, die er erst vor wenigen Wochen verloren hatte. Es war das erste Mal, dass er seinen Freund so emotional und ernst erlebt hatte.
 

Buntaro bestellte eine weitere Flasche Sake.
 

Genau wie Daisuke und Yoshida hatte er sich eher zufällig den Ishin Shishi angeschlossen. Sie alle drei waren als Ronin von Choshu aus nach Kyoto auf der Suche nach einer Anstellung angekommen, als die blutigen Unruhen, die bereits seit Ankunft der schwarzen Schiffe die Stadt immer wieder heimgesucht hatten, erneut heftiger denn je aufflammten. Sofort hatte ihnen ein Zweig des Choshuu-Clans Geld geboten und sie als Schwertkämpfer angeheuert. Yoshida war gleich dabei gewesen, denn er hatte schon immer aus persönlicher Erfahrung einen Groll gegen das Shogunat gehegt. Er selbst und Daisuke hatten das Geld nötiger gehabt als Idealismus.
 

Doch dank seinem eigenen Eifer, seiner absoluten Loyalität gegenüber seinen Auftraggebern und seinen guten Schwertkünsten waren sie schließlich bald alle drei immer näher an den engsten Ring der Choshuu-Fraktion der Ishin Shishi gerückt. Bis sie schließlich vor wenigen Monaten direkt einer persönlichen Einheit von Katsura Kogoro unterstellt wurden.
 

Buntaro erinnerte sich noch genau an die erste Begegnung mit diesem beeindruckenden Mann. Sie hatten eine kurze Unterhaltung, nicht lange, aber lange genug um ihn schwer zu beeindrucken. Katsura war ein Mann von messerscharfem Verstand, taktischem Geschick und Weitsicht. Seine Prinzipen und Ideale waren unverrückbar und radikal, doch nötig für die Veränderung Japans. Er war Katsura treu ergeben gefolgt, hatte mehr als einmal sein Leben für ihn riskiert, hatte alles getan, um einen neuen Staat so bald wie möglich herbeizuführen – bis er von den Attentätern hörte.
 

Attentäter. Hitokiri – sie waren der Grund, warum Buntaro überhaupt von einem ehrbaren Samurai zum Ronin geworden war. Sein damaliger Lehnsherr und Freund hatte zu laut seine Abneigung gegen den Shogun kund getan. Wenige Tage später war er für immer verschwunden. Da man keine Leiche fand, war auch Buntaro das ehrbare Recht verwehrt gewesen, ihm in den Tod zu folgen. Von nun an hatte er als Ronin durch die Provinz streifen müssen. Es gab also für ihn mehr als nur die Motivation des Geldes, sich den Ishin Shishi in Kyoto anzuschließen. Er hatte auch gehofft, so die Ungerechtigkeiten, die seinem Lehnsherrn wiederfahren waren, wieder auszugleichen, diesen ehrlosen Tod durch die Hand eines namenlosen Hitokiris zu sühnen.
 

Es war ein Schock für ihn gewesen, erfahren zu müssen, dass der Mann, den er bewunderte und mit Einsatz seines Lebens unterstütze, selbst solche schmutzigen Praktiken befürwortete.
 

Katsura, den er als Taktiker und Diplomat schätzen gelernt hatte, versuchte, die Macht an sich zu reißen, in dem er alle seine Feinde hinterrücks ermorden ließ – und neuerdings sogar noch von halbwüchsigen Kindern wie Himura.
 

Beim Trinken der zweiten Flasche wurde Buntaro endlich wieder etwas ruhiger.
 

Er war dumm gewesen, sich, von seinen persönlichen Emotionen geleitet, auf diesen Verrat einzulassen, überlegte er. Doch Daisuke hatte sich als unerwarteter Verbündeter entpuppt, und schneller, als Buntaro die Sache überhaupt überdenken hatte können, waren sie schon in Kontakt mit einer für das Shogunat eingestellten Truppe aus Aizu getreten, den Aizu Munashidai.
 

Diese Männer hatten ihnen versichert, sich auch nichts sehnlicher zu wünschen wie das Blutvergießen im Land zu beenden – und hatten betont, dass mit Katsura Kogoros Tod der Bürgerkrieg schnell ein Ende finden würde. Buntaro, der wusste, dass er in wenigen Wochen eine längere Reise mit Katsura nach Tosa antreten würde, hatte seine Chance gekommen gesehen. Er hatte sich eingebildet, mit Katsuras Tod ließe sich das kommende Blutvergießen verhindern und alles wieder zum Guten wenden.
 

Doch die Revolution ließ sich nicht mehr aufhalten. Buntaro war wieder zu Verstand gekommen und er hätte sich am liebsten an Ort und Stelle selbst für seinen Verrat getötet. Er wollte nichts lieber, als aussteigen. Wie hatte er der Seite, der er sich angeschlossen hatte, nur so verraten können? Jegliche Ideale der Ehre und Treue, mit denen er großgezogen wurde, verleugnen können?

Doch jetzt, wo ihm endlich alles gedämmert war, war es für eine Umkehr bereits zu spät. Die Aizu Munashidai übten immer mehr Druck auf sie aus und drohten, sie zu verraten, falls der Informationsfluss versiegen sollte.
 

Buntaro hatte gehofft, durch Preisgabe der Reiseroute Katsuras dem ganzen Dilemma irgendwie entfliehen zu können, doch alles war schief gegangen. Und jetzt saß auch noch Yoshida mit im Boot, der von nichts eine Ahnung hatte.
 

Mit der dritten Flasche versuchte Buntaro, seine Reue gegenüber seinem jüngeren Freund hinunterzuspülen. Das diese ganze vertrackte Sache vermutlich mit seinem eigenen Tod enden würde, war Buntaro in den letzten Tagen ziemlich klar geworden. Er glaubte schon längst nicht mehr so wie Daisuke daran, sich mit einer großen Geldsumme irgendwo absetzten zu können.
 

Doch Yoshida hatte es nicht verdient, als Verräter zu sterben.
 

Buntaro spürte die Hitze des Alkohols in sich, draußen war es bereits dunkel geworden. Er bestellte sich die vierte Flasche, doch mit jedem Schluck, den er trank, wurden die Schuldgefühle und die Scham in ihm schlimmer.
 

Er hatte nicht geahnt, dass sich sein Freund Daisuke als so gewissenlos herausstellen würde. Er schien auf jeden Fall entschlossen, den größten Fisch, an den er herankommen konnte – Himura – ans Messer zu liefern und so seine eigene Haut zu retten.
 

Buntaro schüttelte sich. Er würde nicht noch tiefer sinken. Ein Verräter an einer politischen Partei, das war eine Sache. Aber ein Verräter an einer Freundschaft – das konnte er einfach nicht mit mehr mit sich selbst vereinbaren.

Sein Kopf drehte sich und irgendwie wurde ihm schlecht. Sein Leben war eine einzige Schande, jammerte er in sich hinein als er mühsam aufstand und auf die Strasse hinaus wankte. Dort traf ihn plötzlich die ganze Wucht des Alkohols und er erbrach sich. Mit tränenden Augen stand er an eine Hauswand gelehnt und beobachtete, wie sich seine Essensreste den Weg durch den schmelzenden Schneematsch in die Gosse bahnten.
 

Er würde sterben, dass fühlte er niemals so deutlich wie jetzt. Dieser Verrat würde ihn das Leben kosten. Doch wenn er sein Leben schon opferte, dann sollte es die Sache wenigstens wert sein. Nur welche Sache? Der Kaiser oder das Shogunat? Sein Freund Yoshida oder das Leben eines Attentäters?
 

Betrunken wie schon lange nicht mehr wankte Buntaro zurück zur Herberge. Er wusste, was er zu tun hatte, sobald er dort ankommen würde.
 

--
 

Izuka saß im Kerzenschein an seinem Schreibtisch und ging noch einmal das durch, was er die letzten Stunden auf ein Blatt Papier gekritzelt hatte. Er war sich so gut wie sicher mit seinen Schlussfolgerungen. Grimmig umkreiste er mit schwarzer Tinte zwei Namen auf seinem Zettel. Dann zögerte er kurz, bevor er noch einen Dritten hinzufügte und ebenfalls einkreiste.
 

Danach faltete er sorgfältig das Papier zusammen, drückte sein Siegel darauf und stand auf, rief einen Boten herein und schärfte ihm ein, die Dokumente Katsura Kogoro so schnell wie möglich zu überbringen. Als der gewissenhaft nickende Bote davongeeilt war, stand er auf und streckte sich, während er mit trägen Augen aus dem Fenster in den dunkler werdenden Himmel starrte.
 

Überall das Gleiche, dachte er seufzend.
 

Gute Menschen wurden zu fanatischen Terroristen. Böse Menschen plötzlich zu Hütern der Gerechtigkeit. Menschen mit Ehre und Stolz wurden zu Verrätern. Und Menschen ohne Idealen wurde die Treue geschworen.

Und das Alles nur im Streben nach Macht.

Und Geld.
 

Meist waren es Personen aus den unteren Rängen, die sich von Bestechungsgeld korrumpieren ließen. Einfache Soldaten, die mir ihrem Sold gerade über die Runden kamen oder Söldner. Izuka lächelte milde. Die meisten Idioten verspielten ihr Leben für einen so geringen Betrag, das es fast schon lachhaft war. Wussten diese Stümper denn nicht, dass sich Verrat nur lohnt, wenn man Informationen preisgeben kann, die mehr als nur ein paar Ryo wert sind?
 

Doch jetzt war die Situation prekärer, die Verräter waren gleich drei Samurai aus Katsura Kogoro direkt unterstehenden Einheiten. Das war nicht gut für das Vertrauen innerhalb der Truppe. Und Vertrauen war momentan alles, worauf sie bauen konnten. Die Bündnisse, die sie schon seit Monaten unter den größten Gefahren schlossen, basierten darauf – es gab nichts anderes als die mündliche Zusicherung durch ein Ehrenwort. Izuka seufzte. Er würde sich schon sehr bald um diese Angelegenheit kümmern müssen. Keine Zeit für den Chef der Geheimoperationen der Choshuu Ishin Shishi, sich auszuruhen.
 

Nach dieser Sache musste die ganze Einheit umstrukturiert werden, um solche Fehler in Zukunft zu vermeiden. Und er würde noch einmal ein ernstes Wort mit Himura reden müssen.
 

Izuka lächelte schief, wie immer, wenn er an diesen sonderbaren Jungen dachte. Er würde auch nicht mehr viel Zeit zum Ausruhen haben. Ein Berg von Arbeit wartete auf den jungen Hitokiri.
 

Wo war er überhaupt? Izuka beschloss, ihn suchen zu gehen und sich jetzt gleich mit ihm zu unterhalten. Immerhin ging ihn die ganze Sache mehr an als alle anderen.
 

Sich streckend verließ Izuka sein Zimmer und streifte durch die von der Abenddämmerung nur schwach beleuchteten Gänge der Herberge. Verdutzt stellte er fest, dass trotz der Abendstunden viele Männer anwesend waren. Sie standen oder saßen alle in Grüppchen in irgendwelchen dunklen Ecken. Immer, wenn Izuka vorbeilief, hörte er das Getuschel hastig verstummen. Dennoch konnte er öfters das Wort Battousai hören. Izuka zwirbelte seinen Schnauzbart. Diese verschwörerische Stimmung gefiel ihm ganz und gar nicht.

Als er schließlich einige Männer nach Himura fragte, sahen sie ihn zwar vielwissend an, konnten ihm dann aber auch nicht sagen, wo genau er zu finden wäre.
 

„Nach der Sache mit Onaka im Dojo hat ihn keiner mehr gesehen, Izuka-san,“ antwortete ihm einer der Samurai schulterzuckend.

„Was meinst du damit, Uchida?“ fragte Izuka nach. Der Samurai druckste etwas herum, erzählte ihm aber dann doch, was sich am Nachmittag im Dojo ereignet hatte.

Izuka hörte mit ausdrucksloser Miene zu.
 

Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass diese Sache noch ein Nachspiel haben würde. „Wo ist Onaka jetzt?“ fragte er ungehalten. Er würde keine eingebildeten Unruhestifter mehr in seiner Einheit dulden. Ein Grund mehr, hier alles so schnell wie möglich kräftig umzukrempeln.

Uchida zuckte erneut die Schultern. „Wahrscheinlich was trinken auf diese Demütigung.“

Hilflos warf Izuka die Hände in die Luft. „Das gibt’s doch nicht! Da gibt man den Leuten hier mal eine Pause und sofort kommen alle auf dumme Gedanken!“

Uchida lachte. „Natürlich lässt sich ein erfahrener Schwertkämpfer nicht gerne von einem 15-Jährigen in die Schranken weisen. Doch du hast recht, Onaka war wirklich dumm.“ Sein Lächeln erlosch. „Hätte er sein Training gesehen... dann hätte er sich nicht mit Battousai angelegt.“
 

Schon wieder dieser Name. Izukas Augenbraue zuckte vor Erregung, als es ihm plötzlich von selbst dämmerte. Battousai. Ein Meister des Battoujutsu. Das konnte nur eine Person sein.
 

Er selbst hatte Himura schon in Aktion gesehen, meistens jedoch das, was am Ende übrig blieb. Von allem, was er im letzten Monat gesehen hatte, war fast jede Attacke von Himuras mysteriösem Schwert-Stil ein Battoujutsu-Angriff. In welcher Kombination oder Stellung auch immer, Himura schaffte es, durch das Ziehen des Schwertes so schnell zuzuschlagen, dass seinem Gegner keine Zeit zum Parieren blieb und der Angriff absolut tödlich war. Anscheinend hatte er das den Männern auch bei seinem Training deutlich gemacht.
 

Izukas Mund verzog sich während er bei sich dachte, „gut gemacht, Himura. Nichts bringt einem mehr Respekt ein als ein furchteinflössender Spitzname.“ Der rothaarige Junge musste seinen Rat, sich unnötige Fragen und Menschen vom Hals zu halten, beherzigt haben. Das war gut. Das war genau das, was man von einem guten Hitokiri erwarten würde. Izuka war überrascht, dass sich der Junge so gut in seiner Aufgabe einzufinden schien.
 

Er hatte ihm am Anfang nicht mehr wie einen Monat gegeben. Jetzt war der eine Monat schon um und Himura war noch am Leben und nicht nur das – er war besten Weg, zu einem der gefürchtetsten Hitokiri der Revolution zu werden.

„Er lernt schnell,“ überlegte Izuka. „Er befolgt bedingungslos den Befehlen, ohne Fragen zu stellen. Er tötet rasch und zuverlässig. Und bald wird er die wichtigste Lektion von allen lernen..."
 

Izuka schenkte dem dunkelroten Abendhimmel ein besonders schiefes Lächeln.
 

„...vertraue niemandem.“
 

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Nächstes Kapitel: Die Verräter fliegen auf... und Kenshin soll sie eleminieren...
 

Anmerkungen: Hallo und Gomen nasai für die lange Wartezeit :). Ich habe zur Zeit einfach Probleme, die Geschichte weiterzuschreiben, weil sie mir so stümperhaft vorkommt. Ich bin am Anfang voller Begeisterung in die Story hineingerauscht ohne mich viel um historische Fakten oder Details zu kümmern. Leider ist deshalb bei mir die Zeitlinie im Gegensatz zum Manga etwas verschoben (im Manga kommt Kenshin schon im Spätsommer nach Kyoto – bei mir erst im Herbst). Außerdem ärgert es mich, dass die Geschichte größtenteils in Kyoto spielt, ich aber selbst von Kyoto wenig Ahnung habe (ich erfinde immer alle Straßen und Stadtviertel, anstatt wirklich existierende zu nehmen – das hätte der Story mehr historische Tiefe verleiht). Leider kann ich das alles nicht mehr umändern und deswegen muss meine Geschichte in der Hinsicht etwas vage bleiben. Ich hoffe, dass sich die Leser, die mehr Ahnung als ich haben, sich daran nicht zu sehr stören sondern mir lieber Tipps geben *g*.
 

Wie man sieht, versuche ich deswegen als Konsequenz, mehr Gewicht auf die Charaktere zu legen, ihre Handlungsmotivationen, Entwicklungen oder Veränderungen. Ich hoffe, ich konnte mit diesem Kapitel meinen erfundenen Personen mehr Glaubhaftigkeit und Tiefe verleihen. Kenshin kommt in diesem Kapitel persönlich gar nicht vor, aber von seinen Überzeugungen haben wir schon viel gehört und jetzt hat es mich interessiert, wie die Männer ihn sehen. Und wie sie ihm langsam durch einen neuen Namen und Geschichten seinen berüchtigten Ruf zu schaffen beginnen.
 

Mir ist wichtig, das die Grundeinsicht dieser ganzen Geschichte, die ja auch der Begriff der „göttlichen Gerechtigkeit“ beinhaltet, rüber kommt: Nichts ist, wie es am Anfang zu sein scheint und: im Krieg gibt es weder schwarz noch weiß. Göttlich oder Dämonisch - das sind nur zwei Seiten einer Medaille.

Lasst mich wissen, ob das einigermaßen gelungen ist!!
 

LG, Ju-Chan aka Majin Mina

Kapitel 14 - Schwäche

Ein langer Tag, der sich zusehends in einen Alptraum verwandelt. Freundschaften, Gefühle, Vertrauen... alles scheint dahinzuschmelzen wie der Schnee in den dreckigen Strassen...
 


 

Kapitel 14 - Schwäche
 


 

Den Schnurrbart zwischen zwei Fingern zwirbelnd schritt Izuka im schwindenden Abendlicht über die Engawa der Kohagiya-Herberge.

Er war tief versunken in Grübeleien. Der Attentäter Himura Kenshin – oder wie die Männer ihn seit heute mit furchtvollem Unterton nannten, Battousai – beschäftigte ihn, aber auch seine eigene Zukunft ließ ihn nicht ruhig stehen bleiben.
 

Der Vorfall mit den Verrätern würde sich bestimmt bald auflösen, aber der Schaden, der dadurch entstanden war oder noch entstehen würde, war nicht abzusehen.

„So etwas darf auf keinen Fall noch einmal passieren,“ überlegte Izuka. Er hatte bereits beschlossen, die Struktur der Ishini Shishi gehörig umzukrempeln. Nur noch Mitglieder aus wohlbekannten Familien, die sich keine Schande erlauben würden, durften in den inneren Rängen zugelassen werden. Und die Ronin würde er für sich in einer gut kontrollierbare Einheit bündeln, wo im Falle eines Verrates kein großer Schaden entstehen konnte.
 

Immerhin war Izuka bereit, alles in seiner Macht stehende zu Unternehmen, um in diesem Krieg nicht auf der Verlierer-Seite stehen zu müssen.
 

Er lächelte schief, als ihm Himura wieder einfiel, der eine Schlüsselrolle zum Gelingen der Revolution darstellte. „Er wird bald lernen, niemandem mehr außer Katsura Kogoro und mir zu vertrauen. Freundschaft ist eine Schwäche, die Battousai nicht mehr eingehen wird – schon gar nicht, wenn er bald einen Umschlag mit drei ihm bekannten Namen erhalten wird.“
 

Izuka konnte noch nicht wissen, das dieses „bald“ noch am selben Abend stattfinden würde.
 

Gerade, als er wieder in sein Zimmer hinaufgehen wollte, hörte er lautes Gelächter hinter sich. Neugierig drehte er sich um und sah, dass sich einige herumstehende Männer über einen Samurai amüsierten, der offensichtlich sturzbetrunken versuchte, möglichst würdevoll den Innenhof zu durchqueren, dabei aber ständig stolperte und schwankte. Izuka wollte auf ihn zueilen und ihm seinen Arm zur Hilfe bieten. Schließlich kannte er aus eigener Erfahrung die schlüpfrigen Steine des Hofes nur allzu gut. Doch als er sich dem taumelnden Mann näherte, erkannte er, dass es Buntaro war. „Umso besser“, dachte er hocherfreut und packte ihn am Arm.
 

Buntaro sah ihn mit glasigen Augen an. „Yoshida,“ nuschelte er. Dann weiteten sich seine Augen plötzlich, als er zu erkennen schien, wer ihn da wirklich am Arm gegriffen hatte. Er versuchte sich loszureißen und fiel dabei der Länge nach hin.

Die Männer, die dieses traurige Schauspiel beobachteten, lachten umso lauter. Izuka half Buntaro, der inzwischen zitterte wie Espenlaub, wieder auf die Beine.
 

„Setzt dich erst mal hin,“ meinte er mit mütterlicher Stimme und führte Buntaro zur Engawa. Dort angekommen sackte Buntaro auf dem Holzboden wie ein nasser Sack in sich zusammen. „Isssuka,“ lallte er, „Ich bin eine Schande. Schande...“ Er brabbelte noch ein bisschen vor sich hin, bevor er plötzlich wieder nüchterner zu werden schien und seine kullernden Augen sich auf seinen Gegenüber fixierten.
 

„Izuka,“ begann er erneut, seine Zunge immer noch vom Alkohol schwer, aber die Worte bewusst wählend. „Ich... Ich habe die Ishin Shishi und meine Ehre als Samurai verraten.“

„Mein Verdacht bestätigt also noch am selben Abend,“ schoss es Izuka durch den Kopf, während sein Grinsen verschwand und sein Blick hart wurde.

„Ich glaube, wir unterhalten uns besser in meinem Zimmer.“
 

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„Verdammte Scheiße!“ war das einzige, was Daisuke einfiel, als er von seinem Zimmerfenster aus beobachtete, wie Izuka den offensichtlich sturzbetrunkenen Buntaro vom Innenhof aus in sein Zimmer im anderen Teil des Gebäudes mitnahm. Und diese Beschreibung war für seine Situation auch ziemlich treffend.
 

Seine Faust traf mit einem Knacken die Holzwand neben ihm. Der Schmerz berührte ihn nicht. Jede weitere Sekunde, die ihm zwischen den Fingern zerrann, brachte ihn näher an seinen Untergang. Er hatte seinem einzigen Verbündeten zu sehr vertraut – eine Schwäche, die er jetzt bitter büßen würde.

„Es sei denn, mir fällt schnell etwas ein,“ überlegte er fieberhaft. Kalter Schweiß tropfte ihm von der Stirn.
 

Heute morgen noch waren seine Pläne fast stündlich immer weiter ausgereift. Vor wenigen Stunden war er sich sicher gewesen, dieser Revolution mit einem großen Batzen Geld entfliehen zu können, bezahlt mit dem Kopf eine rothaarigen Jungen.

Und jetzt? Innerhalb eines Tages nur hatte sich seine Situation ins Gegenteil verkehrt.

Sein eigener Kopf war es, der in wenigen Augenblicken rollen würde.

Voller aufwallender Panik überlegte Daisuke kurz, einfach davonzulaufen oder sich das Schwert selbst ins Herz zu stechen.
 

Doch dann griff nach kurzem Zögern wieder jene Seite von ihm Besitz, die sich nicht kampflos und schon gar nicht mittellos ergeben wollte. Jene Seite, die alles tun würde, um zu überleben. „Fliehen? Dann bleibt mir nichts. Nicht mal genug Geld“, kalkulierte Daisuke, „um mich einen Monat über Wasser halten zu können. Oder alles auf eine Karte setzen?“
 

Daisuke entschied sich für Letzteres.

Hastig schrieb er einen Brief. Die Tinte war noch nicht einmal trocken, da rauschte er schon aus seinem Zimmer, auf der Suche nach Yoshida.
 

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„Hat das Bad nach der langen Reise jetzt gut getan,“ seufzte Yoshida angenehm aufgewärmt und sauber. Er stand in seinem Zimmer und suchte sich frische Kleidung aus dem Schrank. Gerade hatte er sich einen dunkelblauen Gi übergezogen und grübelte halbnackt darüber, welche Hakama er dazu anlegen sollte, da wäre er fast mit einem Aufschrei in den Schrank gesprungen, als plötzlich hinter ihm die Tür schwungvoll aufgeschoben wurde und Daisuke wie eine Schneelawine hereinrauschte.
 

„Daisuke, langsam geht mir deine Art, ohne Vorwarnung bei mir aufzutauchen, auf die Nerven“ rief er ärgerlich als Begrüßung, während er versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen,

„Keine Zeit,“ antwortete Daisuke knapp und etwas außer Atem. „Wir müssen uns beeilen, zieh dich fertig an.“

„W-was ist denn los?“ Yoshida hopste schnell in die erstbesten Hakama, die Daisuke ihm mit zitternder Hand aus seinem Schrank fischte und er sah die Schweißperlen auf der Stirn seines Freundes. „Ist was passiert?“
 

Daisuke strich sich die schwitzigen Haare aus dem Gesicht und zwang sich zu einem falschen Lächeln. „Ach was, nichts schlimmes. Ich habe gerade nur einen dringenden Auftrag von Izuka-san bekommen und du musst mich begleiten. Sofort!“
 

Yoshida war überrascht.. „Von Izuka-san? Ich? Was hab ich denn damit...“

„Die anderen Männer unserer Einheit sind nicht da, wahrscheinlich irgendwo was trinken, deswegen sollst du einspringen,“ schnitt ihm Daisuke das Wort ab. „Wir müssen sofort los.“ Sein Tonfall wurde drängender..
 

Etwas bang steckte sich Yoshida rasch seine Schwerter in den Obi. Irgendetwas schien nicht zu stimmen, Daisuke war total nervös und das war sonst überhaupt nicht seine Art.
 

„Was für einen Auftrag haben wir denn?“ rief er Daisuke hinterher, der schon in Richtung Tür unterwegs war. Ungehalten sein Freund sich um und legte einen Finger auf seine Lippen. Yoshida stutzte. Ein Geheimauftrag?

„Naja,“ dämmerte es ihm, „was wäre anderes von Izuka zu erwarten. Immerhin ist er ja der Leiter der Geheimoperationen...“ Mit wachsendem Unwohlsein hoffte Yoshida, dass dieser Auftrag nichts Himura zu tun hatte.

Seinen Freund mit blutigem Schwert inmitten von Leichen zu sehen – Yoshida wusste nicht, wie er dann jemals wieder unbefangen in die blauen Augen seines Zimmergenossen schauen sollte.
 

Vor lauter Überlegungen hatte Yoshida nicht bemerkt, dass Daisuke einen Brief in seinem Zimmer fallen gelassen hatte.
 

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Durchgefroren eile Himura Kenshin zurück zum Kohagiya. Er war solange ziellos durch die Strassen geeilt, bis er wenigstens ansatzweise das Gefühlt gehabt hatte, seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu haben.
 

Wie hatte er sich nur so gehen lassen können? Im einen Moment hatte er noch mit innerer Ruhe, ja sogar Freude seine Kata im Dojo geübt und im nächsten Augenblick waren seine Instinkte mit ihm durchgegangen.
 

„Meine Killerinstinkte,“ murmelte er missmutig in sich hinein. „Hat sich Yoshida doch in mir getäuscht?“
 

Der Tag war doch so gut verlaufen.

Am Morgen noch hatte er Angst gehabt, seinem Freund und Zimmergenossen zu begegnen. Er hatte sich vor der Einsamkeit gefürchtet und trotzdem hatte er versucht, seinen einzigen Vertrauten zu vergraulen. Wie groß war seine Erleichterung gewesen, als er vom Schwertschmied Arai Shakku zurückgekommen war und Yoshida sich nicht hatte abschrecken lassen. Statt dessen hatte er sich entschieden, bei ihm zu bleiben und Kenshin war unendlich dankbar dafür gewesen. Er hatte gedacht, wenn er einen Freund hätte, dann würde er es schaffen, trotz seiner grausamen Aufgabe immer wieder in die Normalität zurückkehren zu können.
 

Doch das war eine Illusion gewesen.

Weder die beruhigenden Kata noch Yoshidas Stimme hatten seine plötzliche Wut auf Onaka, der ihn hinterrücks angegriffen hatte, bremsen können.

Es war, als ob in diesem Moment des Instinkts eine andere Person in ihm das Schwert gezogen hätte. Diese andere Person, die in der Dunkelheit in ihm lebte und mit jedem Leben, das er ausgelöscht hatte, stärker geworden war, hatte erstmals ungefragt die Kontrolle über die Klinge übernommen und nur er selbst hatte sie gerade noch vor Onakas Halsschlagader stoppen können.
 

Er selbst.
 

Kenshins Herz klopfte und er bekam plötzlich ein ganz seltsames Gefühl. War es Angst?

„Bin ich jetzt schon zwei Personen?“ überlegte er mit einem Schaudern. „Wer ist diese andere Person in mir? Ist es die selbe Person, die auch das Schwert schwingt, wenn ich einen Menschen töten soll?“
 

Yoshida hatte ihn gefragt, wie er es mit sich selbst vereinbaren konnte: Auf der einen Seite Menschen schützen zu wollen und auf der anderen Seite sie zu töten.

„Ist das die Antwort?“ fragte sich Kenshin bang. „Ist die Antwort, dass ich mich innerlich aufspalte? Einen Teil von mir wegsperre, während der andere Teil die Kontrolle übernimmt?“
 

Kenshin kniff die Augen zusammen.

Wenn er weiter solche Gedanken denken würde, dann würde er früher oder später durchdrehen. Er lachte bitter. „Wahrscheinlich ist es schon zu spät.“

Um nicht länger denken zu müssen, versuchte er, sich in einen Zustand kalter Ruhe zu versenken, so wie er es auch immer vor seinen nächtlichen Aufträgen machte.
 

Das einzigste Regung, die seinen steinernen Gesichtsausdruck jetzt noch durchbrach, war das Bibbern seiner Lippen und das Klappern seiner Zähne. Erneut verfluchte er sich, seinen Haori nicht mitgenommen zu haben und beschleunigte seine Schritte.
 

Es war bereits dunkel, als er die Herberge endlich erreichte. Etwas schuldbewusst hoffte Kenshin, dass ihn niemand gesucht hatte. Immerhin war es ziemlich verantwortungslos von ihm gewesen, einfach zu verschwinden. Es konnte ja trotz aller Zusagen dazu kommen, dass ein dringender Auftrag erledigt werden musste.
 

Mit einem vergewisserndem Blick auf die leere Straße hinter ihm schlüpfte der rothaarige Junge schnell zum Eingang der Herberge hinein. Zügig ging er über den Innenhof zur Treppe, die ihn hoch in sein Zimmer führte. Verblüfft bemerkte er, dass trotz der Abendstunden noch ziemlich viele Männer anwesend waren und im Gang herumstanden, als ob sie nichts Besseres zu tun hätten. Er versteifte sich und machte sich schon dazu bereit, sich durch die Massen der viel größeren und breiteren Soldaten zu drängeln, als sich plötzlich die Männer seiner Anwesenheit bewusst wurden und hastig eine Gasse bildeten.
 

Kenshin verbarg seine Überraschung und konzentrierte sich kurz, um mit seinem sechsten Sinn die Gefühle der Männer über die Ausstrahlung ihrer Ki zu lesen. Es war offensichtlich zu spüren, dass die Meisten anscheinend seit heute Nachmittag einen Sinneswandel durchgemacht hatten. Waren die vorherrschenden Gefühle, die Kenshins Anwesenheit bei den Männern auszulösen schienen, vor einem halben Tag noch Misstrauen, Verachtung und sogar Spott gewesen, so fühlte er jetzt größtenteils Angst, Respekt und Vorsicht.
 

Grimmig schlussfolgerte Kenshin, dass diese plötzliche Veränderung wohl etwas mit seiner Entgleisung im Dojo zu tun haben musste. Anscheinend hielten die Männer ihn jetzt für einen unberechenbaren Wahnsinnigen. Kenshins unterdrückte ein zynisches Lächeln, während er mit betont ernster und ausdrucksloser Miene durch die schweigsamen Männer hindurch zu seinem Zimmer schritt. Sollten ihn die Männer ruhig für einen Psychopaten halten – wenigstens würden sie sich dann nicht länger über seine Größe, sein Alter oder seine Haarfarbe lustig machen. Oder ihn leichtsinnigerweise sogar herausfordern.
 

Erleichtert, die glotzenden Männer hinter sich lassen zu können, schob Kenshin schnell seine Zimmertür auf und holte sofort seinen Haori. Obwohl jetzt im Inneren der Herberge, war ihm immer noch kalt und er zog den warmen Stoff schnell über. Fröstelnd überlegte er, zu Okami in die Küche zu gehen – dort würde es ein paar Grad wärmer wie draußen sein und außerdem gab es dort sicher noch etwas Abendessen. Außerdem war sie die einzigste Person, die ihn noch als den behandelte, der er vor einem Monat gewesen war – als ganz normalen Jungen. Wie sehr genoss er die Illusion, in ihrer Gegenwart noch einmal so sein zu können wie damals.
 

Gerade, als Kenshin den Raum mit einem missmutigen Gedanken an die Hindernisse zwischen ihm und der Küche - die im Gang herumlungernden Männer - verlassen wollte, entdeckte er im Dämmerlicht einen Zettel, der auf dem Boden lag. Verwundert hob er das anscheinend achtlos dahingeworfene Papier auf. Es war unordentlich zusammengefaltet und kein Name stand darauf. Wahrscheinlich hatte Yoshida es verloren.
 

„Wo ist er überhaupt?“ fragte sich Kenshin. Halb hatte er erwartet, seinen Freund hier im Zimmer sitzen zu sehen, mit einem grimmigen Lächeln und einem Spruch auf den Lippen wie: „Himura, schon zum zweiten Mal heute bist du vor mir weggerannt. Das mindeste, was du als Entschädigung tun kannst, ist, mir noch mal den Trick mit dem Würfelspielen zu zeigen. Ich will die Männer auch mal so abzocken, wie du das letztens getan hast!“ Doch statt dessen war alles, was von Yoshida zu sehen war, nur sein Haori auf dem Futon.

Es war kein Yoshida im Zimmer und nach allem, was Kenshin spürte, als er kurz die Augen schloss und sich auf die vielen, verschiedenen Ki’s konzentrierte, auch nicht in der Herberge. Seufzend öffnete er die Augen wieder und starrte einige Sekunden auf den Zettel, bevor er ihn zögernd auffaltete.
 

Überrascht stellte er fest, dass die in hastig dahingeschmierten Zeichen geschriebene Botschaft ihm galt.
 

Himura,

wenn du Yoshida lebend wiedersehen willst, dann komm um Mitternacht in die Shinsakusen-Gasse im westlichen Altstadt-Bezirk. Komm alleine und ohne Waffen.

Wenn du dich auslieferst, dann wird Yoshida ohne Schaden freigelassen.

Wenn du allerdings versuchen solltest, ihn mit Gewalt zu befreien, dann stirbt dein Freund.
 

Kenshin starrte auf das Papier in seiner Hand und war überzeugt, dass dieser ganze Tag ein Albtraum gewesen sein musste. Hoffentlich würde er bald aufwachen.
 

--.
 

„Sagst du mir jetzt endlich mal, was hier los ist?!“
 

Wütend starrte Yoshida seinen vermeintlichen Freund an, während er mit zitternden Händen seinen dünnen Gi enger um sich zog. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, seinen Haori aus der Herberge mitzunehmen, so eilig hatte Daisuke ihn davon gescheucht.
 

Der Angesprochene drehte sich nicht zu ihm um, als er antwortete. „Wir haben einen wichtigen Geheimauftrag bekommen.“
 

Yoshidas Augen weiteten sich vor Überraschung. „Wir? Aber wir haben doch darin überhaupt keine Erfahrung. Ich bin nicht mal in einer der Einheiten, die Izuka unterstehen.“

„Du vielleicht nicht,“ schnauzte ihn Daisuke an.

Yoshida legte seine Stirn in Falten. „Und wie genau sieht dieser Auftrag aus? Sind wir Leibgarden bei einem geheimen Treffen?“

Daisuke drehte sich endlich zu ihm um und lächelte. „Fast, Yoshida. Wir sollen bei einem geheimen Treffen eine wichtige Person beschützen. Einen Überläufer aus Aizu.“

„Einen Verräter? Noch dazu aus Aizu?“

Daisuke drängte Yoshida schon zum Weiterlaufen, bevor dieser weitere Fragen stellen konnte. „Jetzt schau nicht so zweifelnd und komm. Du wirst schon sehen...“
 

Nervös trottete Yoshida hinter seinem Freund her, bis sie schließlich in einer kleinen Seitengasse stehen blieben. Yoshida kannte diesen Stadtteil kaum, denn er hatte ihn bisher vermieden – wohlweißlich, denn hier trafen sich viele Gruppierungen aus Aizu, der dem Shogunat am treusten ergebenen Provinz. Allein die frühen Abendstunden schmälerten etwas die Lebensgefahr, in der sie sich hier inmitten von Feinden befanden. Noch war genug Licht, so dass die Gestalten der Nacht noch in ihren Häusern auf das Dunkel der Nacht warten mussten. Doch Yoshida war sich sicher, dass auch das ihnen kein Schutz bieten würde, wenn sie von irgendjemandem in ihrer Choshuu-farbenen Kleidung erkannt würden. Besser, so schnell wie möglich hier zu verschwinden.
 

Daisuke schien ebenso nervös wie er selbst zu sein, denn Yoshida sah deutlich das Zittern seiner Hand, als er in der schmalen Gasse an eine unauffällige, schäbige Holztür klopfte. Mit schwitzigen Händen vergewisserte sich Yoshida, dass seine Schwerter noch an Ort und Stelle waren.
 

Die kleine Tür öffnete sich quietschend und aus dem dunklen Inneren wurden sie von einer kaum erkennbaren Gestalt beäugt.
 

„Du?“ fragte der Mann aus dem Dunkeln heraus. In seiner Stimme war deutlich Misstrauen zu hören. „Wer ist der andere? Wo ist dein Freund?“

„Das ist mein Freund,“ lächelte Daisuke und trat dicht an die Türschwelle heran. Leise, so dass nur der Mann im Dunkeln ihn hören konnte, fügte er flüsternd hinzu: „Der Junge hat keine Ahnung. Aber dank seiner Hilfe kann ich euch heute Nacht den persönlichen Hitokiri von Katsura Kogoro ausliefern.“
 

Daisuke sah, wie sich der Gesichtsausdruck des im Halbschatten verborgenen Mannes vor ihm von mürrisch zu interessiert wandelte. „Kommt rein.“
 

Mit wachsamen Blick und die Hand immer noch in der Nähe seines Schwertgriffes folgte Yoshida Daisuke, der bereits im Dunkeln des kleinen Hauses verschwunden war. Er betrat den spärlich beleuchteten und nach Küchenabfällen stinkenden Flur. Daisuke war bereits ganz am Ende des langen Ganges und gestikulierte ihm, sich zu beeilen. Dann bog er nach rechts in einen weiteren Gang ab. Vorsichtig und darauf bedacht, nicht über den Dreck und das Gerümpel am Boden zu stolpern, folgte Yoshida.
 

Sein Herz pochte. Diese ganze Situation kam ihm plötzlich sehr seltsam vor. Schon als sie die Herberge verlassen hatten, hatte ihn so ein ungutes Gefühl beschlichen. Es war etwas, das Daisuke gesagt hatte...
 

Yoshida erinnerte sich plötzlich! Sein Freund hatte behauptet, sie zwei müssten den Auftrag ausführen, weil die anderen Männer alle unterwegs wären. Doch als sie durch die Herberge geeilt waren, hatte Yoshida sie doch alle im Gang herumstehen sehen: Hatomo und Umino. Hatte er nicht auch deutlich Uchida erkannt? War nicht Uchida derjenige, dem immer die Aufträge, die Informanten und Überläufer betrafen, überlassen wurden? Warum sollte dann Izuka nach jemandem so unqualifizierten wie ihm schicken?

Izuka war ihm sowieso schon immer verdächtig vorgekommen. Er mochte dieses schmierige Grinsen einfach nicht und die ganze, schlüpfrige Art.
 

Einer, so stellte Yoshida fest, der mit einem süffisanten Lächeln Menschen wie Himura in die Strassen hinaus zum Töten schickte und dabei einen so entspannten Eindruck machen konnte, war unmöglich sympatisch zu finden.
 

„Yoshida, wo bleibst du?“ hallte Daisukes ungeduldige Stimme durch den dunklen Flur.
 

Ein Überläufer aus Aizu, überlegte Gerufener fieberhaft weiter. Wenn etwas unrealistischer war, dann das. Aizu war die loyalste Provinz – niemals würde sie sich gegen das Bakufu stellen. Und was für einen Wert hätte dann ein einzelner Überläufer? Wichtig konnte er nicht sein, sonst hätte Izuka mehr Männer geschickt.
 

Mit klopfendem Herzen eilte Yoshida seinem Freund nach. Er musste ihn warnen. Das alles hier roch – noch stinkender als die Küchenabfälle zu seinen Füßen– nach einem Hinterhalt.
 

„Daisuke,“ rief er vorsichtig, während er um die Ecke bog, „ich glaube wir sollten besser-...“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als er plötzlich vor sich anstelle seines Freundes eine große Gestalt sah, die hämisch auf ihn herablächelte. Ehe er sein Schwert ziehen konnte, traf ihn ein dumpfer Gegenstand hart am Kopf und er wurde auf den dreckigen Boden geschleudert. Blut tropfte aus einer Platzwunde an seiner Stirn und er verlor augenblicklich das Bewusstsein.
 

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Kenshins starrte auf die krakelige Schrift, als wäre sich eine Erscheinung und nicht Realität. Langsam las er die kurze Botschaft ein zweites Mal. Doch auch nach dem dritten Mal konnte er noch nicht realisieren, was dort eigentlich geschrieben stand.
 

Sollte das ein Scherz sein? Von wem war der Zettel?
 

Sein erster Gedanke war, dass dies die Tat von Onaka Iamatsu sein musste. Dieser verfluchte Hund konnte wahrscheinlich nicht mit der Demütigung von heute Nachmittag fertig werden und versuchte sich nun offensichtlich so an ihm zu rächen. Grimmig packte er seinen Schwertgriff, bevor er ihn mit einem Kopfschütteln wieder losließ.
 

„Lass dein Urteilsvermögen nicht von persönlichen Gefühlen durcheinanderbringen,“ ermahnte er sich selbst mit den Worten, die ihm sein Meister so oft und so schmerzlich beigebracht hatte. Er atmete einmal tief durch und versuchte, die Sache möglichst nüchtern zu analysieren, als ob es ihn überhaupt nicht persönlich betreffen würde.
 

Shinsakusen-Gasse. Das war, soweit er wusste, tiefster Shogunats-Bezirk, hauptsächlich von verschiedenen Einheiten aus Aizu bewohnt. Onaka jedoch wäre viel zu stolz, um seinen ehrbaren Namen und seinen Clan zu verraten, in dem er sich mit irgendeiner Aizu-Gruppe verbünden würde. „Und trotz aller Hinterhältigkeit würde er es nicht wagen, sich noch einmal mit mir anzulegen,“ grübelte Kenshin. „Und selbst wenn er sich trauen würde, wäre Yoshida nie mit Onaka mitgegangen. Denn Yoshida muss freiwillig die Herberge verlassen haben, sonst wäre das sofort jemandem der Herumstehenden aufgefallen.“
 

Das war die Lösung, dämmerte es Kenshin plötzlich. Wer auch immer den Zettel geschrieben hatte, er musste dieses Zimmer betreten haben, um ihn dort zu platzieren – und draußen im Gang standen jede Menge Zeugen. Hastig stopfte Kenshin das Blatt Papier in seinen Ärmel und trat mit entschlossenem Blick in den Gang hinaus. Sofort verstummten abermals die Gespräche der Männer und sie sahen ihn alle mit misstrauischer Zurückhaltung an.
 

Forsch trat Kenshin auf die Gruppe Samurai zu, die ihm am nächsten Stand. Er kümmerte sich nicht darum, dass sie vor Überraschung, so plötzlich angesprochen zu werden, ein paar Schritte zurückwichen. Auch war er sich nicht bewusst, dass seine Augen inzwischen ein gefährliches Leuchten bekommen hatten.
 

„H-Himura-san,” nickten die Männer ihm zu.

Kenshin ignorierte die Förmlichkeiten und fragte ohne Umschweife: „Hat irgendjemand außer mir und Yoshida in den letzten Stunden dieses Zimmer betreten?“

Etwas verblüfft sahen sich die Samurai an. Einer murmelte, „als ob wir hier stehen würden, um die Zimmertüren zu bewachen.“

Kenshin hatte das gehört und fixierte den Mann. Sein Blick wurde noch bedrohlicher. Der Mann schluckte und sah schließlich betreten weg.

Das Gesicht eines anderen Samurais hingegen, Uchida, hellte sich plötzlich auf. „Mir fällt gerade ein, Himura-san, noch nicht einmal vor einer halben Stunde kamen Yoshida und Daisuke hier vorbei. Die beiden hatten es anscheinend wohl ziemlich eilig.“
 

Wortlos starrte Kenshin durch Uchida hindurch. Sein Gesicht verriet nichts, aber seine Hände ballten sich zu Fäusten.
 

Daisuke?!
 

Ohne sich weiter um die ihm verwundert und argwöhnisch hinter ihm herschauenden Samurai zu kümmern, hastete Kenshin an ihnen vorbei.
 

Der einzige Mann, den er jetzt um Rat fragen konnte und musste, war Izuka!
 

Schnell durchquerte er den Innenhof und ging zum anderen Teil des Gebäudes, in dem die Führungskräfte untergebracht waren. Der erste Schock war schon längst einer kalten Wut gewichen. Hatte ihn Izuka nicht vor Verrätern gewarnt? Und war nicht Daisuke derjenige gewesen, der Yoshida alles über ihn und seine Aufträge als Hitokiri erzählt hatte? Wie hatte nur so unvorsichtig sein können!
 

Kenshin war so damit vertieft, voller Wut in seinen Gedanken Teile des Puzzles zusammen zu setzen, dass er fast mit Izuka zusammengestoßen wäre, der gerade sein Zimmer verlassen hatte.

„Himura!“ rief er überrascht aus und legte dann seine Stirn in Falten, als er den düsteren Gesichtsausdruck des rothaarigen Jungen sah. „Was ist passiert?“
 

Doch Kenshin antwortete nicht. Wie gebannt starrte er an Izuka vorbei auf die zwei Samurai, die einen großen, schwankenden Mann mit gefesselten Händen aus dem Zimmer führten. Der Mann schluchzte, doch ließ sich widerstandslos von den beiden Soldaten wegführen. Beim Vorbeigehen erkannte Kenshin sein Gesicht.
 

„Buntaro?“ rutschte es ihm entsetzt über die Lippen. Der Angesprochene reagierte nicht und Kenshin sah erschüttert zu, wie er abgeführt wurde.

Izuka trat hinter ihn. „Ja, leider. Ich habe dir doch von den Verrätern erzählt. Er ist einer davon und hat gerade eben alles gestanden.“

Kenshin starrte dem gebrochenen Mann hinterher, den er als so ernst und zuverlässig kennen gelernt hatte.
 

„Und... wer sind die anderen?“ presste er langsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Izuka zuckte zurück. Die Stimme des Jungen war plötzlich kalt und gefährlich.
 

„Daisuke... und dein Zimmergenosse, Yoshida.“
 

Kenshin fuhr herum. „Yoshida? Unmöglich!“ Seine Maske der Ausdruckslosigkeit zerbröselte und ihm stand nun Erschrecken und Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben.

Izuka lächelte schief. „Ich habe dir ja gesagt, Himura, gib dich mit keinem der Männer ab. Du bist Katsura Kogoros persönlicher Hitokiri. Wenn du dich mit jemandem anfreundest, dann kannst du deinen Arsch drauf verwetten, dass diese Schwäche sofort ausgenutzt wird.“
 

„Schwäche...“ murmelte Kenshin und starrte geradeaus.
 

Izuka legte ihm die Hand auf den Arm. Er spürte die angespannten Muskeln des Jungen unter dem warmen Stoff. „Es tut mir leid... Aber dein Urlaub ist vorbei.“

Langsam wanderte Kenshins Blick von Izukas Hand zu seinem Gesicht. „Was?“ Tiefe Erschütterung war in dem kleinen Wort zu hören.
 

„Verrat ist Verrat,“ zuckte Izuka mit den Schultern. „Anbetracht der Umstände habe ich leider noch keine Zeit gehabt, schwarze Briefumschläge zu schreiben. Aber du weißt auch so, was zu tun ist. Buntaro hat sich durch sein Geständnis die Ehre erkauft, sein Leben selbst zu beenden. Er darf noch seine Angelegenheiten regeln, bevor er im morgengrauen Seppuku begehen wird. Schließlich war er Mal im Dienste einer angesehenen Familie aus Choshuu.“
 

Kenshin starrte auf Izukas Lippen, der über die ganze Sache sprach, als würde es um irgendeine banale Begrüßungszeremonie gehen.
 

„Finde die anderen zwei und töte sie.“ Die Worte kamen unvermittelt und trafen Kenshin wie einen Schlag ins Gesicht. Mit großen, blauen Augen schaute er Izuka ungläubig an.
 

Mit einem weiteren Schulterzucken trat dieser näher an ihn heran und Kenshin spürte, wie es ihm eiskalt den Rücken hinab rann, als er seinen Vorgesetzten leise in sein Ohr flüstern hörte: „Es ist deine Pflicht. Töte sie, bevor sie noch mehr Schaden anrichten können. Falls sie schon Informationen weitergeben konnten, versuche, sie zu vernichten. Egal ob es Dokumente oder Menschen sind. Vergiss nicht, die Verräter haben schon einmal einen Anschlag auf Katsura geplant – und auf dich. Du weißt, mit Katsura steht oder fällt die Revolution.“
 

„Katsura,“ schoss es Kenshin durch den Kopf und er sah das Gesicht des Anführers, dem er Treue bis in den Tod geschworen hatte, vor sich. Langsam gewann er seine Fassung wieder.

Izuka nickte ihm anerkennend zu. „So ist es richtig. Vergiss deine persönlichen Gefühle. Die sind für dich nur schwächend. Du als Hitokiri musst stark sein und bedingungslos gehorchen. Du bist Katsuras Waffe und er vertraut auf dich.“

Kenshins blaue Augen füllten sich mit einem kalten Glanz. Izuka klopfte ihm bestätigend auf die Schulter. „Geh, und bring es hinter dich!“
 

Kenshin drehte sich um, sein Gesicht war wie in Blei gegossen, ausdrucks- und leblos. Izuka schaute ihm zufrieden hinterher. Dieser Junge war so einfach zu manipulieren.
 

War es richtig gewesen, auch Yoshida beseitigen zu lassen? Immerhin hatte deswegen Buntaro überhaupt gestanden – um Yoshida aus der ganzen Sache rauszuhalten.

Izuka schüttelte den Kopf. Es war besser, alles gründlich zu bereinigen. Er hatte bereits Katsura eine Botschaft übermitteln lassen, in der er Buntaro, Daisuke und Yoshida als Verräter identifiziert hatte. Und egal wie sehr letzterer nun in diese Sache verwickelt war, Izuka selbst würde seinen Fehler nur ungern zugeben.
 

Morgen früh würden alle Beteiligten bereits tot sein und so war es besser. Ein Beispiel für die anderen Ishin Shishi und ein Beispiel für Himura: Leichtfertig Freundschaften schließen konnte sich ein Hitokiri nicht erlauben. Schon gar nicht einer mit dem Können von ...
 

...Battousai.

Izuka lächelte. Er mochte diesen Namen.

Bald, wenn die neue Offensive der Ishin Shishi beginnen würde, würde dieser Name in aller Munde sein und Angst und Schrecken auf den Strassen verbreiten.
 

Und Himura, der Einzelgänger der er war, würde nicht länger in seiner Konzentration durch Emotionalitäten wie Freundschaft gestört. Izukas Grinsen wurde noch ein Stückchen schiefer, als er sich klar darüber wurde, wie sehr doch alles nach seinen Plänen verlief. Himura – bald von allen gefürchtet - würde nur noch Katsura Kogoro und ihn selbst als Ansprechpartner und Vertraute haben.
 

Damit hätten sie es geschafft, den Jungen in weniger wie zwei Monaten zu der perfektesten, kontrollierbarsten und tödlichsten Waffe zu machen, mit der je in einer Revolution gekämpft worden war.
 

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Langsam schritt Kenshin durch die Herberge, die Augen auf einen unbestimmten Punkt vor ihm fixiert. Alles, was an persönlichen Empfindungen in ihm nach der Aufmerksamkeit seines Bewusstseins schrie, schloss er in einem dunklen Winkel seiner Seele weg. Er würde sich von diesen Gefühlen nicht beeinflussen lassen. Statt dessen kalkulierte er kühl seine Möglichkeiten und machte sich einen Plan.
 

Auch wenn er nur eine Waffe in diesem Krieg war und Befehlen gehorchen musste – er würde nicht einfach so, ganz ohne Beweis, glauben, dass Yoshida ein Verräter war.

Daisuke und Buntaros Schuld war erwiesen, aber Yoshida? Nein, offensichtlich versuchte Daisuke, der Yoshida gut kannte, ihn zu benutzten. Yoshida sollte der Köder für ihn sein.

„Meine... Schwäche.“ Kenshin spürte sein Herz schmerzhaft zucken.
 

Schuldgefühle – er hatte Yoshida zur Zielscheibe gemacht. Er hätte es besser wissen müssen. Durch seine eigenen Schuld wurde Yoshida da mit hineingezogen. Und jetzt sollte er ihn sogar töten?

„Wenn er unschuldig ist, dann kann ich das nicht tun,“ dachte Kenshin.
 

Wenn Yoshida aber unschuldig war, dann hatte Buntaro Izuka angelogen. Buntaro hatte ihn ans Messer geliefert, aus welchem Grund auch immer, vielleicht um nicht allein zu sterben. Wenn das der Fall war, dann, so schwor sich Kenshin, während ihm ein Kribbeln den Rücken hinab lief, dann würde er ihn persönlich für diesen Verrat töten, und zwar noch heute Nacht.
 

„Aber“, meldete sich eine kalte Stimme in seinem Kopf zu Wort, „was, wenn Yoshida gar kein Köder ist? Sondern nur als solcher erscheinen soll? Was ist, wenn sie wirklich beide Verräter sind, Daisuke und Yoshida? Wenn alles von Anfang an geplant war - wenn ihre Freundschaft von Anfang an den Zweck hatte, mich zu schwächen?“
 

Grimmig lockerte Kenshin seinen Schwertgriff. Er bemerkte gar nicht die Männer, ihm auf seinem Weg zur Tür hastig Platz machten. Auf keinem Fall wollten sie dem rothaarigen Mann in die Quere kommen – nicht bei diesem tödlichen Funkeln in seinen Augen und dieser furchteinflössenden Aura, die er ungebremst verströmte.
 

Auf der Strasse angekommen, holte er nochmals den Zettel hervor. Sein Ziel war die Shinsakusen-Gasse in der westlichen Altstadt. Nur dort würde er herausfinden, ob der, den er bisher für seinen einzigsten Freund gehalten hatte, in Wahrheit ein Verräter war oder nicht.
 

Vereinzelte Schneeflocken wirbelten an ihm vorüber und gefroren schnell auf der Straße. Kenshin fröstelte, aber nicht vor Kälte. Trotz allen besseren Wissens hatte er nicht nur sich sondern auch Yoshida verwundbar gemacht – diese Schwäche würde er ein für alle Mal aus der Welt schaffen.
 

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Das erste, was Yoshida wahrnahm, während wer langsam wieder zu Bewusstein kam, war das unglaubliche Dröhnen in seinem Schädel. Schmerzhaft pochte das Blut durch sein Gehirn, als ob es kurz davor wäre, zu explodieren. Langsam spürte er sich wieder zu Kräften kommen, doch als mit seiner Hand nach seinem Kopf tasten wollte, konnte er sich nicht bewegen.
 

„Wieso wollt ihr mir nicht glauben?!“
 

Yoshida blinzelte. Es fiel ihm schwer, seine Augen zu öffnen um sehen zu können, wer da gesprochen hatte. Es hatte sich nach jemand Bekanntem angehört.
 

Daisuke!?
 

Yoshidas Augen sprangen auf. Ein Hinterhalt! Ihm fiel alles wieder ein. Wie er durch den dunklen Gang gehastet war und Daisuke hatte warnen wollen, nur um dann plötzlich von einem riesigen Mann niedergeschlagen zu werden.

Entgeistert sah er sich um.
 

Er lag in einer Ecke in einem spärlich beleuchteten Raum. Die Wände waren aus Stein und es gab keine Fenster, noch dazu roch es modrig und feucht. Höchstwahrscheinlich befand er sich in einem Keller. Er versuchte sich erneut zu bewegen und erst jetzt stellte er mit bangem Gefühl fest, dass sowohl seine Hände wie auch seine Füße gefesselt waren. Yoshida schluckte. Hatte ihn das Bakufu gefangen? Wenn ja, dann wusste er, was mit ihm geschehen würde. Erst ein Verhör und dann die Exekution. Yoshida erschien keines der beiden Dinge besonders verlockend.
 

Vorsichtig sah er sich um. Halb erwartete er, Daisuke irgendwo neben sich liegen zu sehen, aber er war alleine in dem Raum. Dann hörte er wieder die Stimmen, die wie das Licht durch die schmale Öffnung der Holztür zu kommen schienen.
 

„Warum lasst ihr mich dann nicht gehen?“ hörte er jemanden laut rufen – es war wirklich Daisuke. Dann hörte eine bedrohlichere, leisere Stimme und einen plötzlichen Aufschrei seines Freundes. Yoshida rann es eiskalt den Rücken hinab. Wurde Daisuke bereits gefoltert?
 

Doch es folgten keinen weiteren Schreie und Yoshida entspannte sich wieder etwas. Es war schwer, etwas von dem dumpfen Stimmengewirr zu verstehen, doch irgendwann hörte er wieder ganz deutlich Daisuke sprechen. Offenbar war er sehr aufgeregt, denn seine Stimme überschlug sich fast.
 

„Ihr versteht nicht! Ich habe euch doch alles gegeben, wonach ihr verlangt habt. Wir hatten eine Abmachung!“
 

Yoshida stutzte. Abmachung? Das hörte sich nicht nach einem Verhör an.
 

„Ihr habt den Jungen und er wird kommen, um ihn zu befreien. Dann habt ihr ihn, den wichtigsten Hitokiri der Ishin Shishi, Katsura Kogoros persönlichen Killer!“
 

Yoshida konnte seinen Ohren nicht trauen. Hatte er da richtig gehört? Das konnte nicht sein. Trotz heftigster Kopfschmerzen robbte er sich verbissen über den schmierigen Steinboden näher an die Tür heran, um dem Gespräch besser folgen zu können.
 

„Für wie dumm hältst du uns eigentlich?“ hörte er jetzt deutlicher wieder die drohende, leise Stimme. „Was für eine Garantie haben wir, dass du mit dem Geld nicht einfach verschwindest und uns vorher noch einen ganzen Trupp Ishin Shishi auf den Hals hetzt? Wer weiß, ob dein großartiger Hitokiri überhaupt kommt? Ich jedenfalls habe noch nie von einem Killer gehört, der kommt, um ein Leben zu RETTEN!“
 

Heißeres Gelächter. Dann wieder Stille. Yoshida hörte die Männer nervös mit dem Füßen scharren.
 

„Ihr werdet sehen, er kommt,“ beteuerte Daisuke. „Warum gebt ihr mir nicht einfach das Geld und lasst mich gehen? Immerhin war so die Abmachung.“
 

„Abmachung?“ Ein leises Lachen. „Ich kann mich an die letzte Abmachung erinnern. Die Informationen über die Reiseroute Katsura Kogoros von Tosa nach Kyoto hat uns erst erreicht, als alles schon zu spät war. Unsere Mittelsmänner, Asakura Yukonori und Sasuke Yamaka wurden von einem Hitokiri getötet, ehe sie einen Plan schmieden konnten.“
 

„Nicht ein Hitokiri. Das war er! Den ich euch ausliefern will! Und für die Informationen über die Reiseroute war Buntaro und nicht ich verantwortlich!“
 

Buntaro?! Yoshida hielt den Atmen an. Das war zuviel. Träumte er vielleicht all das nur? Doch das schmerzhafte Pochen an seiner linken Schläfe schien ihn eines Besseren belehren zu wollen.
 

„Das ist mir egal,“ knurrte der Mann mit der leisen Stimme. „Ich weiß nur eines: Dieses Mal bin ich lieber zu vorsichtig als zu nachsichtig. Vor allem mit Verrätern wie dir. Immerhin hast du deinen Freund hier ausgeliefert, nur um dich mit einem hübschen Geldbetrag absetzten zu können. Wer sagt uns, dass du uns nicht vorher noch genauso in den Rücken fällst?“
 

Yoshida hörte plötzliches Stühle-Rücken, aufgeregtes Rufen, schließlich einen erneuten Aufschrei von Daisuke und ein dumpfes Plumpsen.
 

„Wo wolltest du so plötzlich hin?“ rief ein weiterer Mann mit tiefer, grollender Stimme. „Du bleibst schön hier, bis wir den Hitokiri haben. Dann kannst du dein Geld nehmen und verschwinden, immerhin halten wir uns an Abmachungen. Aber nicht vorher!“
 

Yoshida hielt die Luft an. Die ganze Situation kam ihm plötzlich so unglaublich unreal vor. Daisuke, sein Freund seit fast zwei Jahren, hatte ihn verraten – ihn als Köder benutzt, um Himura auszuliefern? Und das alles nur für Geld? Und was hatte Buntaro damit zu tun? Hatte er die Reiseroute verraten? Verzweifelt rüttelte er an seinen Fesseln, doch sie waren so stramm, dass er seine Gliedmaßen kaum noch spüren konnte. Hilflos ließ er seinen Kopf auf den dreckigen, kühlen Steinboden sinken. Was sollte er nur tun?
 

Raues Gelächter ließ ihn weiterlauschen. „In Ordnung,“ ertönte Daisukes brüchige Stimme. „Aber ihr braucht mehr Männer. Nur zu fünft könnt ihr mit ihm nicht fertig werden, falls er kämpfen will.“

„Machst du Witze?“ lachte die hohe, durchdringende Stimme. „Wir sind gute Schwertkämpfer und nach allem, was du uns erzählt hast, ist der Hitokiri nicht mehr als ein Junge!“

„Unterschätzt ihn deshalb nicht. Man nennt ihn nicht umsonst Battousai.“

„Battousai?“ Die Männer lachten. „Ein sehr überheblicher Name, nicht wahr?“
 

Der Mann mit der leisen, kalten Stimme schaltete sich wieder in die Unterhaltung ein. „Wir werden diesen... Battousai....nicht unterschätzen, Daisuke. Wir haben schon nach Verstärkung gesandt. Hioshi, ein guter Freund von mir, ist in einer Einheit der Mimiwarigumi. Und er bringt noch ein paar Leute mit. Alles ausgezeichnete Schwertkämpfer. Sie werden bis Mitternacht hier sein. Und wenn dein Hitokiri wirklich kommt und sich ergibt, werden sie ihn mitnehmen und im Namen des Shogunats ... verhören.“

Yoshida lief es eiskalt den Rücken hinunter, als er die leise Stimme boshaft lachen hörte.
 

„Außerdem,“ sagte der Mann mit der tiefen Stimme, „wenn der Hitokiri wirklich seinen Freund retten will, dann kommt er sowieso ohne Waffen und liefert sich uns aus, so wie du es von ihm gefordert hast. Ich vermute allerdings, er nimmt in Kauf, dass wir die Geisel töten und greift uns direkt an. Doch wenn Hioshi mit seinen Männern kommt, sind wir genug, um ihn fertig zu machen. Und auch für einen toten Hitokiri gibt es eine Belohnung.“
 

„Etsuke, Kijoshi, begleitet Daisuke nach oben,“ befahl der Mann mit der leisen Stimme. „Ihr wartet dort auf Hioshi. Ich werte hier unten soweit alles vorbereiten.“ Es folgte zustimmendes Grummeln und das Quietschen einer Tür. Dann war es eine zeitlang ruhig. Yoshida hörte sein Herz laut schlagen.
 

„Was meinst du, Shinzo?“ Der zweifelnde Ton in der tiefen Stimme des Mannes war kaum zu überhören.
 

„Du kennst meine Meinung, Genwa: Verrätern kann man nicht trauen.“ Die unheimliche leise Stimme Shinzos wurde noch ein bisschen leiser und Yoshida musste sich anstrengen, um noch etwas verstehen zu können. „Wenn dieser Hitokiri Battousai wirklich der direkte Untergebene von Katsura Kogoro ist, dann ist er Gold wert. Wenn er den Köder anbeißt und sich ergibt, dann übergeben wir ihn Hioshi und den offiziellen Bakufu-Streitkräften und bekommen eine hohe Belohnung.“
 

„Und wenn nicht?“ fragte Genwa.
 

Wieder dieses unheimliche, leise Lachen. „Dann kämpfen und töten wir ihn. Doch eins ist sicher – bevor ich mich von dem Killer töten lasse, töte ich die Geisel. Und den Verräter gleich mit.“

Genwa stimmte seinem Anführer Shinzo mit einem Grunzen zu.
 

„Auch wenn sich dieser Battousai ergibt, was ich übrigens für genauso wahrscheinlich halte wie den Sieg dieser ganzen Ishin Shishi-Bande, wird Hioshi trotzdem den Verräter und die Geisel töten lassen.“ fuhr die leise Stimme sachlich fort.

Die tiefe Stimme antwortete ungerührt. „Ich weiß.“
 

Heißer Zorn flammte in Yoshida auf und er rüttelte an seinen Fesseln, die nur noch tiefer in sein Fleisch schnitten. Doch auch der Schmerz konnte die große Hilflosigkeit und Bitterkeit, die in ihm aufwallte, nicht verdrängen. „Himura,“ betete er in Gedanken, „bitte liefere dich nicht aus!“ Stumm rann ihm eine Träne über die angeschwollene Wange und versickerte im dreckigen Steinboden.
 

„Bitte,“ flehte Yoshida verzweifelt, „lass mich nicht deine Schwäche sein.“
 

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Uff, ein langes Kapitel. Wird Kenshin sich ausliefern oder kämpfen? Und wird der Verräter selbst am Ende zum Verratenen? Im nächsten Kapitel werdet ihr es erfahren! ^^

Vielen Dank für’s lesen und kommentieren! Domo arigatou gozaimasu!
 

Japanische Wörter:

Engawa – traditionelle, hölzerne Veranda an japanischen Häusern.

Kohagiya – Herberge und Geheimversteck der Choshuu Ishin Shishi in Kyoto.

Seppuku – ritueller Selbstmord der Samurai-Klasse. Der höchste, ehrbare Tod außerhalb des Kampfes, gerade, wenn es darum geht, verlorene Ehre wieder herzustellen

Aizu-Munashidai - Von mir frei erfundener Clan aus Aizu. Mitglieder u.a. Shinzo (Anführer), Genwa, Etsu, Keijoshi...

Shinsakusen-Gasse - Erfundene Strasse in Kyoto

Mimiwarigumi – Dem Bakufu unterstehende Kämpfereinheit, die zusammen mit den Shinsengumi für Recht und Ordnung in den Strassen Kyotos sorgen sollte.

Hiko Seijuro XIII – Kenshins Meister

Choshuu Ishin Shishi – besonders aggressive Vereinigung von Samurai aus der Provinz Choshuu, die gegen das Shogunat eingestellt waren. Versuchten, durch einzelne, terroristische Aktionen die Ordnung der Regierung weiter zu destabilisieren und dadurch dem Kaiser zur Macht zu verhelfen.

Katsura Kogoro – Anführer der Choshuu Ishin Shishi

Bakufu – die militärischen Streitkräfte des Shogun

Katana – Langschwert

Wakizashi – Kurzschwert.

Daisho – traditionelles Schwerterpaar der Samurai (Katana, Wakizashi)

Kapitel 15 - Gescheitert

Daisuke hat endlich sein wahres Gesicht als Verräter gezeigt. Und Yoshida sitzt in der Falle – als Köder für den noch unbekannten Hitokiri Battousai.

Ich warne noch einmal vor blutigen Szenen in diesem und im nächsten Kapitel.

Viel Spaß trotzdem beim Lesen!
 

Divine Justice

Kapitel 15 - Gescheitert
 

Yoshida blinzelte gegen das Licht, das plötzlich in sein dunkles Kellerverlies strömte, als die Tür geöffnet wurde. Er wusste nicht, wie lange er schon hier im Dunkeln gelegen hatte, bevor er zu Bewusstsein gekommen war, aber er hatte inzwischen mindestens über eine halbe Stunde den Gesprächen durch die angelehnte Holztür gelauscht. Er konnte immer noch nicht glauben, dass Daisuke ein Verräter und Schuld an seiner misslichen Lage war, doch was er mit angehört hatte, ließ keinen Zweifel mehr daran.
 

Unvermittelt wurde Yoshida aus seinen Gedanken und in die Höhe gerissen, als ihn zwei starke Hände packten und ihn aus dem dunklen Kellerraum in ein anderes, ebenso ungemütlich aussehendes Zimmer schleiften. Zwar gab es hier Holzwände, wie Yoshida im hellen Kerzenschein erkennen konnte, aber auch sie schienen bereits schwer vom Moder befallen und strömten einen unangenehmen Schimmel-Geruch aus. Immerhin, erinnerte sich Yoshida, war er hier in einem Bezirk der Stadt, der auf feuchtem Flussgrund errichtet worden war und durch den viele Kanäle flossen.
 

Die feuchte und abgestandene Luft sowie der Modergeruch verstärkten nur die Übelkeit, die Yoshida befallen hatte und durch die plötzliche Veränderung seiner Lage von der Horizontalen in die Vertikale drehte sich ihm der Kopf. Anscheinend hatte der Schlag ihn doch etwas mitgenommen, denn als die Hände ihn losließen, schwankte er unkontrollierbar auf seinen zusammengebundenen Füßen und wäre fast wieder hingefallen, hätte man ihn nicht grob nach hinten in einen Stuhl gedrückt. Widerstandslos ließ er sich fallen – er konnte ohnehin das Gleichgewicht nicht halten. Nur mit Mühe schaffte er es, geradeaus in die Gesichter seiner Peiniger zu schauen, ohne dass sich alles vor ihm verdrehte.
 

„Bindet ihn fest.“ Yoshida sah zu dem Mann, dessen leise Stimme er bisher nur durch die Holztür vernommen hatte: es war ein kleines, schmächtiges Kerlchen, kaum größer als Kenshin, doch mit einem hässlichen Knubbelgesicht. Neben ihm sah der grobschlächtige Mann, Genwa, der Yoshida gerade eben wie einen Sack schmutziger Wäsche aus dem Keller getragen hatte, nur umso mächtiger aus.
 

Brutal riss Genwa ihm seine Hände hinter die Stuhllehne und machte sich mit einem Grummeln daran, sie festzubinden. Yoshida spürte seine Arme kaum noch, geschweige denn seine blutleeren Hände. Auf die Nähe erkannte Yoshida in dem Mann denjenigen, der ihn mit einem höhnischen Grinsen niedergeschlagen hatte - in einem plötzlichen Wutanfall und mit dem ununterdrückbaren Verlangen, diesen Kerl egal wie zu verletzen, versuchte er sich verzweifelt, aus dem Stuhl zu befreien. Doch er war zu schwach und kam nicht gegen die schraubstockartigen Hände des Kolosses an, der ihn ohne sich abzulenken zu lassen weiter festband – die einzige, für Yoshida schmerzlich spürbare Reaktion auf seine Widerspenstigkeit war, dass er die Fesseln noch etwas enger schnürte und sie jetzt tief in sein Fleisch schnitten.
 

„Ihr Schweine,“ rief Yoshida wütend und noch lauter, damit auch Daisuke oben im Haus ihn hören konnte, schrie er: „Du elender Verräter! Warte nur, bis Himura da ist! Du wirst deine Rechung schon bekommen!“
 

„Stopf ihm den Mund,“ zischte Shinzo und Yoshida wurde augenblicklich ein Knebel umgebunden, so dass er seinen farbenfrohen Flüchen nur noch durch unterschiedliche „Mmmm“s und „Nnnn“s Ausdruck verleihen konnte.
 

Der kleine Mann sah nervös auf die Uhr. „Gleich ist es soweit,“ murmelte er. „Hoffen wir, dass Hioshi noch rechtzeitig ankommt.“
 

Hioshi, überlegte Yoshida fieberhaft, ein Kommandant der Mimiwarigumi. Er kannte den Mann nicht, aber es war auf jeden Fall jemand, mit dessen Ankunft sein Tod untrennbar verknüpft war. Er hatte Shinzo und Genwa durch die Tür belauscht: Selbst wenn Kenshin sich ergeben sollte, hatte Hioshi den Befehl, die Geiseln zu töten und den Hitokiri gefangen zu nehmen und dann dem Bakufu zur „Befragung“ zu übergeben.
 

Wie als Bestätigung ertönte von weiter oben ein Stimmengewirr und jemand rief: „Er kommt.“

„Wer?“ rief Genwa mit tiefer Stimme die Treppe hinauf.

„Der Hitokiri!“

„Verdammt!“ Beide Männer griffen nach ihren Waffen und traten an die Treppe. „Ist er allein?“

„Ja,“ ertönte es von oben. „Und er ist anscheinend unbewaffnet!“
 

Das Knubbelgesicht Shinzos verzog sich zu einem grausamen Lächeln während sein Blick zu Yoshida glitt. „Anscheinend ist unsere Geisel doch zu etwas gut!“
 

Dann eilten beide die Treppe hinauf und ließen Yoshida alleine im Keller zurück, der mit vergeblicher Mühe weiterhin an seinen Fesseln rüttelte.
 


 

--
 


 

Kenshin wusste, wie riskant die ganze Aktion war. Er wusste, dass er ohne Schwerter mit seinem Leben spielte. Was hatte er bei seinem Training in den Bergen gelernt?

„Verliere in einem Kampf niemals deine Schwerter!“

Doch gleich darauf rief sich Kenshin einen anderen Satz von Hiko Seijuro ins Gedächtnis: „Schon bevor Schwerter gezogen werden, kann ein Kampf entschieden sein!“
 

Und so stand er, sich ohne seine zwei vertrauten Schwerter beinahe nackt fühlend, Punkt Mitternacht in der Shinsakusen-Gasse. Sie war nicht besonders lang und die meisten Häuser waren ziemlich alt und baufällig. Das Pflaster war glitschig von überfrorener Nässe und in der Nähe konnte Kenshin das Glucksen eines Abwasserkanals hören. Da er nicht wusste, wo genau sich die Erpresser befanden, stellte er sich entgegen seiner beruflichen Gewohnheit dorthin, wo ihn das helle Mondlicht gut sichtbar machte und wartete unbeweglich auf irgendeine Reaktion. Es dauerte etwas, dann aber sah er im Augenwinkel, wie sich ein paar Meter rechts von ihm langsam die Holztür eines winzigen, heruntergekommenen Hauses aufschwang.
 

Kenshin rührte sich nicht von der Stelle.
 

Die Holztür öffnete sich ganz und gab den Blick in ein gähnendes Dunkel frei, aus dem ein kleiner, hässlicher Mann erschien und vor die Schwelle trat. „Suchst du deinen Freund?“ fragte er mit leiser Stimme.
 

Kaum merklich nickte Kenshin „Was für eine Garantie habe ich, dass ihr Yoshida auch wirklich freilasst, wenn ich mich ausliefere?“

Der Mann vor ihm lächelte. „Mein Wort als Anführer der Aizu Munashidai und als Samurai.“ Kenshin starrte ihn unbeeindruckt und ausdruckslos an. Das Lächeln des kleinen Mannes verrutschte etwas. „Genügt dir das etwa nicht?“ fragte er herausfordernd.
 

Kenshin, der sich zur Selbstbeherrschung ermahnte, versteckte sein Gesicht hinter seinem roten Haarvorhang und nickte dann schließlich langsam. Natürlich traute er diesem Mann keinen Atemzug weit. Aber solange sie Yoshida in ihrer Gewalt hatten, würde er nach ihren Spielregeln spielen müssen.
 

Er folgte dem Mann durch die kleine Holztür ein einen dunklen, stinkigen Flur, wo er sich sofort von fünf Männern umringt sah, von denen ihm einer brutal die Arme auf den Rücken bog und die anderen ihn hastig abtasteten. „Keine Waffen,“ meinte ein dünner Mann mit hoher Stimme. Der Anführer nickte. „Bringt ihn in den Keller.“

Als Kenshin durch den langen Flur um eine Kurve herum zur Kellertreppe geführt wurde, sah er im Augenwinkel Daisuke mit blassem Gesicht in einer dunklen Türumrahmung stehen. Er musste sich beherrschen, seine Ki nicht vor lauter Wut aufflammen zu lassen (denn immerhin war es Teil seines eignen Planes, möglichst harmlos zu wirken) aber dennoch warf er Daisuke einen Blick zu, der hätte töten können.
 

Kaum hatten sie die ersten hölzernen Stufen der Kellertreppe erreicht, da fühlte Kenshin plötzlich den Druck auf seinen Armen nachlassen. Er stählte sich innerlich, denn er wusste, was kommen würde.
 

Ein kräftiger Schubs in den Rücken ließ Kenshin scheinbar haltlos die steile Kellertreppe hinunterfallen. Hart schlug er unten auf die kalten Steinfließen auf und gab einen leisen Laut des Jammerns von sich.

Sofort war der grobe, große Mann wieder über ihm und hob ihn unter Gelächter vom Boden auf. Schlapp und kraftlos ließ sich Kenshin von ihm zu einem Stuhl schleifen und dort festbinden. Scheinbar benommen blieb er dort widerstandslos mit hängendem Kopf sitzen, doch unter seinen roten Haaren musterte ein paar kalter, berechnender Augen sofort das ganze Zimmer.
 

Zu seiner Linken sah er Yoshida, ebenfalls an einen Stuhl gefesselt und geknebelt. An seiner Stirn hatte er eine große Platzwunde, das Blut teilweise verkrustet, teilweise durch den Schweiß noch feucht und im Gesicht verschmiert. Er sah blass und mitgenommen aus. Kenshin musste sich anstrengen, um seinen neutralen Gesichtsausdruck zu behalten und erneut den innerlichen Zorn niederzukämpfen.
 

Immerhin war das erste Ziel, das er sich gesetzt hatte, erreicht:nEs war augenscheinlich, dass Yoshida genau wie er Opfer und nicht Mitwirkender in Daisukes schmutziger Intrige war.
 

Yoshida war entlastet.
 

Die einzigen Verräter, die es jemals gegeben hatte, waren Daisuke und Buntaro. Und sie würden heute Nacht beide bezahlen.
 

Warum nur fühlte sich Kenshin trotzdem kaum erleichtert?
 

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Der Raum war annähernd quadratisch und kaum zwei Meter hoch, der Boden mit Steinen gefliest und die Wand getäfelt. Es gab keine Fenster nach außen und einzige Lichtquelle waren ein paar Kerzen, die auf dem Tisch in der Mitte des Raumes standen. Schräg hinter sich erkannte Kenshin die zwei Schwerter von Yoshida, die an dort achtlos an der modrigen Wand lehnten. Ein Grinsen unterdrückend vergewisserte er sich, ob seine Fesseln auch wirklich stramm waren. Sie saßen zwar so fest, dass er bereits ein Kribbeln in den Fingerspitzen fühlte, aber für jemanden, der jahrelang die Torturen von Hikos Entfesselungstraining durchlebt hatte, waren sie nicht mehr als eine lachhafte Aufwärmübung.
 

Ziemlich lebhaft sah sich Kenshin noch dasitzen, genau wie jetzt an einen Stuhl gebunden, ein Loch im Bauch von zwei Tagen Essensentzug und die Augen auf einen Teller voll mit Köstlichkeiten, kaum zwei Meter von ihm entfernt, gerichtet. Nur wegen seines knurrenden Magens hatte sich Kenshin schließlich erstmals dazu durchringen können, sich eigenhändig seinen Daumen am Handgelenk auszurenken und so die Fesseln abzustreifen. Lobende Worte hatte er damals von seinem Shishou trotzdem nicht bekommen.
 

Inzwischen hatten sich alle Männer in dem Kämmerchen versammelt. Schnell schob Kenshin alle Emotionen und Gedanken an Vergangenes beiseite, musterte die abgehalfterten Gestalten und schätzte ihre Stärke ein.
 

Der Mann, der Kenshin begrüßt hatte und dessen Wort als Samurai so viel Wert war wie ein Stück Holz aus der schimmeligen Wandverkleidung war offenbar der Anführer. Er trug, wie alle Anwesenden, an seiner Seite zwei Schwerter.

Neben ihm stand der große, grobschlächtige Mann, die massigen Arme über der Brust verschränkt und lächelte höhnisch auf ihn herab.

Zudem verteilten sich noch drei weitere Samurai in dem Raum, einer so groß, dass er fast die Decke streifte, die anderen zwei relativ normal und unauffällig.

Kenshin war sich innerhalb von Sekunden sicher, dass keiner dieser Männer ihm gefährlich werden konnte, sobald er ein Schwert in den Händen halten würde.
 

Als letztes glitt sein Blick zu Daisuke, der blass und nervös als sechste Person in der Ecke nahe der Treppe nach oben stand und anscheinend versuchte, mit der Wand hinter sich zu verschmelzen. Er wagte es nicht, aufzusehen und Kenshins Blick zu erwidern – seine Angst und Unsicherheit schien fast greifbar.
 

Durch ein lautes „Mmmbmmnnn!“ richtete sich Kenshins Aufmerksamkeit wieder auf Yoshida. Sein Freund sah ihn mit vorwurfsvollen und verzweifelt blickenden Augen an und rüttelte wie wild an seinen Fesseln. Er schien zu ignorieren, dass seine Hand- und Fußgelenke bereits aufgeschürft waren und die Fesseln rot gefärbt hatten.

Kenshin senkte erneut den Kopf. Wie hatte er nur jemals glauben können, das Yoshida ein Verräter war? Er war dankbar, dass er für diese Erkenntnis eigenmächtig die Gefahren einer Gefangennahme auf sich genommen hatte.
 

Außer Yoshidas ersticktem Gemurmel war der Raum jedoch von nichts anderem erfüllt als von drückendem Schweigen. Schließlich trat der kleine, knubbelgesichtige Mann zu Kenshin hin, packte ihn unsanft am Kinn und hob seinen Kopf nach oben, so dass er ihn im Kerzenschein besser erkennen konnte. Kenshin erwiderte mit möglichst ausdruckslosen Augen die musternden Blicke.
 

„Daisuke,“ hallte Shinzos eisige Stimme durch den Kellerraum und Kenshin roch den unangenehmen Mundgeruch des kleinen Mannes, der perfekt zu der modernden Umgebung passte. „Unser Gast hat sich uns unhöflicherweise nicht vorgestellt. Erinnere mich doch bitte noch einmal an seinen Namen.“

„H-Himura,“ kam die Antwort mit zittriger Stimme aus der Ecke.

Der kleine Mann hielt Kenshins Kinn immer noch fest und ließ seinen stechenden Blick nicht von ihm. „Und wie nennt man ihn noch?“

„... B-B-Battousai.“
 

Kenshins Augen weiteten sich leicht vor Überraschung, ohne das er es hätte verhindern können. Der Gnom hatte das sofort bemerkt und ließ den Rotschopf mit einem schneidenden „Aha“ los.
 

„Himura Battousai ist also dein Name?“
 

Kenshin sah ihn immer noch mit großen Augen an, wenn auch die erste Überraschung schon von ihm gewichen war. Battousai? Diesen Namen hatte er noch nie vorher gehört. Nannten ihn die Männer etwa hinter seinem Rücken so? Kenshin dämmerte es, als er sich an sein Battoujutsu-Training im Dojo erinnerte, das die Männer wohl auf diesen respektvollen Namen gebracht haben musste. Es schien schon ewig her zu sein, dass er dort gestanden und voller Eifer sein neues Schwert durch die Luft sausen hatte lassen, doch es war erst vor nicht weniger als einem halben Tag gewesen. Soviel hatte sich an diesem Tag schon ereignet... und es war noch lange nicht vorbei.
 

„Ich habe diese Namen noch nie zuvor gehört,“ konnte Kenshin ehrlich und damit sehr überzeugend antworten.

Der kleine Mann drehte ihm den Rücken zu und verlagerte seinen stechenden Blick nun auf Daisuke, der mit jeder Sekunde sichtlich mehr seine Fassung zu verlieren schien. Nach ein paar Minuten unangenehmen Schweigens begann er wieder zu sprechen, noch leiser und bedrohlicher als zuvor.
 

„Du willst uns also erzählen, Daisuke, dass dieser Junge hier -dieses halbe Kind - ein Hitokiri ist?“ Demonstrativ zeigte er auf Kenshin, und auch wenn seine Stimme nichts verriet, an seiner vor Wut zitternden Hand konnte man deutlich seine Erregung sehen. „Und zwar auch noch der persönliche Hitokiri von Katsura Kogoro? Dass dieser schmächtige KNIRPS den ganzen letzten Monat Leute umgebracht hat, darunter den berühmten YABU SEKURA?“ Die leise Stimme war inzwischen einem schrillen Kreischen gewichen. „Für wie bescheuert hältst du uns eigentlich??!!“
 

Kenshins Augenbraue zuckte trotz aller Beherrschung. Schmächtiger Knirps? Diese Worte würde der kleine Gnom – der übrigens sicherlich kleiner war als er – noch bereuen.

„Ich... ihr dürft ihn nicht unterschätzen!“ schrie auch Daisuke inzwischen verzweifelt. „Schaut ihn euch doch genau an, dann seht ihr...“
 

„Das ist die Mühe nicht wert,“ schnitt ihm der Anführer das Wort ab und zog sein Schwert. Sofort wichen die Männer um ihn herum zurück und begannen voll froher Erwartung zu grinsen. Ihr Chef war ein Experte auf dem Gebiet, mit Tieren zu spielen, die bereits in der Falle saßen.

„Was war dein Plan, Daisuke? Geld für diesen Hänfling zu kassieren, damit abzuhauen und uns als Abschiedsgeschenk noch eine Horde Ishin Shishi auf den Hals zu hetzen? Mich vor den Mimiwarigumi zu blamieren, die ich extra hierher beordert habe?“ Er machte drohend einen Schritt nach vorne.
 

„NEIN, ich schwöre es! Ich sage die Wahrheit!“ flehte Daisuke unter Tränen. „Ich... Ich sage euch alles, was ich weiß. Alles über die Patrioten aus Choshuu. Alles über ihren Anführer Katsura Kogoro. Ihre Stützpunkte. Ihre Verbündeten. Alles was ich weiß!“
 

Shinzo legte den Kopf schief und hielt inne, so als ob er über Daisukes Angebot nachdenken würde. Die Männer lachten. Sie kannten dieses Spiel.
 

Schließlich tat der kleine Mann noch einen Schritt nach vorne. „Das Angebot überzeugt mich nicht. Du hast mein Vertrauen missbraucht, indem du mir hier zwei gewöhnliche Samurai ausgeliefert hast, die zwar zur gegnerischen Seite gehören, aber sonst auch nichts. Wenn ich dich töte und meine Geiseln anschließend foltern lasse, bin ich sicher, dass auch sie mir alles erzählen können, was ich an Informationen hören will.“
 

Endlich vertrieb Wut die lähmende Angst und Daisuke zog ebenfalls sein Schwert. Sofort taten dies auch alle anderen Männer, was sich in dem kleinen Kellerraum schwieriger gestaltete als gedacht, ohne den Nebenmann zu verletzen. Schließlich standen alle Männer mehr oder weniger dicht gedrängt um Daisuke herum und alle Augen - auch die von Yoshida, der sich auf seinem Stuhl reckte, um das Geschehen mitverfolgen zu können - waren auf ihn gerichtet.
 

Fast alle.
 

Kenshin war dankbar, dass alles so lief, wie er sich es vorgestellt hatte. Keiner schien noch von ihm oder Yoshida Notiz zu nehmen und so konnte er unbemerkt, noch einmal im Geiste seinem Shishou für die vielen, grausamen Stunden des Entfesselungstrainings dankend, seine Hände aus den Stricken befreien. Ohne einer sichtbaren Regung in seinem Gesicht und nur mit einem leisen Knacken seines Daumengelenkes, das in dem dumpfen Kellerraum bei all der Diskussion zwischen Daisuke und den Aizu Munashidai komplett unterging, hatte er in Sekundenschnelle die Hände frei.
 

Selbst Yoshida merkte nicht, wie der rothaarige Junge neben ihm geräuschlos vom Stuhl glitt und seine Hand nach den zwei Schwertern ausstreckte, die leichtsinnigerweise hinter ihnen an der Wand stehen gelassen worden waren.
 

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Atemlos beobachtete Yoshida unterdessen die zunehmend eskalierende Situation. Das Blut war ihm in den Adern gefroren, als er merkte, wie aussichtslos die Lage für sie alle war und vor seinem geistigen Auge glitten all die schrecklichen Foltermethoden vorüber, von denen er bisher gehört hatte. Er unterdrückte einen Schrei, als er mitsamt seinem Stuhl plötzlich nach hinten herumgerissen wurde. „Kein Ton,“ hörte er Kenshins weiche Stimme an seinem Ohr und wenige Sekunden später spürte er, wie wieder mit einem schmerzhaften Kribbeln Blut durch seine Füße und Hände strömte. Kenshin hatte seine Fesseln durchschnitten – mit seinem eigenen Wakizashi. Yoshida wagte kaum zu atmen, als Kenshin ihm signalisierte, regungslos am Boden liegen zu bleiben.
 

„Ich... Ich verzichte auch auf meine Bezahlung,“ schrie unterdessen Daisuke, „wenn ihr mich gehen lasst! Wenn nicht, dann kämpfe ich, was für keinen von uns gut ist!“ Mit einem hilflosen Fuchteln seines Schwertes versuchte er seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Shinzos Gesicht verzog sich zu einem schmierigen Grinsen. „In Ordnung,“ nickte er schließlich und befahl seinen Männern, die Schwerter einzustecken. Seine Augenbraue zuckte. „Ich gebe dir mein Wort als Samurai!“
 

Daisuke atmete erleichtert aus, nickte langsam und steckte sein Schwert wieder ein. Das Grinsen Shinzos wurde breiter. „Dennoch,“ fuhr er fort und wandte sich langsam um, „können wir keine der Geiseln – zu deiner und zu unserer Sicherheit – diesen Raum lebend verlassen lassen. Ich bin sicher, auch sie haben uns auch noch einiges zu erzählen, bevor-...“
 

Shinzo gefror mitten in der Drehung als er sah, dass beide Stühle in seinem Rücken leer waren. Der rothaarige Junge, der dort gerade noch gefesselt und mit hängendem Kopf gesessen hatte, stand nun mit zwei Schwertern in der Hand wie eine Statue vor der Wand. Sein Freund kauerte sich neben ihn regungslos auf den Boden.
 

„Was zur Hölle?!“ rief Shinzo erbost. „Genwa, hast du die Fesseln nicht fest genug gebunden?“

„D-Doch,“ versicherte der Koloss mit verblüfftem Gesicht. Sofort wurden mit einem metallischen Klirren wieder alle gerade erst eingesteckten Schwerter gezogen.

„Leg die Waffen weg, Junge,“ trat der lange, dünne Mann, Etsuke, mit einem überheblichen Grinsen vor. „Tu es und wir geben zumindest deinem Freund einen schnellen Tod!“
 

„Ein schneller Tod?“ Die Worte, die von dem rothaarigen Jungen ausgingen, waren kälter wie Eis. „Gerade eben wolltet ihr uns noch foltern. Ich glaube euch kein Wort.“ Kenshin rührte sich immer noch nicht von der Stelle.
 

Etsuke trat einen weiteren Schritt nach vorne. „Glaubst du deine Meinung interessiert hier irgendjemanden?“

Kenshin steckte ruhig die zwei Schwerter in seinen Obi und drehte seinen Oberkörper leicht zur Seite, seine rechte Hand Zentimeter über dem Schwertgriff schwebend.

„Glaubst du, dein Leben interessiert mich?!“ fragte er provozierend, seine Stimme um einiges tiefer als sonst.
 

Das Gesicht des blonden Mannes verzerrte sich vor Wut. „Dafür bezahlst du, vorlauter Bengel!“ Mit einem Schrei stürzte er nach vorne, das Schwert darauf ausgerichtet, Kenshins Brustkorb zu durchbohren.
 

Kalter Stahl glitzerte kurz im Kerzenlicht traf mit einem durchdringenden Klang aufeinander – ein Augenzwinkern später gefolgt von einem Schwall Blut, das in der Stille des Kellerraumes mit entsetzlich lautem Plätschern die Holzwände bespritzte.

Ungläubig starrten Shinzo und seine Kameraden aber auch Yoshida auf den Körper Etsukes, der wie in Zeitlupe leblos in sich zusammen sackte. Sofort bildete sich unter dem zerhauenen Leib eine große Blutlache, die sich auf den feuchten Kellerfliesen schnell ausbreitete.

Mit aufgerissenen Augen beobachtete Yoshida die dunkelrote Flüssigkeit, die sich ihren Weg durch die Fugen der Fliesen bahnte und immer näher auf ihn zu kam.

Er herrschte Totenstille im Raum, unterbrochen nur durch ein leises Tröpfeln – Yoshidas Augen folgten dem Geräusch und sahen, das es das Blut war, das in einem dünnen Rinnsal von Kenshins – von seinem – Schwert tropfte.
 

Kenshin schenkte diesem morbiden Schauspiel keinerlei Beachtung – mit einer fast nebensächlichen Bewegung schüttelte er das Blut von der Klinge und steckte sie schwungvoll wieder in ihre Scheide zurück. Dann stand er abermals bewegungslos da, den Toten zu seinen Füßen keines Blickes würdigend, statt dessen lauernd wie eine Katze, auf die nächste Bewegung seiner Feinde wartend.
 

„Kuso...“ fand Shinzo endlich seine Stimme wieder, riss seinen Blick von seinem toten Kameraden und wich einen Schritt zurück. So einen schnellen Battoujutsu-Schlag hatte er noch nie gesehen.

„Er muss wirklich dieser Battousai sein. Genwa, ihr anderen, tötet ihn, alle auf einmal! Mit einem Schlag kann er euch nicht alle treffen!“
 

Entgeistert schauten die Männer ihren Anführer an. Der Befehl war reiner Selbstmord. Die Aura der kleinen, unheimlichen Gestalt vor ihnen verhieß den sicheren Tod. Doch Shinzo blockierte die Treppe, die Richtung Ausgang führte und auch er hielt drohend sein Schwert in der Hand. „Worauf wartet ihr? LOS!“ schrie er dann, als sich immer noch keiner zu bewegen schien. Endlich lösten sich die Männer aus ihrer Erstarrung und traten auf den Rothaarigen zu.
 

Durch ein Nicken gab Genwa seinen zwei anderen Kameraden zu verstehen, Kenshin von drei Seiten aus zu umkreisen. Langsam drängten sie ihn so an die Wand zurück, hämisch lächelnd, da sie ihn so in der Fall wähnten.
 

Kenshin hatte die Männer schon längst kurz fixiert und anhand ihrer Ken-Ki ihre Schwächen und Stärken ausgemacht. Er spürte, wie er sie alle drei durch seine betont gleichgültige Haltung zu wütenden Emotionen provozierte. Und Schwerthiebe, die emotional ausgeführt wurden, waren so leicht vorauszusagen. Erstklassige Schwertkämpfer, so hatte er es bei Hiko gelernt, zeigten in einem Kampf niemals ihre Gefühle, sei es Angst, Hass oder Mordlust.
 

Mit einem Schrei signalisierte Genwa zum Angriff und alle drei Männer sprangen gleichzeitig auf Kenshin zu. Wie von dem immer noch ruhig dastehenden Jungen vermutet stürzte der drahtige Mann links am schnellsten nach vorne. Er versuchte einen glatten Abwärtsschlag, doch Kenshin glitt an der Kellerwand zur Seite, so dass der auf ihn gerichtete Hieb nur die Holzverkleidung traf und die Klinge darin stecken blieb. Der Angreifer hatte offenbar auch gelernt, sein Schwert niemals loszulassen doch in diesem Fall wurde ihm die ungeschriebene Regel zum Verhängnis. Mit einem schwungvollen Aufwärtsstreich zog Kenshin mit der linken Rückhand das Wakizashi und hieb den ausgestreckten Schwertarm samt Schulter vom Oberkörper. Doch ehe sein Gegner dies realisiert hatte, schickte er mit einem horizontalen Battoujutsu-Schlag seines Katanas den Kopf gleich hinterher.
 

Den waagrechten Schlag führte er weiter, so dass er Genwa, der etwas größer war, quer über die Brust schnitt und schließlich dem Mann rechts von ihm über die Kehle, bevor ihn beide überhaupt mit ihren Angriffsattacken erreichen konnten. Gurgelnd ließ der Mann rechts außen sein Schwert fallen und drückte beide Hände an seine Kehle, aus der das Blut in Strömen seinen Oberkörper hinabfloss. Wenige Sekunden später brach er zusammen.
 

Genza, den der Schlag über die Brust einige Schritte zurückgeworfen hatte, rappelte sich wieder auf, seine Augen voller heißem Zorn. Wie in Raserei brüllte er mit seiner tiefen Stimme, während er versuchte, mit roher Gewalt und Kraft alleine Kenshin entzwei zu hauen. Kenshin blockierte mit Mühe den sehr wuchtigen Schlag von oben während er im gleichen Moment das Wakizashi nach vorne schnellen ließ und es Genwa ins Herz rammte. Ungläubig taumelte der Koloss zurück, starrte auf die Klinge in seiner Brust und brach schließlich, als Kenshin sie mit einer ruckartigen Drehung herauszog, tot zusammen.
 

Mit einem schwungvollen Chiburi schüttelte Kenshin das Blut von beiden Klingen ab. Dann, während er das Wakizashi langsam einsteckte, wandte er seinen durchdringenden Blick Shinzo zu.
 

„Daisuke, du hattest recht,“ knirschte der kleine Mann mit den Zähnen und wich vor Kenshin zurück. „Wir haben ihn unterschätzt. Du bist wirklich Battousai.“
 

„Daisuke wird nicht antworten,“ meinte Kenshin kalt und Shinzo sah sich entsetzt um. Der Verräter war verschwunden.

„Er hat die Chance gerade eben zur Flucht genutzt,“ erklärte Kenshin.

„Diese Ratte,“ knurrte Shinzo und wich nun ebenfalls Richtung Treppe zurück, der einzige Fluchtweg aus den Kellerräumen.
 

Shinzo wusste, dass er dem Hitokiri, der da vor ihm so gelassen zwischen den Körpern seiner vier gerade eben noch lebendig gewesenen Kameraden stand, nicht eine Sekunde den Rücken zukehren konnte. Er wusste aber auch, dass er in einem direkten Kampf keine Minute überleben würde. Er war zwar ein guter Schwertkämpfer, aber die Schnelligkeit, die er gerade eben gesehen hatte, war ein Level zu hoch für ihn. Seine einzige Möglichkeit, zu überleben, bestand darin, Zeit zu schinden und zu hoffen, das Hioshi und seine Mannen jeden Moment eintreffen würden.
 

„Warum bist du gekommen?“ sprach er den rothaarigen Jungen an.

Dieser schaute ihn nur mit ausdruckslosem Gesicht an und erwiderte nichts. Langsam trat er einen Schritt nach vorne.
 

„Verdammt,“ betete Shinzo, „Hioshi, beeil dich!“

Er versuchte weiter, Kenshin in ein Gespräch zu verwickeln. „Du bist der erste Hitokiri, von dem ich höre, dass er kommt, um seinen Freund zu retten. Genaugenommen wusste ich gar nicht, das Hitokiri Freunde haben.“
 

Yoshida, der all die Geschehnisse atemlos und voller schrecklicher Faszination beobachtet hatte, schluckte, als ihm bewusst wurde, dass ohne sein unvorsichtiges Handeln das Desaster heute Abend vermieden hätte werden können. Gebannt sah er zwischen Shinzo und Kenshin hin und her. Kenshins Augen glitzerten unheilvoll, im Kerzenschein fast katzenartig gelb. Yoshida fröstelte, denn er wusste, das es noch nicht vorbei war. Kenshins Schwert und noch mehr Kenshin selbst pulsierten eine Aura, die noch mehr Blutvergießen prophezeite.
 

Kenshins Augen verschmälerten sich. Gerade wollte er nach vorne springen, um das Gespräch zu beenden, als er spürte, wie sich weitere Kämpfer dem Haus näherten. Er überlegte kurz, zu warten, bis sie den Kellerraum erreicht hätten, aber entschied sich dann dagegen, da es ziemlich viele zu sein schienen und mit so vielen Waffen in dem kleinen Raum vielleicht auch Yoshida verletzt werden könnte. Außerdem war der sowieso schon glitschige Boden durch das viele Blut nur noch rutschiger geworden.
 

Statt dessen stürmte er nach vorne und tötete, noch ehe Shinzo sein Schwert abwehrend heben konnte, den Mann mit einem Battoujutsu-Streich. In hohem Bogen flog der knubbelige Kopf durch den Kellerraum und kam schließlich mit einem ekelerregenden Plumpsen nicht weit von Yoshida entfernt zum Liegen.

Yoshida starrte voller Entsetzen in die noch aufgerissen Augen seines Kidnappers und er meinte, gerade noch den letzten Lebensfunken darin sterben zu sehen. Würgend rappelte er sich auf und taumelte zurück, die Augen vor dem Entsetzen verschließend. Seine Füße rutschten über den glitschigen Fußboden, Yoshida stolperte, doch selbst im Fallen weigerte er sich, die Augen zu öffnen. Er wollte diesen Alptraum nicht mehr ansehen müssen. Er wollte nur noch irgendwo aufwachen und feststellen, das alles nur ein böser Traum war.
 

Yoshida spürte eine warme Flüssigkeit an seinen Händen, als er sich abfangen wollte.

„Raus,“ keuchte er. „Ich muss hier raus.“ Er zwang sich mit aller Macht, die Augen wieder zu öffnen. Vor ihm stand Kenshin mit einem schrecklichen Gesicht – die Lippen ein Strich, die Augen verengt, ein Blutspritzer quer über der rechten Wange.

„Bleib unten,“ befahl er Yoshida über die Schulter hinweg und rannte dann die Holztreppe hoch. „Warte, bis ich dich hole.“ Der Ton seiner Stimme war eisig und ließ keinerlei Widerspruch zu.
 

„Unten?!“ flüsterte Yoshida fassungslos, als sein rothaariger Zimmergenosse schon längst verschwunden war. Er starrte auf die Holztreppe wie auf einen Rettungsanker. Oben im Haus hörte er Fußgetrappel. Waren das die Männer Hioshis, von denen Shinzo gesprochen hatte?

Doch er wagte es nicht, sich von der Stelle zu rühren.

Warten, hatte ihm Himura befohlen. Er schloss erneut die Augen, um nicht das Blutbad um ihn herum sehen zu müssen, doch der modrig-metallische Geruch allein war schon mehr, als er zu ertragen glaubte.
 

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Kenshin verschwendete keinen Gedanken mehr an die fünf Männer, die er gerade eben getötet hatte. Kaum hatte er die Holztreppe erklommen, da hatten acht weitere Schwertkämpfer hintereinander den langen, dunklen Flur betreten. Regungslos verharrte er hinter der Biegung des Ganges, in der auch Yoshida niedergeschlagen worden war – ein idealer Platz für einen Hinterhalt. Doch es gab keine andere Möglichkeit. Er hatte noch nie mit so vielen Gegnern gleichzeitig kämpfen müssen, schon gar nicht im Inneren eines Hauses – dort war es für seinen Schwertstil besonders schwer, auf viele Nah-Angriffe gleichzeitig zu reagieren. Doch die Situation hier würde keine solche Herausforderung sein: Es war dunkel und die Männer kamen im Gänsemarsch auf ihm zu. „Deine Beute wird dir Häppchenweise serviert,“ lächelte kalt eine Stimme in seinem Kopf und Kenshin rann ein eiskalter Schauer über den Rücken, als es ihm nicht gelang, das kalte Lachen abzuschütteln.
 

„Shimatta,“ hörte er die Männer beim Näherkommen fluchen, „hätte der verdammte Shinzo nicht wenigstens Mal ein Licht hier reinstellen können? Man sieht ja Hand vor Augen nicht.“
 

Kenshin, der wie eine Katze im Dunkeln sehen konnte, wartete, bis sich der erste Mann um die Biegung tastete und stieß ihm sein Schwert durch die Kehle. Lautlos brach er zusammen. Der zweite Mann folgte und auch ihn ereilte das selbe Schicksal. Doch der dritte Mann hatte das verdächtige Gurgel-Geräusch gehört und das schwache Blinken des Schwertes im Dunkeln gesehen.
 

„Ein Hinterhalt!“ schrie er panisch. „Raus, zurück auf die Strasse!“ Doch eher er selbst zurückweichen konnte, hatte Kenshin ihn beim Vorbeirennen wie einen Baum gefällt, bevor er die zwei nächsten Männer, die, ihm den Rücken kehrend, bereits fast das Ende des Flures erreicht hatten, mit einem kräftigen Battoujutsu-Schlag von hinten erledigte.
 

Blutbespritzt hastete er hinter den drei noch verbliebenen Mimiwarigumi-Kämpfern her, die schon auf der Strasse angelangt waren und ihn dort im blassen Mondschein erwarteten.

„Hitokiri!“ Ihre Augen sprühten vor Wut aber auch vor Angst, als sie Kenshin sahen, der wie ein Rachedämon über und über mit Blut bedeckt und noch dazu mit roten Haaren langsam aus dem dunklen Hauseingang trat. Kenshin lächelte kalt in sich hinein, als er sah, wie die Männer sich trotz ihrer Angst zum Kampf stellten – die Mimiwarigumi war eine Kämpfereinheit von Ehre und nie würden sie vor einem Feind fliehen. „Gut,“ freute sich die kalte Stimme in ihm. Das würde ihm die Arbeit ersparen, sie zu verfolgen und einzeln töten zu müssen.
 

„Ergebt euch,“ zischte er kaum hörbar und seine Augen glühten seltsam bernsteinfarben. Als Antwort, und das hatte er schon geahnt, stürmten die letzten drei Männer auf ihn zu.
 

Sie waren bessere Schwertkämpfer als die Männer der Aizu Munashidai, die er in nicht einmal fünf Sekunden ausgelöscht hatte. Der Eine versuchte, Kenshin durch ein waagrechtes Vorstoßen seines Schwertes aufzuspießen – der Hirazuki-Schlag, von dem Kenshin schon gehört hatte, allerdings im Zusammenhang mit den Shinsengumi. Der andere Kämpfer sank derweil in die Knie hinab und zielte mit einem Streich auf Kenshins Beine. Der Dritte verharrte abwartend mit erhobenem Schwert in Angriffsstellung, darauf wartend, eine offene Stelle in Kenshins Verteidigung zu entdecken und dann blitzschnell zuzuschlagen.
 

Im Freien, ohne die Beschränkung eines Daches über sich, beschloss Kenshin, die Sache schnell zu beenden und den Drachen Mitsurugis zu entfesseln. Schneller als der Blitz sprang er nach oben und während die Männer noch ins Leere schlugen und zu begreifen versuchten, wohin ihr Gegner verschwunden war, stieß er wie ein Raubvogel aus der Luft auf sie herab. Die ersten zwei fielen unter dem gewaltigen Ryu Tsui Sen zerteilt zu Boden und der letzte noch verbliebene Soldat der Mimiwarigumi-Truppe verlor seinen Kopf durch einen zackigen Ryu Shou Sen-Schlag.
 

Ohne einen weiteren Blick auf die zu seinen Füßen verteilten Körper schüttelte Kenshin schnell das Blut von seinem Schwert, steckte es ein und eilte in den Keller zurück, wo Yoshida alleine und totenblass zwischen den Leichen auf dem blutigen Fußboden auf ihn wartete. Zitternd ließ er sich von Kenshin widerstandslos die Treppe hinauf und durch den Gang führen.
 

Yoshida roch das Blut, das sich mit dem Gestank von Abfall und Fäulnis vermischt hatte und er konnte sich nicht länger beherrschen, sondern erbrach sich in dem dunklen Flur, als er bemerkt hatte, das die weichen Hindernisse, über die er hatte hinwegsteigen müssen, kein Müll sondern Menschen waren.

Mit tränenden Augen wurde er jedoch Sekunden später von Kenshin weitergezogen und er stolperte hinter ihm her in die frische Luft der Nacht.
 

Dort sah er erneut, und diesmal in der ganzen hellen Pracht des Mondlichts, wozu sein rothaariger Zimmergenosse wirklich fähig war.

Nun fanden auch die letzten Essensreste in ihm ihren Weg auf den blutüberströmten Straßenbelag.
 

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Mit tränenden Augen sah Yoshida immer noch all das Gemetzel vor sich, bis er feststellte, dass sie inzwischen das sumpfige Stadtrandgebiet erreicht hatten, von zerhauenen Körpern am Boden war keine Spur mehr zu sehen. Aber es roch immer noch nach Blut. Mit erneut Brechreiz in ihm auslösendem Ekel sah Yoshida die Blutspritzer auf seinen Hakama. Er ließ seinen Blick zur Seite schweifen. Neben ihm stand Kenshin gebeugt über einen Kanal und wusch sich das Gesicht.
 

Er sah schrecklich aus. Seine Kleidung triefte förmlich von dunkelroter Flüssigkeit. Yoshida zuckte zurück.

Langsam hob Kenshin seine Augen und sah ihn ruhig an. Sie waren nicht mehr bernsteinfarben, wie sie im Keller gewirkt hatten – jetzt waren sie wieder eisblau und stumpf. Nicht einmal das Mondlicht schien sich in ihnen zu spiegeln, statt dessen blickten sie ihn matt und resigniert an.
 

„Geh über die Brücke und folge dem Kanal,“ brach Kenshin schließlich mit leiser Stimme die drückende Stille, während er sich nun hastig das Blut auch von den Händen und Armschützern wusch. „Nach einigen hundert Metern geht ein Weg zum Iamatsu-Schrein den Berghang hinauf. Neben dem Schrein ist ein Wäldchen. Warte dort auf mich. Geh nicht ohne mich zurück zur Herberge! Dort denkt man, du bist ebenfalls ein Verräter.“ Er trocknete seine Hände an seinem Gi ab und zog das Wakizashi aus seinem Obi. „Hier. Damit kannst du dich notfalls verteidigen.“
 

„Warum bist du gekommen?“ flüsterte Yoshida ohne den Blick von den Blutspritzern auf Kenshins Gi und Hakama abwenden zu können, während er das Kurzschwert mit bebenden Händen entgegen nahm.
 

Kenshin sah nicht auf. „Izuka gab mir den Auftrag, euch zu finden.“

Yoshida starrte ihn an. „Zu finden? Das ist alles? Und dann?“

Die Worte blieben einige Sekunden in der Luft hängen, und Kenshin machte keinerlei Anstalten, auf die Frage zu antworten. Das war auch nicht nötig.
 

Yoshida schluckte. „Du solltest uns töten,“ stellte er mit dünner Stimme fest. „Und warum hast du es nicht gleich getan? Warum hast du dich erst gefangen nehmen lassen? Du hättest gleich reinstürmen können und...“

„...ich wollte das Risiko nicht eingehen, dass man dich verletzt,“ unterbrach ihn Kenshin. „Es war waghalsig, aber ich musste wissen, ob du zu den Verrätern gehörst oder nicht. Daher musste ich mich erst gefangen nehmen lassen.“
 

Jetzt starrte Yoshida auf den Boden.

„Hast du wirklich geglaubt, ich verrate dich?“ Seine Stimme war leise, aber nicht vorwurfsvoll.
 

Kenshin streifte seine nassen Hände an seinen Hakama ab.

„Ich bin ein Hitokiri,“ stellte er leise mit einer betont ruhigen und emotionslosen Stimme fest. „Freundschaft ist eine Schwäche, die ausgenutzt wird. Das habe ich dir schon mal gesagt.“
 

„Offensichtlich.“ Yoshida spürte die Bitterkeit wie einen dicken Klos in seinem Hals. Er trat einen Schritt auf seinen Freund zu. „Es tut mir leid, Kenshin. Ich habe es heute Nachmittag noch nicht verstanden. Aber jetzt weiß ich warum...“

Er sah, wie sich die Hände seines Rothaarigen Freundes zu Fäusten ballten, die Fingerknöchel weiß. „Ich kann niemandem vertrauen,“ stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und die Resignation in seiner Stimme war jetzt nicht mehr zu überhören.

„Verstehst du, Yoshida?“ Endlich sah Kenshin zu ihm auf. „Auch wenn ich es möchte - Ich kann nicht...“
 

Und Yoshida sah einen kurzen Moment lang tiefe Traurigkeit in den blauen Augen.
 

Er begriff: Freundschaft und Vertrauen waren wirklich eine Schwäche. Eine Schwäche, die sich ein Hitokiri nicht erlauben konnte. Aber nicht für sich selbst. Sondern für die Menschen, die ihm wichtig waren. Die gegen ihn benutzt und dabei ins Unglück gestürzt würden. Wie er selbst.
 

Kenshins Gesicht gefror wieder zu einer steinernen Maske und er drehte sich um.

„Wohin gehst du jetzt?“ fragte Yosida leise.

„Daisuke,“ antwortete Kenshin knapp, seine gerade noch weiche Stimme wieder ausdruckslos und kalt.

Fröstelnd ließ Yoshida seinen Blick vom Rücken seines einstigen Freundes zum gluckernden Kanal schweifen. Das Mondlicht spiegelte sich glitzernd in den kräuselnden Wellen als ob nichts geschehen wäre. „Wirst du ihn... töten?“
 

Yoshida hörte, wie Kenshin einen Moment still stand. Als er aufsah, war der Hitokiri in der Dunkelheit verschwunden. Zurückgelassen starrte Yoshida wieder auf das bläulich im Mondlicht schimmernde Kanalwasser. Es erinnerte ihn an die matten und traurigen Augen seines Freundes.
 

Besser, als es Worte jemals zu sagen vermocht hätten, reflektierten diese Augen für Yoshida wie ein Spiegel das Scheitern ihrer Freundschaft.
 

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Anmerkungen: Wahnsinn, und der Tag dauert schon seit Kapitel 11 ... seid ihr noch bei mir? Kann man der Story noch folgen? Ich verspreche, im nächsten Kapitel den Handlungsbogen um Daisuke, Yoshida und Buntaro endlich zu Ende zu bringen... leider wird es wohl kein so gutes Ende sein... hehehe (unheilvolles Gelächter). Übringens ist das Ende der FF auch langsam in Sicht... als Mutmachung für alle, die sich durch die vielen Kapitel gekämpft oder gequält haben ^^ ich hoffe, ich bin nicht zu langatmig...?
 

Worterklärungen:
 

Kuso – Verdammt!

Chiburi – Die Schwertbewegung am Ende der Kata bzw. des Kampfes, mit der das Blut von der Klinge geschüttelt wird.

Aizu-Munashidai - Von mir frei erfundener Clan aus Aizu. Mitglieder u.a. Shinzo (Anführer), Genwa, Etsuke...

Shinsakusen-Gasse - Erfundene Strasse in Kyoto.

Mimiwarigumi – Dem Bakufu unterstehende Kämpfereinheit, die zusammen mit den Shinsengumi für Recht und Ordnung in den Strassen Kyotos sorgen sollte.

Hiko Seijuro XIII – Kenshins Meister bzw. Shishou.

Choshuu Ishin Shishi – besonders aggressive Vereinigung von Samurai aus der Provinz Choshuu, die gegen das Shogunat eingestellt waren. Versuchten, durch einzelne, terroristische Aktionen die Ordnung der Regierung weiter zu destabilisieren und dadurch dem Kaiser zur Macht zu verhelfen.

Katsura Kogoro – Anführer der Choshuu Ishin Shishi

Kapitel 16 - Abrechnung und Ehre

sorry für die lange Wartezeit ^_^ Ich hoffe, das Kapitel entschädigt. Ich warne schon mal vor. Zwei der Hauptpersonen werden sterben.

Vielen Dank an meine Reviewer und Leser! Ohne euch würde ich die Geschichte nie zu Ende bringen!
 

Kenshin hat den gekidnappten Yoshida aus den Fängen der Aizu Munashidai befreit. Doch Daisuke konnte fliehen...
 

Divine Justice - Göttliche Gerechtigkeit
 

16. Abrechnung und Ehre
 

Gefroren und still lag die Stadt unter dem hellen Mond. Es war beißend kalt geworden, obwohl das wärmende Licht der Sonne nur noch wenige Stunden entfernt war. Doch jetzt regierte immer noch das bleiche Auge der Nacht und beobachtete teilnahmslos den Mann, der die Ruhe der wie tot daliegenden Gassen störte. Gehetzt, als ob der Teufel persönlich ihm auf den Fersen wäre, rannte die Gestalt, stolperte, fiel, stand wieder auf, rannte weiter.
 

Entkommen war das Einzige, woran Daisuke denken konnte. Weiterrennen, um zu entkommen. Wie besessen hastete er durch die Strassen, rutschte über die teilweise gefroren Pfützen und Steine und ständig warf er panische Blicke über die Schulter. Er spürte ihn in seinem Rücken, den Hitokiri. Er spürte wie ein gejagtes Tier seinen Jäger spürt - seinen Atem in seinem Nacken, die Kühle seiner Schwertklinge Millimeter von seiner warmen Haut entfernt.
 

Er rannte um sein Leben.
 

Nur wohin? Es gab für ihn keinen sicheren Platz mehr, an den er sich hätte verkriechen können. Nicht einmal ein dunkles Erdloch würde ihm lange Schutz bieten können, jetzt, wo er ein Verräter an beiden Seiten war. Nicht nur die Ishin Shishi wollten jetzt seinen Kopf – auch die Soldaten der Mimiwarigumi hatten ihn von dem schäbigen Haus in der Shinsakusen-Gasse weglaufen sehen. Ob diese Kämpfer allerdings noch lebten, wagte Daisuke zu bezweifeln.
 

Er hatte Himuras wahre Natur gesehen, endlich. Es war ihm, wie einem Dämon zu beobachten. Mit unglaublicher Geschwindigkeit und diesem erbarmungslosen Leuchten in den Augen hatte er die Aizu Munashidai binnen Sekunden ausgelöscht. Sein Plan, Himura als Köder zu benutzen, erschien ihm jetzt, mit dem sicheren Tod im Rücken, lächerlich naiv.
 

„Ob wohl Buntaro schon tot ist?“ fragte Daisuke sich kurz, doch er schüttelte gleich darauf heftig den Kopf. Es hatte keine Bedeutung mehr, ob Buntaro oder Yoshida oder sonst irgendwer lebte oder tot war.
 

Entscheidend war, dass ihn Himura aus irgendeinem Grund aus dem Keller hatte entkommen lassen. Warum, das wagte Daisuke nicht zu fragen und doch ahnte er es und es schnürte ihm die Kehle zu: Er war nicht verschont worden, nicht begnadigt – Die Augen dieses rothaarigen Jungen waren hart wie Stahl gewesen und eine Waffe kannte keine Gnade. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass Hitokiri Battousai bisher noch nie eines seiner Opfer hatte entkommen lassen.
 

Stolpernd hastete Daisuke an einer weiteren Häuserzeile entlang. Die Gebäude flogen nur so an ihm vorbei und er keuchte laut, kleine Wölkchen in der kalten Winterluft.

Er wusste, dass er alle seine Trümpfe verspielt hatte. Wie beim Würfeln. Es war vorbei. Er hatte verloren.
 

Doch so lange er noch rennen konnte, würde er rennen. Und er war ein guter Läufer. Er rannte schnell. Seine Lunge schmerzte. Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, noch ein bisschen schneller zu laufen.
 

Trotz aller Todesangst musste er die breiten Hauptstraßen vermeiden. Denn dort lauerte eine ebenfalls tödliche Bedrohung – die nächtlichen Patrouillen der Bakufu-Truppen. Im schlimmsten Falle Shinsengumi. Daisuke musste sich also an die dunkleren, kleineren Strassen halten. Er musste rennen und gleichzeitig versuchen, sich nicht zu verirren. Er wusste jedoch schon längst nicht mehr genau, wo er war. Das wichtigste war – vorwärts, nicht stehen bleiben.
 

Erneut rutschte er auf dem Straßenpflaster aus und schlug sich beide Knie auf. Schmerz durchzuckte seinen Knöchel. Mit einem Wimmern rappelte er sich wieder auf, sah sich um, humpelte weiter.
 

Lauf um dein Leben,“ hauchte eine Stimme, kälter als die winterliche Nachtluft.
 

Egal wie schnell er rennen würde – Hitokiri Battousai würde schneller sein.

Er hatte zwar ein ganzes Stück aufzuholen, denn der Kampf mit dem Mimiwarigumi und die Flucht mit Yoshida hatte ihn wertvolle Zeit gekostet.

Doch er war ganz ruhig, denn für ihn bestand kein Grund zur panischen Eile.
 

Daisuke war so ängstlich, dass Kenshin seine Ki deutlich vor sich spürte, während er über die nächtlichen Dächer glitt, sein Haar von Zeit zu Zeit kurz im Mondlicht rot aufblitzend.

Wie ein aufgescheuchtes, ängstliches Kaninchen hastete seine Beute ziellos im Zickzack durch die Straßen. Er musste nur geduldig sein und warten, bis es sich selbst in die Enge drängen würde – also kein Grund zur Eile.
 

Er musste nicht lange warten.
 

Daisuke spürte sein Herz hämmern und den Schweiß, der ihm den Rücken durchnässte. Nie hatte er sich lebendiger gefühlt als jetzt, wo der sichere Tod nur wenige Schritte hinter ihm lauerte. Seine feuchten Haarspitzen waren schon gefroren und bei jedem Atemzug schmerzte seine Lunge, als ob sie von Messerklingen durchbohrt werden würde. Er musste schließlich seine Schritte verlangsamen.
 

War da nicht jemand hinter ihm?

War da nicht jemand im Schatten?
 

Mit gehetztem Blick schlug er einen Haken und bog in die erstbeste Seitengasse ein. Dort war es stockfinster, doch Daisuke stolperte nach vorne, immer gerade aus, nur weg. Halb blind wegen der Dunkelheit, halb blind vor Angst rannte er vorwärts und prallte schließlich gegen eine wuchtige Mauer. Seine Hände glitten flehend über den nackten, kalten Stein, auf der Suche nach einem Vorsprung, einem schmalen Ritzen nur, in den man sich hätte krallen können um so das Hindernis zu überwinden.

Das Blut rauschte in seinen Ohren, während er voller Panik der Mauer den Rücken kehrte.

Jetzt gab es nur noch den Weg zurück. Raus aus dieser Sackgasse.
 

Zitternd vor Kälte und Todesangst stolperte er einige Schritte nach vorne, doch dann blieb er erstarrt stehen, wie ein Tier, das von den Augen seines Jägers erfasst und hypnotisiert wird. Er konnte sich nicht bewegen, nicht einmal atmen, als er sah, wie sich vor ihm, in den vom Mond beleuchteten Eingang der schmalen Gasse, ein Schatten schob.
 

Neben ihm waren nur glatte, hohe Wände. Hinter ihm war die Mauer. Und vor ihm der Tod.

Er saß in der Falle. Jetzt hatte er wirklich verloren.
 

--
 

Hioshi Shideki fluchte laut, als er auf die Uhr sah. Er hatte seinem Freund Shinzo versprochen, schon vor einer Stunde in der Shinsakusen-Gasse zu erscheinen. Shinzo hatte ihn gedrängt, einige Männer mit zunehmen, denn es ging anscheinend um einen Austausch von einigem Wert.
 

Missmutig steckte Hioshi seine Schwerter in den Obi, während er sich mit zwei weiteren Männern endlich auf den Weg machte. Wenn nicht noch dieser blöde Berichterstatter aus dem Shinsengumi-Hauptquartier mit seinen langweiligen Abhandlungen über neue Regelungen im Umgang mit Verrätern bei Verhören gekommen wäre, dann wäre er schon längst aufgebrochen. Doch so hatte er seinen Trupp Männer schon vorausschicken müssen.
 

Er nickte seinen zwei Begleitern zu und gemeinsam brachen sie auf. Hioshi hoffte, dass dieser Austausch oder was auch immer Shinzo so kurzfristig geplant hatte, glatt gehen würde. Erst am späten Abend hatte ihn die Nachricht seines alten Freundes das Mimiwari-gumi Hauptquartier erreicht.

Darin hatte er geschrieben, dass ein ihm bekannter Verräter der Choshuu Ishin Shishi anscheinend in Schwierigkeiten steckte und nun versuchte, auf die Schnelle seine Haut zu retten, in dem er einen der Hitokiri der Patrioten ans Messer liefern wollte – angeblich sogar der Attentäter, der seine Befehle direkt von Katsura Kogoro persönlich erhielt.
 

Beim Erhalt dieser Nachricht hatte Hioshi sich die Hände gerieben.

„Wenn diese Information wirklich stimmt,“ hatte er aufgeregt überlegt, „dann ist dieser Hitokiri Gold wird. Mit seiner Hilfe könnte man Katsura Kogoro des Verrats überführen, ihn anklagen, vielleicht sogar seiner Provinz Choshuu den Krieg erklären...“
 

Doch jetzt, einige Stunden später, war Hioshi gar nicht mehr so optimistisch. Während er mit seinen zwei Begleitern im Schlepptau durch die nasskalten Strassen eilte, beobachtete er missmutig die kleinen, weißen Wölkchen, in die sich sein Atem in der Winterluft verwandelte. Was hatte ihm Shinzo von seinem Plan berichtet?
 

Hioshi erinnerte sich: Shinzo wollte den Hitokiri durch eine Geisel ködern.
 

„Wer glaubt so einen Schwachsinn?“ schnaufte Hioshi ungehalten „Ein Hitokiri kommt nicht, um seinen Freund zu retten, und wenn, dann ist es kein echter Hitokiri.“
 

Allerdings... wie hatte ihn Shinzo genannt? Hitokiri Battousai.

Der Name hatte auf ihn Eindruck gemacht. Deswegen hatte er anstelle von fünf lieber gleich acht Männer in die Shinsakusen-Gasse geschickt. Und zwei davon waren sehr gute Schwertkämpfer.

„Man kann ja nie wissen,“ hatte er gedacht, während er die Männer aus seiner Einheit ausgewählt hatte, „vielleicht ist das alles auch ein teuflischer Hinterhalt. Verdammte Patrioten...“
 

„Doch eigentlich kann nichts schief gelaufen sein,“ versicherte sich Hioshi jetzt entgegen seiner wachsenden Unruhe und beschleunigte seine Schritte. „Acht Männer von mir und noch mal fünf Männer der Aizu Munashidai gegen einen Einzelnen. Kein Grund zur Sorge.“
 

Einer seiner Begleiter war schon ein Stück voraus gelaufen und in die kleine Gasse eingebogen. Plötzlich hörte er ihn rufen, seinen Stimme klang mehr als entsetzt.
 

„Hioshi-san! Schnell!“
 

Hioshi zog sich der Magen zusammen während die unangenehmen Gefühle, die er seit jeder Minute der Verzögerung stärker empfunden hatte, einen beklemmenden Höhepunkt erreichten. Schnell bog er um die Ecke und blieb atemlos am Eingang zu der schwach im Mondlicht beleuchteten Gasse stehen. Dann taumelte er langsam nach vorne, auf das Bild des Grauens zu, was sich ihm auf den Pflastersteinen wie ein bizarres Gemälde offenbarte.
 

Hioshi hatte schon viele Schlachten geschlagen, Kämpfe auf Leben und Tod geführt, hatte Menschen mit seinem Schwert zerteilt und doch - so etwas hatte er noch nicht gesehen.

Auf dem mondbeschienen Pflaster lagen drei seiner jahrelang im Schwertkampf ausgebildeten Männer, tot, in Pfützen von halb gefrorenem Blut. Zwei waren förmlich zerteilt und lagen da als undefinierbare Masse, ihr Inneres ausgeschüttet und über die Straßensteine verteilt.

Der dritte Mann lag fast unberührt da, als ob er im Rinnstein schlafen würde – wenn nur nicht der Kopf gefehlt hätte, der einige Meter weiter entfernt im fahlen Licht des Mondes mit einem Ausdruck des Entsetzens in den Himmel starrte.
 

Hishoi unterdrückte den plötzlichen Brechreiz durch heißen Zorn, den er jetzt in sich aufflammen ließ.

„Wo ist der Rest?“ rief er barsch, während seine rechte Hand den Griff seines Katanas krampfhaft umklammerte.

„Sieh nach!“ befahl er dem einen seiner Begleiter. Der andere übergab sich gerade geräuschvoll im Schatten einer Hauswand.
 

Mit der Hand am Heft seines Schwertes stieß der Mimiwarigumi-Kämpfer mit dem Fuß die Tür zu dem Haus auf, das Shinzos geheimes Quartier war. Aus dem dunklen Inneren tröpfelte bereits Blut über die Türschwelle. Es war grauenvoll.
 

Hioshis Augen verhärteten sich. Er befahl dem anderen Kämpfer, dessen Gesichtsfarbe einen unheilvollen Grün-Ton angenommen hatte und der immer noch leicht würgte, sofort ein Untersuchungskommando aus dem Hauptquartier herzubeordern. Mit Verstärkung. Dann inspizierte er das, was von seinen drei Männern auf der Strasse übrig war, genauer. Sie waren noch nicht ganz kalt und das Blut war stellenweise noch nicht zu roten Pfützen gefroren. Es konnte also nicht mehr als eine halbe Stunde seit dem Blutbad vergangen sein.
 

„Wenn ich nur früher mit meinen Leuten zusammen weggegangen wäre,“ überlegte Hioshi reumütig. Doch zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er selbst vermutlich genauso geendet wäre wie seine Männer. Mit einem Schauder wandte sich Hioshi nun dem Haus seines Freundes Shinzo zu.
 

Im Keller fand er ihn schließlich, zusammen mit seinen vier Handlangern in einem See von Blut. Fast alle waren akkurat mit einem Schlag getötet worden. Nur Genwa schien die Chance zu einem zweiten Angriff gehabt zu haben doch auch sein Herz war schließlich durch einen geschickten Stoß zum Stillstand gebracht worden.
 

Doch der wahre Horror, einem Weg zur Hölle gleich, war der Gang gewesen, der hinab in den Keller führte. Er war gepflastert von Leichen. Und zwar den Leichen seiner Männer, die er ausgebildet und rekrutiert hatte. Die er als Freunde gekannt und geschätzt hatte. Sie alle waren im Dunkeln hinterrücks erledigt worden - wer auch immer das getan hatte, er musste die Augen einer Eule haben. Und die Kaltblütigkeit eines abgebrühten Killers. Nur mit äußerster Willensstärke konnte Hioshi den hassvollen Schrei nach Blutrache in seinem Hals ersticken. Er musste jetzt die Fassung bewahren.
 

Hioshi eilte sich nach draußen zu kommen und sog in tiefen Zügen die Nachtluft ein, die seinen heißen, inneren Zorn etwas abkühlte und seinen Verstand wieder aktivierte.
 

„Wer kann so etwas getan haben?“ überlegte er. Der Kommandant war sich sicher, so einen tödlichen Schwertstil noch nie gesehen zu haben.

Dieser Hitokiri, den Shinzo gefangen hatte – Katsura Kogoros persönlicher Hitokiri ohne Zweifel – er war ein Meister seines Handwerks.
 

Als nach zwanzig Minuten die Verstärkung endlich eintraf, war Hioshi bereits wieder gefasst, und gab mit kühlen Kopf und gesenkter Stimme Befehle, die Toten so schnell wie möglich einzusammeln. Seine Mundwinkel zuckten, als er den Horror in den Gesichtern der Neueintreffenden sah.

Er versteifte sich, als er der Oberbefehlshaber auf ihn zukam. Er würde ihm erklären müssen, warum seine Einheit in einer Nacht um die Hälfte dezimiert worden war.
 

„Hioshi-san!“ herrschte ihn sein Vorgesetzter an, mit leicht grünlicher Gesichtsfarbe und dünner Stimme.. „Erklären sie mir die Situation!“

Der Angesprochene verbeugte sich demütig und berichtete dann von allem, was er über die Vorkommnisse des Abends wusste. Der Oberbefehlshaber hörte schweigend zu, stellte ab und zu Zwischenfragen und schüttelte schließlich fassungslos den Kopf.
 

„Und alle sind tot?“ fragte er noch einmal nach. Hioshi verneinte.

„Der Überläufer sowie die Geisel der Patrioten fehlen unter den Leichen. Vermutlich konnte er während des Gefechts irgendwie fliehen. Sollen wir Einheiten ausschicken, um nach ihm zu suchen?“

Der Kommandant der Mimiwarigumi nickte. „Wahrscheinlich werden sie sowieso nur seine Leiche finden. Nach dem, was ihr mir erzählt habt, scheint da etwas persönliches im Spiel zu sein. Der Hitokiri wird sich an seinem Verräter rächen wollen... Und nach all dem, was ich hier sehen kann, möchte ich nicht in seiner Haut stecken.“
 

Hioshi verbeugte sich und gab den Befehl weiter. Dann sah er wieder den grüngesichtigen Mann, der als erstes die Leichen entdeckt hatte, nicht weit von sich entfernt stehen und weinen, die Augen fest auf seinen toten Bruder am Boden geheftet.

„Ich habe zu kopflos reagiert,“ stellte Hioshi fest und eine kalte Ruhe überkam ihn plötzlich. „Die Hälfte meiner Einheit ist umgekommen. Ich bitte euch, gebt mir die Erlaubnis, Seppuku begehen zu dürfen um die Ehre meiner gefallenen Kameraden wieder herstellen zu können.“
 

Der Kommandant schüttelte den Kopf. „Ihr habt richtig gehandelt, Hioshi-san,“ sprach er schließlich, während seine Augen zu den am Boden liegenden Körpern wanderten und seinen Stimme wurde ein bisschen brüchig. „Ihr habt in meinem Sinne versucht, diesen Hitokiri in Gewahrsam zu nehmen. Ihr konntet nicht wissen, zu was er... fähig ist.“ Der Kommandant schluckte.
 

„Wir hätten es wissen müssen... Immerhin soll dieser Hitokiri Battousai auch derjenige sein, der die letzten Wochen für all die Morde an hochrangigen Politikern und anderen Personen verantwortlich ist. Er hinterlässt jedes Mal sein Zeichen: Ein Zettel mit der Aufschrift: Tenchuu. Göttliche Gerechtigkeit.“
 

„Göttliche Gerechtigkeit.“ Verachtungsvoll wiederholte der Kommandant diese zwei Worte. „Das Motto der Patrioten. Der Ishin Shishi.“

Hioshi kratzte sich an seinem massigen Kinn.

„Ich vermute, dass auch eine direkte Verbindung zu Katsura Kogoro besteht. Aber ohne konkreten Beweis... sollen wir trotzdem Bericht nach oben erstatten?“
 

Der Kommandant nickte. „Jeder muss zumindest wissen, zu was dieser Hitokiri Battousai fähig ist...mit wem wir es hier zu tun haben.“

„Das ist die Frage,“ murmelte Hioshi. „Mit WEM haben wir es eigentlich zu tun?“
 

Der Kommandant legte die Stirn in Falten. „Was meint ihr?“
 

Hioshi zuckte mit den Achseln. „Ich kenne keine Schule, die derart tödliche Techniken unterrichtet. Dieser Hitokiri muss ein gewaltiger Mann sein.“
 

„Ich verstehe, warum man ihn Battousai nennt,“ überlegte der Kommandant laut. „Er scheint wirklich ein Meister des Battou-jutsus zu sein. Dennoch ist mir ein derartiges Talent nicht bekannt. Wo ihn Katsura Kogoro wohl gefunden haben mag? So jemand taucht doch nicht einfach aus dem Nichts auf.“

„Vielleicht ist er noch sehr jung?“ meinte Hioshi. Der Kommandant wiedersprach. „So ein Können erfordert jahrelanges Training. Und selbst dann...was für eine Kraft muss dieser Mann haben, um zu so etwas fähig zu sein.“ Er nickte in Richtung der zerteilten Körper. „Er muss riesengroß sein.“
 

Inzwischen standen einige weitere Männer der Mimiwarigumi um sie herum und hatten dem Gespräch zugehört. Ihnen allen stand die Angst vor diesem unbekannten Schlächter förmlich ins Gesicht geschrieben.

„Dieser Mann ist ein Gespenst,“ meinte jemand aus der Menge. „Ein unheilvoller Geist.“

Und ein anderer fügte mit brüchiger Stimme hinzu: „Er ist der Vollstrecker der göttlichen Gerechtigkeit. Vielleicht hat er wirklich göttliche Kräfte?“
 

Hioshi Shideki schüttelte den Kopf.

„Nichts ist göttlich an einem Mörder. Hitokiri Battousai,“ korrigierte er, „ist ein Dämon.“
 

--
 

Als Himura Kenshin langsam auf Daisuke zuschritt, spürte er ein ungewohnt intensives Kribbeln tief in sich. War es das nicht unbekannte Gefühl von Abscheu, das zu tun, was ihm auferlegt war oder – war es Erregung?
 

Kenshin schloss die Augen. „Ein Verräter, der das Leben seiner Freude nur aus Eigennutz aufs Spiel setzt. Dem nichts und niemand heilig ist,“ flüsterte eine innere Stimme. „Für ihn gibt es keinen Platz in der neuen Zeit. Izuka hat es gesagt. Du musst ihn töten.“
 

Kenshin packte seinen Schwertgriff. Das Kribbeln in ihm wurde stärker.

„Was zögerst du,“ flüsterte die Stimme. „Gib dir mir hin. Gib dich mir ganz. Nur für den Moment des Kampfes.“ Kenshin atmete tief ein, die gewohnte eiskalte Ruhe befiel ihn plötzlich stärker als jemals zuvor. Sie schien sich um sein Herz zu schließen, ihn zu umklammern, ihn zu erdrücken.
 

„Ergib dich dem Wahnsinn... nur für den Moment.“ Ihm fehlte die Luft zum Atmen. Sein Herz klopfte ihm laut in den Ohren.
 

„Du hast heute schon dreizehn Menschen getötet. Kannst du nun auch jemanden aus den eigenen Reihen töten? Einen Freund deiner Freude? Die Nummer vierzehn heute Nacht?“

Die kalte Stimme in seinem Kopf lachte höhnisch, während Kenshin seinen Schwertgriff so fest packte, dass sich die Knöchel weiß durch die Haut drückten, um das Zittern seiner Hand unter Kontrolle zu bringen.
 

„Lass mich es für dich tun,“ flüsterte es eiskalt. „Ich töte für dich weiter, wenn du nicht mehr kannst.“ Kenshin fühlte, wie sein Herz immer mehr von einer eiskalten Leere erfüllt wurde.
 

„Kontrolle... gib sie mir...“ säuselte die Stimme in seinen Ohren, ihr süßer Klang mischte sich mit dem Geruch getrockneten Blutes auf seiner Kleidung.

„...nur für einen kleinen Moment...“. Der Geruch des Blutes wurde stärker.

Kenshin konnte nicht mehr länger wiederstehen. Er gab sich der Stimme hin – und verlor sich selbst.
 

Seine Augen sprangen auf, ihr sonst so blauer Glanz nun vollkommen in ein giftiges Katzengelb verwandelt. Noch nie hatte er sich so lebendig, so konzentriert gefühlt. Er spürte jede Faser seines Körpers und er genoss jeden Atemzug, der ihn näher an den roten Hauch des Todes brachte. Sein einziger Wille, der Grund seiner Existenz war der Kampf, den Mann dort vor ihm zu töten. Er war nur noch kalter Instinkt, alle menschlichen Emotionen gewaltsam unterdrückt und tief in ihm begraben. Das eiskalte Kribbeln hatte von seinem ganzen Körper Besitz ergriffen. Sein Leben bestand aus kaltem Adrenalin und darin, sein Schwert zu ziehen in einem weiteren Kampf auf Leben und Tod.
 

Der Geruch des Blutes war stärker als jemals zuvor.
 

Hitokiri Battousai trat einen weiteren Schritt nach vorne.

Es rauschte in seinen Ohren. Die Stimme in ihm verlangte Blut. Oder war es die Klinge, die zu ihm sprach? Er würde ihr zu trinken geben. Als Antwort schien der kalte Stahl an seiner Seite erwartungsfreudig zu pulsieren.
 

Daisuke sah seinem Tod ins Auge. Er wusste, das auch alles Flehen nicht helfen würde. Er stand nur stumm da und wartete auf den Schlag, der alles beenden würde.

Doch Himura blieb stehen. Und wartete. Nach einer Weile, die Daisuke wie eine Ewigkeit vorkam, sprach er endlich.
 

„Zieh dein Schwert!“
 

Der Befehlston dieser Stimme verlangte unbedingten Gehorsam. Ehe sich Daisuke versah, hatte er die Klinge in der Hand.

Kämpfen? Bestand denn eine Chance?

Daisuke packte das Schwert fester. So lange noch ein Funken Lebenswille in ihm schlummerte, solange bestand auch noch eine Chance. Vielleicht würde Himura ja einen Fehler machen.
 

Doch Hitokiri Battousai machte niemals Fehler. Seine Augen sahen jede kleinste Bewegung, jede panische Zuckung in Daisukes Gesicht. Seine Ohren hörten den stoßweise kommenden Atem seines Gegners. Seine Nase roch den Angstschweiß und das Blut, das dicht unter der Oberfläche brodelte und wartete, vergossen zu werden.
 

Der letzte Funke Lebenswille ließ Daisuke sein Schwert schneller als jemals zuvor ziehen. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass er schon längst verloren hatte. Er hatte an dem Tag verloren, an dem er seine Ideale aufgegeben hatte, weinend, sein Arm um die Frau gelegt, die der einzige Mensch auf der Welt gewesen war, den er je geliebt hatte. Die Frau, die im Weg stand und mit einem Schwerthieb beseitigt wurde.

Im gelben Schein todverheißender Augen sah Daisuke unverhofft ihr Gesicht vor sich, von Schmerz verzerrt. Er sah sich neben ihr knien, während sein Blut aus seinem Oberkörper warm und frisch in die kühle Nachtluft spritzte. Der Schlag war akkurat und er würde schnell sterben. So wie sie.
 

„So endet es...“, flüsterte er, während er zu Boden fiel, auf die kalten Steine irgendeiner schmutzigen Seitengasse, die er nicht einmal kannte und die jetzt sein Grab werden würde. Mit letzter Anstrengung riss er seine Augen von dem bannenden Blick seines Mörders los und schaute hoch zum Himmel. Der Mond lächelte unberührt auf ihn herab.

„Suimasen... verzeih mir... Amasu.“
 

Der letzte Atemzug entwich seinem Mund in einer kleinen, sich schnell auflösenden Wolke – dann war Daisuke tot.
 

Himura Battousai sah von oben auf den leblosen Körper des Mannes herab, der sich selbst durch seinen skrupellosen Lebenswillen an den Tod verraten hatte. Eine wichtige Lektion, die sich Battousai merken würde. Kurz fragte er sich, wer diese Amasu wohl gewesen sein musste – denn während Daisuke ihren Namen zusammen mit seinem Leben ausgehaucht hatte, war es ihm, als ob er das erste und letzte Mal tiefe Ehrlichkeit im Gesicht des Mannes gesehen hatte.
 

Langsam wischte er sein Schwert am Ärmel von Daisukes Haori trocken. Es hatte keine Bedeutung. Der Verräter war tot. Die neue Klinge von Arai Shakku hatte gute Dienste geleistet. Sie tötete schnell. Er steckte den kalt schimmernden Stahl langsam ein, drehte sich ohne einen weiteren Blick um und verschwand in den Schatten.
 

--
 

Der Mond schimmerte schräg durch das kleine, schmale Fenster seines Gefängnisses. Draußen begann es bereits hell zu werden. Doch Buntaro wollte nicht auf die ersten Strahlen der Sonne warten.
 

Die Wirkung des Alkohols, der ihn dazu veranlasst hatte, sich zu stellen, war schon längst verblasst. Und dennoch bereute er seine Entscheidung nicht. Neben ihm lagen einige Papiere, auf denen er mit ruhiger Schrift seine letzten Wünsche verzeichnet hatte, zusammen mit der Bitte, ihm zu vergeben und als den ehrbaren Samurai in Erinnerung zu behalten, der er vor dieser gottverdammten Revolution gewesen war. Buntaro stand auf und ordnete die losen Zettel zu einem ordentlichen Stapel.
 

Dann zog er den weißen Yukata an, der ihm ins Zimmer gelegt worden war.
 

„Bei Sonnenaufgang...“
 

Während Buntaro das unbefleckte Weiß anlegte, schaute er noch ein letztes Mal aus dem schmalen Fenster auf den Mond, der schon hinter den Baumwipfeln verschwand. Daraufhin wandte sich sein Blick vom Himmel ab.
 

„Göttliche Gerechtigkeit,“ murmelte er, während er sich langsam zu Boden setzte. Vor ihm lag das Kurzschwert, mit dem er in wenigen Stunden Seppuku begehen sollte. Gefasst ließ Buntaro seine Hand über die kühle Lackscheide gleiten und zog langsam die Klinge.
 

Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, während er den Griff mit beiden Händen packte.
 

„Erst in meinem Untergang habe ich gelernt, war wahre Ehre wirklich bedeutet. Zu seinen Entscheidungen stehen, auch wenn sie falsch waren - bis in den Tod.“
 

Ruckartig stieß er die Klinge in seinen Bauch und zog sie quer durch. Dann riss er sie hinaus und stach sie in Brusthöhe erneut in seinen Leib. Doch der Schmerz war zu überwältigend und der Griff war glitschig in seinen Händen. Er war zu schwach, um den letzten, rituellen Todesstoss in seine Kehle noch auszuführen.
 

„Das ist meine Strafe und Buße,“ lächelte er unter Tränen, während er nach dem letzten Atem rang. Der weiße Stoff hatte sich schon längst tiefrot gefärbt. Langsam sackte er in sich zusammen und es wurde schwarz vor seinen Augen. Doch seine Hand umklammerte noch den Griff des Schwertes. „Das ist...“, keuchte er, „...göttliche Gerechtigkeit...?“
 

Als die Sonne ihre ersten Strahlen über den Horizont schickte und die Wärter an die Tür zu Buntaros Zelle traten und durch das Gitter blickten, blieben sie vor Überraschung einen Moment schweigsam stehen. Dann schlossen sie die Tür auf, traten vor den Toten und verbeugten sich tief.
 

Buntaro hatte seine Ehre als Samurai wieder hergestellt.
 

Die Wärter wickelten die Leiche ehrfurchtsvoll in eine Decke und trugen sie davon. Einer hob den ordentlichen Stapel von Papieren vom Boden auf und brachte ihn Izuka. Katsuras Mann für die Geheimoperationen nahm die Papiere und die Information über Buntaros vorzeitigen Seppuku ohne Sekundanten mit einem kurzen, anerkennenden Nicken entgegen.
 

Dann schloss er langsam die Schiebetür und hielt die Papiere in die Kerzenflamme. Im Schein des brennenden Testaments und der aufgehenden Sonne lachte Izuka leise.
 

--
 

Kenshin fand Yoshida im Dämmerlicht des anbrechenden Morgens zwischen den kahlen Bäumen in der Nähe das Iamatsu-Schreines. Blass wie eine marmorne Statue saß sein Zimmergenosse an einen dicken Stamm gelehnt und seine Hände krampften sich um das Wakizashi, das Kenshin ihm gegeben hatte.
 

Tiefe, blaue Augen musterten einen Moment lang den schlafenden jungen Mann.

„Yoshida...“ flüsterte Kenshin leise, doch der Angesprochene schlief tief und fest, trotz Baumwurzeln im Rücken.
 

„Das muss ihn alles sehr mitgenommen haben,“ überlegte Kenshin. Langsam ließ auch er sich gegen einen Baumstamm sinken.
 

„Was für ein Tag...“
 

Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sich so viel verändert. Alles.

Nicht nur für die anderen Männer der Ishin Shishi, die bisher kaum von ihm Notiz genommen hatten und ihn von nun an furchtvoll meiden würden.

Nicht nur für Yoshida, der ihn hatte töten sehen und das ohne Zögern oder Überlegen.

Etwas in ihm hatte sich verändert. Er war anders geworden. Er war nicht mehr der junge, der mit leuchtenden Augen seinen Meister verlassen und sich den Patrioten angeschlossen hatte, fest entschlossen, die Welt mit seinem Schwert zu verändern.
 

Die blauen Augen blinzelten müde und stumpf in das blasse Sonnenlicht, das widerwillig über die Bergesränder von Kyoto kroch.
 

„Du hast das Talent zum Töten,“ hatte ihm Izuka eben an dieser Stelle vor wenigen Tagen verkündet. Kenshin hatte von da an begonnen, ihm zu glauben.
 

Er hatte Yoshida wegschicken wollen.

„Man kann sich nur auf sich selbst verlassen. Nur auf seine eigene Stärke. Freundschaft ist eine Schwäche, die ich... die sich ein Hitokiri nicht erlauben kann.“

Das hatte er vor knapp einem Tag zu seinem Freund gesagt. Doch Yoshida hatte sich geweigert, ihn allein zu lassen.
 

„Und bist du denn ein Hitokiri? Bist du tief in dir wirklich ein Mörder? Ich glaube das jedenfalls nicht!“
 

Kenshin ließ den Kopf zurück gegen die kühle Rinde des Baumes sinken und schloss für einen Moment die Augen. Er hörte den ruhigen Atem Yoshidas durch die Stille der Bäume. Nachdem die Kälte des Hitokiris langsam ihre Bande um sein Herz gelockert hatte, war die unerträgliche Leere tief in ihm einem noch viel unerträglicherem Gefühl gewichen.
 

Es war das Gefühl, recht gehabt zu haben.
 

Seine zweite Natur war die eines Killers. Wieso sonst sollte er so ein Talent zum Töten besitzen? Da war etwas in ihm, etwas dunkles, und es hatte die Kontrolle über sein Leben an sich gerissen.
 

Er sah den Pfad, den er noch zu gehen hatte, jetzt klar vor sich. Er würde weiter töten, bis zu seinem Ende oder dem Ende der Revolution. Auf seine eigenen Gefühle konnte er dabei keine Rücksicht mehr nehmen. Er würde sie tief in sich begraben, wie er es schon einmal getan hatte, als seine Eltern gestorben waren und er ein Sklave geworden war.
 

Er war Katsuras Schwert und ihm würde nichts widerstehen. Und wenn der Preis seine Menschlichkeit war, dann würde er bezahlt werden.
 

„Hitokiri...Battousai...“
 

Kenshin flüsterte seinen neuen Namen zu den kahlen Ästen der Bäume, die sich traurig im bitterkalten Wind hin und her bogen. Der Klang dieser Worte verlieh ihm eine Gänsehaut – oder war es die Wintermorgenluft? Kenshin wusste es nicht. Er wusste nur, dass er noch nie einen Namen so sehr verachtet hatte wie diesen.
 

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Im Nächsten Kapitel werden wir die Storyline vom Manga und ersten OVA wieder einholen ^^ Es wird jetzt ziemlich düster für den armen Kenshin, so ganz ohne Freunde... doch wer die Story kennt, weiß, dass eine neue Person in sein Leben treten wird...
 

AN:

Seppuku: Die höchste Ehre beim Seppuku bestand darin, sich nicht nur den Bauch und die Brust aufzuschlitzen, sondern am Ende noch die Kehle durchzuschneiden. Ohne Sekundanten trat so der Tod relativ schnell ein. Jedoch kam kaum einer bis zu diesem dritten Schritt - Die Meisten schafften es wegen der Schmerzen, nur einen oder zwei Schnitte auszuführen und wurden dann, um nicht langsam und qualvoll zu verbluten, vom Sekundanten enthauptet.

Kapitel 17 - Abschied

Sorry für die unendlich lange Wartezeit!! Und Danke für die Unterstützung meiner Reviewer und Leser, Sarai-san, Carcajou und Takeru Takaishi. Ihr wisst gar nicht, wie sehr ihr mich motiviert und wie viel mir eure Kommentare bedeuten!Weitere Anmerkungen am Ende ^^
 

Yoshida wurde von Kenshin aus den Fängen der Feinde gerettet und die Verräter erhielten als Strafe den Tod. Eine grauenvolle Nacht geht zu Ende - doch nicht ohne Konsequenzen. Denn auch für Yoshida wird es nun Zeit...
 


 

Kapitel 17 - Abschied
 

„Ganz schön kurzfristig, die Versammlung und früh noch dazu,“ murrte einer der Ishin Shishi Kommandanten und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die gähnenden Männer, die rings um ihn am Boden des Versammlungsraumes im Kohagiya hockten, nickten zustimmend. „Es muss etwas Wichtiges sein, wenn uns Izuka schon bei Sonnenaufgang aus den Betten holt.“
 

„In der Tat,“ ertönte es von der Tür her. Izuka trat als letzter ein und schaute mit ernster Miene in die fragenden Gesichter seiner Männer. Dann schloss er langsam die Tür wieder hinter sich. Die Soldaten sahen sich vielsagend an.

„Also stimmen die Gerüchte über einen Verräter in den engsten Kreisen?“ flüsterte ein dicklicher Samurai zu dem Mann neben ihm.

Als Antwort trat Izuka zwischen die Beiden und zwirbelte seinen Schnurrbart. In der linken Hand hielt er einen Eilbrief, den er gerade eben von einem Boten erhalten hatte.
 

„Ich habe hier Anweisungen von Katsura Kogoro persönlich,“ verkündete Izuka und hob die Hand mit dem Brief, so dass alle das Siegel sehen konnten. Mit diesem Brief war Katsuras Mann für die Geheimoperationen bemächtigt, auch über all die Anführer der anderen Einheiten der Ishin Shishi zu kommandieren – die Anführer des Nachrichten-Dienstes, des Personenschutzes, das Sabotagekommando, sogar über die Einheiten, die noch nicht abgetaucht waren und im politischen Dienst des Bakufu waren, Spitzel und Diplomaten.
 

Katsura hatte die Nachricht über den Verrat dreier Samurai aus einer ihm persönlich unterstellten Einheit per Eilkurier empfangen und die Maßnahmen, die Izuka nun als Reaktion für nötig hielt, abgesegnet. Zufrieden faltete der schnurrbärtige Mann nun das Dokument zusammen und steckte es in seinen Ärmel.

Mit ernster Miene begann er dann, die Männer einem nach dem anderen zu mustern. Jegliche Müdigkeit war von all den Anwesenden abgefallen.
 

„In unserer Einheit hier im Kohagiya haben sich drei Verräter befunden, die jedoch ausfindig gemacht werden konnten.“ Izukas Stimme hallte durch den nun totenstillen Saal.
 

Nach einigen Schrecksekunden setzte sofort entsetztes Stimmengemurmel ein, das Izuka jedoch mit einer ungewohnt zackigen Handbewegung zum Schweigen brachte.

„Katsura-san persönlich hat mich bevollmächtigt, nötige Maßnahmen einzuleiten, um solche Vorkommnisse in Zukunft vermeiden zu können.“
 

Er holte tief Luft und begann, die neuen Regelungen zu verkünden.
 

„Jeder von euch hier steht im Rang eines Kommandeurs und jedem untersteht eine spezielle Einheit mit einem speziellen Aufgabenfeld. Bisher war unser Aufteilungsverbund eher locker, aber das wird sich ändern. Katsura wird sich in Zukunft nur noch mit uns Anführern treffen und nur noch zu besonderen Gelegenheiten bei vollen Versammlungen anwesend sein. Ihr werdet nur ihm Gegenüber Rechenschaft ablegen müssen, könnt also selber wie bisher relativ unabhängig und eigenverantwortlich über die euch unterstellten Einheiten verfügen. Jeder von euch soll aus seiner Einheit den ihm loyalsten Soldaten zum Co-Kommandeur erheben. Dieser wird zusammen mit der Einheit in einem getarnten Stützpunkt untergebracht und hat euch jederzeit über die Vorgänge innerhalb der Gruppe zu berichten.“
 

Erneut begannen die Männer untereinander zu reden. „Heißt das,“ fragte einer der Samurai nach, „dass wir nicht länger bei den uns unterstehenden Einheiten untergebracht sind?“
 

„Genau,“ bestätigte Izuka. „Alle Kommandeure werden von nun an im Kohagiya wohnen, wobei wir immer zufällig und kurzfristig einen Teil der Führungsebene in einem anderen Geheimversteck unterbringen werden. Das Kohagiya bleibt aber unser Haupttreffpunkt.“

Die Männer stöhnten. „Also müssen wir permanent umziehbereit sein?“

„Zu eurer eigenen Sicherheit, ja,“ lächelte Izuka schräg wie immer.

„Aber,“ warf ein weiterer Samurai ein, „wenn die Verräter hier aus der Einheit kamen, dann ist es doch nicht länger sicher, sich im Kohagiya zu treffen!“ Die Männer nickten zustimmend.

Izuka schenkte ihnen nur ein schiefes Lächeln. „Die Verräter haben bisher unser Hauptversteck hier aus Sorge um ihre eigene Sicherheit nicht verraten. Und sie werden es auch in Zukunft nicht mehr können.“
 

„Trotzdem ist es riskant, so viele der Führungsebene in einem Haus unterzubringen.“

„Riskant, aber besser koordinierbar,“ korrigierte Izuka.

Uchida, einer der Kommandanten, lachte. „Wahrscheinlich sind wir hier sicherer als in den anderen Verstecken. Immerhin haben wir Battousai.“
 

Fragend sahen ihn die anderen Kommandanten an.

„Der neue Hitokiri, von dem euch Katsura-san gestern morgen unterrichtet hat,“ erklärte er daraufhin kopfschüttelnd.

„Und der wird hier bei uns wohnen?“ fragte einer der Männer zweifelnd. „Ich weiß nicht, ob ich das sonderlich beruhigend finde.

„Battousai?“ lachte ein Anderer. „Was ist denn das für ein Name...“ Er schnaufte verächtlich und murmelte, „ganz schön arrogant.“

Uchida schüttelte den Kopf. „Die Wahrheit. Ich hab ihn trainieren gesehen. Glaub mir, so ein Battou-jutsu ist nicht normal... ich weiß nicht mal, ob es menschlich ist.“
 

„Izuka-san,“ sprach ein anderer der Samurai mit ernster Miene, „wer waren die Verräter und was ist mit ihnen passiert?“

„Ihre Namen tun nichts zur Sache, sie werden sowieso bald vergessen sein. Nun, einer von ihnen hat sich uns ergeben und gestanden. Er hat ohne Sekundanten heute im ersten Licht des Morgens Seppuku begangen.“

Die Männer nickten schweigend. „Und die anderen?“

Izuka zwirbelte erneut seinen Schnurrbart. „Um die kümmert sich Himura gerade...oder, wie man ihn anscheinend seit heute nennt, Hitokiri Battousai.“
 

Dieser unheilverheißende Name blieb einem Damokles-Schwert gleich einen Moment in der Luft hängen, bevor die Männer wieder das Schweigen brachen.
 

„Ob er so gut ist, wie man sich erzählt, würde ich gerne mal sehen,“ meinte einer der Männer. Ein anderer antwortete, „das wirst du früh genug. Immerhin sind wir ja jetzt in der selben Herberge untergebracht. Da werdet wir ihm wohl noch öfters über den Weg laufen.“

Uchida schnaufte. „Ich würde ihn besser nicht provozieren, so wie es Onaka im Dojo versucht hat.“

Ein anderer Samurai nickte bekräftigend. „Wenn man einen Hitokiri provoziert, spielt man mit seinem Leben. Vor allem bei diesem Hitokiri. Habt ihr seine Augen gesehen?“
 

„Das Treffen ist beendet!“ unterbrach Izuka das Getuschel. „Ab sofort habt ihr die Anweisungen Katsuras auszuführen!“

„Hai!“ antwortete ihm ein Chor von Männerstimmen.
 

--
 

Yoshida hatte unangenehme Träume.

Alles um ihn herum war rotgefärbt, er sah schrecklich aufgerissene Augen in fratzenartigen Gesichtern an sich vorüberziehen. Die geisterartigen Gestalten kamen, umkreisten ihn und schwebten immer näher an ihn heran, er versuchte, davonzurennen und kam nicht von der Stelle, und dann packte ihn eine kalte Hand an der Schulter-
 

Er schreckte hoch und blickte in ein Paar tiefer, dunkelblauer Augen.

„Yohida,“ sprach Kenshin leise mit weicher Stimme, „wach auf. Wir müssen zurück.“
 

Der braunhaarige Mann blinzelte verwirrt, bevor er sich aufrappelte. Er spürte immer noch die Wurzeln, auf denen er eingeschlafen war, in seinem Rücken.

Wie hatte er überhaupt jemals einschlafen können? So viele, schreckliche Dinge waren doch erst vor wenigen Stunden passiert.
 

Kenshin hatte sich schon umgedreht und war losgelaufen.

„Wir müssen uns beeilen,“ meinte er ohne nach hinten zu sehen, seine Stimme plötzlich wieder kalt. Yoshida bemerkte die Sonne, die gerade dabei war, über den Bergesrand zu klettern und in ihrem verräterischen Licht jeden Blutspritzer auf seiner Kleidung enthüllte - geschweige denn auf Kenshins hellen Hakama.

Es war offensichtlich, dass sie so schnell wie möglich zurück ins Kohagiya mussten, bevor sich die Gassen mit Frühaufstehern zu füllen begannen, die bei ihrem verdächtigen Anblick sofort die Bakufu-Wachen alarmieren würden.
 

Mit unheimlichen Tempo lief Kenshin voraus den Berghang zur Stadt hinab und Yoshida stolperte hinterher, das Wakizashi immer noch in den Händen.

„Was, wenn man Kenshin jetzt entdeckt, am helllichten Tag, nur wegen mir? Ich bin sicher, ohne mich wäre er schneller,“ überlegte Yoshida. Er beschleunigte seine Schritte, versuchte, Kenshin einzuholen, doch der rothaarige Junge war immer schneller.

Es schien ihn gar nicht zu kümmern, ob Yoshida noch hinter ihm war oder nicht, er wirkte kalt und konzentriert.
 

„Und ich habe dazu beigetragen, dass er noch verschlossener als vorher geworden ist,“ dachte Yoshida reumütig, schluckte aber schnell die bitteren Gedanken hinunter.

Das Schicksal seines besten Freundes lag nun nicht länger in seiner Hand. Er musste sich jetzt zuerst einmal um sein eigenes Schicksal kümmern – immerhin stand er noch auf der schwarzen Liste, auf Kenshins schwarzer Liste. Man hielt ihn für einen Verräter.
 

„Dabei bin ich nur ein Versager,“ murmelte er traurig. „Ich habe geglaubt, dass man auch in einem Krieg auf Werte wie Freundschaft und Vertrauen setzen kann. Ich war wirklich naiv.“ Mit gesenktem Kopf stolperte er weiter.
 

Ohne, dass Yoshida es merkte, passte Kenshin auf, dass er hinterherkam, nahm anstatt den schnellen Weg über die Dächer den Weg durch verwinkelte, abgelegene Gassen, blieb ab und zu stehen und horchte, ob Gefahr drohte . Schließlich schob er den total verblüfften und verwirrten Yoshida durch einen Hintereingang, von dessen Existenz er nicht einmal geahnt hatte, ins Kohagiya.
 

--
 

Gähnend schlufte Izuka über die blankgeputzten Holzdielen vom Versammlungsraum zu seinem Zimmer. Er hatte die Nacht fast nichts geschlafen, da er ständig mit der Rückkehr Himuras gerechnet hatte. Doch der Hitokiri war bis zur morgendlichen Eilversammlung noch nicht erschienen.
 

Blinzelnd schob Izuka langsam die Tür zu seinem Zimmer auf, trat ein, schob sie wieder zu und fuhr sich mit der Hand über die schmerzenden Augen. Ein dezentes Räuspern in seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Er war nicht allein im Raum.
 

„Verdammt, Himura!“ rief der schnurrbärtige Mann wütend aus. „Musst du dich hier so hereinschleichen?“ Er legte seine Hand theatralisch auf die Brust und lächelte gequält. „Das hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet.“
 

Unbewegt schaute ihn Kenshin mit kalten, blauen Augen an. Izuka seufzte. Dann verhärtete sich sein Gesicht, als er den braunhaarigen, jungen Mann neben dem Hitokiri ansah.
 

„Was macht der denn hier?“ fragte er und deutete abfällig auf Yoshida, während er den Raum durchquerte. „Warum hast du ihn mit her gebracht? Du hättest ihn doch gleich töten können, dann hätten wir uns diesen ganzen Seppuku-Schwachsinn gespart.“
 

Yoshida schluckte und krampfte seine Hände fester um das Wakizashi, das er noch immer in den Händen hielt, seit Kenshin es ihm gegeben hatte. „Ich...“, stammelte er, „nicht...“
 

„Und?“ Izuka blickte seinen Hitokiri abwartend an, von Yoshidas Gestammel keinerlei Notiz nehmend. Kenshin hielt seinem schiefen Blick stand.

„Yoshida ist kein Verräter,“ sagte er leise, aber entschlossen.

Izuka zog eine Augenbraue hoch. „So? Und warum nicht?“

Nach einem Moment unangenehmer Stille erzählte Kenshin schließlich von all den Vorkommnissen der Nacht. Interessiert hörte Izuka zu, sein schiefes Lächeln verrutschte nicht einmal. Auch Yoshida lauschte und es schien ihm, als ob er einer erfundenen Gruselgeschichte zuhören würde. Er konnte es gar nicht fassen, dass er selbst Teil, wenn nicht sogar Auslöser der ganzen Sache gewesen war.
 

Als Kenshin damit endete, wie er Daisuke getötet hatte und mit Yoshida zurück zum Kohagiya geeilt war, holte Izuka tief und geräuschvoll Luft.

„Gut,“ meinte er schließlich und klatschte in die Hände, als ob damit die ganze Sache abgeschlossen wäre.

„Natürlich darf so etwas nicht noch einmal passieren. Yoshida wird sofort versetzt. Die Männer hier würden ihm ohnehin nur misstrauen, nach diesem Vorfall jetzt...“
 

Yoshidas Augen weiteten sich angstvoll. Weg aus Kyoto? Aber hier waren die einzigen Menschen, die er kannte. Seine Freunde.

Und Kenshin, dem er doch eigentlich beistehen wollte, aber was jetzt wohl unmöglich geworden war.
 

Izuka kratzte sich am Kinn. Kenshin starrte immer noch auf den Fußboden, als er plötzlich fragte, „und Buntaro?“
 

„Buntaro?“ Izuka sah Yoshida an. „Aufgrund der Schande, die er seinem Clan bereitet hat, beging er heute morgen Seppuku.“

„Er hat sich gestellt?“ fragte Yoshida atemlos, für den diese Nachricht neu war. Izuka beachtete ihn nicht. Statt dessen sprach er wieder zu Himura und tat, als ob Yoshida nicht im Raum vorhanden wäre. Immerhin tat er gut daran, von Buntaro abzulenken – Buntaros Geständnis hatte nämlich auch die Unschuld Yoshidas bestätigt. Izuka hatte dies einfach ignoriert so wie er auch Buntaros letzten Willen den Flammen übergeben hatte.
 

„Du weißt, warum es so gekommen ist.“
 

Der rothaarige Junge sagte nichts.

„Wie ich dir gesagt habe,“ fuhr Izuka fort, „dein Job hier ist das Töten und du hast ein unglaubliches Talent dafür. Du selbst hast dich Katsura doch als Waffe angeboten. Heute Nacht wäre beinahe alles schiefgegangen. Du weißt jetzt, wo deine Schwächen liegen.“

Langsam nickte Kenshin. Sein Gesichtsausdruck war nicht entschlüsselbar.

„Gut,“ schloss Izuka, wieder mit gewohnt schiefem Lächeln. „Deine Loyalität gilt mir, Katagai und natürlich Katsura. Du kannst jetzt gehen. Aber halte dich bereit für neue Aufträge.“
 

„Hai,“ antwortete Kenshin tonlos, während er sich von seinem Kissen auf dem Boden erhob. Er sah zu Yoshida, der ängstlich und hilfesuchend zu ihm empor blickte.

„Kenshin, bleib...“ begann er, aber der Angesprochene unterbrach ihm, in dem er ihm sein Schwert vor die Nase hielt.

„Hier.“ Seine Stimme war ausdruckslos.

Mit bebender Hand nahm Yoshida sein eigenes Katana entgegen. „Ken-...“, begann er erneut, doch Kenshin drehte sich einfach um und verließ den Raum.
 

Yoshida starrte auf die Schiebetür, bis seine Augen brannten.

Am liebsten hätte er geschrien, geweint, getobt und geflucht - doch er blieb still, wollte sich keine Blöße vor Izuka geben, der ihn mit stechendem Blick genau beobachtete. Vor diesem Mann, mit einem Lächeln so schmierig wie frischer Schneckenschleim, wollte er sich nicht noch weiter demütigen. Sich vorzustellen, dass das nun die einzigste Bezugsperson von Kenshin war – es machte Yoshida nur noch wütender.

Izuka machte keinen Hehl daraus, dass er in dem Jungen nur eine willenlose Waffe sah und sonst nichts. Doch was noch viel schlimmer war: Kenshin schien das auch nichts mehr auszumachen.
 

„So,“ zischte Izuka und Yoshida zuckte zusammen.

„Ich hoffe, du hast ebenfalls deine Lektion gelernt.“

Yoshida verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. Überraschender Weise lachte Izuka laut über diese Reaktion.

„Gut, dass ich dich jetzt versetzte,“ sagte er, immer noch glucksend, während er einige Papiere auf dem Schreibtisch zusammensuchte. Yoshida funkelte ihn wütend an.

„Du solltest mir danken,“ meinte Izuka fröhlich, während er an seinem Schreibtisch ein Siegel auf eines der Papiere drückte.

„Warum?“

„Nun, du und Himura seid euch in gewisser Weise sehr ähnlich. Zu ähnlich.“ Izuka sah von seinem Schreibtisch auf. Sein Gesicht war wieder ernst. „Ihr beide seid naive Idealisten.“
 

Yoshidas Mund schnappte empört auf und zu. Als er die Beleidigung seiner eigenen Person heruntergeschluckt hatte, bemerkte er erst den viel tieferen, ironischeren Sinn des Satzes.

„Und ihr trennt uns, damit ihr zumindest einen von uns zum Mörder machen könnt? Damit ich nicht im Weg bin, wenn ihr den Rest von Idealismus und Naivität aus Kenshin herausschlachtet? Damit ich nicht die Gefühle, die noch in ihm existieren, lebendig halten kann?“
 

Izukas Augen wurden kalt.

„Seit seinem ersten Auftrag ist Himura schon kein Naivling mehr. Idealistisch ist er dennoch, und das macht ihn so wertvoll für uns – er kämpft bedingungslos für unseren Traum.“

„Bedingungslos!“ Yoshida musste sich beherrschen, nicht laut zu schreien und seine Stimme bebte vor Wut. „Ihr zerstört seine Seele! Die Seele eines Jungen, der noch nicht mal richtig erwachsen ist!“
 

„Nein,“ lächelte Izuka unheimlich, während er mit einigen Papieren in der Hand auf Yoshida zutrat. „Das tut er selbst. Freiwillig.“

Voller Verachtung riss Yoshida die ihm hingehaltenen Dokumente an sich. „Er weiß nicht, was er tut. Er weiß nicht, wohin ihn der Pfad führen wird. Aber ihr wisst es ganz genau!“
 

Izuka sah Yoshida hinterher, der wütend aus dem Zimmer rauschte und die Tür hinter sich zudonnerte. Dann war es still, gefolgt vom Geräusch raschelnder Papiere und einem lauten Fluchen.
 

„Dieser Scheißkerl! Er schickt mich nach Choshuu zu der Kihei-tai?!“
 

Lächelnd zwirbelte Izuka seinen Schnurrbart. Das Leben war doch ein sonderbares Spiel. Wie schnell man verlieren konnte, wenn man unvorsichtig war wie Daisuke und Buntaro. Wie viel Glück man hatte, wenn man ein Narr war wie Yoshida. Und wie mächtig man war, wenn man eine Waffe hatte wie Himura Battousai.
 

Man musste eben immer genau wissen, wo man lang zu gehen hatte. Und Yoshida hatte recht: Er selbst wusste ganz genau, wohin der Pfad Himuras führen würde.

In den Abgrund.
 

„Das ist doch der einzige Ort, an dem Mörder wie er existieren können,“ sinnierte er und schaute müßig aus dem Fenster, an dem schon wieder Schneeflocken in der Morgenluft vorbeiwirbelten. „Im Abgrund von Kyoto, wo das Schwert die Strasse regiert und jeder Tag ein neuer Kampf auf Leben und Tod ist.“
 

Izuka wusste, dass auch sein Pfad an der Grenze von Leben und Tod entlang führte. Das Spiel, was er spielte, war weitaus gefährlicher wie das von Buntaro oder Daisuke. Es beinhaltete einen höheren Einsatz – doch auch der Gewinn würde unvergleichbar höher sein. Sein Spiel würde weitaus mehr Leben kosten, als Himura Battousai heute Nacht gefordert hatte.
 

Es war eine schmale Grenze, der ihm vom Sturz in den Abgrund trennte. Er durfte sie nicht überschreiten. Alles hing davon ab, wie gut er die Waffe kontrollieren konnte, die er die letzten Wochen im Namen von Katsura Kogoro geschaffen hatte.
 

Mit einem letzten Seufzen ließ sich Izuka hinter seinen Schreibtisch fallen und nahm den Pinsel zur Hand. Neben seinem Tuscheglas wartete ein Stapel nachtschwarzer Umschläge.
 

--
 

Yoshida brauchte eine ganze Weile, bevor er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Unsägliche Wut über Izukas gewissenloses Verhalten, seine eigene Ohnmächtigkeit und nun auch noch die Versetzung weg von Kyoto hatte seinen Verstand in Aufruhr versetzt.
 

„Zu den Kihei-Tai schickt er mich,“ grübelte er düster, während über den Innenhof auf und ab schritt und die Männer, die schon wegen der frühen Versammlung alle wach waren und hier und dort einzelne Befehle gaben, gar nicht wahrnahm. „Hauptsache weg von Himura! Ich stehe Izuka wohl im Weg. Ich stehe im Weg, wenn es darum geht, Himura zu einer willenlosen Waffe zu machen!“
 

Erst nach einer Weile Vor-sich-hin-grummelns bemerkte er, wie einer der Soldaten ihn mit erschrockenen Augen ansah. Yoshida folgte seinem Blick und entdeckte voller Entsetzen, dass er ja immer noch die Blutverschmierten Klamotten anhatte. Noch dazu kündete ein plötzliches Brennen auf seiner Stirn von der Platzwunde, die er noch nicht versorgt hatte. Schnellen Schrittes schleifte Yoshida seine vor Müdigkeit schweren Glieder aus dem Innenhof fort in Richtung Küche. Seine Stirn brannte wie Feuer – er musste dringend seine Wunde von Okami verarzten lassen, bevor sie sich entzündete.
 

Im Küchenraum herrschte trotz der frühen Stunden schon hektische Betriebsamkeit. Das Frühstück wurde gerade vorbereitet, denn es waren viele Männer im Haus, deren Mäuler gestopft werden mussten. Okami wuselte hierhin und dorthin und warf ihren Mädchen knappe Befehle zu.

„Sumimasen,“ sagte Yoshida leise, doch keiner hörte ihn.

Er räusperte sich und probierte es noch einmal lauter. „Sumimasen! Okami-san, Entschuldigung, habt ihr kurz Zeit?“
 

Okami fuhr herum, ein Messer vom Gemüse-schneiden noch in ihrer Hand. Als sie sah, wer ihre organisierten Frühstücksvorbereitungen störte, verrutschte ihr Lächeln etwas.

„Yoshida-san, nicht wahr?“ sagte sie, legte des Messer beiseite und wischte ihre Hände an der Schürze ab. „Ich dachte schon, Himura-san wäre endlich mal wieder gekommen um mir zu helfen.“
 

Unangenehm berührt trat Yoshida auf der Stelle. Okami blinzelte ihn an.

„Du bist doch sein Freund, oder?“ fragte sie.

„Hm, ja,“ antwortete Yoshida vorsichtig. „Wenn man das so nennen kann...“

Fragend zog Okami eine Augenbraue hoch, doch als sie sah, wie Yoshida beschämt nach unten blickte, verdüsterte sich ihr Gesicht sofort wieder.
 

„Das es so kommt, hab ich früher oder später befürchtet,“ murmelte sie. „Komm mit ins Hinterzimmer. Dort habe ich Verbandszeug.“

Yoshida war dankbar, dass Okami endlich seine schmerzende Wunde bemerkt zu haben schien. Er war allein durch ihren zweifelnden Blick schon viel zu eingeschüchtert gewesen, um sie noch darauf hinzuweisen.
 

Schweigend setzte sich der junge Samurai zu Boden und erduldete Okamis Verarztung, tief in Gedanken versunken. Nur als sie Alkohol auf die offene Wunde tröpfelte, zuckte er zusammen.
 

„Du siehst ganz schön ramponiert aus, mein Junge,“ brach Okami schließlich das Schweigen, während sie die Wunde desinfizierte.

„Hm,“ murmelte Yoshida nur deprimiert.

Wieder Stille.. Okami kramte nun im Regal nach Pflastern

„Wie geht es Himura-san... damit?“ fragte sie unvermittelt, den Rücken zu ihm gewandt.

Yoshida blinzelte. „Womit?“

Okami drehte sich über die Schulter um und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

„Ah.“ Yoshida sah erneut zu Boden. „Damit.“

Sein Blick wanderte zu seinen Händen, die untätig in seinem Schoß lagen. Es klebte noch Blut unter den Fingernägeln.
 

„Ich habe ihn gesehen, im Badehaus,“ sagte Okami. „Er wäscht sich wie ein Besessener. Er hat nicht einmal bemerkt, dass ich seine Kleidung mitgenommen habe. Seit seinem ersten Auftrag ist das die einzige sichtbare Reaktion, dass ein Teil von ihm mit dem, was von ihm verlangt wird, nicht zurecht kommt.“
 

Sie fixierte Yoshida, der darauf nichts antwortete, sich nicht einmal bewegte. Er wusste auch nicht, was er jetzt hätte sagen oder tun sollen. Wieder überrannte ihn die lähmende Hilflosigkeit, die er schon zuvor verspürt hatte.
 

„Er denkt,“ brach Okami das abermals entstandene Schweigen, „dass er es tun muss. Für die göttliche Gerechtigkeit. Das er sich dafür aufgeben muss.“

Okami kehrte mit einem passenden Pflaster zurück und drückte es Yoshida vorsichtig auf die Stirn. „Er brauch jemanden, der ihm beisteht,“ sprach sie weiter, ihre Stimme ernst. „Jemanden, der ihm hilft, all das durchzustehen.“
 

„Ich weiß,“ flüsterte Yoshida.

Okami sah ihn streng an. „Gerade nach den jüngsten Vorkommnissen brauch Kenshin jemand, der ihm beweist, dass Werte wie Freundschaft und Vertrauen noch einen Bedeutung haben. Er wird sich sonst zur seelenlosen Waffe machen, für den Schatten von Katsuras göttlicher Gerechtigkeit. Er wird sich aufgeben.“
 

Yoshida drückte seine Augen zu, versuchte, das Brennen in ihnen zu ignorieren und die Verzweiflung angesichts seiner Machtlosigkeit. „Ich...“
 

„Hast du ihn auch schon aufgegeben?“ schnitt ihm Okami das Wort ab.

Mit aufgerissenen Augen starrte Yoshida sie an.

„Aufgeben?“ wisperte er, dann wurde seine Stimme lauter „Nein, ich wurde versetzt, ich muss gehen, man hat mich gegen ihn benutzt! Ich wollte ihn nicht aufgeben!“

Okami sah den verzweifelt wirkenden jungen Mann an. Sie hatte schon von der Geschichte mit Daisuke und Buntaro gehört. Doch diese zwei Männer waren anders wie Yoshida. Okami hatte gehofft, dass dieser etwas trottelige Mann Kenshin dort beistehen konnte, wo es ihr nicht möglich war: Sie konnte vielleicht seine mütterliche Bezugsperson sein, aber ein Kampfgefährte und Freund nicht.
 

Enttäuscht schaute sie aus dem Fenster.

Hinter ihr hörte sie es plötzlich schluchzen.

Yoshida wollte es nicht, er schämte sich, aber er konnte die Tränen einfach nicht mehr länger zurückhalten.
 

Bestürzt eilte Okami an seine Seite und nahm ihn in den Arm. Wie ein kleines Kind schmiegte er sich an sie, drückte seinen Kopf an ihre Brust.

„Verzeih meine harten Worte,“ flüsterte sie und strich ihm über die Haare. „Ich weiß, wie schwierig diese Aufgabe ist. Jemandem beistehen, der keinen Beistand will. Ein Freund und damit eine Schwachstelle zu sein. Eine Freundschaft zu verlieren.“

„Ich...hätte es getan,“ schluchzte Yoshida in ihren Kimono. „Ich wäre bei ihm geblieben!“

„Psst,“ flüsterte Okami beruhigend. „Es ist gut. Du hast alles getan, was du kannst. Er hat beschlossen, Gefühle nicht länger in sein Herz zu lassen. Wir können ihm nur unbemerkt so viel Unterstützung geben, wie wir können.“

„Aber ich...“ murmelte Yoshida mit erstickter Stimme in den weichen Stoff, sein Gesicht nass vor Tränen. „Ich muss gehen... muss ihn alleine lassen...“ Langsam hob er die vom Weinen roten Augen und sah sie direkt an. Der Blick eines Kindes.

„Ich wollte doch sein Freund sein.“
 

Okami wusste nicht mehr, was sie darauf noch antworten sollte. Und wieder einmal war es ihr, als ob sie ein Stückchen ihres Herzens an diesen gottverlassenen, herzlosen Krieg verlöre.
 

„Kenshin ist stark,“ murmelte sie schließlich und sah in die Ferne. „Er tut, was er tut nicht aus böser Absicht. Er tut es reinen Gewissens, weil er denkt, damit einer neuen Generation zu helfen.

Wenn er sein Herz jetzt verschließt... dann hilft es ihm vielleicht, zu überleben und es vor dem Zerbrechen zu bewahren.“
 

„Aber sein Herz wird vom vielen Töten kalt. So kalt...“ Yoshida befreite sich aus ihrer Umarmung, stand auf und strich sich die letzten Tränen aus den Augen. „Wenn ich gehe, wen hat er denn noch, der sich wirklich für ihn interessiert?“
 

„Er hat Katsura-san und mich,“ meinte Okami sanft. „Und vielleicht wird eines Tages jemand kommen, der besser wie wir wieder sein Herz zum Schlagen bringen kann.“

Yoshida sah die ältere Frau einen Moment lang an. Dann nickte er widerwillig, als ob er selbst nicht wirklich daran glauben konnte. Mit einem Dankeschön verbeugte er sich und ging. Okami sah ihm hinterher.
 

„Ich hoffe es jedenfalls,“ dachte sie und krallte die Hände in ihren Kimono. „Vielleicht kommt jemand, der es schafft, wieder Wärme in Himuras eisblaue Augen zu zaubern.“
 

Das Geschirrklappern aus der Küche holte sie wieder ein und sie hatte keine Zeit für weitere Gedanken. Doch auch als sie schon wieder inmitten von dampfenden Kochtöpfen und schnatternden Mädchen stand, begleitete sie ein Wunsch tief in ihrem Herzen: Dass dieser Jemand schnell kommen sollte, bevor es zu spät war.
 

--
 

Yoshida betrat sein und Kenshins Zimmer, doch es war, wie zu erwarten, leer. Kenshin war noch immer im Badehaus. Schnell zog sich auch Yoshida um und wusch sich so gut es ging mit einer Schüssel Wasser und einem Lappen. Dann, er fühlte sich immer noch eklig und stinkend, ging er zum Frühstück.
 

Mit weichen Knien schob er die Schiebetür auf und erwartete, dass ihn alle Männer, die schon da waren mit verachtungsvollem Blick anstarren würden. Doch alle waren in aufgeregte Unterhaltungen vertieft und schienen keinerlei Notiz von ihm zu nehmen.

Mit gesenktem Blick setzte sich Yoshida alleine an einen Tisch. Anscheinend wusste keiner, dass auch er in die Verräter-Geschichte mit verwickelt gewesen war.
 

Kenshin erschien nicht zum Frühstück und auch später, als Yoshida wieder in seinem Zimmer saß und nichts anderes tun konnte, als auf den Fußboden zu starren, tauchte der rothaarige Junge nicht auf.

Seufzend nahm Yoshida schließlich wieder die Papiere zur Hand, die Izuka ihm ausgehändigt hatte. Er las alles noch einmal durch und verstand erst jetzt, dass sein Aufbruch in die Provinz Choshuu schon heute Nachmittag zusammen mit einer Gruppe Berichterstatter stattfinden sollte. Es traf ihn wie ein Blitz, dass seine Zeit hier in Kyoto, im hohen Dienste Katsura Kogoros in ein paar Stunden vorbei sein würde. Es war nicht einmal genug Zeit, um sich von all den Leuten in der Stadt, die ihm etwas bedeuteten oder die er kannte, zu verabschieden.
 

Was würde jetzt mit ihm passieren?
 

Kyoto war ein heißes Pflaster, sicher. Tag und Nacht rollten Köpfte auf beiden Seiten, man lebte in ständiger Gefahr, entdeckt und ausgeliefert zu werden. Doch Kyoto war auch ein Ort voller Menschen aus ganz Japan, voller Lebensfreude, voller Macht.

In Choshuu war er im Zentrum der Revolution, im reichen Süden des Landes. Dort war die Gefahr, die vom Shogunat und von Edo ausging, weit weg. Choshuu war seine Heimat, die Provinz in der er aufgewachsen war. Doch dort hatte er keine Freunde, dort war er ein Ronin gewesen, dort hatte er nichts verändern können.

Und doch... wenn er jetzt ein Soldat der Kihei-Tai werden würde, dann könnte er vielleicht mehr verändern als in Kyoto. Als Samurai könnte er eine Einheit von Männern in den Krieg führen. Das Schlachtfeld war ihm früher oder später sicher.

Yoshida wusste nicht, wie er sich fühlen sollte.
 

Um sich abzulenken, packte er mechanisch all seinen wenigen Besitz zusammen, zog sich seine Reisekleidung an und schrieb Briefe an die Personen, die er jetzt nicht – und vielleicht auch nie wieder in der Zukunft – treffen konnte. Dann trat er mit seinem Bündel an Habseeligkeiten in die große Halle und beauftragte eines der Mädchen von Okami mit einem kleinen Trinkgeld dazu, seine Briefe zu überbringen – denn die Mädchen waren ihm eindeutig vertrauenserweckender wie einer von Izukas Männern.

Die Zeit verstrich schnell und ehe Yoshida sich von all seinen Mitkämpfern der Ishin Shishi mit irgendwelchen vorgetäuschten Gründen hatte verabschieden können, hörte er schon Izukas Stimme, die ihn zum Aufbrechen drängte.
 

Verzweifelt folgte Yoshida und ging zu den anderen Reisenden zum Hinterausgang des Kohagiya. Immer wieder sah er sich um und hoffe, wenigstens ein Zeichen von Kenshin zu entdecken. Doch sein ehemaliger Zimmergenosse war immer noch nicht in der Herberge erschienen, wo auch immer er inzwischen sein mochte.

Yoshida brach der Schweiß aus. So konnte er jetzt nicht gehen. Nicht nach einer Nacht wie dieser, nicht ohne... einen vernünftigen Abschied!
 

Instinktiv schlug er sich plötzlich mit einem lauten Stöhnen gegen die Stirn.

„Jetzt hab ich doch glatt meine Reisepapiere im Zimmer liegen gelassen!“ rief er aus. Die anderen Männer der Gruppe rollten die Augen, während Yoshida mit entschuldigenden Verbeugungen davoneilte.

„Wie hat er überhaupt jemals nach Kyoto kommen dürfen?“, fragte einer der Reisenden kopfschüttelnd. „Er ist doch noch viel zu jung für diese Stadt und viel zu schusselig.“

„Vielleicht ist es gut, dass er jetzt wieder zurück in seine Heimat nach Choshuu kommt,“ meinte ein Anderer.
 

Yoshida hastete atemlos zu seinem Zimmer. Mit zitternden Händen riss er die Tür auf – doch der Raum war leer wie zuvor. Kein Zeichen, dass Kenshin überhaupt heute schon einmal dort gewesen war. Yoshidas Hand rutschte vom Türgriff und er verlor seinen Mut. Mit hängendem Kopf ging er zurück zu den wartenden Männern und verließ ohne einen Blick zurück die Herberge Kohagiya.
 

Das war also sein Abschied. Resignation und Lüge – denn keiner der Männer wusste, warum er wirklich abreisen musste. Nur Kenshin, und der war nicht erschienen.
 

Bitter heftete Yoshida seine Augen auf den Straßenbelag. Er hatte nur eine so kurze Zeit mit Kenshin verbracht und noch kürzer war die Zeit, die sie gemeinsam unbeschwert hatten verbringen können.

Und doch hatte diese kurze Zeitspanne gereicht, um ihm zu zeigen, dass Kenshin ein ganz besonderer Mensch war. Jemand, dem er blind sein Leben anvertrauen würde. Jemand, dessen Herz rein und gut war.

Die Zeit, bevor Yoshida wusste, warum Kenshin nach Kyoto gekommen war und bevor Kenshin spürte, was diese Aufgabe wirklich von ihm fordern würde.
 

Die Zeit der Illusionen war nun endgültig vorbei.

Yoshida und Kenshin waren im wirklichen Leben angekommen. Und sie würden von nun an getrennte Wege gehen.
 

Yoshida nahm die Menschen um sich herum gar nicht war. Er drängelte sich einfach hinter seinen Mitreisenden durch das Gewusel, war taub für die Rufe der Marktfrauen oder die Schreie spielender Kinder, das Rattern von Wagenrädern und das Hämmern in Schreinereien. Er roch nicht den Essensduft, der aus zahlreichen Garküchen strömte und verspürte auch keinen Appetit. Er spürte überhaupt nichts mehr. Es war, als ob er einen Teil von sich in dem albtraumhaften Kellerraum zurückgelassen hatte – in dem Moment, in dem er mit eigenen Augen gesehen hatte, was der Krieg aus einem unschuldigen, idealistischen Jungen gemacht hatte.
 

Jemand drängelte sich an ihm vorbei und stieß ihm schmerzhaft mit dem Ellebogen gegen die Rippen. Yoshida sah nicht einmal auf. Wozu sich über ein Stechen in der Seite beschweren, wenn ihm ganz andere Sachen viel größeren Schmerz bereiteten?
 

Dann hörte er plötzlich eine leise, sanfte Stimme irgendwo neben sich.
 

„Ich werde unsere gemeinsame Zeit für immer in guter Erinnerung behalten.“
 

Erschrocken sah Yoshida zur Seite. Neben ihm lief Kenshin, den Hut tief ins Gesicht gezogen, sein rotes Haar verdeckt.
 

„Himura,“ flüsterte Yoshida aufgeregt. „Du bist gekommen...“
 

Kenshin hob den Blick und sah Yoshida tief in die braunen Augen.

„Ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast. Du hast mich akzeptiert, wie ich bin und was ich tue. Egal was ich gesagt habe, in meinem Herzen werde auch ich immer dein Freund sein. Auch wenn ich dich vielleicht heute Abend schon wieder vergessen muss, um hier in Kyoto zu überleben. Es tut mir leid.“
 

„Kenshin, ich-...“ begann Yoshida und wollte seinen Freund an der Schulter fassen. Doch seine Hand griff ins Leere. Der rothaarige Mann neben ihm war von einer auf die andere Sekunde verschwunden.
 

Yoshida blinzelte ungläubig und fragte sich, ob er nicht alles nur geträumt hatte.

Unfreundliche Schimpfworte von weiter vorne ließen ihn schließlich wieder weiterlaufen und seine Kameraden einholen.
 

„Ich wusste doch, dass ich mich in Himura nicht getäuscht hatte,“ überlegte er und neues Selbstbewusstsein kehrte zu ihm zurück. Kenshins Augen gerade eben waren klar und blau gewesen, so wie am Anfang ihrer Begegnung.

„Da ist ein Funke Menschlichkeit in Kenshin, der nicht so leicht erlöschen wird. Ich hoffe nur, dass irgendjemand nach mir kommt und ihn neu entfacht, bevor es zu spät ist.“
 

Yoshida hob seinen Kopf und blickte gen Süden, Richtung Choshuu. Irgendwie waren seine Schritte plötzlich ein bisschen leichter geworden.
 

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Tut mir Leid, dass es mit dem Kapitel so lange gedauert hat... ich werde mich um mehr Schnelligkeit bemühen, kann aber nichts versprechen ^^°
 

Diesmal keine Action, eher Gefühle! Und ein fast schon positives Ende, wer hätte das gedacht ^^'... Ihr kennt mich - im nächsten Kapitel werde ich jeden Optimismus wieder gnadenlos zerschlagen.

Und entschuldigt das Fachgesimpel über Führungsstrukturen der Patrioten am Anfang des Kapitels... ich hatte überlegt, es rauszunehmen, aber dann war's doch für spätere Kapitel wichtig.
 

Einige Anspielungen in diesem Kapitel... Izuka und eine unbekannte Person, die vielleicht Kenshins Herz auftauen kann, werden noch eine wichtige Rolle spielen (wer Kenshin gelesen bzw. den ersten OVA gesehen hat, weiß, worauf ich anspiele...)

Und alle Yoshida-Fans kann ich trösten, auch er wird noch einmal vor dem Ende der Geschichte vorkommen.
 

Geplant sind übrigens 20 Kapitel (mit Epilog), Also nähern wir uns dem Abschluss!!

^_^ Danke fürs Lesen und für Kommentare!!!
 

Worterklärungen:
 

Ishin Shishi – Patrioten, die gegen die Regierung Japans, das Shogunat, kämpften

Kohagiya – Herberge in Kyoto, gleichzeitig Geheimversteck der Spitze der Choshuu Ishin Shishi

Katsura Kogoro – Anführer der Choshuu Ishin Shishi

Bakufu – Militärregierung des Shogunats

Seppuku – ritueller Selbstmord

Kihei-Tai – Armee, die Choshuu unter der Führung von Takasugi Shinsaku zusammenstellte. Sie bestand vorwiegend aus Männern, die nicht der Samurai-Schicht entstammten.

Wakizashi und Katana – Kurz- und Langschwert eines Samurais (daisho)

Sumimasen – Verzeihung, Entschuldigung

Edo – ehemaliger Name von Tokyo während der Shogunats-Zeit.

Kapitel 18 - Am Rande des Abgrunds

Kein "wahrer" Freund ist mehr da, der das Eis, was sich um Kenshins Herz gebildet hat, so leicht brechen könnte. Kenshins Widerstände sind gebrochen - die Kälte des Hitokiris scheint zu triumphieren...
 

Divine Justice
 

Kapitel 18 - Am Rande des Abgrunds
 

Kenshin saß in seinem Zimmer und zog den Haori fröstelnd enger um sich. Er war allein, wie jeden Tag, seit Yoshida ihn verlassen hatte. Der Wind rüttelte heftig an den geschlossenen Fensterläden, denn draußen tobte immer noch der Schneesturm, der Kyoto bereits seit drei Tagen heimsuchte. Normalerweise waren in der geschützt liegenden Stadt solche Kälteeinbrüche selten. Niemand hatte um diese Zeit des Jahres mit so starken Schneefällen gerechnet. Doch seit drei Tagen lagen nun buchstäblich alle Pläne auf Eis. Die Strassen waren kaum passierbar und zwischen Patrioten und Shogun-Anhängern war ein unausgesprochener Waffenstillstand eingetreten. Beide Seiten warteten in der Wärme ihrer Paläste, Häuser und Verstecke auf das Schmelzen. Nur eine kurze Pause - dann würde der Bürgerkrieg weitergehen.
 

Selbst Hitokiri Battousai würde heute Nacht schlafen. Natürlich nicht im herkömmlichen Wort-Sinn. Kenshin starrte mit trüben Augen in das schwache Licht der Lampe, um deren Flammen zwei Motten kreisten.
 

Schlaf war schon seit seiner Ankunft in Kyoto zunehmend ein Fremdwort für ihn geworden. Zwei Wochen waren es erst her, das Yoshida nach Choshuu aufgebrochen war, und doch kamen ihm diese zwei Wochen endlos lange vor. Er hatte seit dem keine Nacht geschlafen, jede Nacht mindestens einen, wenn nicht noch mehr Aufträge ausgeführt – und selbst am Tag, als er sich, ohne von irgend jemandem der Männer Notiz zu nehmen, völlig erschöpft in sein Zimmer geschleift hatte, wollte ein erholsamer Schlaf nicht kommen. Das mindeste, worauf er hoffen konnte, war ein leichter Schlummer. Ein leichtes Gefühl der Entspannung, wenn der harte Griff des Hitokiri ihn wieder loslies. Und mehr wollte sich Kenshin auch nicht erlauben.
 

Niemandem war zu trauen, das wusste er jetzt. Daisuke, Buntaro und Yoshida hatten es ihm beigebracht. Es gab keine „Guten“ und „Bösen“ in diesem Krieg. Es gab ehrbare Männer wie Katsura-san, mit ehrbaren Zielen. Aber genauso gab es Männer, die nur scheinbar für diese Ziele kämpften und in Wahrheit ganz andere Interessen verfolgten. Männer, die keine Ehre besaßen – wie Daisuke. Und Männer, die nicht weit genug gehen konnten, um ihre ehrbaren Ziele zu erreichen – wie Yoshida.

Die Geschichte mit dem Verrat aus den innersten Reihen hatte nicht nur ihn misstrauisch gemacht. Auch die anderen Ishin Shishi waren nun voreinander auf der Hut. Jeder passte auf, mit wem er welches Wort wann und wo wechselte. Neuankömmlinge wurden doppelt und dreifach begutachtet, bevor ihnen der Zutritt in den inneren Zirkel gewährt wurde.
 

Kenshin stand frei vom Verdacht des Verrates. Die Männer waren alle der festen Überzeugung, er persönlich hätte die drei Verräter beseitigt – obwohl sie seine Freunde gewesen waren. Ein noch größeres Zeichen uneingeschränkter Loyalität hätte Kenshin nicht geben können. Das Yoshida gar nicht tot sondern nur nach Choshuu abgereist war, schien viele dabei nicht weiter zu interessieren.

Was die Männer seit dieser Sache jedoch nicht in Ruhe ließ, war die Bedingungslosigkeit und Kaltblütigkeit, die Kenshin dabei bewiesen hatte – dieser rothaarige Hitokiri schien keine menschlichen Gefühle zu haben.
 

„Shura,“ wisperten sie, wenn er mit starrem Blick an ihnen vorbei lief. „Ein Dämon der Rache.“
 

Kenshin hatte natürlich gespürt, wie die Männer um ihn herum zunehmend misstrauischer und ängstlicher auf ihn reagierten. Wie konnte man als Hitokiri mit solchen Menschen um sich herum also mehr als ein Auge zutun?!
 

Kenshin blies die Lampe aus und setzte sich mit dem Rücken gegen die Truhe, in der er seine wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Sonst war das Zimmer fast leer, Yoshidas Sachen waren verschwunden. Das Schwert lehnte er gegen seine Schulter. Links neben ihm lag griffbereit sein Wakizashi. Beide Waffen hatte er in den letzten drei arbeitsfreien Tagen bis zum Zustand kaum übertreffbarer Sauberkeit gereinigt, mangels einer anderen – gegenteiligeren – Beschäftigung. Und um sich abzulenken. Denn wenn er nichts tun konnte, außer da zu sitzen, war er fast noch angespannter, wie wenn er Nachts auf Dächern verharrte und wartete, die göttliche Gerechtigkeit zu überbringen.
 

Wenn er nicht tun konnte, wofür er alles geopfert hatte, dann würden wieder die Gedanken kommen. Zweifel. Einsamkeit. Die Gedanken daran, dass er jetzt ganz auf sich allein gestellt war. Niemanden mehr hatte außer zwei erwachsenen Männern – und alles, was die von ihm fordern würden, war der Einsatz seines Schwertes. Wenn auch Katsura sich Mühe gab, ab und zu wenigstens einige Höflichkeitsfloskeln mit ihm auszutauschen und ihm sogar persönlich wichtige Aufträge zu überreichen. Immerhin – es war nicht üblich für einen Anführer der Ishin Shishi, vertraute Worte mit einem Hitokiri zu wechseln.
 

Kenshin schloss die Augen. Es war nicht schlimm, alleine zu sein. So konnte er mit sich selbst im Reinen bleiben. Sich voll und ganz auf seine Aufgabe konzentrieren. Nichts würde ihn jetzt mehr ablenken. Nichts würde ihn trennen von der Ausführung des Tenchuu. Niemand würde ihn aufhalten, wenn er sich selbst den Grausamkeiten des Hitokiri hingab.
 

Die blutigen Bilder der letzten zwei Wochen strömten in sein Bewusstsein zurück, als er versuchte, sich zu entspannen. Immer wieder sah er all die Menschen, die er seit Yoshidas Abschied getötet hatte. Vor seinem inneren Auge verschmolzen sie mehr und mehr zu einer einzigen, undefinierbaren Masse des Grauens. Sein persönlicher Dämon, der ihn jede Nacht heimsuchte – besser gesagt, jeden Tag, denn das war der häufigste Zeitpunkt, an dem er für ein paar Stunden die Augen schließen konnte.
 

Zum Abendessen und manchmal auch mittags verließ Kenshin gewöhnlich das Refugium seines einsamen Zimmers. Sein Gesicht wurde zu Stein, sobald er den Essenssaal betreten hatte. Die Männer gaben sich Mühe, ihn wie vorher auch zu ignorieren, doch anstelle von Arroganz glich dieses Verhalten zunehmend einem krampfhafte Abstand-Halten. Kenshin spürte, ja hörte sogar oftmals die Männer hinter seinem Rücken tuscheln.
 

„Ja, jede Nacht ist er unterwegs und immer fließt Blut.“

„Als Katsura uns eingeweiht hat, hab ich noch gelacht. Aber jetzt? Ich glaube, wir hatten noch nie so einen erfolgreichen Hitokiri wie ihn.“
 

Wie immer schwang in den Reden über ihn Furcht und Faszination in gleichen Teilen mit. Doch Kenshin versuchte, einfach alles auszublenden. Er schaute niemanden direkt an, und wenn, dann so, dass ihn auch ja niemand ansprach. Er vermied Kontakt mit anderen Menschen, erduldete ihn nur während des Essens oder während Vollversammlungen, nie eine Sekunde länger als nötig. Während die anderen Samurai sich noch von ihren Sitzen aufrappelten, war er schon längst wieder in sein Zimmer verschwunden. Seit Yoshidas Abschied hatte er außer mit Izuka und Katsura noch mit keinem Menschen ein Wort gesprochen. Nicht einmal Okami hatte ihn zu Gesicht bekommen, weil er es nicht wollte. Den mitleidigen Blick ihrer Augen könnte er jetzt nicht ertragen.
 

Das hatte er inzwischen gelernt – Leuten aus dem Weg zu gehen.
 

An dem Morgen nach dem Schneesturm ging Kenshin ausnahmsweise zum Frühstück. Es taute bereits wieder.

„Was bedeutet,“ schlussfolgerte er kalt, „dass es bald neue Aufträge für mich gibt.“

Ob das nun ein Grund zum Freuen war, wusste er nicht. Etwas befremdlich registrierte er ein Kribbeln in seiner rechten Hand. War es Erregung? War es Abscheu? Was spielte das für eine Rolle? Immerhin würde er dann nicht so schnell noch einmal so eine Nacht voller hässlicher Gedanken durchleben müssen.
 

„Sake,“ erinnerte sich Kenshin, während er alleine an einem Tisch saß und abwesend etwas Essen in sich hineinschob. Das alkoholische Getränk hatte ihm geholfen, seinen Kopf von lästigen Gedanken zu befreien. Vielleicht sollte er öfters etwas trinken gehen, nach seinen Aufträgen... Doch Sake erinnerte ihn auch an Daisuke, Buntaro und Yoshida... und an seinen Shishou.
 

„Schon so früh auf?“ unterbrach eine fröhliche Stimme Kenshins Nachgrübeln. Der rothaarige Junge sah nicht auf. Wer sonst könnte ihn diesertage ansprechen, geschweige denn, sich zu ihm setzen.
 

„Was willst du, Izuka?“
 

Seine Stimme war leise, und trotzdem hörte sie jeder, denn alle Gespräche waren, sobald er zu sprechen begonnen hatte, verstummt.

„Naaa, nichts so freundlich,“ lachte Izuka und ließ sich neben Kenshin auf ein Kissen plumpsen. Die Gespräche um sie herum setzten langsam wieder ein.
 

„Ist schon erstaunlich...“ Iuzka musterte gelassen die anderen Samurai. „Du sprichst kaum ein Wort, und wenn, dann so leise, dass man es kaum versteht. Und trotzdem sind alle ruhig, wenn du das Reden anfängst. Sollte mir mal passieren, wenn ich Befehle zu verteilen habe. Ständig muss ich schreien und alles drei Mal erklären.“ Er blinzelte Kenshin amüsiert zu und nahm seine Essstäbchen zur Hand. Er erwartete nicht, irgend ein Zeichen von menschlicher Regung in Kenshins Gesicht vorzufinden und wurde so auch nicht enttäuscht.

„Immerhin,“ mampfte er zwischen zwei Bissen, „wenn du die Befehle verteilen würdest, wären bestimmt alle ruhig. Und du müsstest dich nicht ständig wiederholen – bei dir würden alle genau zuhören, aus Angst, sie müssten etwas nachfragen.“ Izuka lachte in sein Schälchen.

Kenshin stellte geräuschvoll das Seine aufs Tablett zurück und seine Augen verengten sich.
 

„Ist das alles, was du mir sagen wolltest?“ fragte er kalt und fixierte dabei Izuka. Dieser verschluckte sich prompt und hustete einige Male.

„Mann, Himura. Genau den Blick mein ich! Wenn ich so schauen könnte, dann hätt’ ich’s echt leichter.“
 

Mit einer flüssigen Bewegung stand Kenshin auf. Sofort verstummten abermals die Gespräche der anderen Männer.

„Schon fertig?“ Izuka sah ehrlich enttäuscht aus. „Schade, ich hätte gern noch ein bisschen mit dir geplaudert. Du bist ein guter Zuhörer, auch wenn du selbst nicht viel sagst. Naja, wir sehn uns ja bei der Besprechung vor dem Mittagessen.“

Der schnurrbärtige Mann wandte sich ganz gelassen wieder seinem Essschälchen zu.

„Hai,“ nuschelte Kenshin kaum hörbar und verließ ohne einen weiteren Blick auf Izuka das Zimmer.
 

Als er verschwunden war, trat einer der Ishin Shishi, Uchida, zu Izuka an den Tisch. Er hatte begonnen, den Jungen seit der Geschichte mit Yoshida und den Verrätern genauer zu beobachten.
 

„Ist er immer so unterkühlt?“ fragte er mit Blick auf die Tür.

„Mh,“ antwortete Izuka mit vollem Mund. „Meischtensch.“

„Ich weiß nicht...“ Uchida legte die Stirn in Falten. „Die anderen meinen, Himura ist seltsam, richtig unheimlich. Sie meinen, er ist deshalb so abweisend, weil ihn nichts anderes beschäftigt als seine Aufgabe als Hitokiri. Das ihm das Töten sogar Spaß macht, weil er sich für nichts anderes zu interessieren scheint.“
 

Izuka sah zu dem braunhaarigen Mann nach oben. „Du denkst anders?“
 

Uchida nickte. „Ich glaube nicht, dass er so kaltblütig ist, wie alle behaupten. Ich habe andere Hitokiri vor ihm gesehen. Entweder die haben sich mit ihren Taten gebrüstet, waren echte Killer mit Spaß an der Sache, oder sie haben sich verkrochen und sind irgendwann durchgedreht.“

Izuka kicherte. „Ja, das ist vielen passiert. Das war immer eine Sauerei...“
 

Angewidert blickte Uchida nach unten. „Ich finde es bedenklich, wenn jemand mit Himuras Können diesen zweiten Weg einschlägt. Immerhin hat er sich doch mit diesem Yoshida ganz gut verstanden. Sie waren auch im gleichen Alter. Jetzt ist er der Jüngste. Er hat niemanden als Ansprechpartner, der in seinem Alter wäre.“

„Er hat mich,“ stellte Izuka gelassen fest. „Und Katsura. Wir beobachten ihn schon.“

Uchida sah auf den schnurrbärtigen Mann hinab. „Stimmt. Immerhin ist er Katsura-sans persönlicher Hitokiri. Er scheint großes Vertrauen in ihn zu haben.“

„Das haben wir alle. Er ist schließlich bedingungslos auf unserer Seite.“
 

„So?“ Uchida zog eine Augenbraue nach oben. „Ich finde nicht, dass ihr ihn wirklich unter Kontrolle habt. Ihr wisst nicht, was in ihm vorgeht. Ich wette, hinter seinem ausdruckslosen Gesicht brodelt es. Für mich wirkt der Junge so, als ob er nicht wirklich mit dem, was er tut, klar kommt. Und sich deswegen so von allen anderen Menschen distanziert. Wahrscheinlich auch von sich selbst.“
 

Etwas Kaltes kroch in Izukas dunkelbraune Augen. „Wenn du Menschen bei einem deiner Aufträge töten musst, distanzierst du dich dann nicht auch?“
 

Von der Frage überrascht getroffen, zuckte Uchida zurück. „Ich...nicht...“ stammelte er, bevor er sich wieder fing.

„Wenn wir schon ehrlich miteinander reden, Izuka-san,“ sagte er, seine Stimme nun ebenfalls frostig, „dann lass mich dir einen Rat geben: Je schärfer eine Waffe ist, desto besser muss man sie pflegen. Sonst wird man sich irgendwann selbst daran verletzen.“
 

Izuka erhob sich und war nun auf Augenhöhe mit Uchida.

„Uchida-san, ich schlage vor, ihr beschäftigt euch nicht mit Angelegenheiten, von denen ihr keine Ahnung habt.“

Beide Männer fixierten sich. Der Rest des Raumes sah schweigend zu und tat nicht einmal mehr so, als würde er mit etwas Anderem beschäftigt sein.
 

„Wenn ihr den Jungen noch mehr abkapselt, dann ist er nicht nur eine Gefahr für unsere Feinde, sondern irgendwann auch für uns selbst, Izuka-SAN!“

Die Spannung im Raum war fast fühlbar. Die Männer waren sich sicher, dass in den nächsten Sekunden die Schwerter gezogen werden würden. Dann jedoch drehte sich Izuka wider aller Erwarten plötzlich weg und zuckte mit den Schultern.
 

„Pfff, was regt ihr euch so auf?“ grinste er schief. „Er ist doch nur ein Hitokiri. Ein paar Monate vielleicht noch, früher oder später erwischt es sie doch alle!“ Dann verließ er den Frühstücksraum. Uchida sah ihm bebend hinterher. Seine zu Fäusten geballten Hände zitterten.
 

Einer seiner Freunde trat schließlich von hinten an ihn heran.

„Lass dich doch von dem nicht provozieren,“ murmelte er beschwichtigend.

„Baka,“ zischte Uchida. „Glaub mir, je mehr wir den Jungen ausgrenzen, desto mehr machen wir ihn uns selber zur Gefahr. Er misstraut uns doch schon jetzt.“

„Kein Wunder, alle reden über ihn. Ich meine, was er auf den Strassen...“

„Misstrauen ist doch keine Basis für ein Zusammenarbeiten, Muhura!“ unterbrach ihn Uchida.

Muhura lachte. „Wer will denn auch mit Hitokiri Battousai zusammenarbeiten?! Spinnst du langsam? Wach auf: Er ist ein Mörder. Ein Killer. Izuka hatte schon recht – misch dich in solche Sachen lieber nicht ein. Dafür bist du nicht abgebrüht genug.“
 

Wütend stieß Uchida Muhura zur Seite und verließ den Frühstücksraum.

„Macht euch nur über mich lustig,“ murmelte er in sich hinein, während er durch den Flur stapfte, „aber ich sage euch: Ein Schwert ohne Scheide ist auch für seinen Träger gefährlich. Ich jedenfalls werde den Jungen im Auge behalten...“
 

--
 

Als der Schnee geschmolzen war, hatte Kenshin sofort neue Aufträge bekommen. Die grausige Routine war nach nur drei Tagen Unterbrechung schwungvoller den je wieder angelaufen.
 

Tage und Wochen vergingen, in denen Kenshin kaum einen zusammenhängenden Satz mit jemandem sprach - außer seinen Opfern. Er war blass und seine Augen dunkel und schwer und doch waren sie, wenn ihn jemand direkt ansah, plötzlich voll von gefährlicher Intensität, so dass derjenige sofort zurückzuckte. Kenshin war sich dessen nicht einmal mehr bewusst.
 

Er hatte nur festgestellt, dass es sich so für ihn einfacher Leben ließ. Er konnte seine Aufträge konzentrierter ausführen. Am Tag konnte er seine Kräfte sammeln. Er konnte vorausplanen, war nicht länger auf halsbrecherische Manöver angewiesen. Er ging jetzt taktischer vor, teilte sich seine Zeit ein, tötete schneller, akkurater, mechanischer.
 

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„Himura-san?“
 

Überrascht sah Kenshin nach oben. Neben ihm stand ein braunhaariger Mann, den er vom Sehen kannte. „Uchida-san,“ erinnerte er sich. Seine Stimme hörte sich rau an. Er hatte seit zwei Tagen mit niemandem ein Wort gesprochen.
 

Uchida scharrte nervös mit den Füßen. „Darf ich mich setzten?“ fragte er schließlich.
 

Zu verblüfft, um abweisend zu sein, nickte Kenshin wie von selbst. Was wollte der Mann von ihm? Nur mit ihm Mittagessen? Das konnte nicht sein.

Sofort nahmen seine Augen ein gefährlich bernsteinfarbenes Glitzern an, das Uchida jedoch zum Glück nicht bemerkte.
 

Schweigen aßen die Beiden einige Minuten zusammen. Kenshin spürte, wie die anderen Männer sie neugierig beobachteten. Es war ja auch ungewöhnlich: niemand außer Izuka kam auf die Idee, mit Hitokiri Battousai Mittag zu essen. Was in aller Welt konnte Uchida vorhaben? Wollte er Selbstmord begehen? Oder fröhlich mit einem kaltblütigen Mörder plaudern?
 

Uchida wartete, bis er spürte, dass das Interesse der anderen Männer an ihnen etwas nachgelassen hatte. Dann versuchte er irgendwie ein Gespräch mit dem seltsamen, rothaarigen Jungen anzufangen, der ihm die letzten Wochen nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Jetzt endlich wollte er sich sein eigenes Urteil bilden um seine Vermutungen zu bestätigen.
 

„Es wird schon Frühling,“ begann Uchida lahm. Ihm war nichts besseres eingefallen, als das Gespräch mit dem neutralen Thema Wetter beginnen zu lassen.
 

Neben ihm aß Kenshin schweigend weiter, als ob er nichts gehört hätte.
 

Uchida schluckte.

„Ein harter Brocken,“ überlegte er. „Aber was anderes hab ich auch nicht erwartet.“

Er nahm einen Bissen Reis.

„Schön, wenn es bald wieder wärmer wird,“ sagte er, nachdem er ihn hinuntergeschluckt hatte. „Findest du nicht auch, Himura-san?“
 

Langsam sah ihn Himura mit seinen eisblauen Augen an. Der Blick war abweisend, aber nicht, und das überraschte ihn, kalt. Eher abweisend im Sinne von vorsichtig. Abwartend.

„Der Junge ist nicht blöd. Sicherlich findet er es mehr als seltsam, dass ich plötzlich mit ihm Rede, obwohl ich ihn kaum kenne,“ schlussfolgerte Uchida.
 

„Bald werden die ersten Bäume blühen,“ plapperte er unbeholfen weiter. Schlimmer konnte es ja nicht mehr werden. Bestimmt hielt ihn Himura jetzt für einen Trottel. Erst das Wetter und jetzt auch noch Blumen. Einfach weiterreden.

„Ich komme von einem Landgut in der Nähe von Hagi. Es wäre schön, im Frühling dort zu sein. Einfach Kyoto zu verlassen und mir dort die Kirschblüte anzuschauen. Ich sitze gern unter Bäumen und schaue in die Natur. Dort kann ich am besten Nachdenken.“
 

Uchida bemerkte, wie Himura wieder den Kopf wegdrehte und sein Gesicht hinter seinem roten Haarvorhang verbarg.

„Das war’s dann,“ dachte Uchida und legte die Stäbchen zurück aufs Tablett. „Immerhin ein Versuch...“

Eine sanfte Stimme neben ihm sprach plötzlich. „Es muss sehr schön sein, dort, wo ihr herkommt, Uchida-san.“
 

Überrascht sah Uchida zu Himura herüber. „Oh ja,“ freute er sich. Hatte er die harte Schale gebrochen? Oder zumindest angeknackt? „Auch wenn es dort nicht viel gibt, außer ein paar Dörfern und Reisfeldern. Es ist sehr ruhig.“

Kenshin sah schweigend in sein Schälchen. Uchida beobachtete ihn von der Seite und gab ihm Zeit. Es war mehr als offensichtlich, dass der Junge es nicht gewohnt war, längere Gespräche zu führen.
 

„Dort, wo ich herkomme“ sprach Himura nach einer Weile langsam, „war es auch sehr ruhig. Es gab auch nur Felder.“ Seine Stimme verlor sich. Uchida wartete gebannt, dass er weiterredete. Er hatte ihn noch nie so viele Wörter auf einmal sagen hören.
 

Auf einmal sah der Rotschopf ihn an, und doch schien er irgendwie durch ihn hindurch zu sehen.

„Ich weiß nicht mehr, wie dort die Kirschblüte ausgesehen hat. Ich kann mich nur noch an ihren Duft erinnern...“ Plötzlich wurden Kenshins Augen wieder klar, und er schien zu bemerken, dass tatsächlich jemand gegenüber saß und ihm zugehört hatte.
 

Uchida meinte, so etwas wie einen rötlichen Schimmer in seinem Gesicht zu bemerken. Schämte der Junge sich etwa?

„Ich weiß was du meinst,“ beeilte sich der ältere Samurai zu sagen. „Auch ich kann nicht den Geruch vergessen, der von den blühenden Feldern ausgeströmt war. Manchmal finde ich den Geruch in Kyoto fast unerträglich. Es stinkt nach Krieg und Blutvergießen-“
 

Kenshin zuckte kaum merklich zusammen.
 

Uchida biss sich auf die Zunge und verfluchte sich selbst. Wie hatte ihm nur dieses Wort über die Lippen rutschen können?

Neben sich spürte er Kenshin, der gerade eben etwas aufgetaut zu sein schien, wieder gefrieren. Der junge Mann stand steif auf, steckte seine beiden Schwerter in den Obi und wandte sich zum Gehen.
 

„Dieses Mal war’s das dann wohl wirklich.“ Uchida hatte nicht erwartet, dass Himura noch etwas sagen würde.
 

„Danke für das Gespräch.“
 

Die sanfte Stimme hallte noch in seinen Ohren nach, als Himura den Raum schon längst verlassen hatte. Im Augenwinkel sah er Muhura, der zu ihm herüber sah und sich an die Stirn tippte. Uchida rollte nur mit den Augen. Dann sah er wieder in sein leeres Reisschälchen, die Stirn tief in Falten.
 

Das Gespräch gerade eben hatte ihn nicht wirklich schlauer gemacht, was diesen Jungen betraf. Aber es hatte ihn schlauer gemacht, was sich selbst betraf.

Uchida wusste jetzt, dass er keine Angst vor Hitokiri Battousai haben musste – solange dieser sich noch an den Duft von blühenden Kirchbäumen erinnern konnte.
 

Doch wie lange mochte das noch so bleiben?

Der Duft von Blut war stärker als der von Blüten.
 

--
 

Ein Auftrag an einem Schrein außerhalb der Stadt. Nachmittags. Fünf Männer.

Ein langer Weg. Aufbruch im Morgengrauen. Gedanken, die störten.

Doch dann spürte er ihre Anwesenheit. Er trat aus dem Schatten der noch kahlen Bäume. Bernsteinfarbene Augen glitzerten in der Nachmittagssonne.
 

„Tsubasa Miyoma, heute bekommt ihr die Gerechtigkeit, die ihr verdient habt.“
 

Noch während sich die Männer erschrocken nach der weichen und doch so kalten Stimme hinter sich umdrehten, spritze Blut in den Nachmittagshimmel.
 

Kenshin verließ zügig den Schrein, als er seine Arbeit erledigt hatte. Niemand hatte ihn gesehen. Der Einzige, der ihm hinterher starrte, war Tsubasa, mit seinem eigenen Wakizashi an einen Baum gespießt, mit leeren, toten Augen.
 

--
 

Ein Auftrag bei Jemandem daheim. Eine Villa. Wachen. Mindestens zehn Männer.

Alte Erinnerungen erwachten. Gefühle... Bernsteinfarbenen Augen verdrängten sie alle.

Ein offener Kampf. Viel Blut.
 

„Jetzt geht es wieder los“, flüsterte ihm die innere Stimme und er spürte die inzwischen schon vertraute Kälte in sich hochsteigen, denn er wusste, dass gleich der Wahnsinn aufs neue beginnen würde – widerstandslos ließ er sich in diesen Zustand eiskalter Ruhe fallen. Alles war schnell vorbei.
 

Die Leere einer unendlich langen Zeit kam immer dann, wenn er sich wusch. Viel Blut. Während das rötliche Wasser vor ihm über die Steine floss, sah er noch die Wachen, wie sie im Morgengrauen tot im Fischteich schwammen.
 

--
 

Ein Auftrag. Eine Brücke. Drei Männer. Herausforderung und Antwort. Drei Körper plumpsten dumpf in die Fluten.
 

Verfolger stellten sich ihm von hinten in den Weg. Eine Falle? Wie lächerlich.

Er zog sein Wakizashi, schlug sich durch die Menge. Die Schreie halten in seinen Ohren aber er fühlte nichts. Das Blut lief warm sein Gesicht und seinen Oberkörper hinab, aber er fühlte nichts. Die Blicke der Sterbenden trafen ihn wie vergiftete Pfeile aber er fühlte nichts.
 

Kenshin wusste, dass er zunehmend empfindungsloser wurde und ließ es geschehen. Er wurde langsam taub für alles. Nur die Finger um den Griff seines Schwertes spürte er, den harten Griff. Und den Druck von Stahl gegen Fleisch.
 

„Battousai“ flüsterte man jetzt seinen Namen überall und meinte damit einen gesichtslosen Schatten, der den sicheren Tod brachte. Selbst seine Mitstreiter nannten ihn jetzt schon öffentlich so, doch Kenshin protestierte nicht. Er wusste, dass er dank diesem Namen weitermachen konnte. Er konnte sich hinter diesem Namen verstecken und weiterhin der Überbringer der göttlichen Gerechtigkeit sein. Niemand gab sich wirklich Mühe, hinter diesen Namen zu schauen. Und das war auch gut so. Er wusste ja selber nicht mehr, was er hinter der Maske noch an Resten von sich selber finden würde. Wenn überhaupt noch etwas.
 

Während er sich selbst in die Luft empor katapultierte und die Brücke unter ihm zusammenstürzte, während er am sicheren Ufer landete und sah, wie das Wasser seine Opfer zusammen mit den Holzbalken hinwegspülte, fühlte er deutlich, wie sehr auch etwas in ihm schon vom vielen Blut weggespült worden war. Er wusste, dass es seine Menschlichkeit war, die mit jedem Leben, das er vernichtete, mitvernichtet wurde. Doch es war ihm gleich - was war schon der Preis seiner Menschlichkeit, seines Lebens, wenn er dadurch vielen anderen Menschen helfen konnte?!
 

Plötzlich bekam er Angst. Was, wenn auch das ihm irgendwann egal sein würde?
 

--
 

Ein Auftrag auf offener Strasse. Nichts ungewöhnliches. Wie ein Schatten würde Hitokiri Battousai auch dieses Mal wieder zuschlagen.
 

Er wartete im Verborgenen. Hörte, wie die Gruppe von drei Männern an ihm vorbeilief. Sie waren in ein Gespräch vertieft und bemerkten ihn nicht.
 


 

„Kiyosato, wie man hört, heiratest du nächsten Monat?“
 

„Ja Shigekura-san, es ist eine Freundin aus Kindertagen. Wir sind schon lange verlobt. Ich freue mich schon auf meine Rückkehr nach Edo.“
 


 

Kenshin schloss die Augen. Er wollte nichts mehr von dem Gespräch hören. Je mehr er hörte, desto weniger konnte er sich konzentrieren und dann war seine Arbeit schlampig.
 

„Bald kannst du nach Hause,“ sprach Shigekura jetzt, „diese lächerliche Revolution wird bald vorbei sein. Aber die Strassen sind noch zu unsicher. Trotz der Shinsengumi gibt es viele Attentäter.“
 

„Wie der sogenannte Hitokiri Battousai?“ fragte der andere Leibwächter mit tiefer Stimme. „Es heißt, dass sogar die Shinsengumi schon auf der Jagd nach ihm sind.“
 

Im Schatten spitzte Kenshin die Ohren. Diese Informationen waren nicht störend sondern nützlich für ihn.
 

„Ich habe gehört, Battousai hätte fast eine ganze Einheit der Mimiwarigumi getötet. Der Kommandant soll daraufhin Rache geschworen haben und nun mit den Shinsengumi zusammenarbeiten.“
 

„Gerüchte. Niemand weiß, ob dieser Battousai wirklich existiert,“ redete wieder Shigekura. „Vermutlich eine Lüge der Patrioten, um uns zu verunsichern. Ein Dämon, der heraufbeschworen wird, um uns Angst zu machen.“
 

Bernsteinfarbenen Augen sprangen in der Dunkelheit auf. Zeit, diese Reden zu beenden. Kalter und vertrauter Instinkt wusch all Gefühle und Gedanken hinweg. Es gab jetzt kein Zurückhalten mehr, keine zweite Überlegung. Zeit, an der Klinge eines Schwertes gemessen, ließ wenig Möglichkeit offen für den Luxus langen Nachdenkens.
 

„Jubei Shigekura von den Kyoto Shoshidai,“ verkündete Hitokiri Battousai mehr als dass er fragte, während er aus seinem Versteck auf die Strasse trat.

Erschrocken wandten sich alle drei um. Der größere Leibwächter sprang geistesgegenwärtig sofort vor und packte seinen Schwertgriff.
 

„Wer bist du?“ rief er mit tiefer Stimme.

„Irgendein Junge mit einem Groll gegen die Regierung vermutlich,“ stellte der alte Mann hinter ihm, Jubei Shigekura, müde fest. Er schien solche Angriffe gewohnt zu sein, nicht umsonst war er immer mit zwei Bodyguards unterwegs.

„Junge,“ polterte der große Leibwächter wütend und trat einen Schritt vor, „wer bist du?!“
 

Kenshin rührte sich nicht von der Stelle.

„Choshuu Ishin Shishi,“ flüsterte er kaum hörbar.

Sofort zogen beide Leibwächter und auch Jubei ihre Schwerter.
 

„Hitokiri Battousai also,“ spuckte der große Leibwächter aus. „Glaubst du, du kannst das Land mit deinem Schwert allein verändern?!“ Mit einem Schrei stürzte auf ihn zu, entschlossen, ihn zu töten.

Kenshin sah, wie hinter ihm der alte Mann den jungen Leibwächter – Kyosato war sein Name, warum nur erinnerte er sich jetzt daran? – zur Seite schob. Anscheinend wollte er lieber selber kämpfen, als sich beschützen zu lassen. Das sprach natürlich Bände über das Können dieses jungen Leibwächters.
 

Ohne ein Wimpernzucken hob Kenshin schwungvoll sein eingestecktes Schwert und blockierte mit dem Stichblatt den sehr kräftigen Abwärtsschlag des Bodyguards. Er blickte kurz mit kalten Augen durch das vor Anstrengung verzerrte Gesicht des Mannes, bevor er zur Seite auswich und das stumpfe Ende seines geschützten Schwertes dem Mann ins Auge rammte. Der Leibwächter taumelte vor Schmerz ein paar Schritte zurück, genug Raum für Kenshin, um sein Schwert zu ziehen und, mit etwas Nachdruck von der linken Hand, durch den Körper des Mannes zu schneiden. Blut spritze an die Wand, gegen die der Halbierte fiel, doch Kenshin sah nicht hin. Innerhalb von Sekunden, während noch Jubei Shigekura seinen zweiten Leibwächter zur Seite gestoßen hatte, war Kenshin schon vorgestürmt und hatte sich in die Luft erhoben. Verblüfft hieb der grauhaarige Mann mit seinem Schwert ins Leere. Mit einem Angriff von oben aus der Luft rechnete er nicht. Rechnete niemand.
 

„Ryu Tsui Sen!“ rief Kenshin und sein Schwert durchteilte den Kopf Shigekuras. Der Bodyguard neben ihm schrie voller Entsetzen. Zeit, dem ein Ende zu machen.

Kenshin riss das Schwert aus Shigekuras Gesicht und hieb mit einem kräftigen Streich auf den jungen Mann ein, doch irgendwie schaffte dieser es, seinen tödlichen Schlag zu blockieren und unter ihm hinwegzutauchen. Kenshin hörte ihn in seinem Rücken keuchen und zittern. Langsam drehte er sich um und hielt die blanke Klinge vor sein Gesicht. Warmes Blut rann über den kalt im Mondlicht glänzenden Stahl.
 

„Gib auf,“ sagte er kalt. Je länger sich dieser dumme Leibwächter gegen sein Schicksal wehren würde, desto schmerzhafter würde es für ihn werden. Er hatte nicht den Hauch einer Chance. Konnte er das nicht einsehen? Er brachte das Tenchuu, die göttliche Gerechtigkeit. Ihm konnte keiner entrinnen. Konnte das dieser Mann nicht akzeptieren und sich in sein Schicksal fügen?
 

„Niemals!“ rief sein Gegenüber als Antwort und machte sich zum Angriff bereit. Kenshin wehrte mühelos ab. Eine offene Stelle in der Abwehr. Sein Schwert schnellte nach vorne und verletze den Bauch des Mannes. Kiyosato taumelte zurück, griff erneut an, empfing eine weitere tiefe Wunde am Rücken.
 

„Ich will nicht sterben,“ hörte Kenshin ihn murmeln. „Ich will nicht. Ich kann nicht...“

Kiyosato rappelte sich zu einem letzten Angriff auf. Er stieß sein Schwert senkrecht nach vorne. Kenshin holte in weitem Bogen aus. Sein Auftrag war erledigt.
 

Beide Männer glitten aneinander vorbei. Blut spritze. Hinter sich hörte Kenshin das vertraute und erwartete Geräusch eines zu Boden fallenden Körpers. Doch etwas passte nicht. Was war das? Ein Gefühl. Er spürte etwas. Ein Brennen! Ein schmerzhaftes Brennen.
 

Langsam befühlte er mit der Hand seine linke Wange. Blut an seinen Fingern. Das Schwert dieses Leibwächters hatte ihn erreicht? Noch dazu im Gesicht?!

Geschockt starrte er einen Moment lang auf seine blutigen Finger.
 

Dann hörte er das Wimmern hinter sich. Der Mann war noch am Leben. Immer noch nicht tot. Was für ein Lebenswille.
 

Langsam trat Kenshin auf ihn zu, Schwert erhoben. Kiyosato streckte gerade seine zitternde Hand aus, griff nach etwas Unsichtbarem, was nur er sehen konnte. Murmelte etwas, was Kenshin nicht verstand. Etwas wie ein Name.
 

Er erlöste den Mann mit einem Stich ins Genick. Sofort war er tot. Nun war es eigenartig still. Langsam zog Kenshin sein Schwert aus dem Körper und wischte es an der Kleidung des Toten sauber, gerade, als Izuka mit seinen Handlangern Umino und Hatomo um die Ecke bog.
 

„Himura,“ rief Izuka aufgebracht, „bist du verletzt?“

Neugierig blickten ihn jetzt auch die anderen zwei Männer ein.
 

„Nur ein Kratzer,“ sagte Kenshin mit tonloser Stimme. In seinen Gedanken war er immer noch bei dem Toten.

Izuka schüttelte ungläubig den Kopf. „Der Mann hat dich im Gesicht getroffen! Er muss gut gewesen sein!“

„Nein,“ meinte Kenshin ruhig und stand auf. Langsam ließ er sein Schwert zurück in die Scheide gleiten. „Er hatte nur einen unglaublichen Lebenswillen.“ Dann drehte er sich um und kehrte den Männern den Rücken zu.
 

Er ging einen Schritt nach vorne, blieb dann jedoch kurz stehen.
 

„Hoffentlich findest du dein Glück im nächsten Leben,“ flüsterte er in Richtung des toten, jungen Mannes.
 

„Hast du was gesagt?“ fragte Izuka, der schon damit beschäftigt war, die Zettel mit dem Zeichen des Tenchuu auf den Leichen zu drappieren.
 

„Nein.“ Ohne einen Blick zurück ging Kenshin davon. „Nichts.“
 

Hatomo und Umino stießen zu Izuka und alle drei sahen ihm hinterher.

„Lebenswille, huh?“ fragte Hatomo. „Ein erstklassiger Schwertkämpfer ist wohl imstande, so was nach einem Kampf zu beurteilen.“

Umino schüttelte den Kopf. „Wie sehr er sich verändert hat in den paar Monaten, seit er in Kyoto ist. Am Anfang konnte er den Blick kaum von seinen Opfern lösen. Und jetzt?“

„Jetzt,“ ergänzte Izuka, „tötet er sie alle ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.“
 

„Er istwirklich ein Hitokiri.“
 

--
 

Zwei Eimer eiskalten Wasser durchnässten seine ohnehin schon blutgetränkte Kleidung. Seit Wochen hatte er es schon geschafft, sich beim Töten nicht mehr schmutzig zu machen. Doch heute Nacht...
 

„Warum konnte dieser Mann nicht einfach sterben?“, überlegte er bitter, während er zusah, wie ihm das Wasser von den Haarspitzen tropfte.

Es war nicht wirklich eine Frage, denn er kannte die Antwort bereits.
 

Dieser Mann... er hatte einen Namen gehabt. Kiyosato. Er hatte ein Leben gehabt. Er hatte nächsten Monat heiraten wollen. Er hatte nicht sterben wollen. Er hatte Leben wollen, vielleicht sogar eine Familie...
 

Plötzlich traf es Kenshin wie einen Schlag und er erwachte aus der Taub- und Gefühllosigkeit, die ihn die letzten Wochen in einen immer dichteren, roten Nebel gehüllt hatten.
 

Er hatte gerade eben mit seinem Schwert einen unschuldigen Mann getötet. Er hatte einer Frau ihren Bräutigam genommen. Einer Familie ihren Sohn.

Was er hier in Kyoto machte – mit Hilfe des Hiten-Mitsurugi für eine bessere Welt kämpfen – war eine Lüge. Er hatte das erste Prinzip seines Schwertstils schon längst verraten.
 

„„Erstes Prinzip des Hiten Mitsurugi Ryu,“ flüsterte er in die Nachtluft, die Hand auf seiner blutenden Wange; „Das Schwert soll für die Menschen dieser Welt geschwungen werden. Für den Schutz der Schwachen.“
 

Wie hohl diese Worte inzwischen in seinen Ohren klangen.
 

Die Schuld brannte wie tausend Feuer in dem Schnitt auf seiner linken Wange. Er würde die Wunde nicht nähen lassen. Er wollte nicht, dass sie heilte. Er wollte sich für immer an den Schmerz erinnern.

Ein Schmerz, der ihm zeigte, dass auch er sterblich und verletzbar war. Das auch er nur ein Mensch war und kein Dämon.
 

Der Schmerz, der ihm zustand, weil er seine Ideale verraten hatte.
 

Auf einmal hörte er ganz deutlich seine eigene Stimme, mit die letzten Worte, die er damals mit seinem Meister gewechselt hatte, bevor er gegangen war.
 

„Ich will mit meinen eigenen Händen die Menschen beschützen. Viele Menschen, zahllose Leben will ich verteidigen. Ich will ihr Beschützer, ihr Retter sein!“
 

Seine eigenen Stimme klang fremd in seinen Ohren, wie die von jemand anderem.
 

Menschen retten...

Wenn er gekonnt hätte, dann hätte Kenshin laut und höhnisch gelacht. Oder geschrieen. Oder geweint. Doch er konnte nichts. Nur stumm dastehen und sich fragen, was eigentlich Menschen retten bedeutet.
 

Doch während sein eigenes Blut warm seinen Hals hinablief und er den metallischen Geruch einatmete, wollte einfach keine Antwort kommen.
 

Einer Hälfte von ihm, dass wusste er, war es bereits egal. Bevor ihn die Verzweiflung packen konnte, übergab er willig dieser Hälfte wieder die Kontrolle.
 

Er wusch sich, trocknete sich ab, zog frische Sachen an, ging auf sein Zimmer, setzte sich, packte sein Schwert, schloss die Augen, wartete auf Schlaf, der nicht kommen würde.

Mechanisch. Er funktionierte.
 

Gerne hätte er auch den Schnitt quer über seine Wange vergessen... wenn da nicht das Blut gewesen wäre, das langsam aber stetig in kleinen Tröpfchen aus der Wunde quoll und von seinem Kinn aus zu Boden zu Boden tropfte.
 

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Düster, düster... der arme Kenshin...
 

Nach jahrhunderter-langer Überlegungsphase habe ich das Kapitel endlich zu Papier gebracht, jetzt, wo ich eigentlich ÜBERHAUPT keine Zeit habe und viel wichtigere Dinge erledigen müsste....*SweatdropdeLuxe*
 

^_^ Nur Für Euch Meine Lieben Leser ^_^x
 

Ach ja: Nächstes Kapitel kommt endlich die Person, auf die schon viele von euch warten. Und auch die Shinsengumi bekommen endlich mal einen Auftritt. Es gibt also Action und: Ein Licht der Hoffnung!
 

Übringens: mehr als 20 Kapitel sind nicht geplant (Epilog mal nicht gezählt)
 

Bis Bald!
 

Wörter:
 

Haori – Wintermantel

Tenchu – göttliche Gerechtigkeit

Shura – Rachedämon

Baka – Idiot

Hagi – Hauptstadt der Provinz Choshuu

Kyoto Shoshidai - Meines Wissens Mitglieder des Kaiserlichen Gerichtshofes in Kyoto.

Kapitel 19

Hallo ^^

Zu beginn gleich eine Entschuldiung: mein Ursprünglicher Plan, diese FF nach 20 Kapiteln abzuschließen, hat sich in Rauch aufgelöst. Es werden wohl doch noch ein paar mehr - ansonsten werden entweder die Kapitel zu lang oder die Story zu verkürzt. Sorrrrry -_-
 

In diesem Kapitel kommne übrings auch diejeinigen ins Spiel, auf die einige von euch lange genug gewartet haben *gg*: b]Die Shinsengumi!!Sie werden von nun an eine größere Rolle spielen, hehe *händereib*

Wer den ersten OVA kennt, wird eine Szenen wiedererkennen...

LG
 

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Divine Justice

Kapitel 19 - Blut und Rache
 

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Zwei Männer standen in dem vom Abendrot in bunten Farben gemalten Garten und warteten. Der schlanke, großgewachsene Mann war noch jung und streute gedankenverloren einige Brocken Brot in den Fischsteich. Hinter ihm stand sein treuester Leibwächter, ein Koloss von einem Mann, immer angespannt, die Augen auf der Tür.
 

Endlich öffnete sie sich, ein Diener trat heraus und verkündete die Ankunft von den zwei bereits erwarteten Männern. Kurz darauf kamen die beiden aus der Eingangshalle hinaus in den Garten. Katsura löste seine Augen vom Fischteich.
 

„Es ist schon eine Weile her, Himur- oh!“
 

Katsura Kogoros Augen weiteten sich erstaunt, als er das Gesicht seines jungen Hitokiri sah.
 

„Es war also endlich jemand gut genug, um dich mit dem Schwert zu zeichnen?“
 

Kenshin sah zu Boden, der noch frische Schnitt auf seiner Backe brannte heiß wie die Schamesröte, die ihm plötzlich ins Gesicht stieg. „Ich war nicht aufmerksam genug.“

Er senkte seinen Kopf noch ein bisschen weiter, bis er ganz unter einem roten Haarvorhang verschwunden war.
 

„Izuka-san, wer war es?“ fragte Katsura, seinen Blick auf den schnurrbärtigen Mann gerichtet, der hinter Kenshin den Garten betreten hatte.

„Der Leibwächter von Jubei Shigekura der Kyoto Shoshidai, erst seit ein paar Monaten in Kyoto.“ Izuka lächelte schief und zog die Augenbrauen hoch. „ Natürlich ist er jetzt tot.“

Katsura nickte stumm.
 

„Kenshin?“ fragte er plötzlich. „Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?“
 

Der Angesprochene sah seinen Anführer mit unbewegter Miene an und antwortete mit flacher Stimme. „Hai, Katsura-san, es geht gut. Die Aufträge werden ordnungsgemäß erledigt.“

Seitens Katsura, Katagai und Izuka entstand verblüfftes Schweigen.

„Himura,“ nuschelte Izuka in seinen Ärmel, „Katsura hat etwas anderes gemeint...“

Verständnislos starrte Kenshin durch ihn hindurch.
 

Katsura räusperte sich und sah wieder hinab auf die bewegte Oberfläche seines Fischteiches. In den sich kräuselnden Wellen spiegelte sich sein jugendliches aber besorgtes Gesicht verzerrt wieder, zusammen mit den kräftigen Farben, in denen der Abendhimmel gemalt war. Der Anführer der Patrioten aus Choshuu griff in sein Schälchen voller Brotkrummen und seufze. Im Augenwinkel sah er Kenshin stehen und bewegungslos auf weitere Befehle warten. Er hatte befürchtet, ja Takasugi hatte ihn sogar gewarnt, dass es früher oder später so weit kommen würde – doch er hatte nicht erwartet, dass das Licht in Kenshins Augen so schnell sterben würde. Und doch: Himura war nur vollständig in die Rolle geschlüpft, die er ihm geschaffen hatte. Die Tage des Schwertkämpfers Katsura Kogoro waren vorbei. Himura war jetzt sein persönliches, gezogenes Schwert, und seine scharf geschliffene Klinge brachte göttliche Gerechtigkeit – besser, als er es sich je hätte träumen lassen. Und doch... jedes Schwert braucht ab und zu etwas Pflege... vor allem, wenn es so scharfgeschliffen ist, wie Himura.
 

„Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte Kenshin, den Katsuras besorgter Gesichtsausdruck beunruhigte.
 

„Nein, eigentlich das Gegenteil.“ Katsura straffte seine Schultern und lächelte Kenshin freundlich an. „Heute Abend habe ich endlich ein Treffen mit Toshimaro-san und Miyabe-san. Das ist ein großer Schritt nach vorne. Wichtige Punkte unserer Clan-Politik werden besprochen. Es wird Zeit, dass wir nicht mehr in chaotischen Einzelgruppen agieren, sondern uns unter einem Ziel vereinigen und konkrete Pläne machen.“

„Ich soll euer Leibwächter sein?“ Kenshins Frage war mehr eine Feststellung. Schon vor Wochen, als sein Ruf sich unter denn Patrioten verbreitet hatte, waren seine Dienste als Leibwächter von einigen Kommandanten angefordert worden. Solche Aufträge waren zwar ungewöhnlich für einen Hitokiri, aber eine nicht unwillkommene Abwechslung. Kenshin hatte inzwischen schon drei Mal den Versammlungsraum von Katsura und den anderen Anführern der Ishin Shishi bei geheimen Beratungsgesprächen bewacht. Seltsam, aber die Männer fühlten sich trotz seines Rufes in seiner Anwesenheit sicher – immerhin war er als Hitokiri schon über vier Monate hinweg noch nicht einmal ernsthaft verletzt worden. Vor ihm hatte das noch keiner geschafft. Vor ihm war noch niemand so erfolgreich gewesen...
 

„Nein, Himura,“ sprach Katsura weiter und riss damit Kenshin aus seinen Gedanken, „ich möchte, dass du mich als mein Berater begleitest.“
 

„Oh!“ rutschte es Izuka heraus und er sah neidisch auf den kleineren Rotschopf herab. „Was für eine Ehre. Dein Name könnte in die Geschichte einge-...“

„Danke,“ flüsterte Kenshin tonlos, „aber ich muss ablehnen. Ich bin euer Hitokiri. Einen anderen Dienst kann ich nicht leisten. Wenn es sonst nichts weiter für mich gibt, entschuldigt mich bitte.“
 

Das Gespräch war für ihn beendet. Mit einer hastigen Verbeugung drehte er sich um und war schon aus der Tür verschwunden.
 

Entgeistert schauten ihm die anderen drei Männer hinterher. Katagai war der erste, der sich wieder fasste.

„Hey, warte!“ rief er empört und auch Izuka gab ein missbilligendes Grunzen von sich. „Sumimasen,“ murmelte er dann Katsura entschuldigend zu und eilte ebenfalls davon, dem rothaarigen Hitokiri hinterher.

„Was für ein Benehmen!“ polterte Katagai, „wie kann er eure Freundlichkeit nur so respektlos erwidern?! Von jedem anderen Mann könntet ihr für solch ein Verhalten den Tod fordern!“
 

Doch Katsura hatte sich schon längst wieder dem Teich zugewandt und lächelte traurig die bewegte Wasseroberfläche an. Langsam ließ er die restlichen Brotkrummen hineinrieseln und es plätscherte laut, als die Karpfen begierig danach schnappten.
 

„Er war nicht immer so,“ begann Katsura nach einigen Minuten seinem Leibwächter zu erklären. „Er hat sich sehr verändert. Als ich ihn kennen lernte...“ Seine Stimme verlor sich.

Katagai wartete geduldig, dass sein Herr weitersprach, doch Katsuras Gesicht war nun verschlossen und er hüllte sich in düsteres Schweigen, während die Sonne hinter der Villa sank.
 

--
 

„Oi, Himura, warte doch!“
 

Izuka hastete hinter der rothaarigen Jungen her, der mit schnellen Schritten zurück zum Kohagiya ging. „Warte! Lass uns was trinken gehen!“
 

Doch Kenshin blieb nicht stehen, statt dessen verschwand er in der Menge, so dass Izuka nach einigen Minuten schulterzuckend die Suche nach ihm aufgeben musste.
 

Kenshin wollte jetzt mit niemandem etwas trinken gehen. Er wollte in sein Zimmer und alleine sein. Innerhalb von Minuten hatte er im Abendrot die Herberge über die Dächer erreicht und war durch das Fenster gleich in den ersten Stock gesprungen. So konnte er es vermeiden, allzu vielen lästigen Menschen zu begegnen.

Auch wenn - selbst in der Einsamkeit seines Zimmers - sein Gesicht nichts an Emotionen preisgab, so verriet doch seine leicht zitternde Hand, die sein Schwert zog und begann, es sorgfältig zu reinigen, dass er aufgewühlt war.
 

„Berater?!“ dachte er und schnaufte innerlich. „Was bildet sich Katsura eigentlich ein? Leibwächter hätte ich ja noch verstanden, aber Berater? Wie kann ich der Revolution helfen, wenn ich nur herumsitze? Ich hab doch von Politik keine Ahnung...“
 

Langsam ließ Kenshin das Tuch mit dem feinen Schleifsand seine Schwertschneide hinauf und hinabgleiten.
 

„Hat mir Katsura keine wichtigeren Aufträge zu übergeben?“ murrte er, während seine geübten Hände wie von Selbst das Schwert pflegten. Er war unruhig. Er hatte erwartet, einen schwarzen Umschlag von Katsura zu bekommen – nicht das dämliches Angebot, ein Berater zu sein. „Sicherlich gibt es heute Abend auch irgendwo ein Treffen von unseren Feinden,“ überlegte er wütend, während er mit wütendem Eifer dazu überging, die Klinge zu polieren. „Sie schmieden Pläne gegen uns, während ich hier herumsitze. Ich sollte unterwegs sein und sie beseitigen.“
 

Im rötlichen Dämmerlicht der untergehenden Sonne betrachtete er sein Spiegelbild in der frisch polierten, glänzenden Klinge. Blut glitzerte in dem Schnitt auf seiner Wange.
 

--
 

Kenshin musste nicht lange warten. Ein schwarzer Umschlag fand bereits am nächsten Nachmittag den Weg in seine Hände.
 

Die vertraute Routine begann erneut. Wie üblich führte Kenshin den Auftrag gleich in der Nacht aus. Es war nichts besonderes, nicht einmal nennenswert, nur ein einzelner Mann. Er lauerte ihn in seinem Badehaus auf und tötete ihn mit einem Aufwärtsschlag. Sein Opfer fiel nach hinten in einen Stapel voller Wassereimer. Sofort ergoss sich die Flüssigkeit über den Steinboden. Verwirrt sah Kenshin in seinem Spiegelbild im Wasser, dass seine Wunde schon wieder blutete, bevor sich sein gesamtes Gesicht rot färbte. Er starrte in das gefärbte Wasser und fragte sich, wer wohl die Person war, die zurückstarrte.
 

Seit er diesen Mann getötet hatte... Seit er diesen brennenden Schnitt auf seiner Wange spürte... hatten die Erinnerungen begonnen, wieder zu ihm zurück zu kehren. Er sehnte sich danach, mit jemandem zu sprechen, einfach nur zu reden. Doch Yoshida war jetzt weit weg und Kenshin brachte es einfach nicht über sich, einen Brief zu schreiben. Katsura konnte er nicht mit seinen persönlichen Gefühlen belästigen, er hatte wichtigeres zu tun. In Gegenwart von Izuka fühlte er sich zu unwohl und so nett Uchida ihn auch manchmal ansprach, seit der Sache mit Daisuke und Buntaro hatte Kenshin sich entschlossen, mit niemandem mehr Freundschaft zu schließen. Es gab keinen Menschen im Kohagiya, dem er sich hätte anvertrauen können und wollen. Es sei denn Okami... doch auch sie sah ihn immer öfter mehr mit strengen als mit gutmütigen Augen an. Und der Gedanke, mit seinem Shishou Kontakt aufzunehmen... sooft ihm dieser Gedanke auch in letzter Zeit kam und so verführerisch er auch war – Sekunden später verwarf er ihn gleich wieder. Sich Menschen im Kohagiya zu öffnen war leichtsinnig, aber zu Hiko Seijuro zurückzukehren wäre glatter Selbstmord. Nie würde ihm sein Meister seine Taten vergeben.
 

Kenshin löste seine Augen von der blutigen Pfütze und verließ schnell und geräuschlos das Anwesen. Izuka kam ihm mit einer Laterne entgegen um seine Arbeit zu begutachten und den Zettel mit der Aufschrift „Tenchu“ zu platzieren, doch nichts von dem schwachen Licht, was die Strasse erhellte, spiegelte sich in Kenshins leblosen Blick wieder.
 

„Hey,“ meinte Izuka leise, während der Hitokiri an ihm vorüberlief, „du blutest.“
 

Als ob er nichts gesagt hätte, lief der Kenshin einfach weiter. Izuka legte die Stirn in Falten, während er ihm noch kurz hinterher sah.
 

In dieser Nacht suchten ihn nicht die zerfleischten Körper seiner Feinde heim. In dieser Nacht sah Kenshin in seinen Träumen den weißen Mantel seines Meisters, der im Wind flatterte. Und er hörte seine eigene Stimme, die immer wieder verzweifelt „Shishou!“ rief, während die mächtige Gestalt ihm den Rücken kehrte und am Horizont immer kleiner wurde.
 

Die nächsten Wochen schlief er so gut wie gar nicht. Doch das machte alles nur noch schlimmer. Jetzt begann er bereits am Tag, die Stimme seines Meisters zu hören. Ob er etwas aß, jemanden tötete oder sich danach wusch, immer begleitete ihn diese tiefe Stimme. „Mörder,“ wisperte sie, immer und immer wieder, ein beständiges Murmeln in seinem Kopf. „Mörder.“
 

Kenshin ignorierte diese Stimme, versuchte, alles zu ignorieren – auch den Gedanken, dass er jetzt vielleicht wirklich an den Grenzen dessen angelangt war, was er ertragen konnte.
 

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Eine warme Brise durchströmte am Tag des Setsubun-Festes die Stadt und viele Menschen waren auf den Beinen. Wie ein Geist war auch Kenshin unter ihnen, unauffällig aber doch alles beobachtend. Tagsüber ließ er sich oft von der Menge durch die Strassen treiben und mit dem Hut, das sein auffälliges Haar verdeckte, war er so gut wie unsichtbar. So konnte er seine Feinde schon zeitig auskundschaften, manchmal sogar schon im Hellen in einer Seitengasse zuschlagen – Nie wurde er bemerkt, immer war er sofort wieder ein unscheinbarer Teil der Menschenmenge.
 

So auch an diesem Tag. Er war unterwegs, um seine neue Hakama abzuholen, die aus einem leichteren Stoff gewoben war als die des Winters. Auf dem Weg durch einen der Haupteinkaufsstrassen spürte Kenshin plötzlich in seinem Rücken eine so starke Präsenz, dass er fast zusammenzuckte. Was waren das für Kämpfer, die sich ihm näherten? Es mussten mindestens 10 oder 15 sein. War er entdeckt worden?
 

Eilig duckte sich Kenshin in einen nahen Hauseingang, Hakama vergessen, Hand Millimeter vom Schwertgriff entfernt. Das Gedrängel auf der Strasse löste sich rasch auf, denn alle machten Platz für die herannahenden Männer. Kenshin sah ihre grün-türkisen Mäntel schon von weitem aufleuchten.
 

„Shinsengumi,“ zischte jemand neben ihm.
 

Kenshins Augen verengten sich, während er sich vergewisserte, dass seine Ki nichts von seiner plötzlichen Mordlust verriet und sein Schwert locker in der Scheide saß. Natürlich hätte er sich gleich denken können, dass diese Ansammlung von starken Kis nur die Shinsengumi sein konnten. Er beobachtete, wie die Kämpfer, die man auch die „Wölfe von Mibu“ nannte, an ihm vorüberzogen. Sie waren die Erzfeinde der Ishin Shishi. Gegründet mit dem einen Zweck: den Shogun und Kyoto vor der Rebellion der kaisertreuen Patrioten zu beschützen.
 

Die Gruppe eilte vorüber, ins Gespräch vertieft. Nur ein Mann mit ziemlich schmalen Augen und langem schwarzen Haar, von dem ihm zwei widerspenstige Strähnen ins Gesicht hingen, fasste die Menschen am Strassenrand, unter ihnen Kenshin, kurz ins Auge. Sofort trat Kenshin einen weiteren Schritt zurück ins Dunkel des Hauses.

Dieser Kämpfer gerade eben schien seine Anwesenheit irgendwie bemerkt zu haben. Zufall? Oder hatte dieser Mann ein äußerst feines Gespür? Kenshin war sich sicher, dass er diesem Shinsengumi-Anführer wohl früher oder später noch im Kampf begegnen würde. Etwas in ihm konnte es kaum erwarten, seine Kräfte mit dem Erzfeind zu messen – vielleicht sogar mit einem ebenbürtigen Gegner?
 

Als die Bedrohung vorüber und in eine andere Seitengasse eingebogen war, strömten die Menschen wieder zurück auf die Strasse wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen. Kenshin merke, dass auch er den Atem angehalten hatte, versuchte, sich zu entspannen und mischte sich unter die Menschen. Er ließ sich von ihnen zum verabredeten Treffpunkt, einem Gemüsestand, treiben. Dort verharrte er regungslos wie das Gemüse und lauschte dem Durcheinanderplappern der Einkaufenden, die über die Shinsengumi diskutierten. Öfters als Bewunderung war Verachtung in den Stimmen zu hören.
 

Die Shinsengumi waren berüchtigt. Als Elite-Kampfeinheit des Shoguns waren sie in großer Zahl nach Kyoto beordert worden, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Das taten sie auch, ohne Rücksicht auf Verluste. Ihr Motto lautete: Erst töten, dann fragen. Aku Soku Zan! Nicht selten kamen auch Unschuldige, die nur zur falschen Zeit am falschen Ort unterwegs waren, unter ihren Schwertern zu Fall.
 

„Sieh sie dir an,“ sprach plötzlich Izuka, der von irgendwo her neben Kenshin am verabredeten Treffpunkt aufgetaucht war. „Laufen die Strasse runter, als ob sie der Shogun persönlich wären. Tss...“ Izuka spuckte verächtlich aus. Dann kramte er in seiner Tasche.
 

„Heute Nacht.“
 

Kenshin spürte das vertraute Gewicht eines schwarzen Umschlags, den Izuka ihm in den Ärmel gleiten ließ. Langsam nickte er, seine kalten, blauen Augen zusammengekniffen und immer noch auf die Shinsengumi in der Ferne gerichtet. Er konnte sie nicht mehr sehen, aber ihre Präsenz war noch immer fühlbar.

„Riechst du das auch?“ fragte Izuka neben ihm unvermittelt. „Scheint von diesem Mädchen zu kommen.“ Er deutete mit seinem schlechtrasierten Kinn in Richtung der anderen Straßenseite.

Kenshin riss seine Gedanken von den Shinsengumi los und sah herüber zu einem Mädchen in einem weißen Kimono. Etwas in seinen Augen entspannte sich.
 

„Hakubaiko.“
 

Das Wort war ausgesprochen, ehe er es seiner Zunge hatte verbieten können.

Neben ihm kicherte Izuka überrascht. „Mit so was kennst du dich aus? Ich dachte, du bist nicht so der Typ für Frauen.“
 

Kenshin überhörte die Beleidigung. Er wusste, was die Männer über ihn tuschelten... Über sein offensichtlich etwas weibliches Aussehen und sein scheinbares Desinteresse an Frauen... Nur, weil es für ihn in seiner Position unmöglich, ja undenkbar war, ein normales Mädchen kennen zu lernen. Wann auch – während eines Mord-Auftrags?!

Nur weil er keine Lust verspürte, von dem Geld, was er für das Töten bekam, im Gion-Viertel ein Mädchen zu kaufen? Wie konnte er auch? Bei jedem Mädchen, das mit zwanghaft verführerischem Lächeln hinter den Holzgittern auf Kunden wartete, sah er die Gesichter von Akane, Kasumi und Sakura... die Mädchen, die sich für ihn geopfert hatten, als die Banditen sie überfallen hatten. Wenn sie nicht dort auf dem Feld verblutet wären, dann wären sie in Kyoto an ein Bordell verkauft worden.
 

Neben ihm ging Izuka lachend davon. Kenshin schüttelte schnell diese Erinnerungen ab. Er wusste nicht, warum er diesen Duft kannte, doch er erinnerte ihn an irgendwas lange vergangenes. Ganz dunkel meinte er vor seinem inneren Auge Pflaumenbäume zu sehen, unter denen er als Kind immer gespielt hatte, während seine Eltern auf dem Feld waren. Sein Blick schweifte wieder zu der Stelle, von der dieser Duft gekommen war – doch das Mädchen war verschwunden.
 

Er blieb kurz stehen und atmete nochmals tief ein, aber ihr Duft war verschwunden oder wurde von dem Geruch des Gemüses neben ihm überdeckt. Ihr Gesicht jedoch stand ihm noch vor seinem inneren Auge. Sie war sehr hübsch gewesen... zart und rein...
 

„Was denke ich mir bloß,“ schimpfte Kenshin mit sich selbst und packte unterstützend nach seinem Daisho. Er spürte die Rillen des Griffes unter seinen Fingern. Nie würde er mit diesen blutigen Händen jemand so reines wie dieses Mädchen berühren. Zeit, sich auf seinen nächsten Auftrag zu konzentrieren – nicht auf unwichtige Erinnerungen oder Frauen.
 

Doch dieser Duft... warum nur fühlte er sich auf einmal so... warum fühlte er überhaupt?!
 

Kenshin stürmte in die erste Kneipe, die am frühen Nachmittag natürlich noch leer war. Die Wirtin schenkte ihm zwar einen kritischen Blick, sah aber dann seine Schwerter und schenkte ihm ohne Fragen den gewünschten Sake aus.
 

Er hob das Schälchen an die Lippen und kostete die Flüssigkeit, die lauwarm seinen Hals hinabrann.
 

„Bitter...“
 

In der Flüssigkeit sah er sein blaues Auge und den roten Strich der immer wieder blutenden Narbe auf seiner linken Wange.
 

Warum nur? Warum und woher kamen plötzlich wieder die ganzen Erinnerungen zu ihm zurück, die er doch so hartnäckig hatte verdrängen und vergessen wollen?
 

Sake... im Geiste hörte er die Stimme von Hiko Seijuro.

„Wenn dir der Sake bitter schmeckt, dann ist das ein Zeichen, dass etwas in dir nicht stimmt.“
 

Fast hätte Kenshin laut in sein Schälchen hineingelacht. Das etwas in ihm nicht stimmte, war noch untertrieben, dachte er sarkastisch.. „In“ ihm sah es aus wie auf einem chaotischen Schlachtfeld.
 

„Eines Tages,“ hörte er wieder die tiefe Stimme seinen Shishous, „wirst du lernen, wie man Sake trinkt. Und wir werden gemeinsam den Geschmack genießen.“
 

Kenshin trank das Schälchen in einem Zug leer. Diese Worte seines Meisters würden nie mehr Realität werden, dafür hatte er selbst gesorgt. Es ging ihm nicht um Genuss, es ging ihm um Betäubung.
 

Innerhalb kurzer Zeit hatte Kenshin die erste Flasche in sich hineingeschüttet. Er spürte die vertraute Wärme langsam in seinen Fußspitzen kribbeln. Noch ein paar Schälchen mehr und er wurde ruhiger. Seine Konzentration blieb scharf wie eh und je, aber die Erinnerungen und Stimmen, die ihn nun schon jede Stunde des Tages verfolgten, wurden schwächer, verschwammen zu einem hintergründigen Murmeln, etwas, dass man ignorieren konnte.
 

Als die Nacht hereinbrach und die Kneipe sich füllte, saß Kenshin immer noch auf seinem Platz. Drei leere Flaschen hatte er im Laufe der Stunden getrunken. Jetzt erst fühlte er sich imstande, das, was in dem schwarzen Umschlag in seiner Tasche geschrieben stand, auch in die Tat umzusetzen. Sein Körper fühlte sich angenehm taub und leer an und er empfand nichts als er seine Hände wieder der Gewalt des Hitokiris übergab. Langsam stand er auf, bezahlte und steckte seine Schwerter in den Obi.
 

Und wieder einmal tranken die Gassen frisches Blut.
 

--
 

Nervös rieb Hioshi Shideki seine feuchten Handflächen aneinander. Als er endlich Schritte hörte, die sich seiner Tür näherten, schmierte er schnell den Schweiß seiner Unsicherheit an seine hellen Hakama. Sekunden später streckte er eine zwar noch zittrige, aber immerhin trockene Hand aus, um den eingetretenen Mann zu empfangen.
 

„Hajimemashite, Hajime-san,“ begrüßte Hioshi den dunkelhaarigen Samurai ordnungsgemäß und verbeugte sich.
 

„Nennt mich Saito, Hioshi-san,“ brummelte der Anführer der dritten Einheit der Shinsengumi und erwiderte die Verbeugung. „Wir sind beide auf der selben Stufe, was unseren Rang als Kommandeure angeht.“
 

„Arigatou, Saito-san.” Hioshi lächelte etwas verzerrt. „Wir unterscheiden uns nur in der Hinsicht, dass eure Einheit noch lebt und meine, bis auf mich selbst und zwei weitere Männer, ausgelöscht wurde.“
 

Saitos ohnehin schon düsteres Gesicht verdunkelte sich bei diesen Worten und mit einem ernsten Kopfnicken bedeutete er dem Unterkommandanten der Mimiwarigumi, neben ihm am Boden Platz zu nehmen.
 

„Ihr kommt gleich zur Sache,“ begann Saito. „Das ist gut. Ich habe euren Bericht gelesen und habe einige Fragen.“
 

Hisohi nickte. „Soweit es mir möglich ist, will ich versuchen, alle Fragen ausreichend zu beantworten. Ich bin dankbar, dass sich überhaupt ein Kommandant der Shinsengumi bereiterklärt hat, mit mir-...“

„Kein Wort davon,“ unterbrach ihn Saito barsch. „Mimiwarigumi und Shinsengumi arbeiten nicht offiziell zusammen.“

Hioshi zog überrascht die Augenbrauen nach oben.
 

„Natürlich weiß Kondo-san Bescheid,“ erklärte daraufhin Saito ungeduldig, während er mit seiner linken Hand in einem seiner Ärmel nach etwas suchte. „Kondo-san hat bereits mit eurem Anführer Tsukayama-san ausgehandelt, dass diese Attentäter-Geschichte nun dem Zuständigkeitsbereich der Shinsengumi übergeben wird. Eure Aufgabe besteht lediglich darin, uns Informationen zu übergeben...“

Er hielt kurz inne und sein Gesicht hellte sich auf, als er das, was er da in seinem Ärmel gesucht hatte, ans Tageslicht förderte.

„Informationen über...“ Saitos Augen glitzerten rötlich im Schein des Streichholzes, mit dem er die Zigarette zwischen seinen Lippen entzündete. „...Battousai.“ Saito ließ den Namen ebenso genüsslich über seine Lippen strömen wie den silbrigen Rauch des Tabaks.
 

Hioshi bekam eine Gänsehaut. Hier vor ihm saß ein Wolf, der die Witterung aufgenommen hatte.

„So war das aber nicht ausgemacht, Saito-san,“ protestierte er halbherzig, von den hellbraunen Augen seines Gegenübers eingeschüchtert.
 

Saito Hajime war nicht nur als Anführer der dritten Einheit der Shinsengumi bekannt und gefürchtet. Er war ein hervorragender Schwertkämpfer, berüchtigt für die kompromisslose Durchsetzung des Mottos: Aku Soku Zan! Und seinen dünnen Geduldsfaden.
 

Hioshi schluckte. „Ich meine nur...“

„Ich verstehe eure Gefühle,“ schnitt ihm Saito das Wort ab und nahm erneut einen tiefen Zug. „Ihr wollt euch persönlich beteiligen. Eure gefallenen Kameraden rächen.“

„Hai!“ rief Hioshi laut, Zurückhaltung vergessen. Der Schmerz über all die Toten, die er in der schmutzigen Shinsakusen-Gasse hatte liegen sehen, die Grausamkeit der Tat... Er wollte Rache! Seine Stimme war nun ruhiger, aber bebte vor unterschwelligem Zorn. „Ich will dabei sein, wenn Hitokiri Battousai der Kopf abgeschlagen wird!“
 

Saito zog eine Augenbraue nach oben. Es war offensichtlich, dass Hioshi gerne selbst derjenige sein würde, der diesen Schwertstreich ausführte.

„Es handelt sich also wirklich nur um eine Person? Ein einzelner Hitokiri ist für all diese Attentate verantwortlich? Kaum vorstellbar...“ Seine Stimme verlor sich und seine Augen starrten an Hioshi vorbei. „...Was für ein Schwertkämpfer muss dieser Hitokiri sein...“
 

Hioshi gefiel das merkwürdige Glitzern in Saitos Augen nicht, dass mehr an Kampfeslust als an Pflichtgefühl erinnerte.
 

„Hai,“ antwortete er und begann, seinen schriftlichen Bericht, den er den Shinsengumi schon vor einigen Tagen überreicht hatte, mündlich in kurzen Worten zu wiederholen.

„Eine Gruppe von Unterhändlern aus Aizu, die Aizu Munaishidai, hatten Verbindung zu uns aufgenommen. Ihr Anführer, Shinzo, war ein alter Freund von mir. Er schrieb mir per Eilpost, dass einer der Ishin Shishi, den er schon seit längerer Zeit unter Druck setzte, bereit war, einen wirklich dicken Fisch ans Messer zu liefern. Sein Name war, glaube ich, Daisuke...“
 

„Und dieser Ishin Shishi,“ hackte Saito nach, „gehörte zu dem engsten Kreis um Katsura Kogoro persönlich?“

„Wir nehmen es an.“ Hioshi zuckte mit den Schultern. „Shinzo schrieb nur, dass dieser dicke Fisch vermutlich der persönliche Hitokiri von Katsura Kogoro sei, verantwortlich für mehr als dreißig Attentate seit Ende Oktober...“ Der Mimiwarigumi-Hauptmann unterbrach sich und hustete, weil Saito ihm den Rauch seiner Zigarette direkt ins Gesicht geblasen hatte.

„Oktober,“ murmelte er kaum hörbar und sah Hioshi direkt an. „Jetzt ist Februar. Er muss inzwischen an die hundert umgebracht haben.“

Beide Männer starrten einen Moment lang schweigend vor sich auf den Fußboden und ließen die Zahlen in sich einsickern.
 

„Jedenfalls,“ fuhr Hioshi nach einiger Zeit mit rauer Stimme fort, „schrieb Shinzo noch, dass man diesen Hitokiri wohl unter den Ishin Shishi als Battousai bezeichnete.“

„Battousai...“ Wieder vermischte sich Saitos Stimme mit süßlichem Tabakgeruch. „Ein Name, der viel verspricht.“

„Und hält,“ ergänzte Hioshi missmutig. „Als ich bei Shinzo ankam, waren bereits alle tot, auch die Männer, die ich vorrausgeschickt hatte. Es waren dreizehn Menschen. Davon acht von mir persönlich ausgebildet. Jeder von ihnen war einer der Besten ihres Dojos.“
 

Unbeeindruckt schnipste Saito seinen Zigarettenstummel in den schon überquellenden Aschenbecher.
 

„Weitere Anhaltspunkte? Ist Hitokiri Battousai wirklich der Attentäter im Dienste Katsura Kogoros? Oder einfach nur ein Wahnsinniger, der die Leute in Angst und Schrecken versetzt? Wie ich hörte, glauben sogar eure eigenen Männer, Hioshi-san, dass Battousai kein Mensch sondern ein Dämon ist.“
 

Hioshis Knöchel wurden weiß, als er seine Schwertscheide am Boden vor sich umklammerte. „Und wer mag es ihnen übel nehmen?“ rief er gereizt. „Ich will ja den Teufel nicht an die Wand malen, aber wenn das so weitergeht...“

„Fakten!“ herrschte ihn Saito aufgebracht an. „Ich will keinen Aberglauben, ich will Fakten!“

Hioshi sammelte sich einen Moment lang.. „Wir haben keinerlei Beweise,“ presste er dann schließlich zwischen seinen Lippen hervor. „Nichts, was diesen Vorfall mit den Ishin Shishi in Verbindung bringen könnte. Nur einen Haufen Toter und einen Keller voller Blut.“
 

„Der Verräter?“ fragte Saito ungeduldig weiter.

„Vermutlich tot.“ Hioshi lockerte seine Finger. „Einige Strassen weiter wurde die Leiche eines Mannes gefunden, der in den Farben der Ishin Shishi gekleidet war. Er war auf die selbe Art und Weise getötet worden wie einer meiner Männer.“

„Wie?“

„Battoujutsu.“ Hioshi schluckte. „Er war so gut wie zerteilt.“

Saito schüttelte den Kopf und stand auf.
 

„Ich fasse unsere Spekulationen zusammen: Die vielen Attentate, die das Bakufu seit den letzten Monaten so erzittern lassen, werden alle von einem Mann ausgeführt. Sein Deckname ist Hitokiri Battousai. Sein Motiv ist Tenchuu, die göttliche Gerechtigkeit. Sein Auftraggeber ist vermutlich Katsura Kogoro, Samurai aus Choshuu, ehemaliges Mitglied im kaiserlichen Rat, letztes Jahr ausgestoßen und in den Wiederstand abgetaucht. Anführer der Choshuu Ishin Shishi.“
 

Unruhig befingerte Saito seine zwei Schwerter.

„Bevor wir irgendetwas unternehmen, muss ich deine Informationen noch bestätigen lassen. Denn auch das Bakufu hat seine Informanten bei den Ishin. Natürlich sind diese weitaus professioneller. Sie würden sich nie in Aussicht auf schnellen Gewinn so dumm verhalten und sich einbilden, einen gefährlichen Hitokiri allein einfangen zu können.“

Hioshi überhörte die unterschwellige Kritik. „Wir?“ fragte er statt dessen nach, erstaunt.
 

Saitos schmale Augen wurden noch schmäler und sein Mund verzog sich zu so etwas wie einem gruseligen Lächeln.

„Ja, uns. Ihr seid ein Kommandant und erfahrener Schwertkämpfer. Ich hätte nichts dagegen, wenn ihr euch mit den noch verbliebenen Männern eurer Einheit mit meiner Einheit zusammentut.“

Hioshis Augen leuchteten auf. „Saito-san, natürlich-...“

Saito hob den Zeigefinger. „Eine Bedingung: Die alleinige Befehlsgewalt bei diesem Unterfangen habe natürlich ich.“

Hioshi legte die Stirn kurz in Falten, nickte dann aber entschlossen und stand auf. „Abgemacht.“
 

Hioshi hatte sich gerade zum Gehen gewandt, als ihn Saitos Stimme ihn noch einmal zurückrief.

„Hioshi-san?“

Er drehte sich um. Saitos Augen glühten unheimlich in dem schlecht beleuchteten Zimmer. Er hatte sich eine weitere Zigarette angezündet.

„Hai?“

„Ich habe eine Bitte an euch.“

Hioshi inhalierte den süßlichen Tabakgeruch. „Sprecht.“

Saito drehte sich langsam zum verdunkelten Fenster um.
 

„Einige der Mimiwarigumi werden doch auch bei Shinobi ausgebildet, oder nicht?“

Hioshi kniff die Augen zusammen. „Ja,“ antwortete er vorsichtig. „Einige Techniken der Ninja sind uns vertraut.“
 

„Ich habe gehört, ihr habt persönlichen Kontakt zu den... O-Niwabanshu?“
 

Hioshi blieb die Luft weg. Woher wusste Saito davon? Diese Bekanntschaft war ein Geheimnis, dass er wie seinen Augapfel hütete. Seine Verbindung zu diesen Ninja war streng geheim. Sie standen im alleinigen Auftrag der Tokugawa-Familie, des Shoguns persönlich.
 

Saito drehte sich ruckartig um und starrte mit seinen hellbraunen Augen Hioshi an. Der Wolf hatte einen Plan gefasst.
 

„Ich möchte, dass ihr euren alten Freund kontaktiert. Er soll euch seinen besten Attentäter zur Verfügung stellen. Alle weiteren Informationen besorge ich“. Der Shinsengumi-Anführer machte eine abwinkende Handbewegung. „Ihr könnte jetzt gehen, Hioshi-san.“
 

Wie zurückgestoßen taumelte Hioshi aus dem Zimmer. Hatte in Saito Hajime gerade dazu beauftragt, einen inoffiziellen Auftragskiller anzuheuern? Gegen einen ebenso inoffiziellen anderen Auftragskiller der Gegenseite? Noch dazu aus dem Clan der besten Ninja des Landes, einzig und allein dem Befehl des Shoguns persönlich unterstellt?
 

Von Schweiß durchnässt eilte Hioshi zurück zu seinem Hauptquartier. Solche abgebrühten Methoden war er nicht gewohnt. Saito war wirklich ein Wolf... er hatte Blut geleckt und wollte die Beute in seine Fänge bekommen. Aber warum nur dazu einen Attentäter? Noch dazu einen Ninja? Warum erledigte Saito das nicht selbst?
 

Viele Fragen kreisten in Hioshis Kopf, während er hastig eine kurze Notiz an das Bein einer Brieftaube band und den Vogel fliegen ließ.
 

--
 

Wenn es überhaupt noch möglich war, dann schaffte es Kenshin, sich während des anbrechenden Frühlings noch zu steigern. Seine üblichen Eingangsworte, die Verkündung der göttlichen Gerechtigkeit, die Worte, dass er keinen persönlichen Groll gegen seine Opfer hegte – all das war überflüssig geworden. Er tötete jetzt so schnell, dass niemand mehr die Gelegenheit hatte, sich mit ihm ein (Wort-)Gefecht zu liefern. Bis auf den kleinen Augenblick, in dem Blutgeruch die Nachtluft schwängerte, blieben seine Feinde nur Namen in einem Umschlag. Er sah nicht in die Gesichter der Getöteten, blieb nicht einmal lange genug, um ihre Körper zu Boden fallen zu hören. Sie waren Namen, nur bedeutungslose Namen. Sie waren nicht real.
 

Von der Brücke tropfte das Blut, die drei Männer, die er heute getötet hatte. Der volle Mond sah noch hin aber Kenshin nicht. Die Bäume begannen, grün zu werden und er lief am Rand des großen Kanals entlang schon wieder zurück zur Herberge.

Kenshin wusste, dass er nicht lange die Einsamkeit seines kleinen Spaziergangs würde genießen können – der ihn immer verfolgende, schnurrbärtige Mann würde ihn sicher, nachdem er seine Arbeit begutachtet hatte, verfolgen und einholen.
 

Minuten später geschah genau das. Schnelle Schritte, ein kurzer Ruf und Izuka schritt neben ihm das Wasser entlang. Kenshin hätte leicht verschwinden können, doch immerhin war Izuka sein Vorgesetzter...
 

„Du bist gut,“ begann der Mann, diesmal ohne schiefes Grinsen sondern mit ungewohnt ernstem Gesicht, „aber in letzter Zeit bist du einfach unglaublich.“
 

„Was meinst du,“ fragte Kenshin, ohne seine Schritte zu verlangsamen.
 

„Du gibst ihnen nicht einmal mehr die Gelegenheit zum Schreien. Du bist so schnell, dass man zweifelt, ob das noch natürlich ist. Du BIST wirklich Battousai.“
 

Kenshin lief ausdruckslos neben ihm her. Die Hand hielt er auf seine Wange gedrückt. Die Narbe war heute verheilt, doch gerade eben, in dem Moment, in dem er wieder getötet hatte, war sie erneut aufgerissen und blutete wieder heftig. Irritiert löste er seine Hand von der Wunde und schaute auf den dünnen, roten Strich in seiner Handfläche.
 

Izuka trat mit ernstem Blick neben ihn.

„Bist du abergläubisch?“
 

Langsam lösten sich Kenshins Augen von seiner Handfläche und fokusierten Izuka mit einem stechenden Blick. Doch dieser ließ sich nicht verunsichern.
 

„Nun, man erzählt sich, dass eine Wunde, die durch großen Hass verursacht wurde, solange nicht verheilen kann, bis der Hass getilgt ist.“ Izuka zuckte mit den Schultern.

„Es blutet solange weiter, bis derjenige, der sie verursacht hat, gerächt worden ist.“
 

„Gerächt?“ Kenshin schaute wieder zurück auf seine Hand. Das helle Mondlicht ließ sein Gesicht blass und ungesund erscheinen und enthüllte auch das Entsetzten, dass auf einmal in seinen Augen geschrieben stand.
 

„Es ist nur ein Aberglaube.“ Izuka lächelte schief.
 

„Natürlich.“ Kenshins Stimme war nur ein Flüstern, während er ins Leere starrte und versuchte, seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen.

Er bemerkte gar nicht, wie Izuka sich mit schiefem Grinsen von ihm verabschiedete um etwas trinken zu gehen. Er stand nur da und spürte, wie sein warmes Blut ihm den Hals hinab rann.
 

In dieser Nacht suchten ihn die Albträume heftiger als jemals zu vor heim. Als er nach wenigen Stunden schweißgebadet hochschrecke, die Hände fast schmerzhaft um das Schwert gekrampft, wusste er, dass er geschrieen hatte. Und dem salzigen Geschmack nach auch geweint. Er drückte seine Augen zu und rieb sich mit beiden Händen über die Schläfen, ein Versuch, die schrecklichen Bilder zu verscheuchen.
 

Doch immer wieder sah er das verzerrte Gesicht des Mannes vor sich, der ihm diese blutende Narbe zugefügt hatte. Sah ihn sterbend am Boden liegen, nach etwas Unsichtbarem greifen... und etwas flüstern...
 

„Rache...“
 

Kenshins Augen sprangen auf und sein Herz klopfte plötzlich schneller.

Es war, als ob er plötzlich von Feinden umringt wäre, die ihn jeden Moment angreifen könnten. Er atmete tief ein und aus, versuchte sich zu beruhigen, vergewisserte sich, dass alles im Kohagiya so war, wie es sein musste...

Und doch wurde er das Gefühl nicht los, dass irgendwo etwas Bedrohliches lauerte, regungslos und geduldig, bereit für den richtigen Augenblick. Wie als Bestätigung begann plötzlich aus seiner Wunde auf der Wange heftig Blut zu pulsieren.
 

„Es blutet solange weiter, bis derjenige, der sie verursacht hat, gerächt worden ist.“
 

Kenshin schüttelte heftig den Kopf. „Es ist nur ein Aberglaube,“ murmelte er in sein leeres Zimmer.
 

--
 

Nächstes Kapitel: Kenshin trifft erneut auf das Mädchen, das nach Hakubaikou riecht - allerdings läuft einiges anders, als er es sich vorgestellt hat...
 

Wörter:

Hajimemashite – Freut mich, sie zum ersten Mal kennen zu lernen

Kyoto Shoshidai – Mitglieder des Gerichtshofs von Kyoto

Takasugi Shinsaku – Anführer der Kihei-Tai, die Armee, die die Provinz Choshuu gegen das Shogunat aufstellt.

Sumimasen – Entschuldigung

Shinsengumi, Mimiwarigumi – Dem Bakufu unterstehende Spezialeinheiten.

Aizu Munashidai – Einheit aus Aizu, die in Kyoto für das Shogunat kämpfte.

Kondo Isami – oberster Anführer der Shinsengumi

Kapitel 20 - Regen, so rot

omg, ich glaube, das ist das längste Kapitel dieser FF. Gute Lektüre für alle, die jetzt Ferien haben. Aber ich konnte und wollte es einfach nicht kürzen. So viele wichtige Dinge passieren!! ^^

For all Fans out there: Shinsengumi! O-Niwabanshu! Tomoe! Und Yoshida! Was wollt ihr mehr?!

Viel Spaß und schonmal im Voraus Danke für Feedback!!
 

Ein neuer Hinterhalt wird für Kenshin gelegt - allerdings diesmal von Shinsengumi und O-Niwabanshu. Der Ring um die Ishin Shishi wird enger gezogen...
 

{b]Divine Justice

Kapitel 20 – Regen, so rot
 

Es regnete schon seit Tagen ununterbrochen. Ein Zeichen, dass jetzt endgültig Frühling war. Die Bäume und Pflanzen freuten sich über das reichliche Nass und trieben eifrig grüne Knospen in den bewölkten Himmel. Die Menschen hingegen hatten sich in ihre Häuser verkrochen, die Strassen Kyotos waren zu einer einzigen Schlammpfütze verschmolzen.
 

Der ständige Regen hatte die Stimmung im Kohagiya gereizt gemacht. Es war kalt und feucht, viele Männer waren erkältet und übellaunig. Gelangweilte Gruppen saßen in Zimmern herum und schlugen missmutig die Zeit mit irgendwelchen Kartenspielen tot. Okami und ihre Mädchen hatten alle Hände voll zu tun, die Samurai bei Laune zu halten und Streitereien zu schlichten. Oftmals reichte es schon, wenn Männer von einem Auftrag durchnässt zurückkehrten und Pfützen auf den Tatami-Matten hinterließen, in die sich andere Männer dann ahnungslos hineinsetzten. Okami bemühte sich, diese kleinen Rangeleien immer schnell zu schlichten – einmal gelang ihr dies erst mit dem Einsatz ihrer großen, gusseisernen Bratpfanne. Seitdem benamen sich die Männer wenigstens einigermaßen zivilisiert.
 

Als Kenshin an diesem Nachmittag tropfend von einem Auftrag zurückkehrte und eine Wasserspur von der Eingangstür bis zu seinem Zimmer hinterließ, war von keinem der Männer auch nur das leiseste Murren zu hören. So, wie die warme Luft des Frühlings draußen die Natur wieder zum Leben erweckt hatte, so eisig waren die Augen des jungen Hitokiri, jegliche Menschlichkeit ihn ihnen schien abgestorben zu sein.

Wenige, wie Uchida, wagten es überhaupt noch freiwillig in seine nähere Gegenwart. Die meisten ergriffen bei dem ersten Anzeichen von bernsteinfarbenen Augen die Flucht.
 

Während Kenshin durchnässt in seinem Zimmer verschwand, hatte Uchida im Flur gestanden und ihn beobachtet. Neben ihm lehnte sein Freund Muhura mit überkreuzten Armen an der Wand.
 

„Sorgst du dich etwa immer noch um Battousai?“ fragte er spöttisch. Uchida zuckte die Schultern. Seit seinem Gespräch mit dem rothaarigen Jungen im Essensaal vor gut einem Monat war er immer wieder von seinen Kameraden geneckt worden. Das, aber auch die zunehmende Verschlossenheit des Jungen, ja sogar das Gefühl von akuter Lebensgefahr in seiner Nähe hatten es ihm nicht möglich gemacht, noch einmal vertraulich mit ihm zu reden.
 

„Lass es bleiben,“ riet ihm Muhura, wohl schon zum zwanzigsten Mal in dieser Woche. „Er will deine Freundschaft nicht. Er BRAUCHT dich nicht.“

„Wer sagt, dass ich sein Freund sein will?“

„Er ist ein Hitokiri!“ Muhura schaute, als ob er mit diesem Satz alles erklärt hätte.

Uchida rollte genervt mit den Augen. „Er ist ein Junge, ein halbes Kind.“

„Na und? Seine Waffe ist tödlicher wie jede andere.“

„Gerade deswegen...“ Uchida blickte nach unten auf seine in Tabi steckenden Füße. Muhura sah seinen Freund etwas mitleidig an und klopfte ihm schließlich seufzend auf die Schulter.
 

„Hör mal, ich hab schon verstanden, warum du dir Sorgen machst. Du denkst, Battousai ‚könnte irgendwann so ganz ohne Kontakt durchdrehen und dann vielleicht Schlimmes anrichten’.“

Uchida fixierte seinen Freund, der seine eigenen Worte in einem ironischen Leier-Ton wiedergegeben hatte. „Ja,“ knurrte er, „genau das und—.“

„Aber,“ unterbrach ihn Muhura ungeduldig, „er ist doch nicht alleine. Er verbringt viel Zeit mit Izuka. Und selbst Katsura sieht er bestimmt jede Woche oder alle zwei Wochen. Katsura-san kümmert sich um den Jungen. Er passt auf, dass er nicht außer Kontrolle gerät. Es ist immerhin in einem eigenen Interesse. Glaubst du, Katsura lässt jemanden in seine Nähe, ja sogar in seine privatesten Räume, von dem er denkt, dass er ihm gefährlich werden könnte? Glaubst du, er würde soviel seiner privaten Zeit diesem Jungen widmen, wenn er ihm nicht mehr zutrauen würde, als ein kaltblütiger Killer zu sein? Ich bin mir sicher, er kann den Jungen einschätzen. Verdammt noch mal, Uchida – der Mann leitet diese ganze Revolution! Wenn er die Lage nicht einschätzen kann, wer dann?“
 

Uchida war stumm. Die Worte, die Muhura gesagt hatte, machten durchaus Sinn, das musste er zugeben. Nun auch seinerseits seufzend nickte er widerwillig.

„Schon besser,“ meinte Muhura und ging durch den Gang zum Essenssaal. „Wir sehn uns später.“
 

Uchida stand noch eine Weile alleine im Flur und starrte auf die zugeschobene Tür von Battousais Zimmer. Drinnen, so stellte er sich vor, würde sich der Junge vermutlich gerade umziehen. Für seinen nächsten Auftrag heute Abend.
 

Er hatte beobachtet, dass sich Himura oft umzog – wenn auch so gut wie nie ein Tropfen Blut auf seiner Kleidung zu sehen war. Wenn er nachts von einem Auftrag zurückkehrte und Uchida noch wach war, hörte er ihn manchmal im Badehaus. Er brauchte Stunden, doch niemand beschwerte sich. In letzter Zeit sah Uchida ihn auch öfters in einem Nebenraum der Küche, in dem die Mädchen immer das Geschirr spülten. Natürlich spülte Battousai nicht und niemand hätte es gewagt, ihm dies scherzhaft zu unterstellen. Nein, er wusch sich die Hände! Uchida hatte es durch einen Spalt in der Tür beobachtet, als er zufällig vorbeigekommen war.

Himura hatte dagestanden und sich die Hände im Wasser gerieben, immer und immer wieder, Minute um Minute, mit fast fanatischem Eifer.
 

Uchida schüttelte den Kopf und kehrte Battousais Tür den Rücken, um auf sein eigenes Zimmer zu gehen, dass er mit Muhura teilte. Ihm war jetzt nicht nach Kartenspiel oder Essen zumute. Vor seinem Inneren Auge sah er sich selbst, wie er einen Mann bei seinem letzten Auftrag getötet hatte, keine zwei Wochen war es her. Er hatte keine Wahl gehabt, der Soldat des Bakufu hatte sie bei einer geheimen Mission erwischt und Uchida hatte ihn auf der Stelle töten müssen, bevor er Alarm schlagen konnte. Uchida konnte sich kaum noch erinnern, was danach geschehen war, wie sie die Leiche versteckt und schnell das Lagerhaus ausgeräumt hatten und wie er schließlich im Kohagiya gelandet war. Er wusste nur noch, dass er danach zwei Stunden lang seine Hände vom Blut gewaschen und sich trotzdem nicht sauber gefühlt hatte.

Der Bakufu-Soldat hatte nicht einmal Zeit gehabt, seine Waffe zu ziehen oder zu schreien. Er kam zufällig vorbei und Uchida hatte ihn kaltblütig getötet, da sonst die ganze Mission hätte scheitern können.
 

„Wie muss es Himura gehen,“ überlegte er düster, während er dem monotonen Regengeprassel auf dem Dach lauschte. „Wie viele Leben versucht er sich von den Händen zu waschen?“
 

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Kenshin lehnte an der Wand in seinem Zimmer. Er versuchte sich verzweifelt einzig auf den Klang der Wassertropfen zu konzentrieren, um nicht ständig die immer anwesenden, anklagenden Stimmen in seinem Kopf hören zu müssen. Doch heute waren es nicht die Stimmen der Toten oder seines Meisters, die er hörte, sondern es war die Stimme seines ehemaligen Zimmergenossen.
 

Wie Kenshin so dasaß, erschöpft aber nicht fähig zu schlafen, musste er sich plötzlich vorstellen, wie es war, als Yoshida noch den Raum mit ihm geteilt hatte. Fast sah er ihn da sitzen, auf seinem Futon, mit verschränkten Armen und trotzigem Gesicht, wie an dem Tag, als er trotz der schrecklichen Wahrheit beschlossen hatte, bei ihm zu bleiben.
 

Der rothaarige Junge drückte sich die Handballen tief in die Augen, bis er nur noch Sternchen sah. „Yoshida,“ murmelte er, überwältigt von unerwarteten Gefühlen, „ich wünschte, du hättest bleiben können...“ Er hörte Yoshidas Stimme, ihr Ton anklagend, verzweifelt.
 

„Und bist du denn ein Hitokiri? Bist du tief in dir wirklich ein Mörder? Ich glaube das jedenfalls nicht!“
 

Kenshin lächelte bitter. Wie viel Zeit war seit diesen Worten vergangen? Monate...

Zeit konnte einen Menschen verändern... konnte ihn verändern. Er spürte, wie sich die dicke Eisschicht wieder um sein Herz zu legen begann. Doch dann hörte er plötzlich eine andere, ihm unbekannte Stimme.
 

„Egal was ich gesagt habe, in meinem Herzen werde auch ich immer dein Freund sein. Auch wenn ich dich vielleicht heute Abend schon wieder vergessen muss, um hier in Kyoto zu überleben. Es tut mir leid.“
 

Kenshin schreckte hoch. Diese Stimme, so weich und warm... das war seine eigene gewesen. Er ließ seinen Kopf zurück gegen das Holz der Wand sinken, Blick starr auf die Decke des Zimmers gerichtet.
 

„Was passiert mit mir,“ flüsterte er. Wie hatte er all die Monate hinweg ihre gemeinsame Zeit so verdrängen, ja sogar vergessen können? Wie hatte er das Gefühl vergessen können, von einem anderen Menschen akzeptiert zu werden... als Mensch und nicht als Waffe behandelt zu werden...

Tief in sich wusste Kenshin, dass es der Hitokiri war, der ihm all diese Erinnerungen wegnahm, sobald er wieder als Waffe gebraucht wurde. Und so würde es auch heute wieder sein, sobald er das Zimmer verlassen musste, um seinen nächsten Auftrag auszuführen. Er spürte, wie die Kälte langsam schon wieder zurück in sein Herz kroch – sie hatte ihn nur kurz losgelassen, für einen kleinen, ironischen Moment, um ihn zu quälen, ihm Hoffnung zu geben und ihn gleich darauf spöttisch auszulachen.
 

Dennoch... bevor sein Herz wieder kalt wurde, dachte Kenshin an seinen ehemaligen Zimmergenossen. „Hoffentlich geht es ihm gut, wo auch immer er ist...“
 

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Missmutig beäugte Yoshida von seinem Unterstand aus die Bergstrasse, die sich in eine schlammige Rutschbahn verwandelt hatte. Der tagelange Frühlingsregen hatte den Boden total aufgeweicht und das Reisen war die reinste Hölle. Im Augenwinkel sah Yoshida die anderen Männer der Kihei-tai, die ebenso finster dreinschauten wie er und an deren Kleidung sich der Schlamm in großen Batzen zu sammeln begonnen hatte, so dass man die Farbe des Stoffes nur noch erahnen konnte.
 

„Wir könnten uns einfach auf den Bauch legen und die Strasse hinabrutschen, dann wären wir wahrscheinlich am schnellsten unten,“ witzelte Yoshida, mehr zu sich selbst als zu seinen Kameraden. Es war sowieso niemand in der Stimmung, auf seinen Witz einzusteigen.
 

Yoshida seufzte leise. Es blieb ihm und seiner Einheit nichts anderes übrig, als unter dem überstehenden Dach der kleinen Scheune diesen Platzregen abzuwarten, auch wenn das noch Stunden dauern konnte. Die steile Straße war so unmöglich passierbar, die Gefahr zu groß, dass jemand ausrutschen und den steilen Berghang hinabstürzten würde.
 

„In Kyoto regnet es wohl im Frühling nicht so viel, was?“ meinte plötzlich eine Stimme neben ihm und Yoshida drehte sich überrascht um.

„Gomen,“ verbeugte er sich leicht, „aber ich kenne noch nicht alle Namen der Männer in meiner Einheit...“

„Mazaki,“ sagte der ältere Mann mit einem Lächeln, das sein wettergegerbtes Gesicht plötzlich um 20 Jahre jünger erscheinen ließ. „Das mit den Namen kommt schon noch. Sie sind ja noch nicht lange mit uns unterwegs.“
 

Yoshida sah wieder in den Regen hinaus. Vor knapp zwei Monaten war er nach einer beschwerlichen Reise im Lager der Kihei-Tai in der Provinz Choshuu angekommen, den Kopf voll von Kyoto und düsterer Gedanken. Nach einigen Wochen Training und kleineren, organisatorischen Tätigkeiten, die ihn weitestgehend von seiner Grüblerei abgehalten hatten, hatte Tagasuki ihn zu sich gerufen und ihn trotz seines jungen Alters und seiner eher dürftigen Schwertkünste zum Anführer einer kleinen Einheit gemacht.
 

„Du warst jetzt über ein halbes Jahr in Kyoto im Dienste Katsuras,“ hatte Takasugi zu ihm gesagt, sein Blick stechend. „Ich brauche jemanden, der sich damit auskennt, unauffällig durch die Gegend zu reisen und Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.“

Mit offenem Mund hatte Yoshida versucht, dem Anführer der Kihei-tai klar zu machen, dass er dafür nun wirklich der falsche Mann war, er nur als einfacher Ronin mitkämpfen wollte, aber Takasugi hatte ihn gar nicht zu Wort kommen lassen und ehe er sich versah, stand er nun hier, mit einer kleinen Gruppe von zehn Männern in seinen Diensten, auf dem Weg durch die gefährlichen Grenzgebiete von Choshuu, um noch mehr Männer für die geheime Armee der Ishin Shishi zu rekrutieren.
 

„Der Regen hört bestimmt bald auf,“ sagte Mazaki neben ihm unvermittelt und riss dadurch Yoshida aus seinen Erinnerungen

„Hoffentlich, Mazaki-san. Wir müssen schneller vorwärts kommen, die Zeit drängt, nach allem, was man hört.“

Mazaki nickte ernst. „Wie man hört, spitzt sich die Lage in Kyoto zu. Wissen sie genaueres, Yoshida-san?“
 

Yoshida fand es immer noch ungewohnt, als Vorgesetzter angesprochen zu werden. Immerhin war er der jüngste unter all den Männern. Dennoch schienen alle vor ihm Respekt zu haben. Er wusste, dass das nicht mit seiner eher weniger beeindruckenden Person zusammenhing, sondern mit seinem Status – die Schwerter an seiner Hüfte kennzeichneten ihn als Samurai und das alte Standesdenken war immer noch in den Köpfen seiner Kameraden, die alles Bauern waren, präsent. Noch dazu kannte er Katsura Kogoro persönlich... die meisten Männer in der Kihei-tai verehrten ihn wie einen Kami, der göttliche Gleichheit bringen würde.
 

„Ich weiß nur,“ antwortete Yoshida nach einer Pause, „dass die Sache in Kyoto weit komplizierter ist als hier in Choshuu. Katsura-san hat vor einigen Tagen versucht, endlich die verschiedenen Fraktionen der Ishin Shishi zu vereinen, doch wie man hört, ist das gescheitert.“

„Das wundert mich nicht. Katsura-san ist den meisten zu wenig offensiv. Die anderen Anführer sind nicht so geduldig wie er, sie wollen endlich zuschlagen.“
 

Yoshida zog fragend eine Augenbraue hoch. „Ihr scheint euch gut mit der Politik in Kyoto auszukennen, Mazaki-san.“

Mazaki lächelte wieder und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Eigentlich nicht, ich bin nur ein einfacher Bauer. Aber...“ Er tippte sich an die Stirn. „...ich bin nicht dumm. Ich versuche, mich immer auf dem Laufenden zu halten.“ Er senkte etwas seine Stimme, so dass die anderen Männer ihn nicht hören konnten. „Ich bin ein glühender Verehrer Katsura Kogoros, aber auch vielen Männern in der Kihei-tai geht es zu langsam voran. Sie wollen endlich kämpfen, den Shogun stürzen. Sie wollen Ergebnisse sehen. Selbst Tagasuki-sama ist inzwischen die Ungeduld in Person.“
 

Yoshida rümpfte die Nase. „Als ob alles so einfach wäre. Was denken die sich? Einfach nach Kyoto reinmarschieren und den Kaiser entführen?“

Mazaki neben ihm schwieg vielsagend und Yoshida bekam eine Gänsehaut. Er kannte seinen grimmigen und unerschrockenen Anführer. „Im Ernst? Wie stellt Takasugi sich das vor? Der Shogun hat eine Armee, die uns zehn bis zwanzigfach überlegen ist! Wir können nicht—.“

„Psst,“ ermahnte in Mazaki, denn einige der Männer hatten bereits neugierig zu ihnen hinübergeblickt.

„Wir können nicht einfach angreifen,“ flüsterte Yoshida erhitzt weiter. „Das wäre unser Untergang. Wir müssen warten, bis uns auch die anderen Provinzen unterstützen. Wir brauchen mehr Waffen, um gegen die Armee des Shogunats bestehen zu können. Wir müssen endlich ein Bündnis mit Satsuma eingehen. Wenn wir jetzt nach Kyoto stürmen, wäre das glatter Selbstmord!“
 

Die beiden Männer standen schweigend einige Minuten da und starrten in den trüben Regenhimmel, beide mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
 

„Wisst ihr,“ begann nach einer Weile Mazaki, seine Stimme leise und abwesend, als ob er tief in Erinnerungen versunken sei, „die Männer, die sich der Kihei-tai anschließen, tun das aus freien Stücken. Sie sind meistens jung oder,“ er unterbrach sich und kicherte, „etwas älter so wie ich. Doch voller Tatendrang. Wir wollen etwas verändern!“
 

„Das verstehe ich,“ meinte Yoshida leise. „So ist das am Anfang immer. Man ist voller Zuversicht, voller Idealismus... Man denkt, man kann alle äußeren Umstände überwinden...“ Er unterbrach sich. Bittere Erinnerungen an Kyoto und einen Jungen mit roten Haaren stiegen in ihm auf.
 

„Wisst ihr,“ redete Mazaki weiter, „als ich im Herbst letzten Jahres zu den Kihei-tai gegangen bin, war ich auch voller Ungeduld. Ich konnte es kaum erwarten, etwas zu verändern. Endlich hatte ich wirklich das Gefühl, etwas tun zu können. Wisst ihr, ich komme aus einer Bauernfamilie. Wir hatten kaum Rechte und... ach, ich will euch damit nicht langweilen.“

„Nein, nein,“ sagte Yoshida schnell, „dass tut ihr nicht. Erzählt weiter.“

Mazaki lachte und es klang wie ein dumpfes Poltern. „Ich will gar nicht viel erzählen, ich wollte eigentlich nur sagen, dass viele Bauern und Handwerker weit mehr Grund haben, das Shogunat zu hassen als Samurai.“
 

„Samurai in Anstellung, solltet ihr sagen,“ korrigierte Yoshida. „Ich war die meiste Zeit ein Ronin, und mit Samurai-Ehre allein lässt sich kein Magen füllen.“

Mazakis Gesicht wurde düster. „Mit einem Schwert kann man sich Essen beschaffen,“ sagte er leise.
 

Yoshida spürte die plötzliche Veränderung bei seinem Gesprächspartner. „Viele Ronin,“ sagte er vorsichtig, „haben ihre Ehre aufgegeben und Bauern das Leben schwer gemacht. Aber viele hätten gerne auch selber etwas zu essen angebaut... Land beackert...“ Er räusperte sich und sah zu Mazaki hinüber. Sehr zu seiner Erleichterung hatte sich dessen Gesicht schlagartig wieder aufgehellt.

„Ihr wärt gerne ein Bauer?“ fragte er, als ob er es kaum glauben könne.

Etwas beschämt zuckte Yoshida mit den Achseln. „Es wäre etwas, dass mir Spaß machen würde. Das Leben auf dem Land gefällt mir, nur als Samurai ist mir das in dieser Gesellschaft verboten.“
 

Mazaki lachte schon wieder. „Das stimmt wohl. Es sind ja doch einige Ronin, die sich der Kihei-tai angeschlossen haben, vielleicht mit ähnlichen Gedanken wie ihr. An dem Tag, als ich dazugestoßen bin, war sogar ein kleiner Junge mit mir unterwegs, der unbedingt sein Schwert der Kihei-tai zur Verfügung stellen wollte. Ich schätze, er war gerade mal volljährig geworden, er sah jedenfalls unglaublich jung aus.“

Mazakis Gesicht nahm einen Ausdruck von Abwesenheit an.

„Jedenfalls haben sich die Männer erst über ihn lustig gemacht. Doch was der Junge damals zu mir gesagt hat, kann ich bis heute nicht vergessen. Es erinnert mich immer an die zwei Seiten der Medaille.“
 

„Inwiefern?“ fragte Yoshida, dessen Neugier geweckt worden war.

„Nun,“ erklärte Mazaki, „der Junge war so überzeugt davon, dass er mit seinem Schwert die Menschen in Japan beschützen könne... eine Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit herbeiführen könne... er sprach so überzeugt, dass wir alle für einen Moment lang nichts sagen konnten.“

Mazaki räusperte sich. „’Um für die Zukunft Japans und für die Menschen, die unterdrückt werden, einzutreten, ist man nie zu jung. Höchstens zu schwach. Und ich bin nicht zu schwach. Ich werde die Menschen beschützen und mit den Ishin-shishi den Frieden in Japan sichern!’ Das waren seine großen Worte. Ich konnte sie bis heute nicht vergessen.“

Er sah hinüber zu Yoshida, der still geworden war und traurig auf den schlammigen Boden blickte. „Diese Worte erinnern mich an jemanden, den ich kenne... kannte,“ flüsterte er fast.
 

„Wirklich?“ fragte Mazaki neugierig.

Yoshida schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu verscheuchen. „Was meint ihr mit den zwei Seiten der Medaille?“
 

„Naja. Der Idealismus des Jungen war wirklich herzerfrischend. Aber gleichzeitig hat es mir in der Seele wehgetan, in seine hellen, blauen Augen zu schauen.“

Neben ihm zuckte Yoshida unmerklich zusammen.

„Ich wusste, dass so eine reine Seele im Krieg früher oder später Schaden nehmen würde.“ Mazaki zog seinen durchnässten Mantel enger um sich. „Ich weiß nicht, was mit dem Jungen passiert ist, er war jedenfalls trotz seiner geringen Größe und seines Alters unglaublich talentiert mit dem Schwert. Er war nur eine Woche bei der Kihei-tai, wenn überhaupt, dann ist er mit Katsura Kogoro persönlich nach Kyoto gereist, wahrscheinlich als sein Leibwächter oder sowas. Ich denke— ist irgendwas, Yoshida-san?“
 

Der ältere Mann sah, dass sein jungendlicher Anführer plötzlich sehr blass geworden war.

„Ich...“ stammelte Yoshida, bevor er einige Male tief durchatmete und sich wieder fing.

„Geht es euch nicht gut?“ fragte Mazaki besorgt.

„Doch, doch.“ Yoshida zwang sich schnell zu einem schwachen Lächeln. „Es ist nur... ihr habt mich gerade an einen Freund erinnert...“

Mazaki nickte, als ob er Bescheid wüsste. Dann sprach er weiter. „Ich weiß nicht, was aus dem Jungen geworden ist. Ich kann nur hoffen, dass er seinem Idealismus in den blutigen Straßen von Kyoto treu bleiben konnte. Wie sagt man...“ Er kratzte sich am Kopf. „Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert. Hoffentlich er sich nicht Hals über Kopf in irgendwelche Gefahren gestürzt.“
 

Yoshida hatte plötzlich einen sehr bitteren Geschmack im Mund.

Mit rauer Stimme fragte er, „hatte der Junge, von dem ihr sprecht, zufällig rote Haare?“

Mazaki zog überrascht die Augenbrauen hoch in seine faltige Stirn. „Ja! Aber woher... kennt ihr ihn etwa? Ich glaube, er hieß Ken... irgendwas mit Ken...“
 

„Kenshin,“ ergänzte Yoshida tonlos.
 

„Genau,“ rief Mazaki freudig aus. „Habt ihr ihn in Kyoto kennen gelernt?“

Yoshida nickte.

„Was hat er dort gemacht? Habt ihr mit ihm zusammen gekämpft? Ich bin mir sicher, er ist in Kyoto eine große Hilfe, so talentiert wie er mit dem Schwert ist...“

Langsam nickte Yoshida erneut, nur lief es ihm diesmal dabei eiskalt den Rücken hinab. „Er ist... eine große Hilfe.“
 

Mazaki musterte Yoshida von der Seite. Dann, als ob er verstanden hätte, verfinsterte sich sein Gesicht und er schüttelte langsam den Kopf. „Im Krieg ist kein Platz für zuviel Idealismus, nicht wahr?“
 

Doch Yoshida antwortete nicht mehr, er hatte sich ein Stück weggedreht und starrte finster in den Regen hinaus. Schmerzhafte Erinnerungen fluteten in ihn zurück. Er sah vor sich Kenshins große, blaue Augen, die auch Mazaki beschrieben hatte. Und im nächsten Moment sah er dieselben Augen, aber gefährlich verengt, gelblich glitzernd. Und dann sah er sie stumpf, resigniert, tot, als sie das unausweichliche Ende ihrer Freundschaft erklärten.

Mazaki dachte, das Gespräch wäre beendet und wollte schon zu den anderen Männern hinüber gehen, als sich Yoshida doch noch einmal zu ihm umdrehte.
 

„Ich habe eure Frage noch nicht beantwortet, Mazaki-san.“

Er sah ihn direkt an, seine Augen entschlossen, hart.

„Auch in Kyoto regnet es im Frühling. Und es regnet im Sommer, im Herbst, selbst im Winter. Es regnet Blut. Und es wird weiterregnen, bis diese Revolution endlich vorbei ist.

Egal, was ihr noch über diesen Jungen mit den roten Haaren hören werdet... egal, was man sich erzählt... ich bitte euch, Mazaki-san, behaltet folgendes in Erinnerung.“ Y

oshidas Augen schienen fast zu glühen. „Er... Kenshin... ist ein guter Mensch. Ich bin mir sicher, dass der Idealismus in ihm niemals stirbt, trotz Kyoto, trotz...“ Er unterbrach sich.

Mazaki musterte seinen Anführer interessiert. Ihm schien diese Sache sehr am Herzen zu liegen, worum auch immer es gehen mochte. Mazaki hatte keine Ahnung.
 

„Wie ihr gesagt habt, Mazaki,“ sprach Yoshida weiter, diesmal mehr zu sich selbst, „jede Medaille hat zwei Seiten.“ Dann war er wieder stumm und diesmal war das Gespräch wirklich beendet.
 

Mazaki schaute unter dem Dachvorsprung hinaus in den Regen. Er war verwirrt. Die dunklen Vorahnungen, die ihn immer beschlichen, wenn er an den rothaarigen Jungen dachte, schienen sich in irgendeiner Art und Weise bewahrheitet zu haben – sonst hätte Yoshida nicht so geheimnisvolle Andeutungen gemacht.
 

Komisch... er hatte den Jungen nur wenige Tage kennen gelernt und trotzdem... Mazaki schüttelte den Kopf.

„Warum mache ich mir so viele Gedanken?“ sprach er zu sich selbst. „Der Junge wird schon auf sich selbst aufpassen. Wenn er so stark ist, wie ich mir denke, dann wird er nicht so leicht auf die schiefe Bahn kommen... oder gar zu so jemandem werden wie Hitokiri Battousai.“
 

Mazaki zog fröstelnd seinen Mantel noch enger um sich.

Selbst im Lager der Kihei-tai hatten sie schon Geschichten über diesen furchterregenden Killer gehört. Keiner wusste es mit Sicherheit, doch da er nur Anhänger des Shogunats tötete, musste er wohl auf ihrer Seite stehen. Einige Männer hatten sogar gemunkelt, dass ihm Katsura Kogoro persönlich die Befehle gab. Mazada musste plötzlich über seine eigenen Worte lachen, ein bitteres Lachen.
 

„Zwei Seiten der Medaille,“ murmelte er. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass diese Metapher auch für jemanden wie Battousai galt.
 

Yoshidas düsterer Blick war inzwischen einem grimmigen Gesichtsausdruck gewichen und er hatte die Fäuste geballt. Das Gespräch mit Mazaki hatte ihn wieder wachgerüttelt. Wie hatte er all die Wochen die Gedanken an Kenshin und Kyoto so unterdrücken können? Wie hatte er seine Pflichten als Freund so vernachlässigen können, sich von anderen Dingen so vereinnahmen und ablenken lassen? Yoshida wusste, dass er Zeit gebraucht hatte, um die ganze Sache mit Daisuke und Buntaro zu verarbeiten. Immerhin hatte er diesen zwei Menschen mehr als ein Jahr lang vertraut – und dann hatten sie ihn verraten.
 

Doch eine Entscheidung war längst überfällig – Die Entscheidung, zu handeln. Yoshida spürte plötzlich, wie ein Teil der Lähmung, die ihn seit seinem Abschied aus Kyoto ergriffen zu haben schien, von ihm abfiel und er trotz der schwer von Feuchtigkeit getränkten Luft freier atmen konnte.

„Sobald ich aus diesem Schlammpfuhl wieder in die Zivilisation zurückgekehrt bin werde ich dir schreiben, Kenshin,“ versprach er seinem Freund leise. Das war das mindeste, was er tun konnte.
 

--
 

Mit offenem Mund starrte Hioshi hin und her zwischen der vermummten Gestalt, die demütig auf dem Boden der alten Scheune am Stadtrand Kyotos verharrte und dem Anführer der dritten Einheit der Shinsengumi, der lässig an einer Zigarette zog und mit glühenden Augen den Rauch langsam in seine Richtung blies.
 

„W-Wie,“ stammelte Hioshi, als er endlich seine Stimme wiedergefunden hatte, „heißt das, die O-Niwabanshu wissen bereits von der Existenz Hitokiri Battousais?“
 

Fragend sah er schnell wieder zu Saito, der ernst wie eh und je schaute, aber genauso überrascht wie er selbst ein musste, dem unruhigen Zucken seiner linken Augenbraue nach zu urteilen.
 

„Hai,“ kam es dumpf aus der Richtung des vermummten Ninja. „Wir haben einem Treffen mit euch, Hioshi-san und euch, Saito-san, nur deshalb zugestimmt, weil wir euch informieren wollten, dass bereits vom Clan der O-Niwabanshu Schritte eingeleitet wurden, um diesen Attentäter zu vernichten.
 

„Aber woher—.“

„Hioshi-san,“ erklärte Saito mit ruhiger Stimme, „wer kennt sich besser unter den Schatten aus als die Schatten selbst?“ Dann nickte er wieder in Richtung des Ninja. „Wenn jemand weiß, was in den Schatten vor sich geht, dann die Oniwaban.“

Mit einem anerkennenden Kopfnicken nahm der Ninja das Kompliment zur Kenntnis.

„Wir werden eurer Bitte dennoch folge leisten,“ nuschelte er unter seiner Gesichtsverhüllung. „Auch die Oniwaban brauchen eine letzte Bestätigung. Unsere Interessen und Pläne überschneiden sich.“

Saito nickte und übergab dem Ninja einen Zettel. Der Mann ließ ihn schnell unter seinem schwarzen Umhang verschwinden, verbeugte sich noch einmal und sprang dann durch die Luke des Daches, durch die er vor wenigen Minuten erst lautlos hereingelitten war, wieder hinaus.
 

Saito warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. „So, das wäre erledigt. Hioshi-san, danke für euer schnelles Handeln. Jetzt wissen wir mehr.“
 

„Aber Saito-san!” Hioshi schüttelte immer noch unverständig den Kopf. „Ich verstehe das nicht. Wenn der Clan der Oniwaban schon von Hitokiri Battousai weiß, dann bedeutet das doch auch, dass das Bakufu schon alles über ihn weiß – dass das Shogunat Bescheid weiß!“

Ein spöttisches Lächeln umspielte Saitos Lippen. „Das habt ihr aber gut kombiniert.“

Hioshis Blick verfinsterte sich. „Unterlasst eure sarkastischen Kommentare, Saito. Ihr wisst, dass diese Sache für mich persönlich wichtig—.“

„Das ist genau das Problem,“ schnitt ihm Saito das Wort ab. „Anscheinend haben Shinsengumi und Mimiwarigumi von nun an nicht mehr freie Hand. Das Bakufu hat schon seine besten Agenten losgeschickt, die Oniwaban.“
 

„Aber ich habe mit niemandem außer euch über diese Sache gesprochen. Keiner außer mir weiß von dem Vorfall in der Shinsakusen-Gasse genaueres.“

Saito drehte sich ungeduldig um und ging zur Tür der schäbigen Hütte.

„Habt ihr immer noch nicht verstanden, Hioshi? Das Bakufu hat seinen eigenen Informanten unter den Ishin Shishi. Vermutlich jemanden ganz weit oben.“

Hioshi zog eine Augenbraue hoch. „Warum haben sie dann nicht schon längst zugeschlagen?“

Saito seufzte und fischte eine weitere Zigarette aus seinem Ärmel.

„Vermutlich geht es dem Bakufu genau wie uns: sie wissen nicht, ob sie ihren Informationen vertrauen können.“
 

Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte Hioshi auf den Boden. „Das heißt... dieser Überfall auf Battousai ist ein Test?“ Hioshi schlucke. „Ein Test, ob der Verräter wirklich die richtigen Informationen preisgegeben hat. Und ob... Hitokiri Battousai wirklich so gut ist, wie man sich erzählt? War es auch das, was ihr vorhattet, Saito-san? Wolltet ihr mit dem Attentäter nur Battousai testen?“ Hioshis Augen verengten sich, als es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel.

„Wolltet ihr mit dem Ninja nur testen, ob er ein würdiger Gegner für euch ist? Ob es sich lohnt, wenn ihr euch auf seine Spur begebt?“

„Hmpf,“ war Saitos einziger Kommentar und er stieß die Tür der kleinen Hütte auf. Sofort erfüllte das Licht der Nachmittagssonne den dunstigen, kleinen Raum. Hioshi trat hinter ihn.
 

„Da ist noch etwas, was ICH nicht verstehe,“ murmelte Saito leise, während er die Stadt mustere, die sich vor ihm im Tal ausbreitete. „Was für ‚Pläne’ hat das Bakufu bereits gegen Battousai geschmiedet?“

Hioshi zuckte die Achseln. „Vielleicht ein weiteres Attentat? Vielleicht einen Hinterhalt?“

Saito bließ den Rauch in den Himmel und ergänzte, „jemand, der die Schwachstellen des Hitokiris ausspionieren soll, bevor die Ninja zuschlagen...“
 

Hinter sich hörte er Hioshis bitteres Lachen. „Schwachstellen bei einem Hitokiri wie Battousai? Der so kaltblütig handelt? Wenn das Bakufu schon so lange von ihm weiß, wie es behauptet, dann scheint er nicht allzu viele Schwachstellen zu haben, sonst hätten sie doch schon längst gehandelt.“
 

Saitos Augen verengten sich.

Hioshi hatte recht. Eine offensichtliche Schwachstelle bei so einem gefährlichen Hitokiri wie Battousai war unwahrscheinlich... immerhin war er jetzt schon mindestens seit Dezember, wenn nicht schon früher in Kyoto unterwegs und er lebte noch.

Doch kein Mensch war vollkommen. „Wenn es keine Schwachstellen bei ihm gibt,“ überlegte er und seine Augen erglühten rot, während er einen tiefen Zug von seiner Zigarette nahm, „dann würde ich als erstes versuchen, ihm eine zu machen.“
 

Hioshi trat an ihm vorbei und begann, den Weg zurück in die Stadt zu laufen. Langsamen Schrittes folgte Saito.

„Vielleicht machen wir uns zu viele Gedanken,“ rief ihm der Anführer der Mimiwarigumi über die Schulter zu. „Wenn die O-Niwabanshu so gut sind, wie ihr Ruf, dann wird Battousais Kopf morgen Früh auf einem Spieß vor dem Palast des Kaisers stecken.“ Er lachte voller Hass. „Zumindest wäre das mein innigster Wunsch...“
 

Saito schnippste seine Zigarette auf das Straßenpflaster und musterte den Nachmittagshimmel. In wenigen Stunden würde er wissen, ob Battousai ein ernst zu nehmender Gegner für ihn war. Ob er es wert war, dass er ihm seine volle Aufmerksamkeit widmete.

Falls ja, und das bereitete ihm Kopfschmerzen, musste er irgendwie versuchen, ihn aufzuspüren und mit ihm zu kämpfen – ohne dabei den Oniwabanshu und ihren undurchsichtigen Plänen in den Weg zu kommen. Der Gedanke einer Kooperation mit den Ninja gefiel ihm überhaupt nicht.
 

Es wurde Zeit, dass er Koudou Isami über diese Sache gründlich informierte. Und Okita.
 

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Es regnete Blut.
 

Für nichts hatte diese Metapher je besser gepasst als für Kyoto im Frühling 1864. Jede Nacht floss das Blut durch die Gassen, in hellrosa Sturzbächen, verdünnt durch den andauernden Regen. Auch diese Nacht ließ es Hitokiri Battousai wieder Blut regnen. Der Auftrag war einfach. Er stürmte im Dunkeln auf seine Ziele zu, die wegen des Regens unter einem schmalen Vordach lehnten und tief in ein Gespräch vertieft waren. Bevor ihre Augen überhaupt registrieren konnte, was da auf sie zurannte, waren sie schon tot.
 

Mit einem Schirm verließ Kenshin zügig den Schauplatz seiner jüngsten Tat. Der Regen machte auch ihn langsam aggressiv. Er wünschte sich, es würde aufhören. Diese ganze Revolution würde aufhören. Doch es ging immer weiter, endlos. Fast lachte er über seine eigene Dummheit – hatte er tatsächlich geglaubt, dass durch sein Schwert allein die Revolution in wenigen Monaten vorbei sein würde?!

Missmutig drückte er sich ein Stück Stoff auf die Narbe an seiner Wange. Sie blutete immer noch, war immer noch nicht verheilt.
 

„Battousai,“ übertönte eine Stimme hinter ihm das Regengeprassel. Wenige Sekunden später war Izuka an seiner Seite. Der Letzte, auf den er jetzt Lust hatte.
 

„Du bist wirklich ein geborener Killer. Vier Männer tot und nicht ein Tropfen Blut auf deiner Kleidung!“
 

Kenshin lief weiter und ignorierte Izukas bewundernde Worte. Er hasste sie. Er hasst sich. Er wollte für nichts bewundert werden, was zu tun er hasste.
 

„Gehst du noch mit auf einen Schluck Sake?“

Kenshin zwang sich dazu, Izuka anzuschauen. Seine Augen signalisierten Gefahr bei jedem weiteren Wort. „Ie,“ antwortete er frostig.

Sofort hob Izuka beschwichtigend die Hände. „Ist ja schon gut. Ich hab kein Problem damit, alleine zu trinken! Du anscheinend auch nicht.“ Dann eilte der schnurrbärtige Mann durch den Regen davon, froh, den rothaarigen Dämon hinter sich lassen zu können.
 

Kenshin bog ab in eine schmale Gasse. Die letzten Wochen war er immer wieder hierher gekommen, kurz vor und nach fast jedem seiner Aufträge. Hier konnte er alleine trinken, niemand würde ihn ansprechen und der Sake würde Vergessen und Leere bringen.
 

Er trat ein in die warme Gaststube, die heute voller war als gewöhnlich. Die verschüchterte Wirtin wies ihm mit einer tiefen Verbeugung seinen gewohnten Platz in der Ecke mit Blick auf die Tür zu.

„Das übliche, O-Samurai-san?“

Kenshin nickte knapp während er schnell die Gäste musterte. Sekunden später war er sich sicher, dass keiner von ihnen eine Gefahr für sich und sein Schwert darstellte. Dennoch hatte er irgendwie das Gefühl, als ob ihn jemand beobachtete. Mit einem Kopfschütteln schob er schließlich seine unguten Gefühle auf die innere Anspannung und den Stress der letzten Tage.
 

Wenige Minuten später hatte er die erste Flasche lauwarmen Sake schon halb geleert. Er fühlte sich gleich besser - Dennoch: jeder einzelne Schluck war eine Qual.
 

Jeder Tropfen Sake, den er trank, schmeckte nach Blut.

Alles, was er in letzter Zeit trank oder aß, schien metallisch zu schmecken. Seine Kleidung und sein Haar, frisch gewaschen, schienen nach Blut zu riechen. Kenshin hatte langsam das Gefühl, dass ihn dieser Geruch wie ein roter Vorhang umgab. Der Vorhang schien immer dicker zu werden und ihn immer enger einzuhüllen. Er nahm ihm manchmal fast die Luft zum Atmen. Nach jedem Auftrag schien der Geruch von Blut stärker an ihm zu haften, unabwaschbar.
 

Blub.
 

Kenshins Mundwinkel zuckten. Blut aus seiner Wunde war soeben in sein Sake-Schälchen getropft. Mit leerem Blick hob er es an und musterte Flüssigkeit, in der sich der Tropfen langsam auflöste und alles hellrosa färbte.
 

Er trank das Schälchen in einem Zug leer. Was machte es für einen Unterschied, ob er Blut wirklich schmeckte oder sich den Geschmack nur einbildete?
 

Neben ihm tat ein Mädchen das gleiche. Ein Mädchen, das nach Pflaumenblumen duftete.

Hakubaiko. Kenshin bemerkte sie nicht, er roch nur das Blut, das ihn wie Nebel umgab und starrte sein verzerrtes Spiegelbild im Sakeschälchen an
 

„Hey Mädchen, trink mit uns!“
 

Die groben Stimmen direkt hinter ihm rissen Kenshin aus seinen düsteren Gedanken. Anscheinend versuchten zwei Typen, irgendeine Frau aufzureißen. Was ging ihn das an? Er drehte sich nicht einmal um und trank sein Schälchen in Ruhe aus.
 

„Wir sind Ishin Shishi aus Aizu,“ blökten nun die zwei Männer, offensichtlich betrunken. Kenshins Augen verengten sich und er stellte das Schälchen ab.

„Du solltest uns heute Abend gut behandeln, Mädchen, denn immerhin kämpfen wir für alle unterdrückten Menschen.“

Das raue Gelächter und diese Worte voll von unsäglicher Arroganz und Dummheit – Kenshin konnte nicht länger zuhören.
 

„Aizu ist auf der Seite des Shoguns, ihr Idioten.“
 

Seine Worte waren leise, bedrohlich, aber dennoch für jedermann im Trinklokal zu hören. Allerdings wusste keiner, wer gesprochen hatte.

Die zwei grobschlächtigen Kerle ließen von ihrer Beute ab und sahen sich mit blutunterlaufenen Augen im Lokal um. „Wer hat das gesagt?“ riefen sie wutentbrannt, ihre Hände schon bei den Schwertgriffen.
 

Im Lokal war es so still, dass man eine Stecknadel zu Boden hätte fallen hören. Alle Gäste schauten betreten zu Boden, keiner wollte sich mit den zwei Raufbolden anlegen.
 

„Ha!“ lachte der eine der beiden Kerle höhnisch, „dachte ich’s mir doch.“

Der andere nickte. „Da hat aber jemand noch mal Glück gehabt.“ Er grinste und wollte sich wieder dem Mädchen zuwenden, als ihn plötzlich erneut der Klang dieser ruhigen aber so gefährlichen Stimme zusammenzucken ließ.
 

„Sicher hat da JEMAND Glück gehabt. Wenn du dein Schwert gezogen hättest, dann wäre ich dein Gegner gewesen.“
 

Der größere der beiden Männer fuhr herum, die Stimme schien direkt hinter ihm zu sein. Er wollte sein Schwert ziehen, doch irgendwie schien es in der Schwertscheide fest zu stecken. Als er nach unten sah, gefor er zu Stein.

Da stand ein Junge, der ihm gerade mal bis zur Brust reichte, aber dessen Ausstrahlung es bewirkte, dass ihm der kalte Schweiß ausbrach. Er hatte rote Haare und hielt eine Hand lässig auf seinem Schwertgriff, so dass er es nicht aus der Scheide ziehen konnte. Was für eine Kraft...?!
 

„Lass mich dir einen Rat geben,“ sprach der Junge, sein Gesicht im Schatten unter seinen Haaren verborgen. „Die Gewalt hier wird mit jedem Tag schlimmer.“

Er sah auf, eisblaue Augen, in denen dennoch etwas zu glühen schien und zwar sicherlich nicht der Kerzenschein. Der falsche Ishin Shishi schluckte, das Atmen fiel ihm plötzlich schwer.
 

„Kyoto ist kein Platz für Aufschneider. Ihr solltet dorthin zurückkriechen, von wo ihr hergekommen seid.“ Wenn die Stimme vorhin bedrohlich geklungen hatte, so klang sie jetzt wie der sichere Tod.
 

Unfähig, etwas zu erwidern, stolperten die Männer einige Schritte zurück und starrten ihren Widersacher an. Um sie herum erhob sich unmittelbar nachdem der Junge geendet hatte lauter Beifall.

„Genau!“

„Recht hat er!“

„Ihr Feiglinge! Haut ab!“

Die Stimmung war am brodeln, und die zwei Trunkenbolde flüchteten mit hochroten Gesichtern zur Tür hinaus.
 

Kenshin stand auf, steckte rasch seine Schwerter in den Obi und nahm seinen Schirm. Es war höchste Zeit, zu gehen. Er hatte schon genug Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Schnell warf er der Wirtin ein paar Münzen auf den Tisch und murmelte halbherzig irgendwas entschuldigendes. Er hörte noch das Lob der anderen Gäste, bevor er – wie immer - aus dem Hinterausgang auf eine Seitengasse trat.
 

„Wow, der Junge war echt gut. Wie ein Kämpfer für Frieden!“
 

Draußen schüttete es in Strömen. Er konnte nicht sehen, dass das schwarzhaarige Mädchen ihm mit ausdruckslosen Augen hinterher sah, während er in der Dunkelheit verschwand. Dann stand auch sie langsam auf und packte ihren Schirm. Ihre Hände zitterten. Sie wusste, wohin der rothaarige Junge gehen würde. Sie wusste, wer ihn auf dem Weg erwartete.
 

Auch Kenshin umfasste den Griff seines Schwertes, um seine bebenden Hände unter Kontrolle zu bringen.

„Was ist nur mit mir los,“ murmelte er, während er auf die nasse Straße starrte. „Der Geruch von Blut wird immer stärker... Noch vor ein paar Monaten hätten mich solche Typen nicht so zur Weißglut gebracht.“ Er atmete tief durch. Ein Kämpfer für Frieden? Wenn die Männer nicht so schnell das Weite gesucht hätten, dann hätte er sie ihre lächerlichen Schwerter ziehen lassen. Und getötet.
 

Kenshin lief es eiskalt den Rücken hinab. War seine Hemmschwelle zu töten schon so weit gesunken, dass er irgendwelche dahergelaufenen Bauerntrottel mit rostigen Schwertern angegriffen hätte? Oder hatte er zuviel Sake getrunken, seine Urteilsfähigkeit und Reaktion getrübt? Das konnte nicht sein. würde. Er hatte genug getrunken, um seine Gedanken zur Ruhe zur bringen, aber seine Killer-Instinkte zu betäuben konnte sich ein Hitokiri wie er auf keinen Fall erlauben.
 

Er sah hoch zu den Sternen, doch nichts als schwere Regenwolken entgegneten seinen fragenden Blick.
 

--
 

„Diese Straße ist perfekt.“ Der breite Mann packte seinen Schwertgriff. „Und da kommt er schon.“

„Bist du sicher, dass du ihn töten willst?“ Sein etwas dünnerer Freund biss sich vor Angst auf die Unterlippe.

„Verdammt noch Mal, klar! Niemand behandelt mich so.“ Er spuckte aus. „Niemand stellt mich so vor anderen bloß! Schon gar nicht so ein vorlauter Knirps!“ Er zog langsam sein Schwert, doch der Angstschweiß in seinem Gesicht strafte seine hasserfüllten Worte Lügen.

„Du kannst ihn nicht angreifen,“ wimmerte sein Freund. „Er ist ein Killer, das sieht man an seinen Augen.“

„Idiot. Jeder, der Nachts in Kyoto unterwegs ist, ist ein Killer.“
 

„Das stimmt!“
 

Nacktes Entsetzen stand den Männern ins Gesicht geschrieben, als sie herumfuhren und hinter sich einen gewaltigen Mann erblickten, verhüllt in schwarze Kleidung.

„Ihr seid im Weg. Macht’s gut!“

Das letzte, was die Trunkenbolde sahen, waren zwei Schwerter an Ketten, die auf sie niedersausten.
 

Der dicke Mann fiel als erster. Den Zweiten ließ er noch ein Stück auf sein eigentliches Opfer zurennen.
 

Hinter seiner Gesichtsmaske lächelte der Ninja.

Gleich würde er endlich auf einen ebenbürtigen Gegner treffen – wenn dieser schmächtige Junge, den zu töten er beauftragt, wirklich Battousai war.

Er hatte es erst kaum glauben können, als er ihn gesehen hatte. Ihm war gesagt worden, dass ein Mann mit roten Haaren in dieser Nacht von einem bestimmen Trinklokal aus diese Seitengasse benutzen würde. Anscheinend hatte sein Informant recht gehabt – er musste also die Gewohnheiten des Hitokiri relativ gut kennen. Dennoch hatte er sich den Mann, dessen Namen man bereits fürchtete, anders vorgestellt – und sicherlich hatte er alles außer dieses halbe Kind erwartet.
 

Doch er war nicht dumm. Jahre erbarmungslos-harten Trainings hatten ihn zu einem der besten Killer der O-Niwabanshu gemacht. Und er spürte, dass an diesem Jungen mehr dran war, als das Auge sehen konnte.

Voller Wucht schmiss er eines seiner Ketten-Schwerter dem flüchtenden und um Hilfe kreischenden Mann hinterher. Es durchbohrte ihm das Gesicht und in einem Schwall von Blut kam der Mann zum liegen. Jetzt waren es nur noch sie beide, die sich in der Gasse gegenüberstanden. Hitokiri und Hitokiri. Er lächelte unter seiner schwarzen Gesichtsmaske, als sein Gegner ihn bewegungslos erwartete. Er sah aus, als ob er ruhig dastehen würde, den Schirm achtlos fallengelassen, aber der Ninja wusste, dass jede Faser seines Körpers angespannt war.
 

„Hitokiri Battousai, hab ich recht?“ kam seine Stimme gedämpft unter dem Mundschutz hervor.

„Was willst du?“ Kalte, blauen Augen musterten ihn, scheinbar desinteressiert. Battousai schien nicht im mindesten beunruhigt darüber zu sein, dass vor ihm gerade ein Mann blutspritzend zu Boden gefallen war.

„Du wirkst unschuldig, aber ich kenne dich. Ich weiß, dass du es bist. Ich habe dich beobachtet.“

Der Junge verzog immer noch keine Miene. Er hob nicht einmal die Hand zu seinem Schwertgriff. Wie Leichtsinnig. Oder selbstsicher? Nur eine Möglichkeit, Gewissheit zu erlangen.
 

In einem Fluss von Bewegung warf der Ninja sein Kettenschwert nach vorne.
 

„Stirb!!“
 

--
 

Sie packte ihren Schirm fester, als sie nach draußen in die feucht-kalte Nachtluft trat und ihrem Schicksal folgte. Sie kannte den Weg. Sie kannte ihren Auftrag.
 

Dieser Dämon würde es heute nacht wieder Blut regnen lassen. Vielleicht sogar ihr Eigenes? Es war ohne Bedeutung. Sie war nur noch ein Zahnrad in dem mörderischen Getriebe der Maschine, die den Mann, den sie am meisten auf der Welt hasste, zu Fall bringen würde.
 

Sie hatte soviel getrunken...

... ohne richtige Orientierung lief sie dem Hitokiri hinterher. Der Regen prasselte schwer auf ihren Schirm und das Atmen fiel ihr ebenso schwer. Da – sie hörte Waffengeklirr. Sie zwang ihre Füße, schneller zu gehen. Sie wollten ihr kaum gehorchen.
 

Durch einen Schleier von Regentropfen sah sie silbriges Metall aufblitzen. Dann traf sie etwas warm im Gesicht. Am ganzen Körper. Überall.

Blut, überall Blut.
 

Genauso rot wie sein Haar. Langsam drehte er sich zu ihr um. In seinen Händen zwei Schwerter, aufblitzende Augen in seinem Gesicht.

„Das war es also,“ dachte sie, während sie einige Schritte nach vorne taumelte. Der Alkohol verlieh ihr dazu den nötigen Mut, aber ihre Füße schwankten. Die Beine wollten sie nicht mehr tragen. Anklagend streckte sie ihre zitternde Hand aus.
 

„Du,“ flüsterte sie, ihre Sicht verschwamm. „Du bist derjenige, der es Blut regnen lässt.“
 

Dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie ließ sich nach vorne fallen, bereit, in den Schwertern des Mannes ihr Ende zu finden, der auch ihren Liebsten getötet hatte.
 

--
 

Wörter?

Ie - Nein

Koudou Isami (Kondo) - Anführer der Shinsengumi

Tabi - Sandalen
 

Ich hoffe, es ging nicht zu schnell vorwärts? Das nächste Kapitel wird hoffentlich wieder etwas kürzer. Immerhin sind wir jetzt wieder in der Storyline von Manga und Ova...
 

Nächstes Kapitel: Verschiedene Ereignisse bewegen Kenshin, sei fast schon versteinertes Herz wieder zu öffnen. Er weiß nicht, dass er damit seinen Verrätern in die Hände spielt...

Kapitel 21 - Die nächsten Schritte

Es ist geschafft!! Das Kapitel ist tatsächlich fertig!!

Warum hat es so lange gedauert? Einfache Antwort: mein PC ist abgebrannt. Und das meine ich wörtlich. Lüftung kaputt, den ganzen Tag an und dann – Qualm. Es hat gedauert, bis ich alle Daten gerettet hatte, außerdem hatte ich noch viele andere Sachen zu tun. Jetzt bin ich einfach nur glücklich, dass es mit der Story weitergehen kann... leider muss ich sagen, dass es noch dauern wird, bevor ich zum Ende komme. Ich habe in diesem Kapitel einige neue Handlungsstränge gelegt, die noch aufgeklärt werden müssen ^^ Aber ich habe definitiv nicht vor, die ganze Geschichte von Kenshin und Tomoe nachzuerzählen. Das hier ist immer noch eine blutige Bakumatsu-Fic und Kenshin steht im Mittelpunkt.
 

Danke an Eure Geduld und für das lange Warten! Ich hoffe, es hat sich gelohnt! Wenn ja (oder nein), dann lasst es mich wissen! Zur Einstimmung eine kleine Wiederholung. Wer sich noch erinnert, kann das einfach überspringen.
 

Was bisher geschah:
 

Kenshin ist vollends in der Realität eines Hitokiris angekommen. Seine Menschlichkeit scheint sich zu verabschieden, doch plötzlich rettet er ein Mädchen – er weiß selbst nicht genau, warum. Sein alter Freund Yoshida unterdessen hat sich entschlossen, doch noch den Kontakt zu Kenshin zu suchen. Unterdessen plant erneut jemand aus dem Kreis der Ishin Shishi finstere Intrigen – jedoch weitaus finsterer und gefährlicher als alle zuvor. Das Gelingen der Revolution steht auf Messers Schneide, denn Kenshin wird wieder einmal, ohne es zu merken, von Feinden eingekreis: die Shinsengumi sind dem rätselhaften Hitokiri Battousai auf der Spur – mit Unterstützung der Oniwabanshu Ninja. In seinem engsten Umfeld jedoch lauert der gefährlichste Feind von allen...
 

Die wichtigsten Personen:
 

Kenshin – genannt Hitokiri Battousai. Inzwischen 15 Jahre alt und der gefürchtetste Killer Kyotos.

Yoshida – ältester und einziger Freund von Kenshin, allerdings von Kyoto nach Choshuu versetzt.

Uchida – Soldat der Ishin Shishi, der sich um Kenshin sorgt.

Katsura Kogoro – Anführer der Ishin Shishi und Kenshins Auftraggeber

Izuka – Katsuras Mann für die Geheimoperationen und Attentate, direkter Vermittler zwischen Kenshin und Katsura

Katagai – Leibwächter Katsuras

Okami – Wirtin der Herberge Kohagi, Unterschlupf der Ishin Shishi

Saito Hajime – Anführer der dritten Einheit der Shinsengumi

Okita – Anführer der ersten Einheit der Shinsengumi

Hioshi – ehemaliger Anführer einer Einheit der Mimiwarigumi, die von Kenshin ausradiert wurde. Nun arbeitet er für Saito.
 

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Kapitel 21. Die nächsten Schritte
 

Ein lautes Pochen ließ Okami, die Wirtin der Kohagi-Herberge, aus ihrem Dämmerschlaf in der Küche empor schrecken. Eigentlich hatte sie vor dem Schlafengehen nur noch schnell einen Becher Tee trinken wollen, doch sie war wohl währenddessen eingenickt und hätte nun fast die längst kaltgewordene Flüssigkeit in ihren Schoß verschüttet. Schnell stellte sie das Gefäß beiseite und erhob sich etwas steif von ihrem Kissen, auf dem sie im Sitzen eingeschlummert war.
 

Die sterbende Glut in der Feuerstelle des Herdes neben ihr zeigte ihr an, dass sie bereits einige Stunden geschlafen haben musste. Es musste bereits weit nach Mitternacht sein. Blinzelnd rieb sich Okami ihre vom Schlaf schweren Augen, bevor sie ein weiteres, lautes Klopfen daran erinnerte, warum sie überhaupt aufgewacht war.
 

„Meine Güte,“ murmelte sie, während sie sich der Hintertür näherte. „Wer ist bei diesem Wetter wohl so spät nachts noch unterwegs?“ Den ganzen Tag, nein, die ganze Woche hatte es wie aus Kübeln geschüttet und auch die heutige Nacht bildete keine Ausnahme.

Grimmig schob Okami den Riegel beiseite. Es wussten doch alle, dass sie nasse Fußspuren auf ihren Tatami hasste.
 

Sie schob die Tür auf, dunkle Wassermassen trübten ihren Blick, bevor sich ihre Augen weiteten, als sie es rot aufblitzen sah.
 

„Kenshin!“
 

Sie hatte den Jungen schon seit Wochen nicht mehr richtig zu Gesicht bekommen, was sicherlich nicht an ihr lag, denn Kenshin war inzwischen ein Meister geworden, wenn es darum ging, Leuten aus dem Weg zu gehen und unbemerkt zu verschwinden. Immer, wenn sie es zeitlich doch einmal geschafft hatte, auf ein Gespräch an seine Zimmertür zu klopfen, hatte er sich stumm gestellt und nicht aufgemacht. Aus Angst, den wenigen Schlaf, den der Junge noch bekam, zu stören, hatte sie es nicht gewagt, einfach seine Tür aufzureißen, so wie es sonst ihre Art gewesen wäre.
 

„Komm rein,“ hauchte sie und schob die Tür weiter auf – und unterdrückte gerade so einen kleinen Schrei! Das, was da gerade eben rot aufgeleuchtet war, waren nicht nur Himuras Haare gewesen – es war sein Gesicht und sein ganzer Körper. Vom Regen verschmiert und ausgewaschen waren dennoch riesige rote Flecken auf seiner Kleidung zu entdecken. Seine Wange blutete. Und er hatte jemand blutenden über seine Schulter gehievt. Ein Mädchen!
 

„Bist du verletzt? Ist sie...?“

Ein paar blauer Augen blitzte sie an, während Kenshin den Kopf schüttelte. Anscheinend war zumindest ihnen beiden nichts Ernsthafteres zugestoßen.

„Kami-sama,“ murmelte Okami tonlos und gestikulierte den jungen Mann mit seiner Fracht in die Küche. Sofort legte Kenshin das Mädchen auf dem Boden nieder und trat einen Schritt von ihr weg, als ob sie giftig wäre.
 

Okami schloss schnell die Tür und rang um Fassung. Das Mädchen atmete tief und fest. Im Kerzenschein erkannte Okami, dass sie nicht verletzt war, sondern nur von Blut bespritzt. Und offensichtlich ohnmächtig. Sie blickte Kenshin scharf in die Augen und wartete auf eine Erklärung. Doch der rothaarige Junge stand nur da wie eine Salzsäule, sein Gesicht erstarrt.
 

„So,“ zischte sie schließlich, Besorgnis in Wut verwandelt. „Ihr Choshuu-Soldaten tötet die ganze Nacht und dann bringt ihr auch noch eure Mädchen mit, um die ich mich kümmern soll!“ Kenshin zuckte zurück und sah beschämt zu Boden. Sofort war Okamis Zorn verraucht. Da sah sie ihn wieder stehen, ihren kleinen Jungen mit den großen, traurigen, blauen Augen. Sie blinzelte – die Anstrengungen der letzte Tage hatten ihre Worte hart werden lassen.
 

„Was ist passiert? Wer ist dieses Mädchen?“ fragte sie, ihre Stimme jetzt deutlich weicher.

Ohne Aufzuschauen antwortete Kenshin: „Sie hat mich gesehen und wurde dann ohnmächtig. Ich brauche ein Zimmer für sie.“ Fragend und ein bisschen beschämt blickte er durch seine verklebten Haare nach oben.

Okami zog eine Augenbraue hoch.

„Nur für heute Nacht!“ fügte Kenshin schnell hinzu.

„Wie stellst du dir das vor, Himura? Wir sind restlos überbelegt. Du musst sie schon mit in dein eigenes Zimmer nehmen.“
 

Irgendwie schien sich Kenshins Gesichtsfarbe zu verändern.
 

Okami erlöste ihn erst nach einer Minute unangenehmen Schweigens. „Ich werde sie umziehen und einen Futon vorbereiten. Du kannst dich so lange saubermachen.“
 

Mehr als Erleichtert ob dieser Gelegenheit, schnell den Raum verlassen zu können, verschwand Kenshin sofort in Richtung Badehaus. Er hatte es vermieden, das Mädchen noch einmal anzusehen.
 

Okami jedoch musterte jetzt mit kritischem Blick die dunkelhaarige, junge Frau, die auf ihrem Küchenboden lag und die Tatami durchnässte. Ihr schöner, weißer Kimono war voller Blutspritzer, durch den Regen rosa verfärbt und zu bizarren Mustern verlaufen. Okami roch jetzt auch deutlich die Alkoholfahne, die von ihrem Atem ausging.
 

„Himura,“ seufzte sie, und sah zu der Tür, aus der Kenshin gegangen war. „Warum hast du sie hierher gebracht?“ Sie schüttelte den Kopf, als ob sie sich über Kenshin ärgern würde, doch in Wahrheit hatte sie sich schon seit Wochen nicht mehr so erleichtert gefühlt.
 

„Sie muss Kenshin bei seinem Auftrag gesehen haben,“ überlegte sie. Wenn das so war, und er sie nicht getötet hatte... bedeutete das dann, dass er noch Skrupel hatte? Dass diesem Mädchen gelungen war, woran sie selbst gescheitert war?

„Vielleicht hat es dieses Mädchen geschafft, irgendwelche Gefühle in Kenshin anzurühren...“

Okami kniete sich vor die Unbekannte und wischte ihr das Blut von der Wange. Bei der Berührung stöhne diese im Schlaf leicht auf, erwachte aber nicht. Vorsichtig band ihr Okami den Obi auf. Dabei fiel ein schwerer Gegenstand zu Boden.
 

Verblüfft hob die Wirtin des Kohagi-ya den Tanto auf. Seine schwarze Scheide schimmerte matt im Kerzenschein, sie war mit eingravierten Kirschblüten in weiß und gelb verziert, ein schönes Stück. Es war die traditionelle Waffe einer Samurai.
 

„Was bist du für ein Mädchen?“ murmelte Okami leise, während sie den Dolch in ihren eigenen Obi schob. „Ist es Schicksal, dass du jetzt hier auftauchst?“ Sie schüttelte besorgt den Kopf. Wer auch immer sie war, sie hatte die Geheimwaffe der Ishin Shishi gesehen – und lebte.
 

--
 

Noch während Okami dabei war, das fremde Mädchen in das Zimmer des Hitokiris zum Schlafen zu betten, und noch während Kenshin mit der üblichen, mechanischen Verbissenheit versuchte, seinen Körper von fremdem Blut rein zu waschen, verließ eine in Schwarz verhüllte Gestalt das Kohagiya durch die Hintertür. Mit raschen Schritten überquerte der Mann die breite Strasse, nachdem er sich mit einem Blick nach Links und Rechts vergewissert hatte, dass ihn auch niemand beobachtete – dann verschwand er in einer dunklen Seitengasse.
 

Der strömende Regen hatte nachgelassen, es tröpfelte nur noch leicht, aber der schmale Weg zwischen den Häusern hindurch war glitschig und es stank nach Unrat und Abfällen. Irgendwo in einem der schäbigen Häuser schrie ein Kind. Die vermummte Gestalt beschleunigte ihre Schritte und rutschte durch die aufgeweichten Strassen, den Randbezirken der Stadt entgegen.
 

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bevor er den verlassenen Schrein erreicht hatte, von oben bis unten bespritzt mit Schlamm, das schwarze, schwere Tuch, dass er um seinen Kopf geschlungen hatte, vor Feuchtigkeit modrig stinkend. Gerne hätte er sich jetzt an seinem Schnurrbart gezwirbelt, doch er durfte sein Gesicht nicht enthüllen. Statt dessen glitt seine Hand zu seinem Gürtel, während er durch die schief in den Angeln hängende Holztür in den nachtschwarzen Tempel eintrat. Als seine Finger den kühlen Griff des versteckten Dolches berührten, spürte er, wie sein Herzschlag deutlich ruhiger wurde.
 

Eine Stimme aus der undurchdringlichen Tiefe des Raumes brachte seinen Puls in sekundenschnelle wieder auf Höchstgeschwindigkeit.
 

„Zweifelt ihr etwa an dem Versprechen, das wir zu eurer Sicherheit geleistet haben? Oder sind es wir, die sich Sorgen machen müssen?“
 

Izuka straffte die Schultern und atmete tief durch, während er seinen Blick zwischen den Spalten seiner Kapuze hindurch auf den im Dunkeln kaum auszumachenden Ninja richtete, der in der Ecke saß. Wenn seine langen, grauen Haare nicht matt im Dämmerlicht geschimmert hätten, dann wäre er so gut wie unsichtbar gewesen.
 

„Jeder trägt versteckte Waffen in Kyoto dieser Tage,“ entgegnete Izuka. „Ihr Oniwabanshu müsstet das doch am besten wissen.“
 

„Hm.“ Der Ninja stand auf und trat auf Izuka zu, mit jedem Schritt nach vorne war sein kaltes Lächeln besser zu erkennen. „Wir haben einen Handel geschlossen und arbeiten für die gleiche Sache. Jeder auf seine Weise.“ Ein leises Lachen ertönte und Izuka rann ein Schauer über den Rücken. „Das Bakufu weiß schon längst, dass dieser Krieg nicht mit Waffengewalt allein entschieden werden kann-...“ Der Anführer der Oniwabanshu trat noch einen Schritt näher an Izuka heran. „...dafür aber mit Informationen.“
 

Katsura Kogoros Mann für Geheimoperationen wandte sich fröstelnd ab. Erst jetzt entdeckte er die anderen verhüllten Gestalten, ebenfalls Ninja, die sich in den Ecken des dunklen Raumes verteilt hatten und stumm ihrem Gespräch lauschten. Izuka spürte eine Gänsehaut auf seine Armen, als er sich überlegen musste, wie leicht es für diese Männer wäre, ihm eine Klinge an die Kehle zu halten und ihm alle Geheimnisse abzupressen, die er wusste. Doch schnell schüttelte er diese Gedanken wieder von sich ab und lächelte in seine dunkle Kapuze hinein. Ihm würde es nicht so ergehen wie Daisuke oder Buntaro. Dämliche Idioten. Nein, er selbst hatte gleich zu Beginn klar gestellt, dass er nur lebend von Nutzen war. Von großem Nutzen.
 

Seit dem Tag, an dem der Anführer der Choshu Ishin Shishi ihm sein volles Vertrauen geschenkt hatte, hatte er keine Angst mehr um sein Leben. Er war inzwischen ein unersetzliches Mitglied des Klans. Er war ein federführender Vermittler geheimer Bündnisse, Schlichter von Konflikten zwischen verschiedenen Fraktionen, Organisator von Auftragsmorden – und bald steinreich.
 

Izuka lächelte, während er die schmalen Lichtpunkte beobachtete, die der inzwischen aus den schweren Regenwolken gekrochene Mond durch die zerfetzten Reispapierwände des Schreines warf.
 

Niemand konnte sich gegen die Ordnung des Shogunats auflehnen, niemand. Izuka hatte die mächtigen Heeresverbände gesehen, tausend um tausend bestens ausgerüstete Krieger in Reih und Glied, bereit auf den Wink ihres Anführers hin die abtrünnigen Provinzen dem Erdboden gleich zu machen. Mochte Katsura sein kleines Spiel in Kyoto doch spielen – Izuka hatte längst begonnen, seine eigenen Pläne zu verwirklichen. Der Preis seines Spiels war bares Gold – für jeden Kopf, den er ans Messer lieferte.
 

„Was habt ihr für Informationen für uns?“ unterbrach der grauhaarige Ninja seine Gedankengänge.

„Das Mädchen ist mit ihm in die Herberge zurückgekehrt.“

Eine buschige, graue Augenbraue zog sich nach oben. „Sie lebt?“

Izuka nickte. „Er hat sie nicht getötet. Vergesst nicht – er ist noch ein Junge.“
 

Das Gesicht des Anführers der Oniwaban verhärtete sich. „Er ist unser tödlichster Feind. Er hat heute Nacht einen meiner Männer getötet, den ich jahrelang ausgebildet habe! Immerhin...,“ seine Stimme wurde wieder ruhig. „Immerhin wissen wir jetzt, dass wir dir vertrauen können.“

Achselzuckend lächelte Izuka den Ninja an und bemerkte ein arglistiges Glitzern in dessen hellen Augen. „Von Anfang an habe ich diesem Plan nicht viele Chancen ausgerechnet. Doch jetzt, da er sie aufgenommen hat...“
 

„Unterschätzt ihn nicht. Dieses Mädchen ist so begierig nach Rache, dass ihr vielleicht ein Fehler unterläuft.“

„Na und?“ Der große, grauhaarige Mann drehte Izuka den Rücken zu. „Wenn sie scheitert, haben wir nichts verloren, außer ihr Leben. Ich glaube allerdings nicht, dass sie so plump sein wird und versucht, den Hitokiri im Schlaf zu erdolchen. Sie ist ein hübsches Mädchen...“

Izuka spürte, wie sein schiefes Grinsen breiter wurde. „Wir werden sehen, wie es sich entwickelt.“

Der Ninja nickte. „Sie ist ohnehin nur unser Notfall-Plan. Wenn alle anderen Pläne zuvor scheitern.“
 

Izukas Lächeln erlosch. „Es wird Zeit, dass wir über unsere nächsten Schritte beratschlagen.“
 

Genau in dem Moment stand eine der bisher stumm in der Ecke verweilenden Gestalten auf. Izuka sah, dass dieser Mann nicht, wie er zuerst angenommen hatte, ein Ninja war – unter den schwarzen Ärmeln lugte ein Stoffrand mit blau-weißem Zick-Zack Muster hervor.
 

Argwöhnisch fixierte Izuka den grauhaarigen Ninja. „Was bedeutet das?“
 

„Keine Angst.“ Der verhüllte Mann trat vor und warf seine Kapuze zurück. Er hatte kurze, schwarze Haare, ein hageres Gesicht mit tiefliegenden Augen und eine auffällige Narbe, die sich über seine rechte Augenbraue zog. „Takeo Ubei,“ stellte er sich vor, „geheimer Ratgeber von Kondo Isami.“
 

Izuka erbleichte. Kondo Isami? Ausgerechnet der Anführer der bluthungrigen Wölfe von Mibu war in diese Sache verwickelt?!

Der Anführer der Oniwabanshu lächelte. „Auf höchsten Befehl hin arbeiten wir ab jetzt mit den Shinsengumi zusammen.“

„Wir werden eure Informationen vertraulich behandeln und überlegt vorgehen.“ Ubei lächelte ein schmales, dünnlippiges Lächeln. „Wir wollen schließlich auch nicht, dass unser wichtigster Informant kurz vor dem entscheidenden Schlag auffliegt.“
 

Stirnrunzelnd wandte Izuka sich ab. „Es bleibt ohnehin nicht mehr viel Zeit,“ murmelte er.

Ubeis Gesicht versteinerte sich. „Dann stimmt es also?“

Izuka nickte. „Die Anführer der verschiedenen Ishin Shishi Fraktionen befinden sich noch immer im Widerspruch miteinander und das letzte, gemeinsame Treffen ist schlecht verlaufen. Die zahlreichen Shinsengumi-Patrouillen setzten die Ishin unter Druck, Katsura jedoch will nicht voreilig handeln, was die anderen nur umso ungeduldiger werden lässt. Sollten sich Toshimaro und Miyabe mit ihren radikaleren Gruppen durchsetzten... dann wird Kyoto brennen und nicht nur das...“
 

„Wann findet das nächste Treffen der Choshu Anführer statt?“ fiel ihm Ubei ins Wort.

Izuka lachte leise. „Ihr müsst, genau wie ich, noch auf weitere Informationen warten.“

Das Gesicht des Vertrauten von Kondo Isamis verdüsterte sich. „Ihr spielt ein sehr gefährliches Spiel. Wie nahe ihr Katsura Kogoro auch stehen mögt, lasst uns nicht zu lange warten.“ Damit schlug er seinen schwarzen Umhang wieder um sich und verließ das baufällige Tempelgebäude.
 

Mit einem schiefen Grinsen sah ihm Izuka hinterher. Er mochte die Shinsengumi nicht, sie waren wie Bluthunde, zu sehr auf ihre Beute bedacht, zu wenig verschlagen und vorsichtig.
 

„Behaltet das Mädchen im Auge,“ flüsterte hinter ihm der grauhaarige Ninja. „Seht zu, dass sie den Dämon zähmt.“ Als Izuka sich umdrehte, war niemand mehr hinter ihm. Ein plötzlicher Wind ließ die lockeren Wände des Schreins klappern. Er war allein.
 

Jetzt endlich konnte sich Izuka den Schweiß von der Stirn wischen, die lästige Kapuze abschütteln und während er fiebrig seine nächsten Schritte überlegte, zwirbelte er mit der rechten Hand bereits unbewusst seinen Schnurrbart.
 

„Obwohl Katsura nichts von Miyabes Plan hält,“ überlegte er, „muss er sich noch einmal mit ihm und den anderen Anführern treffen. Ich muss alle auf einem Haufen haben – auch Himura – bevor ich den Shinsengumi Informationen übermitteln kann.“ Er lächelte schief. „Alle Fliegen auf einen Streich – und ich bin reich und kann das Land sofort verlassen.“

Während er die Treppe aus dem Schrein hinabstieg, spürte er schon das schwere Gewicht des Goldes in seinen Taschen.
 

Seit er sich entschlossen hatte, die Seinen zu verraten, lief alles genau nach Plan.

Er würde den Shinsengumi Informationen zukommen lassen, um sie nicht ungeduldig werden zu lassen – und im gleichen Atemzug würde er die Ishin Shishi dadurch verunsichern und sie zu einer voreiligen Reaktion verleiten.
 

Katsura Kogoros enger Vertrauter ging mit raschen Schritten zurück zum Kohagiya. Dort würde er erst einmal den nächsten Schritt tun: einen gefühllosen Hitokiri auf die Schönheit einer Frau aufmerksam machen. Die Waffe, die er im Auftrag Katsuras geschaffen hatte, war einfach zu perfekt geworden. Izuka schüttelte den Kopf. Er hätte am Anfang nicht einmal seinen kleinen Finger darauf verwettet, dass Kenshin soweit kommen würde... dass man ihn sogar eines Tages Battousai nennen würde... und dass dieser Name durchaus der Wahrheit entsprach. Himura war ein perfekter Killer geworden, aber sein Geist, und das wusste Izuka spätestens seit der Sache mit Yoshida, war verwirrt und verletzlich. Ein Teil von ihm war eben doch noch ein unsicherer Junge. Seine einzige Schwäche, die er gut vor allen verbarg. Wenn sich das Mädchen geschickt anstellte, könnte sie sich diese Schwäche zunutze machen.
 

„Eine Frau, die seinen Tod bedeuten wird. Oder er ihrer? Wer weiß schon, was die Zukunft bringt?“ Er lachte leise, während er weiter durch die schmutzig-feuchten Gassen eilte.
 

--
 

Kenshin sah sich durch eine dunkle Gasse gehen, unter seinen Füßen Pfützen klar wie die Flächen eines Spiegels, der Nachthimmel und die Sterne in ihnen glitzernd. Ständig hörte er die Stimme seines Shishous in seinem Kopf, sah ihn, wie er unter dem Sternenzelt an der Quelle des Gebirgsbaches saß, in der Hand ein Schälchen frischen Sake, im Gesicht eines seiner seltenen entspannten und gutmütigen Lächeln.
 

„Kenshin, eines Tages werden wir zusammen Sake trinken.“
 

Das Bild seines Shishous verschwamm, die Pfützen wurden schwarz im Regen. Kenshin stand alleine in der dunklen Gasse, nass bis auf die Haut, Kälte durchdrang ihn bis in sein Herz.
 

„Hitokiri Battousai, nehme ich an,“ hörte er eine höhnische Stimme hinter sich. Langsam drehte er sich um und blickte dem vermummten Ninja entgegen. Ein schwerer und klobiger Kerl. Seine Waffen waren zwei Kettenschwerter.

„Was willst du?!“ hörte er seine eigene Stimme zischen, sie klang fremd und abstoßend in seinen Ohren. Er spürte, wie sich sein Körper unmerklich anspannte, jede Faser seiner Muskeln sich bereit machte für das, was gleich kommen würde.
 

Er war bereit, als der Ninja mit atemberaubender Geschwindigkeit sein eines Kettenschwert nach vorne warf und dabei „Stirb!“ brüllte.

Kenshins Schwert war gezogen, ehe er überhaupt daran gedacht hatte. Pure Reaktion und Instinkt hatte die Kontrolle über seinen Körper ergriffen. Sein Geist jedoch war damit beschäftigt, die Bewegungen dieses ungewohnten Gegners hervorzusehen und ihn einzuschätzen.

„Ein Spion des Shogunats,“ dachte er, während er das auf ihn zufliegende Schwert mit einem Streich seiner Klinge ablenkte. Funken flogen in den Regenhimmel. Er sah, wie das Schwert sich anstatt in sein Herz in den feuchten Boden neben ihm rammte.

„Aber kein Samurai.“
 

Sein Körper nutze den Schwung des Abwehrschlages, doch der Ninja sprang über ihn hinweg.
 

„Er ist...“
 

Zu spät bemerkte Kenshin die Ketten, die schon viel zu nah an seinem Körper waren, um ihnen noch ausweichen zu können.
 

„...wie ich.“
 

Sekunden später hielten sie ihn schraubstockartig umschlungen, seine Arme und seine rechte Hand mit dem Schwert nutzlos an die Seite gefesselt, der Ninja außer seiner Reichweite.

„Ein Hitokiri,“ vollendete Kenshin seine Vermutung, während er seinen ganzen Körper anspannte, um dem Druck der Ketten stand zu halten und Luft zu bekommen.

„Jemand, der nie in die Geschichte eingehen wird. Ein Killer aus den Schatten.“
 

Und er war gut. Kenshin hatte Mühe, nicht ohnmächtig zu werden, so stramm zog der vermummte Mann die Ketten um ihn.
 

„Sei Bereit für den Tod!“ Der Ninja sprang erneut auf ihn zu, sein zweites Schwert nach vorne gestreckt für den Todesstoss. Bei seinem Sprung gaben die Ketten minimal nach – genug für Kenshin. Er ließ mit einem Mal seinen Körper schlaff werden, so dass seine linke Hand genug Spielraum fand, um am anderen Ende der Kette zu ziehen. Das Schwert, dass unweit vom ihm im Boden steckte, gab nach, als Kenshin mit einem Ruck die Kette zu sich hinriss, und flog in seine linke Hand, genau, als der Ninja schon über ihm war.

Sich duckend, keine Zeit zu atmen, packte Kenshin den Griff mit aller Kraft, die ihm verblieben war. Der Ninja, der schon zu nahe war, um noch ausweichen zu können, flog direkt in seine eigene, von Kenshin hoch über seinen Körper gestreckte Klinge hinein.
 

Unmengen von Blut spritzen in dem Moment in den Nachthimmel, in dem der Ninja zerteilt wurde, und wurden vom Regen wieder hinabgespült. Für einen kurzen Moment sah es tatsächlich so aus, als ob es Blut vom Himmel Regnen würde.
 

Kenshin sank auf die Knie, die Ketten fielen von seiner Brust und Luft konnte in seine Lunge zurückkehren. Keuchend stütze er sich auf sein Schwert, alles um ihn war wie rot gefärbt, doch im selben Moment roch er nicht Blut sondern etwas anderes...
 

...Hakubaiko!?
 

Er sah vor sich ein Mädchen stehen, ihr weißer Kimono war rotgefärbt. Sie stolperte auf ihn zu, murmelte etwas, ihre Hand war nach vorne gestreckt.
 

„Sie hat mich gesehen,“ schoss es durch seinen Kopf, und die eiskalte Schlussfolgerung: „Sie muss sterben.“

Seine Hand packte das Katana fester, er hob es an, während sie näher kam, und näher, die Spitze Millimeter von ihrer weißen Haut entfernt.


 

Seine Augen sprangen auf.
 

„Verdammt,“ fluchte er, hellwach, als er das leere Zimmer sah. „Ich bin eingeschlafen!“
 

Vor ihm war der Futon, auf den gestern Nacht er und Okami das Mädchen gelegt hatten: ordentlich zusammengerollt. Leer. Sie war verschwunden!
 

„Kuso!“ Kenshin rannte in den Flur. Gestern Nacht war er sich nicht sicher gewesen, ob er sie hatte töten sollen. Für einen kleinen Moment hatte er wirklich sein Katana fester gepackt, während seine andere Hand vor lauter Schreck das Schwert des Ninjas fallen gelassen hatte. Doch dann, als sie ohnmächtig in seinen Armen lag, Blut auf der weißen Haut ihres Gesichtes, war sein Verstand wieder zu ihm zurückgekehrt.
 

Wie hätte er jemals eine harmlose, unbewaffnete Frau töten können?
 

Naja... unbewaffnet war sie nicht gewesen. Nachdem Okami die Unbekannte saubergemacht und mit frischem Yukata bekleidet in seinen Futon gelegt hatte, hatte sie ihm die Sachen gegeben, die sie bei sich getragen hatte – einen Schirm. Ein Tagebuch. Und einen Dolch.
 

Kenshin sprintete die Treppe hinab in Richtung Küche. Eines war sicher – sie hatte ihn letzte Nacht töten gesehen. Er musste sie dazu zwingen, alles zu vergessen. Niemand durfte ihn sehen und leben. Was, wenn sie jetzt schon verschwunden wäre? Katsura würde ihn umbringen...
 

„Okami-san,“ rief er verzweifelt und stürmte in Richtung Küche, hoffend, dass die gute Frau vielleicht das Mädchen nicht hatte gehen lassen. Er riss die Küchentür auf und sah gerade noch, wie Okami der Fremden mit einem Lächeln im Gesicht einen Stapel Tablette voller Essen für das Frühstück in die Hand drückte – dann glitten seine Füße auf dem blank gebohnerten Boden aus und er plumpste zu Boden.
 

„Ohaiyo Himura-san,“ begrüßte ihn die Wirtin des Kogahiya freundlich, während das fremde Mädchen einfach an ihm vorbei lief. „Deine Freundin hat sich heute morgen als tüchtige Hilfe entpuppt. Sie hat gute Arbeit geleistet.“
 

„Freundin?!“
 

Kenshins rappelte sich auf, in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Das hier musste ein Albtraum sein. Auf Beinen wie Pudding stolperte er dem Mädchen hinterher und holte sie kurz vor der Tür zum Essenssaal ein. Breitbeinig baute er sich vor ihr auf und versperrte ihr so den Weg. Er wusste, dass seine Augen funkelten aber sie sah ihn nur fragend an, in ihrem Gesicht keinerlei Regung, kein Zeichen, dass sie sich an ihn erinnerte oder gar Angst vor ihm hatte. Es war, als ob sie durch ihn hindurch schauen würde.
 

„Ähm. Uhm. Nah. Meh.“ Kenshin verfluchte sich innerlich. Er war noch nie ein Freund großer Worte gewesen, doch immerhin hatte er es meistens geschafft, sich zumindest mit einsilbigen Wörtern zu verständigen. Jetzt schien er nicht einmal einen Buchstaben vernünftig artikulieren zu können.
 

„Mein Name?“ fragte sie leise. „Tomoe. Yukishiro Tomoe.“ Ihre Stimme war so ausdruckslos wie ihr Gesicht. Nur ihre schwarzen Augen ließen ahnen, dass hinter ihrer Fassade noch etwas anderes versteckt sein könnte.

Kenshin schloss die Augen und versuchte, ihre Ki zu erspüren. Vielleicht würde ihm ja das irgendwie Aufschluss darüber geben, was er von diesem Mädchen zu halten hatte. Immerhin hatte sie ihn töten gesehen und schien davon nicht im mindesten berührt.

Doch was er spürte, half ihm auch nicht weiter. Sie strahlte herablassende Gelassenheit aus, als ob ihr alles egal wäre, gleichzeitig schien in ihr aber ein wahrer Sturm von Gefühlen zu toben, festgehalten von dem eisigen Würgegriff der Selbstbeherrschung. Es erinnerte ihn irgendwie an ... sich selbst. Als er die Augen wieder öffnete, stand sie immer noch unbewegt da, allerdings schienen ihre Augen nun fast noch eine Spur mehr zu glühen.
 

„Tomoe.“ Seine Stimme klang belegt. Es war, als ob seine Zunge an seinem Gaumen festkleben würde. „Was machst du hier?“

„Sieht du das nicht?“ Sie verzog keine Miene.

„Du... hilfst beim Frühstück?“

„Gut beobachtet.“

Kenshin verpasste sich in Gedanken eine Kopfnuss. Neuer Versuch.

„Ich muss mit dir reden!“

„Ich bin beschäftigt. Du kannst später mit mir reden.“

Mit diesen Worten schob sie die Tür zum Frühstücksraum auf, von wo sie sofort mit lüsternen Blicken und anzüglichen Bemerkungen begrüßt wurde. Kenshin stand daneben, wie vom Donner gerührt. Noch nie in seinem Leben, nicht einmal während seines Trainings bei Hiko, hatte er sich so hilflos gefühlt.
 

„Oooooh!“ tönte es aus dem Saal. „Das ist Himuras Freundin?“

„Süß!“

„Sie ist älter als er!“

„Genauso ernst wie Himura!“
 

Kenshin konnte es nicht fassen. Wo war die sonst immer vorhandene Furcht und Abneigung gegen ihn geblieben? Es war, als ob ihn die Männer, kaum dass sie ihn in Begleitung eines Mädchens sahen, für jemand anderes hielten. Waren das nicht Muhura und Uchida, die er so breit grinsen sah?
 

„Tomoe desu, yoroshiku,“ stellte sich das Mädchen vor. Kenshin spürte, wie es in seinem Gesicht das Brennen anfing. Sie tat nichts, aber auch gar nichts, um richtig zu stellen, dass sie gar nicht seine Freundin war!
 

Er spürte die Hand von Izuka schwer auf seiner Schulter, während seine bebenden Beine genau in dem Moment kollabierten, als er seinen Frühstücksplatz erreicht hatte. Angewidert nahm er aus dem Augenwinkel das feixende Gesicht seines Vorgesetzten wahr.

„Himura,“ zwinkerte der schnurrbärtige Mann und verstärkte den Druck auf Kenshins Schulter. „So hätte ich dich nun wirklich nicht eingeschätzt.“
 

Kenshin schnaubte und nahm seine Stäbchen. Er versuchte, so teilnahmslos wie möglich zu essen, konnte aber die Augen nicht von dem Mädchen – Tomoe – abwenden, das den Reis verteilte.

„Ich habe gehört, dass du sie letzte Nacht mit hierher gebracht hast?“ grinste Izuka breit. Innerlich stöhnte Kenshin auf und fragte die Götter, warum Izuka ausgerechnet jetzt so laut reden musste. So konnte der ganze Frühstückssaal problemlos mithören!
 

„Wo hast du so eine Schönheit aufgegabelt? Ich wette, sie hatte was zu erzählen.“

Kenshin verschluckte sich fast und unterdrückte ein Husten.

„Okami hat es mir erzählt,“ redete Izuka ungerührt weiter und rollte eine Pflaume zwischen seinen Fingern hin und her. „Sie hat gesagt, du hattest sie die ganze Nacht in deinem Zimmer.“

Mit einem Haps war die Pflaume in Izukas Mund verschwunden.

„War sie gut?“
 

Krachend knallte Kenshin das Schälchen zurück aufs Tablett und packte sein Schwert, das neben ihm auf dem Boden gelegen hatte. Sofort war es totenstill im Frühstücksraum. Kenshin spürte die Blicke auf sich und das Brennen auf seiner Haut schien sich noch zu verstärken. Erhitzt stürmte er hinaus ins kühle Freie.
 

Izuka schluckte schwer und sah ihm nach. „Ich hatte für einen Moment fast vergessen, dass er ja Battousai ist,“ meinte er zu den anderen Männern, die, nicht minder erschrocken als er, langsam wieder weiteraßen.

„Ihn zu verärgern, bedeutet, mit seinem Leben zu spielen,“ murmelte jemand.
 

Tomoes glühender Blick ruhte auf der Tür, aus der Kenshin nach draußen geeilt war.
 

--
 

Mit blutunterlaufenen Augen beobachtete Saito von dem Fenster seines Privatraumes im Shinsengumi-Hauptquartier aus, wie die bleiche Sonne langsam über den Rand der Stadt kroch. Neben ihm saß Hioshi auf dem Boden, den Kopf gegen die Wand gelehnt, ruhig und regelmäßig atmend. Saito unterdrückte den Impuls, den schlafenden Mann mit einem kräftigen Fußtritt wieder in den Zustand des Wachseins zu befördern.
 

Endlich klopfte es leise an der Tür. Ungestüm eilte Saito durch den Raum, hinter ihm schreckte Hioshi aus seinen Träumen auf und rieb sich die nicht minder roten Augen. Der Anführer der dritten Einheit riss schwungvoll die Tür auf. Der Bote, der davor gewartet hatte, stolperte fast hinein.
 

„Go-gomen nasai, Saito-san,“ stammelte er sichtlich nervös, erschrocken über das schreckliche Gesicht seines Befehlshabers.

Ohne ein Wort schnappte sich der Wolf von Mibu den Zettel, den der Beamte in seinen zitternden Händen trug und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Hellwach trat ihm Hioshi sofort zur Seite, um einen Blick auf das Dokument zu erhaschen.
 

„Er ist tot,“ murmelte Saito ausdruckslos, kurz nachdem er den Brief entfaltet hatte. Er reichte ihn an Hioshi weiter, der schnell die dahingekritzelten Zeilen überflog, die ihnen in Ninja des Oniwaban-shu Clans geschickt hatte.

„Tot,“ bestätigte er eine Minute später, seine Stimme bebend. „Anscheinend ist dieser Battousai wirklich ein außerordentlicher Schwertkämpfer, wenn er mit diesem Ninja fertig werden konnte.“

Saito schnaubte. „Sie werden für diese Mission nicht ihren allerbesten Kämpfer vorausgeschickt haben.“ Er tastete auf dem Schreibtisch nach einer Zigarette. Der Aschenbecher quoll bereits über. „Immerhin wussten sie genau wie wir, dass der Ninja nur eine 50-50 Chance hatte. Sie wollten sicher auch erst die Stärke des Hitokiri testen, um weiter planen zu können.“
 

Hioshi starrte entgeistert zu dem nun in Rauch gehüllten Shinsengumi-Anführer.

„Saito-san, ich kann das nicht glauben. Hier wird ein Kämpfer geopfert, nur um irgendetwas zu TESTEN?“ Er blickte in kalte, bernsteinfarbene Augen.

„Dieser Test hat uns einiges enthüllt!“ Saito sah wieder aus dem Fenster.

„Erstens,“ fuhr er fort, „wissen wir jetzt, dass unser Informant die Wahrheit über den Killer gesagt hat. Der Hitokiri war im verabredeten Zeitraum am verabredeten Ort. Das bedeut, dass ihn der Verräter wirklich kennt.“
 

Hioshi blinzelte. In der Tat, das waren einige Informationen, die äußerst wichtig waren.

„Der Informant steht also in Verbindung mit dem Killer, was zweitens bedeutet,“ redete Saito mit tiefer Stimme weiter, „dass er auch seinen Auftraggeber kennen muss.“
 

Langsam nickte Hioshi. „Aber WER ist der Killer? WER ist der Auftraggeber?“

„Drittens wissen wir zumindest, dass der Killer existiert, von dem so viel Gerüchte verbreitet werden. Wir wissen auch, dass sein auffälligstes Kennzeichen rote Haare sind.“ Frustriert strich Saito sich mit den Fingern über die schmerzenden Augen.

„Wir können allerdings nur vermuten, dass es sich bei dem Hitokiri wirklich um diesen Battousai handelt, und dass er im Dienst von Katsura Kogoro steht.“

Schnaubend wandte sich Hioshi ab. „Ein teurer Preis für so wenig Informationen, auch wenn sie wichtig sind. Ich habe noch nie einen Mann in Kyoto mit roten Haaren gesehen!“
 

Saito drehte sich um und fixierte seinen Mitstreiter. „Hioshi-san, ich möchte, dass ihr euch sofort mit dem Rest eurer Männer unten im südlichen Versammlungsraum des Hauptquartiers sammelt und bereit macht.“

Sofort stand Hioshi stramm. „Ein Auftrag?“

Saito nickte stumm. „Wartet dort, bis ich eintreffe. Ich muss noch etwas klären.“

Fragend zog Hioshi die Augenbrauen hoch, doch der Wolf von Mibu kehrte ihm wieder den Rücken. Das Gespräch war beendet. Leise schlüpfte Hioshi aus der Tür und eilte davon.
 

Saito verharrte am Fenster und blies silbrigen Rauch in den Morgenhimmel.

„WER ist dieser Informant?“ überlegte er. „Und warum haben sich die Oniwabanshu bereit erklärt, sich mit mir und Hioshi zu treffen? Warum haben sie uns ihre nächsten Schritte enthüllt?“ Ungehalten schnipste er die Zigarette in den vollen Aschenbecher und rauschte davon. Er wusste, dass nur einer seine Fragen beantworten konnte, einer, der wahrscheinlich schon längst über alles Bescheid wusste: sein Anführer, Kondo Isami.
 

Entschlossen packte er den Türgriff, bereit, durch den Flur zum Zimmer des Anführers der Shinsengumi zu stürmen doch noch während seine Füße sich nach vorne bewegen wollten, spürte er einen Widerstand, der ihn zurückprallen ließ.
 

Ein Knurren entwich seinem Mundwinkel. Das konnte nicht sein. Es hatte tatsächlich jemand gewagt, ihn anzurempeln. Er sah nach unten und blickte in das lächelnde Gesicht des Anführers der ersten Einheit der Shinsengumi.
 

„Itai! Das hat weh getan, Saito-san.“ Der braunhaarige Junge rieb sich den Kopf und zwinkerte verschmitzt. „Wie immer wollt ihr mit dem Kopf durch die Wand.“

„Hmpf.“ Saito verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie jeder andere auch wollte ich die Tür benutzen. Ich konnte ja nicht wissen, dass du mir auflauern würdest, Okita.“
 

Okita lachte. „Ihr habt mich nicht bemerkt? Wie konntet ihr nur so nachlässig sein. Seit über fünf Minuten warte ich schon im Flur.“

Saito spürte, wie ein plötzlicher Kopfschmerz über seinen Schläfen zu pulsieren begann. Warum nur musste dieser krampfhaft lächelnde Junge ihn ausgerechnet jetzt heimsuchen...
 

Der Anführer der ersten Einheit der Shinsengumi drehte sich zur Seite und gebot Saito mit einer Geste, ihm zu folgen. Mit einem Geräusch des Missfallens folgte ihm der ältere Schwertkämpfer. Seine Augen verengten sich, als ihm langsam einiges klar zu werden schien. „Was willst du, Okita?“
 

„Ich wurde geschickt, um euch zu holen, Saito-san.“ Das Lächeln war aus Okitas sonst so fröhlichem Gesicht verschwunden. Saito musterte ihn aufmerksam.

Auch wenn Okita mit seinem unerschütterlichen Optimismus oftmals eine harte Geduldsprobe darstellte, hatte er doch Respekt vor ihm. In so jungen Jahren schon so weit aufzusteigen – er war gerade einmal 17 und schon Kommandant - das verdankte Okita nicht nur seinem atemberaubenden Können mit dem Schwert sondern auch seinem scharfen Verstand. Was bedeutete, wenn der Jungen sich über etwas Sorgen machte, dann war das meistens auch etwas, dem er, Saito Hajime, seine Aufmerksamkeit widmen sollte.
 

„Wer hat dich geschickt?“
 

Okita blieb stehen und drehte sich kurz zum Anführer der dritten Einheit der Shinsengumi um. „Kondo-san natürlich. Wer sonst?“
 

„Und warum?“

Okita zuckte mit den Schultern. „Das wird er uns gleich sagen, nehme ich an. Er erwartet uns in seinem Büro.“
 

Kaum zwei Minuten später standen die beiden Shinsengumi-Anführer am Ende eines langen Flures vor einer mit reichen Verzierungen und Seidenmalereien ausgestatteten Schiebetür. Das Zimmer ihres Anführers. Saito räusperte sich, Okita rückte das Lächeln in seinem Gesicht zurecht und der an der Wand neben dem Büro wartende Dienstbote schob mit einer tiefen Verbeugung die Tür auf.

„Ohaiyo gozaimasu, Kondo-san,“ tönten Saito und Okita unisono, während sie mit einer ebenfalls tiefen Verbeugung den Raum betraten.
 

Im hellen Licht, dass durch die Reispapierwände drang, saß Kondo Isami entspannt auf den Tatami und genoss einen warmen Tee. Nur das leichte Zucken seiner buschigen Augenbrauen verriet, dass er die Ankommenden zur Kenntnis genommen hatte. Er atmete tief ein, strich sich abwesend mit einer Hand sein bereits ergrautes Haar zurück, die er anschließend dazu benutzte, die Kommandanten zum Hinsetzen aufzufordern.
 

Okita spürte, wie die gemächliche Art des älteren Mannes Saitos Nerven auf eine Geduldsprobe stellten, denn er sah, wie die Hand seines Freundes immer wieder mit der Kordel seines Umhangs spielte. Sie setzten sich rasch. Dann herrschte Stille.

„Saito-san, Okita-san.“ Okita kam es Stunden, Saito Tage später vor, als Kondo endlich zu reden begann und seine bisher unter buschigen Brauen verborgenen Augen öffnete. Ein helles Grün blitzte ihnen durch den in Morgenlicht getränkten Raum entgegen. „Ihr wisst, warum ihr hier seid?“
 

„Nein!“ blaffte Saito, bevor Okita irgendetwas sagen konnte.

Kondo lächelte nachsichtig, als ob Saito ein Kind sei, das bei einer Ungezogenheit ertappt worden wäre. „Ihr beide seid meine fähigsten Kommandanten. Es wird wohl Zeit, dass ich euch alles offenbare.“ Er schnippte mit dem Finger und an der Seite schob sich eine kleine Tür auf.
 

Sofort war Saito auf den Beinen, die Hände am Schwertgriff.

Durch die kleine Tür trat ein großer Mann, tiefliegende Augen musterten träge die beiden Kommandanten.

„Saito!“ Geschockt hievte sich Okita ebenfalls hoch und legte seine Hände beschwichtigend auf die von Saito. Kondos grüne Augen blickten stechend in seine Richtung, doch das leicht amüsierte Lächeln in seinem Gesicht blieb.

„Ich nehme an, ihr kennt meinen geheimen Ratgeber,“ sprach er und seine Mundwinkel zuckten.
 

„Ubei.“ Das Zischen von Saitos Stimme durchschnitt die Luft.

„Hisashiburi dana, Saito.“ Mit einem spöttischen Lächeln tippte sich Takeo Ubei an die Wange, dort, wo von der Stirn herab über seine Augenhöhle eine tiefe Narbe verlief. „Nett, dass du dich an meinen Namen erinnert. Ich jedenfalls habe von dir einen bleibenden Eindruck behalten.“
 

Verwirrt schaute Okita zwischen den beiden Männern hin und her und blickte dann schließlich hilfesuchend in Richtung Kondo, der mit einem Seufzen sein Grinsen sein ließ und aufstand.
 

„Die alten Geschichten sind nicht länger von Bedeutung,“ brummte er, während er etwas schwerfällig zwischen die beiden Männer trat, die sich mit ihren Blicken zu erdolchen schienen. „Ihr werdet alle von nun an zusammenarbeiten.“
 

Okita meinte, Saitos Gesichtsfarbe noch kreidiger werden zu sehen.

„Wieso?“ Die formlose Frage des Kommandeurs der dritten Einheit der Shinsengumi überraschte keinen. Der nächste Satz jedoch schon. „Mit diesem Mann arbeite ich nicht zusammen!“

„Heißt das, ihr verweigert meinen Befehl?“ Kondos Stimme klang leise aber bedrohlich. Okita schluckte.

Saito schloss die Augen und rieb sich seine müden Lider. „Ich meine,“ fuhr er weniger aggressiv fort, „dass ich wenigstens den Grund erfahren will, wieso ich mit diesem Mann zusammenarbeiten soll.“
 

Takeo Ubei lächelte ihn ungerührt an. „Ganz einfach, mein Lieber,“ erwiderte er, ein boshaftes Glitzern in seinen Augen. „Wir sollen gemeinsam einen Dämon und seine Sippschaft zu Fall bringen.“

„Partner?!“ So wie Saito dieses Wort aussprach, hätte man meinen können, dass es sich um die Bezeichnung eines Dreckklumpens handeln würde, den jemand tief unten aus der Kloake gefischt hatte. „Wozu brauche ich einen Partner?“
 

Der geheime Ratgeber von Kondo Isami schüttelte den Kopf. „Wie willst du einen Dämon jagen und fangen, ohne einen Plan? Ich bin dafür da, dass deine nächsten Schritte nicht straucheln.“
 

--
 

Das nächste Kapitel kommt in weniger als 3 Monaten, versprochen ^^x’

Was wird zwischen Kenshin und Tomoe passieren? Was hat Izuka vor? Und was hat es mit Ubei und Saito auf sich? Während sich zwischen den Personen viel entwickelt, schreiten auch die politischen Ereignisse immer schneller voran...
 

Wörter:

Kohagi-Ya: Kohagi-Herberge

Kami-sama: Bei den Göttern!

Choshuu: Provinz Japans, aus der Katsura und sein Klan der Ishin Shishi vornehmlich stammen.

Obi: Gürtel, der den Kimono zusammenhält

Tanto: Kleines Messer, Dolch

Ishin Shishi: Patrioten bzw. Rebellen, heute würde man sagen: Terroristen, die durch Anschläge die Regierung stürzen wollen.

Bakufu: Militärregierung Japans (angeführt vom Shogun)

Kondo Isami: Oberhaupt der Shinsengumi in den ersten Jahren des Bakumatsu.

Toshimaro, Miyabe: Anführer anderer patriotischer Klans, teilweise aus Kyoto aber auch aus anderen südlichen Provinzen wie Satsuma.

Oniwabanshu: Ninja im Dienst des Shoguns, vornehmlich in Tokyo aber auch in Kyoto eingesetzt.

Yukata: schlafkimono

Ohaiyo: Guten Morgen

Kuso: Verdammt

Hakubaiko: Pflaumenblüten

Tomoe desu, yoroshiku – Ich bin Tomoe, freut mich, sie/euch kennenzulernen.

Gomen nasai – Verzeihung

Itai - Aua

Kapitel 22 - Die Kunst der Täuschung

Frohes neues Jahr ^_^

etwas verspätet aber immerhin... es hat diesmal keine drei Monate gedauert...
 

Saito muss sich mit einer unangenehmen Sache aus der Vergangenheit auseinandersetzen. Tomoe stellt Kenshin Fragen, die er nicht beantworten kann...

Und jeder spinnt seine eigenen Pläne des Verrats.
 


 

Kapitel 22 – Die Kunst der Täuschung
 

Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er kaum die hell klingende Stimme Okitas hörte, der neben ihm die Straße entlang eilte und versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Vor seinem inneren Auge sah Saito immer noch das hagere Gesicht von Takeo Ubei, seine verschlagen dreinblickenden Augen hinter schweren Lidern, seine hervorstehenden Wangenknochen und die noch viel hervorstehendere Narbe, die quer über sein rechtes Auge verlief. Dieses Überbleibsel der Verletzung war in keiner Art und Weise eine Genugtuung. Saito biss die Zähne zusammen, um nicht vor Wut laut zu schreien.
 

Wie hatte ihn dieser Mann vorhin gedemütigt! Vor Okita und, noch schlimmer, vor Kondo Isami. Dieser abscheuliche Mann – Saito sah ihn vor sich stehen, damals, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, vor über drei Jahren, Ubei mit Angstschweiß und Blut im Gesicht. Saito konnte sich noch an die Freunde erinnern, die er verspürt hatte, als er das warme Rot dieses Mannes seine Hände glitschig werden ließ...
 

Erst, nachdem er geschlagene 20 Minuten durch die Strassen gehetzt war, erlaubte er seinen Füßen und denen von Okita, die ihm tapfer gefolgt waren, eine Pause. Es war Vormittag, die warme Frühlingsluft wehte ihre gezackt gemusterten Umhänge zur Seite, der Duft von Blumen lag bereits in der Luft. Saito befahl seinen Sinnen, sich auf die Knospen des Kirschbaumes zu konzentrieren, in dessen Schatten er Halt gemacht hatte und gegen dessen Stamm er jetzt lehnte. Wie beiläufig stellte sich Okita neben ihn und schaute in den Himmel.
 

Saito bewunderte Okita. Obwohl er so jung war und manchmal sehr nervtötend sein konnte, so hatte er doch stets ein kaum fehlbares Gefühl dafür, wie man sich in welcher Situation zu verhalten hatte. Zweifellos, hätte Okita alleine mit Kondo Isami und Takeo Ubei verhandelt, alles wäre entspannt verlaufen.
 

Doch er, Saito Hajime, hatte seine Wut nicht zügeln können. Das war es, was ihm am meisten zu schaffen machte. Ein professioneller Kämpfer wie er hätte im Stande sein müssen, seine Gefühle im Beisein von Kondo zu kontrollieren. Statt dessen hatte er sich in Gegenwart seines obersten Befehlshabers aufgeführt wie ein aufmüpfiger, trotziger Soldat im ersten Lehrjahr. Er hatte sich von Ubeis herablassender Art provozieren lassen. Ungeduldig begannen Saitos Hände, wie von alleine in seinen Taschen nach Tabak zu kramen. Erst als er die Zigarette zwischen den Lippen hielt und spürte, wie der Rauch in seine Lunge eindrang und durch seine Nasenlöcher wieder hinausströmte, erlaubte er sich einen Seufzer. Das Zeichen, auf das Okita taktvoll gewartet hatte.
 

„Mmh... Saito-san,“ begann der jüngere Kommandant der Shinsengumi zögerlich, „vorhin bei Kondo... ihr...“

„Ich habe mich benommen wie ein Idiot.“

Okita lachte überrascht. „So hätte ich das nicht formuliert. Aber ich will nicht anzweifeln, dass es unklug von euch war, Kondo Isami den Befehl zu verweigern.“

„Das einzig Kluge,“ murrte Saito finster, „wäre gewesen, Ubei sofort zu töten. Aku Soku Zan.“

Das Lächeln in Okitas Gesicht verrutschte und er blieb einen Moment lang still.

„Bitte, Saito-san,“ begann er nach ein paar schweigsamen Minuten erneut, „als euer Partner in dieser Mission muss ich wissen, was zwischen euch und Takeo Ubei steht.“

Saito lächelte seinen Freund kalt an. „Zwischen uns steht? Das ist eine interessante Formulierung. Ich würde sagen, zwischen uns steht nichts, was sich nicht beseitigen ließe.“

„Beseitigen? Das gibt es also gar kein ernstes Problem?“ Okita klatschte erleichtert in die Hände.
 

„Kein Problem, nein.“ Saitos Augen glitzerten seltsam. „Ich werde Ubei töten oder er mich. Daran ist nichts problematisches und es wird auch niemand dazwischen stehen.“

Okita starrte seinen Freund mit offenem Mund an.

Saito musterte ihn abschätzig. „Fängst du Fliegen? Lass uns zurück zum Hauptquartier gehen. Ubei wird inzwischen wieder in das Dreckloch gekrochen sein, aus dem er herauskam. Ich habe noch andere Dinge zu regeln.“
 

Damit lief er zügigen Schrittes wieder den Weg zurück in den Altstadtbezirk, in dem das Hauptquartier lag. Hinter ihm stolperte ein nun ziemlich verwirrt aussehender Okita her.
 

„Saito-san,“ rief er aus dem Schatten der mächtigen Schultern des dritten Kommandanten der Shinsengumi, „ich habe das Gefühl, dass ich euch daran erinnern muss, dass ihr den Befehl von Kondo Isami angenommen habt. Ihr habt euch am Ende bereit erklärt, mit Takeo Ubei zusammen zu arbeiten! Ihr könnt ihn nicht einfach töten!“
 

Abrupt blieb Saito stehen, so dass der kleinere Mann fast in ihn hineingerannt wäre.

„Einfach nicht,“ flüsterte er, in seinen Augen immer noch ein gefährlicher Glanz. „Aber ich bin davon überzeugt, das Ubei selbst für sein Ende sorgen wird. Das hat er schon einmal fast geschafft.“

„Saito! Dieses Rätselraten nervt!“ Okita baute sich mit trotzigem Blick vor seinem Freund auf, die Hände in die Seiten gestemmt. „Wir können nur zusammenarbeiten, wenn ich die Fakten kenne. Was ist da vorgefallen zwischen Ubei und euch? Erzählt es mir!“
 

Mit einem Fingerschnipsen beförderte Saito die inzwischen herabgebrannte Zigarette auf den Erdboden direkt in eine Pfütze, wo sie sofort mit einem Zischen erlosch. Dann sah er seinen Freund ernst an.
 

„Später.“
 

Saito lief weiter, in Gedanken schon damit beschäftigt, wie er den lästigen Ubei ein für alle Mal loswerden konnte. Dabei fiel ihm Hioshi Shideki, der ehemalige Kommandant der Mimiwarigumi ein und ein Plan begann in seinem Kopf zu reifen...

Okita blieb beleidigt stehen und bohrte mit seinen Blicken Löcher in den Rücken des im Gedrängel verschwindenden Wolfes von Mibu. Er würde seinen störrischen Freund schon noch weich klopfen, früher oder später. Aber sicher nicht so spät, wie Saito sich das vorstellte, dafür würde er sorgen. Jetzt hatte er selbst auch erst einmal wichtigere Dinge zu erledigen, als Saitos Anhängsel zu sein.
 

Zielstrebig bahnte sich Okita den Weg durch die belebte Straße, bis er vor dem Fenster stehen blieb, aus dem die verräterischen Gerüche zu strömten schienen. Langsam senkte sich die rechte Hand des Anführers der ersten Einheit der Shinsengumi zu seinem Schwertgriff – bis sie die neben dem Katana befestigte Geldbörse befingerten. Lächelnd wandte er sich zu dem Mann, der aus dem Fenster lugte.
 

„Eine Portion heiße Soba, bitte.“
 

--
 

„Die erste Regel beim Glücksspiel,“ lachte der Mann, „ist, sich weder Gewinn noch Verlust ansehen zu lassen. Dein Gesicht muss glatt sein wie ein Spiegel.“

Ein anderer Mann, dessen Konturen ebenfalls im Halbdunklen nur schemenhaft zu erkennen waren, ergänzte: „Niemand darf dir ansehen, was du denkst oder was du vorhast. Keiner darf deine wahren Absichten erraten.“
 

Lichter flackerten um sie herum, Gestalten kamen und gingen, es war laut, die Luft stickig von Tabak und Alkohol, Fetzen von schief klingenden Volksliedern, die irgendwo im Raum gegrölt wurden, drangen an sein Ohr. Ihm war heiß. Er sah zu den beiden Männern, die ihn erwartungsvoll anblickten.
 

„Was muss ich tun?“ fragte er. Seine Stimme klang verzerrt, doppelt so langsam als normal, seine Zunge schien am Gaumen festzukleben.
 

„Du musst als erstes Eines lernen,“ sagte wieder der erste Mann und trat nun näher an ihn heran. Zu Sake und Tabak mischte sich nun auch der Geruch von Schweiß. „Glücksspiel ist nicht erlernbar. Selbst wenn du dich nach allen Seiten absicherst, du kannst immer noch verlieren.“ Ein tiefes Lachen. Yoshida blinzelte. Warum nur konnte er das Gesicht nicht scharf erkennen?
 

Ehe er sich versah, hatte der andere Mann ihn zu Boden gedrückt. Vor sich sah er einen Würfeltisch. Jemand versuchte, ihm die Regeln zu erklären, doch es ging alles so schnell. Yoshida blinzelte erneut, doch jedes Mal, wenn er die Augen schloss, drehte sich alles nur noch hastiger um ihn, wie ein Wirbelsturm.
 

Er würfelte, verlor. Männer lachten. Irgendwo dazwischen eine schrille Frauenstimme. Seine Freunde neben ihm ermunterten ihn mit heißerem Gegröle, es noch einmal zu versuchen. Er hörte sich Fluchen. Die Würfel rutschten aus seiner feuchten Hand. Ebenso wie das Geld aus seinem Beutel. Es kam ihm wie ein weiteres Blinzeln vor, da hatte er auch schon alles verloren, wurde vom Würfeltisch weggezerrt, stolperte ins Freie.
 

Die kalte Nachtluft strömte schmerzhaft in seine Lungen, die Wirkung des Alkohols ließ langsam etwas nach. Er sah auf zu den beiden Männern, die neben ihm standen.
 

„Yoshida,“ meinte der eine nur kopfschüttelnd, „du hast das Prinzip nicht verstanden.“

„Prinzip?“ Ärgerlich strich sich der jüngere Mann die Haare aus der verschwitzten Stirn. „Ich dachte, es geht hier um Glücksspiel. Hieß es nicht gerade eben noch, dass es dafür kein Prinzip gibt?“

Der andere Mann neben ihm lachte. „Du hast also doch aufgepasst.“

Yoshida spürte einen Arm um seine Schultern. Er sah in das Gesicht des Mannes.
 

„Das Spiel, seine Regeln und seine Willkür ist die eine Sache.“ Yoshida fühlte den schweren Atem von Buntaro in seinem Gesicht. „Eine andere Sache ist der Spieler.“

„Genau.“ Vor ihm sah er Daisuke, der bekräftigend nickte. „Glücksspiel ist nicht einfach nur ein Warten auf Glück. Man muss es sich holen, in dem man es den anderen Mitspielern abluchst.“ Er tippte sich an sein von Bartstoppeln übersätes Kinn.

„Glücksspiel ist die Kunst der Täuschung.“
 

Daisuke... Buntaro...
 

Yoshida spürte, wie sich plötzlich wieder alles zu drehen begann. Ihm war heiß und schlecht, er brauchte Luft, Luft. Vor sich sah er plötzlich andere Bilder, keine heitere Trinkhalle mehr, kein Würfelspiel unter Freunden, die in Wahrheit Verräter waren, nein: er war jetzt in einem Keller, neben sich eine in rot gehüllte Gestalt, überall rot, der Boden schwamm darin, und in der Brühe zwei Körper, die aufgerissenen Augen von Daisuke und Buntaro, die ihn leblos anstarrten.
 

Und immer wieder ein Satz, der sein Gehirn durchschnitt wie die tödliche Klinge des roten Mannes, der niemand anderes war als der einzig wahre Freund, den er je gehabt hatte.
 

„Glücksspiel ist die Kunst der Täuschung.“
 

Mit einem gequälten Stöhnen warf Yoshida die warme Decke, die schwer auf seinem Oberkörper lastete von sich. Noch eine Minute länger in diesem Bett und er würde ersticken.
 

„Bleibt liegen, Yoshida-san,“ hörte er neben sich eine aufgebrachte Stimme und kräftige Hände drückten ihn wieder zurück in die Decken. „Euer Fieber hat noch nicht nachgelassen.“

„Unsinn,“ murmelte er wütend, begriff aber gleichzeitig, dass er, kaum imstande, sich aus den Decken zu befreien, wohl auch nicht sicher auf den Füßen würde stehen können. Seufzend ließ er schließlich vom Wiederstand gegen seinen Pfleger ab und sank zurück in die Kissen.
 

Dieser verdammte Regen. Nur ihm hatte er es zu verdanken, dass er sich auf der Expeditionstour mit seiner Einheit an den Grenzen Choshuus erkältet hatte. Mit letzter Kraft hatte er es auf eigenen Beinen wieder zurück ins Lager der Kihei-Tai geschafft, dann war er zusammengebrochen.
 

„Wie viel Zeit ist vergangen?“ fragte Yoshida laut.

„Nicht mehr als ein Tag. Ihr habt tief geschlafen, bis jetzt. Dann haben euch Fieberträume heimgesucht.“

Vier Tage also, seit er beschlossen hatte, Kenshin zu schreiben. Yoshida drehte den Kopf und kniff die Augen zusammen, um den Arzt, der neben seinem Bett stand, deutlicher sehen zu können. Der grauhaarige Mann im hellgrauen Arztkittel lächelte ihm aufmunternd entgegen. „Eine normale Grippe,“ redete er weiter und sein Schnurrbart hüpfte dabei. „Ihr habt das Schlimmste überstanden. Ruht euch nun noch ein bisschen aus und kommt wieder zu Kräften. Ich werde euch noch einen starken Beruhigungstee verabreichen, damit ihr fest durchschlafen könnt. Dann seid ihr morgen wieder auf den Beinen.“
 

„Domo,“ bedankte sich Yoshida halbherzig und starrte wieder an die Holzdecke des Krankenzimmers, in dem er lag. Dieser Tee würde wirklich ein Segen sein. Er hatte nicht vor, den Traum von gerade eben noch einmal zu durchleben. Vor allem weil es gar kein Traum gewesen war. All das war wirklich passiert...
 

Der junge Mann schloss die Augen.

Warum kam ihm ausgerechnet jetzt diese Erinnerung in den Sinn? Es war ein lustiger aber teurer Abend gewesen, er hatte Spaß gehabt und gelacht – damals, in Kyoto, zusammen mit Buntaro und Daisuke. Die ihn später verraten hatten. Ans Messer geliefert. Als Geisel missbraucht. Um sich selbst zu bereichern und Kenshin zu Fall zu bringen.

Kenshin...
 

Mit einem Schaudern wurde Yoshida sich bewusst, dass er die ganze Sache in Kyoto nicht einmal halb so gut verarbeitet hatte, wie er das bisher glaubte. Viele neue Aufgaben hatten seinen Geist bei den Kihei-Tai abgelenkt. Nun, da er Ruhe hatte und untätig im Bett lag, kam all das, was er bisher verdrängt hatte, wieder zurück. Das Schockierende daran war, dass dies nicht in erster Linie die schrecklichen Bilder Kyotos waren – blutige Körper, Todesangst, Verrat, das Scheitern von Freundschaft und Werten. Nein, es waren die Bilder einer schönen Vergangenheit, vor der Eskalation der politischen Situation, vor Kenshin: Damals, als er mit Buntaro und Daisuke seine ersten Nächste in Kyoto verbracht, die beiden besser kennen gelernt und als seine Freunde betrachtet hatte.
 

Eine schöne Zeit – die ihm nun ihre Schattenseiten offenbarte.

„Die Kunst der Täuschung...“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte Yoshida sich zur Wand. Hätte er damals das gewusst, was er heute wusste... wäre dann alles anders gekommen? Wäre er auch zum Verräter geworden? Oder hätte er das Weite gesucht?

Am wahrscheinlichsten war, dass er es nicht geglaubt hätte, wahrscheinlich nicht einmal, wenn die Beiden es ihm selbst erzählt hätten. Er hätte das ganze wahrscheinlich für einen Scherz gehalten. Wer würde schon mit einem Würfel spielen, feiern oder auch nur endlos über irgendeinen Schwachsinn diskutieren können – das, was Freunde tun – und einen dann im nächsten Moment ohne mit der Wimper zu zucken verraten? Das konnte nicht sein. Das war mehr als... unwahrscheinlich.
 

Mit einem grimmigen Lächeln warf sich herum und wühlte in seiner Tasche, die er am Boden neben seinem Bett entdeckt hatte. Das Papier raschelte leise, als er es herauszog und auf dem Bettlaken ausbreitete. Yoshida schielte etwas schuldbewusst zur Tür, während er das kleine Dösen mit Tintenpulver befeuchtete, doch der Arzt war schon verschwunden und würde sich erst im Nachhinein über eventuelle Tintenkleckse auf den weißen Bettlaken beschweren können. Rasch tauchte Yoshida den feinen Schreibpinsel in das Döschen. Dabei dachte er immer wieder voller Bitterkeit an seine zwei vermeintlichen Freunde, beide tot.
 

„Daisuke, Buntaro...“ murmelte er, während sein Tintenpinsel vor dem weißen Papier kurz innehielt, „ihr hattet Recht: ich bin ein hoffnungsloser Fall. Ich werde wohl nie die Kunst der Täuschung erlernen.“
 

Dann begann er, die Kanji von Kenshins Namen auf das Papier zu schreiben.
 

--
 

Er hatte sie erwartet, als sie nach dem Frühstücksdienst zurück in sein Zimmer kam. Kaum da sie den Raum betrat, stand er von dem Platz an der Wand auf, an dem er auch gesessen hatte, als sie heute morgen aufgestanden war. Er drehte sich von ihr weg und schob das Fenster auf.
 

Tomoe bedankte sich stumm. Mit ihm in einem Raum und sofort kam ihr die Luft stickig vor. Eine Frühlingsbriese wehte herein und sein rotes Haar nach hinten.

„Seltsam,“ dachte sie, „dass es in seinem Zimmer gut riecht, nicht nach Blut. Es riecht nach Seife und frischer Wäsche.“ Sie sah seinen Rücken an. „Es ist sauber und es riecht gut. Wie kann ein Mörder gut riechen, so... rein?!“
 

Er wirkte so klein, fast schwächlich, aber sie wusste, dass dies alles nur Fassade war, denn er hatte sie, als sie auf der Strasse ohnmächtig geworden war, mühelos wegtragen können. Nichts an seinem Äußeren, kam Tomoe zu dem Schluss, verrät, was für eine Person er wirklich ist. Was für ein Täuschungskünstler... ein Monster...
 

„Gomen nasai,“ begann Tomoe leise, als sie fand, dass die Stille zwischen ihnen beiden zu lange gedauert hatte, „ich war gestern Nacht sehr betrunken.“

Verwundert drehte er sich zu ihr um. „Betrunken?!“ murmelte er mehr zu sich selbst. „Dann...“ Er brach ab.

„Aber ich weiß, dass du dich um mich gekümmert hast.“ Ihre Stimme war kaum noch ein Flüstern. „Ich danke dir.“ Sie ekelte sich vor ihren eigenen Worten.
 

Er starrte sie nur an, mit diesem ausdruckslosen Gesicht, den roten Haaren und diesen Augen. Als ihr Blick die Narbe auf seiner linken Wange streifte, musste sie eine plötzliche Welle von Hass unterdrücken, die sie zu überschwemmen drohte. Sie senkte ihren Kopf, um das verräterische Funkeln ihrer Augen zu verbergen und war dankbar, dass er nicht antwortete sondern sich wieder von ihr weg gedreht hatte. Ihre Finger krampften sich in den Stoff ihres Kimonos, während sie so da kniete und um Fassung und die nächsten Worte rang. Doch sie konnte jetzt nichts sagen, das Zittern ihrer Stimme würde sie verraten.
 

Sie hatte Angst, oh ja, so schreckliche Angst. Sie wusste, wozu dieser rothaarige Dämon fähig war, sie hatte es gestern Nacht gesehen, alles, und nichts vergessen. Ob Kiyosato auch so gestorben war? Einfach aufgeschlitzt, innerhalb eines Blinzelns ausgelöscht? Sie spürte keinen Schmerz, als sich die Fingernägel noch tiefer in ihre Oberschenkel gruben. Dieser Mann war ein Monster und sie saß mit ihm in einem Raum. Alles in ihr schrie, jetzt sofort aufzuspringen, und ihn zu töten, ihm die Kehle durchzuschneiden, wie sie es geschworen hatte - doch sie hatte nichts, außer ihren bloßen Händen. Ihr Tanto, ihr Rachewerkzeug, war verloren...
 

„Vergiss, was du letzte Nacht gesehen hast,“ hörte sie seine weiche aber keinen Widerspruch duldende Stimme. „Verlass diesen Ort so schnell wie möglich.“
 

Sie schüttelte innerlich den Kopf. Es gab für sie keine Möglichkeit mehr, diesen Ort unbeschadet zu verlassen. Ihr blieb nur der Weg nach vorne. Sie musste jetzt ihre Rolle spielen.
 

„Störe ich dich? Okami-san scheint mich zu mögen.“
 

Kenshin seufzte, drehte sich zu ihr um und setzte sich zu ihr auf den Boden. An diesem Morgen verlief nichts annähernd so, wie er es sich vorgestellt hatte. Er musterte diese Tomoe, die den Blick auf ihre Knie geheftet hatte. Wieder einmal kam ihm von ihr eine Welle der verschiedensten Empfindungen entgegengeschwappt. Das war nicht annähernd so, als ob man die Ki eines Gegners lesen würde. Die Ki dieses Mädchens – das war das absolut Rätselhafteste, was er je gesehen hatte.
 

Unruhig rutschte er hin und her. Vielleicht konnte er auf einem anderen Weg versuchen, sie zum Weggehen zu bewegen. „Deine Familie macht sich sicher um dich Sorgen.“
 

Ihr Kopf schoss nach oben und da waren sie wieder, diese seltsam glühenden Augen, die es ihm abwechselnd heiß und kalt werden ließen.

„Denkst du, ich würde mich abends alleine in einer Kneipe betrinken, wenn ich eine Familie hätte, zu der ich zurückkehren könnte?“ Sie sprach belanglos, als ob es nicht um sie selbst gehen würde und doch entging Kenshin nicht der vorwurfsvolle Ton, der in ihrer Stimme mitschwang. Nein, er hatte sich das hier wirklich anders vorgestellt.
 

Langsam holte er den Tanto aus seinem Ärmel und legte ihn neben Tomoe. Ihm entging nicht, dass sich ihre Augen kurz weiteten. „Er gehört dir, nicht wahr?“

Sie nahm ihn in ihre Hände, ihre Finger zitterten leicht. „Danke, dass du ihn mir zurückgibst,“ hörte er sie murmeln. Er senkte den Kopf. Sie hatte also doch Angst!
 

„Besser, du gehst. Verlasse Kyoto so schnell wie möglich. Es ist gefährlich hier und ein kleiner Dolch wird dir an solch einem düsteren Ort auch nicht helfen. Finde einen anderen Platz, an dem du leben kannst, einen Ort, an dem du so eine Waffe nicht brauchst.“

Sie starrte geradeaus. „Ein Ort ohne Mörder und Hitokiri?“ fragte sie und der Klang ihrer Stimme ließ ihn zusammenzucken. „Verstehe.“
 

„Wir haben hier keine Zeit, uns um dich zu kümmern.“ Seine Stimme war kälter, als er es beabsichtigt hatte.

Sie sah ihn ruhig an. „Und wenn ich nicht gehe? Tötest du mich dann? Wie du den Mann gestern Nacht getötet hast?“
 

Seine Augen verschmälerten sich. Das Wechselbad der Gefühle tendierte nun eindeutig zu kalter Wut. Was erlaubte sich dieses naive Ding, so über ihn zu urteilen? Wo sie doch von nichts eine Ahnung hatte!
 

„Du kannst denken, was du willst,“ begann er sich zu verteidigen, sah sie dabei aber nicht an. Warum machte er sich überhaupt die Mühe? Warum war ihm das, was dieses alberne Mädchen von ihm dachte, nicht einfach egal? Doch seine Zunge redete wie von selbst weiter, er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der sich vor seinem Shishou wegen irgendeiner Dummheit rechtfertigen musste.
 

„Ich tue, was ich tue für eine bessere Welt. Eine Welt, in der jeder in Frieden leben kann.“ Seine Augen blitzten blau auf. „Ich töte nicht wahllos, sondern nur Soldaten des Bakufu oder bewaffnete Männer, die sich uns in den Weg stellen. Natürlich gibt es auch Zivilisten, die gegen uns sind aber... ich würde nie einen unbewaffneten Menschen erschlagen.“

Er sah sie an, sein Atem stockte. Sie sah immer noch unberührt geradeaus. Er spürte, wie ihm wieder heiß wurde. Hatte sie ihm überhaupt zugehört? Hatte sie ein Wort von dem verstanden, was er gesagt hatte?
 

„Ich verschwende meine Zeit,“ dachte er frustriert und wollte schon aufstehen, als sie ihn plötzlich doch ansah und mit ihren schwarzen Augen an Ort und Stelle versteinern ließ.
 

„Also tragen deiner Meinung nach schlechte Menschen Waffen und gute Menschen nicht?“ Ihr Blick war so durchdringend, dass Kenshin nicht wegschauen konnte. „Wenn ich also letzte Nacht ein Schwert bei mir getragen hätte,“ redete sie mit ruhiger Stimme weiter, „hättest du mich dann auch getötet?“
 

Die Stille, die folgte, war schwerer als Blei.

Ehe Kenshin Worte fand, die er ihr hätte entgegnen können, war sie schon aufgestanden und hatte die Tür aufgeschoben. „Nun,“ meinte sie mit einem kalten Blick zurück auf ihn, während sie in den Flur trat, „bitte sag mir Bescheid, wenn du eine Antwort auf meine Frage gefunden hast.“

„Warte!“ rief Kenshin zur zugeschobenen Tür, „du kannst nicht einfach so hinausgehen!“
 

Doch. Und jetzt saß er alleine im Zimmer.

„Verdammt,“ knurrte er und hielt sich den Kopf. Ihre Worte hatten ihm ganz schwindelig werden lassen. Was war nur mit ihm los? Was war nur mit IHR los? Warum hatte dieses Mädchen mit ihrem komischen Blick so eine Macht über ihn?

„Bin ich jetzt am durchdrehen...“ murmelte Kenshin, während er sich einige rote Haarsträhnen aus der Stirn strich und aus dem Fenster starrte, „... oder beginnen die Dinge langsam einen Sinn zu ergeben?“
 

Unten in der Küche stand Tomoe, den Oberkörper über den Tisch gebeugt, die Hände in die holzigen Kanten gekrallt, schwer atmend.

Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihre wahren Gefühle verbergen können, er hatte sie nicht durchschaut. Der Dämon war auf ihre Täuschung hereingefallen. Nie hätte sie gedacht, dass ihr diese Kunst so gut gelingen würde.

Dennoch... sie fühle keinen Triumph. Was er da gerade eben gesprochen hatte... was SIE ihm entgegnet hatte... es war alles viel zu nah an den ehrlichen Gefühlen gewesen, die unter der Täuschung lauerten. Was war das, was ER mit ihr anstellte? Er war der Mann, nein, der Junge, den sie bis auf den Grund ihres Herzens hasste und dennoch... als er davon gesprochen hatte, dass er all das nur für eine Zeit des Friedens tat, war keine Lüge in seinen hellen, blauen Augen gewesen. Keine Täuschung. Das Äußere und das Innere schienen eins gewesen zu sein...
 

„Wer ist er?“ keuchte sie, als der Anfall langsam vorüber ging und sie wieder atmen konnte. „Wer ist er und warum ist er, was er ist?“
 

„Es ist egal,“ murmelte eine kalte Stimme in ihrem Kopf. „Er ist ein Mörder und er wird bekommen, was er verdient.“ Die linke Hand Tomoes krallte sich noch fester in den Tisch, so dass die Knöchel weiß hervortraten, während sie mit der rechten Hand hilfesuchend den kühlen Griff des Dolches umfasste, den sie wieder in ihrem Obi versteckt trug.
 

„Er ist ein Mörder,“ formten ihre zitternden Lippen, während sie noch immer seine rätselhaften, blauen Augen vor sich sah, „und er wird bekommen... was er verdient.“
 

Doch in diesem Moment hasste Tomoe jemand anderen weitaus mehr als den Mann mit der länglichen Narbe auf der linken Wange. Sie hasste die Person, die sich trotz allem für diesen Hitokiri interessierte. Die tief in ihrem Inneren wissen wollte, wie er dazu fähig sein konnte, so viele Menschen umzubringen und damit zu leben. Die verstehen wollte, warum er sich für diesen Weg entschieden hatte. Die IHN verstehen wollte...
 

Sie hasste sich dafür, dass sie alle anderen täuschen konnte... nur nicht sich selbst.
 

--
 

Erneut saß Izuka vermummt in einem zugigen, dunklen Tempel, morbides Holz unter seinen Füßen, klappernde Dachlatten über ihm, traurig raschelndes Reispapier, das zerrissen in den Holzrahmen hing und ihn an fliehende Gespenster erinnerte. Izuka hasste Gespenster. Und diesen Ort.
 

Seit dieses Mädchen vor einer Woche Einzug in seinem, oder vielmehr Battousais Leben gehalten hatte, kamen ihm Tempel dieser Art wie sein zweites Zuhause vor. Ständig musste er einen günstigen Zeitpunkt abwarten, sich aus dem Kreise der zunehmend misstrauischer werdenden Ishin Shishi davonstehlen, Meilen um Meilen zu einem entlegenen Schrein hasten und dort erst einmal warten. Je nachdem wie gut es die Oniwabanshu mit ihm meinten, konnte diese Wartezeit zwischen einer Minute und einer Stunde betragen. Innerhalb dieses Zeitraumes jedoch konnte Izuka fest damit rechnen, dass hinter ihm plötzlich eine Gestalt wie aus dem Nichts erscheinen würde und ihn zu Tode erschreckte. Einen Aufschrei konnte Izuka bisher erfolgreich unterdrücken, aber seine Mordlust stieg bei jedem neuen Treffen.
 

Vor knapp einer Woche erst hatte er Takeo Ubei kennen gelernt, in einem – wie konnte es anders sein – baufälligen Tempel. Jedoch reichte das, um Izuka klar zu machen, dass er den Mann nicht mochte.
 

Es war nicht die Art, wie er ihn ständig ansah – verschlagen, die Augen träge immer halb geschlossen, ein süffisantes Lächeln in den Mundwinkeln, kurz: arrogant – nein. Es war seine Stimme, die ihn so nervös und angespannt machte. Dieses sanfte Gesäusel, das er von sich selbst kannte und das er immer dann benutzte, wenn er jemanden manipulieren wollte. Jemanden zu seiner Marionette machen wollte. Und dann kurz vor dem Tanz würde das Lächeln verschwinden. Die Fäden würden angezogen, die Marionette zitternd darin hängen, unfähig zu einer eigenen Bewegung, ausgeliefert, ausgedient.
 

Izuka hatte nicht all die Monate so hart gearbeitet, um tot in den Fäden eines arroganten Mannes zu hängen. Er zog sich seinen Umhang noch ein Stück tiefer über den Kopf.
 

Diese Shinsengumi hatten doch keine Ahnung. Nicht einmal die Oniwabanshu. Nur er allein wusste, wozu Battousai wirklich fähig war. Izuka unterdrückte den Drang, seinen Schnurrbart zu zwirbeln. „Immerhin,“ dachte er zufrieden, „habe ich ihn zu dem gemacht, was er ist. Eine perfekte Waffe, gnadenlos und akkurat, und: meinen Befehlen hörig.“ Er lächelte leise in seinen Umhang. Ubei wollte ihn zu seiner Marionette machen? Das sollte er erst einmal versuchen. Er selbst tat schon seit Monaten so, als sei der die Marionette von Katsura Kogoro. Es war ein leichtes für ihn, ein paar Tage die Puppe von Takeo Ubei zu spielen.
 

Eine plötzliche Bewegung im Raum ließ ihn herumfahren. Sekunden später entspannte er sich wieder, denn wer sonst konnte die verhüllte Gestalt, die fast mit der Schwärze des Raumes eins zu werden schien, sein, als einer der Oniwabanshu. Die Entspannung hielt jedoch nur kurz an. Denn wie immer in den letzten Tagen folgte auf den Abgesandten der Ninja der Abgesandte der Shinsengumi.
 

„Ubei.“ Izuka nickte steif, als eine hagere, großgewachsene Gestalt den Tempel betrat. Immerhin war das einzig positive an diesem Mann, dass er die Tür benutzte und sich nicht wie der Ninja einfach aus einem Loch im Dach abseilte.
 

Der Angesprochene nickte leicht zur Begrüßung.

„Noch ein Vorteil,“ dachte Izuka, „er kennt meinen Namen nicht, ich dafür seinen,“ und er lachte hämisch ob dieser leichtsinnigen Arroganz, die nur Männer besaßen, die sich ihrer selbst entweder ziemlich sicher waren, oder ziemlich dumm, oder beides. Bei Takeo Ubei tippte Izuka auf letzteres.
 

„Und?“ Ubei legte den Kopf schief.

Izuka räusperte sich. „Ich weiß nicht, ob man schon so weit gehen und es als Fortschritt bezeichnen kann, aber... sie zeigt Wirkung.“

„Inwiefern?“

„Nun... sie schläft in seinem Zimmer.“

Takeo machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es interessiert mich nicht, ob sie seine Nutte geworden ist. Ich will wissen, ob sie ihre Rolle spielt oder ob wir sie austauschen müssen.“

Izuka musste ein Lachen unterdrücken. „Sie ist nicht seine Nutte.“ Er musste an den ständig nervösen Rothaarigen denken. Izuka fand es höchst amüsant, ihn seit ein paar Tagen beim Mittagessen immer Rot werden zu sehen. „Eher das Gegenteil – genau, wie wir geplant haben, beginnt er sich, für sie zu interessieren.“

„Und das heißt?“ fragte Ubei ungeduldig.

„Das heißt, dass er nervös wird. Verliebt würde ich ihn noch nicht nennen, aber seine Arbeit ist schlampiger als sonst. Irgendetwas beschäftigt ihn und stört seine innere Balance, und das kann nur das Mädchen sein.“
 

Ubei zog beide Augenbrauen hoch. „Schlampig? Soweit ich weiß, hat er doch Vorgestern Toyoma Ryoka in seinem Haus zusammen mit seinen gesamten Anhängern umgebracht. Das waren an die 10 Leute, alles ausgebildete Samurai.“

Izuka grinste in seinen Umhang. In der Tat, für einen Laien sah es vielleicht nach dem perfekten Attentat aus. Er selbst hatte die Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ überall auf den Leichen verteilt, die in der Villa herumlagen wie abgeschlachtetes Vieh. Sie waren alle schnell gestorben, aber Izuka war nicht entgangen, dass die meisten Männer vorher noch gekämpft hatten. Battousai hatte sie nicht heimlich erschlagen, er hatte sie kämpfen lassen. Soweit Izuka es an dem Blutbesudelten Hitokiri erkennen konnte, hatte er sogar eine kleine Schramme davongetragen. Das WAR – für Battousai... schlampig.
 

Aber das brauchte Takeo Ubei nun nicht so genau zu wissen. Immerhin reifte in Izukas Gehirn gerade ein Plan, wie er diesen unliebsamen Shinsengumi-Gesandten weitersenden konnte, und zwar so, dass er nie mehr den Weg zu ihm zurückfand. Sich, sozusagen, endgültig verabschieden würde.
 

„Sie macht Battousai nervös,“ fuhr er in geschäftsmäßigem Ton fort und tat ein paar Schritte auf den knarrenden Dielen. „Das ist die Chance, die ihr nutzen müsst. Wenn er erst einmal beginnt, Fehler zu machen, dann ist er leichte Beute für euch.“
 

„Dann scheint es also,“ lächelte Ubei, „dass der Plan der Oniwabanshu funktioniert. Scheint, dass dieser Battousai doch nicht so ein perfekter Hitokiri ist, wie einem alle glauben machen wollen. Er entwickelt Gefühle für dieses Mädchen... was für ein Anfänger.“ Er lachte höhnisch.
 

Izuka verkroch sich tiefer in seinem Umhang. Wie leicht sich dieser Mensch doch täuschen ließ. Schon hing er in seinen eigenen Fäden. Takeo konnte ja nicht wissen, dass Battousais Schwert immer noch das tödlichste in ganz Kyoto, wenn nicht Japan, war, und dass daran ein dahergelaufenes Mädchen auch nichts so schnell ändern würde. Er hatte Himura beobachtet die letzten Tage, sehr genau, und eines war sicher: Der Junge konnte Privatleben und Beruf erstaunlich gut trennen. Sobald er ihm einen schwarzen Briefumschlag übergab, verwandelte er sich zurück in den erbarmungslosen Killer, seine sonst so leeren Augen wurden von einem unheimlichen Feuer erfüllt, dass, seit dieses Mädchen bei ihm war, beunruhigend intensiver geworden war. Und kälter.
 

Toyoma Ryoka und seine Samurai? Das war doch nur ein Abend der Woche. Ein Bruchteil der Aufträge. Takeo Ubei hatte keine Ahnung. Und Izuka keine Wahl. Im zugigen Tempel entschloss er sich rasch, diesen Mann verschwinden zu lassen. Er war ihm zu ähnlich. Und das war beunruhigend. Denn dann würde er, wenn er alle seine Dienste für die Shinsengumi eingelöst hätte, von ihnen nicht mit Gold in den Taschen sondern einem Messer im Rücken entlohnt. Und dafür war er sich zu schade zum Sterben.
 

„Es gibt noch weitere, wichtigere Informationen,“ verkündete Katsura Kogoros vermeintlicher Mann für die Geheimoperationen laut. „Wichtiger, als das Mädchen...“
 

Takeo Ubeis Augen wurden schmal und auch der Ninja trat näher.

Izuka senkte seine Stimme, um die Wichtigkeit seiner gerade eben ausgedachten Botschaft noch zu steigern. „Es geht um Katsura Kogoro persönlich... und nicht nur um ihn.“

Ubeis süffisantes Lächeln verschwand und ein gieriges Flackern trat in seine Augen. „Ein Zusammentreffen?“ fragte er, seine Stimme vor Erregung bebend.

Izuka nickte ernst sein verhülltes Haupt.

„Alle Ishin Shishi-Anführer?“

„Alle.“

„Endlich!“ zischte Ubei und schritt aufgeregt durch den Raum. „Es wurde auch langsam Zeit.“ Er trat wieder zurück zu Izuka. „Wann?“
 

Izuka ließ sich einen Moment Zeit. Immerhin durfte er jetzt keinen Fehler machen.
 

„Morgen,“ antwortete er schließlich.

„Morgen schon?!“ Ubeis Stimme klang plötzlich unnatürlich schrill. „Und wo?“ setzte er nach.

„Tja...“ Izuka drehte sich zur Seite. „Das ist allerdings ein kleines Problem.“

„Wieso zum Teufel?“ schnappte Ubei ungehalten. „Gibt es einen Treffpunkt oder gibt es keinen?“

„Das ist ja das Problem. Es gibt nicht nur einen Treffpunkt... sondern drei.“
 

„Drei?!“ schrie Ubei und der Ninja zuckte zurück. Der Mann der Shinsengumi trat näher an Izuka. „Wieso gibt es drei Treffpunkte?“ presste er hervor, mühsam seine Wut beherrschend.

„Weil Katsura Kogoro kein Idiot ist. Natürlich fürchtet er einen Verrat. Daher teilt er selbst seinen engsten Verbündeten den Ort des Treffens erst kurz vorher mit.“

Ubei fuhr sich mit der Hand über die Augen. Diese Überlegung war durchaus plausibel und entsprach so jemandem mit verschlagenem Charakter wie Katsura Kogoro. Nicht umsonst hatte er sich bisher in der Unterwelt von Kyoto so gut halten können.
 

„Nennen sie mir die drei Treffpunkte,“ verlangte er.

Izuka gehorchte und gab die Informationen preis.

Der erste Ort, völlig unbedeutend, eine große Fischhalle am Hafen.

Der zweite Ort, noch unbedeutender, ein Bordell im Gion-Viertel.

Der dritte Ort, bedeutend, eine Taverne am Rand des Tempelbezirkes.
 

Natürlich schaffte es Izuka, Takeo Ubei zu überzeugen, dass das Bordell der umschmeichelnden Sakura-Blüten der Ort war, an dem das Treffen stattfinden würde. Es genügten leichte Andeutungen, ein paar Zusatz-Informationen, und am Ende des Gespräches war Ubei der Meinung, er selbst hätte seinem Gegenüber alles Wissenswerte abgepresst und sich zusammengereimt.
 

„Natürlich,“ flüsterte Ubei aufgeregt, seine Augen funkelten, „ist eine Fischhalle viel zu auffällig. Gerade Nachts sind zu viele Fischer unterwegs. Und was soll diese Taverne am Tempelbezirk? Ein öffentliches Gebäude zu einem so wichtigen Treffen? Unwahrscheinlich. Vor allem, weil Katsura die Besitzerin der umschmeichelnden Sakura-Blüten kennt und sie ihm einen Gefallen schuldig ist...“
 

Izuka hörte mit einem unsichtbaren Lächeln den geflüsterten Gedankengängen seines Gegenübers zu. Takeo Ubei kam schließlich zu dem Schluss, an allen drei Orten Leute zu postieren, jedoch mit der größten Einheit das Bordell zu stürmen. Falls er sich irren sollte konnten die anderen Einheiten immer noch schnell genug nach Verstärkung schicken.
 

Mit hastigen Schritten und ohne Verabschiedung verschwand Takeo Ubei aus dem Tempel, Sekunden später gefolgt von einem gesichtslosen Schatten. Izuka wartete einen Moment, bevor auch er sich auf den Heimweg machte.
 

Leise summend betrat er durch den Hintereingang die Küche des Kohagiya. Im Nebenraum hörte er es plätschern. Battousai, der sich die Hände wusch. Nein, nicht Battousai: das fanatische Ritual des Händereinigens war ein Überbleibsel von Kenshin Himura. Izuka lugte zur Tür hinein.

„Was ist passiert?“ fragte er lässig, aber neugierig. Immerhin hatte Himura für heute Abend keine Aufträge von ihm erhalten. Statt dessen war er mit Katsura unterwegs gewesen. „Wie ist das Treffen gelaufen?“
 

Kenshin schaute nicht auf. Er starrte auf seine Hände in der hölzernen Waschschüssel. „Schlecht.“
 

Izuka zog die Augen hoch und nickte in Richtung der Blutspritzer auf Kenshins hellgrauen Hakama. „Und das?“

Kenshins Hände erstarrten kurz. „Auf dem Heimweg.“ Dann plätscherte es weiter.

„Wer?“ fragte Izuka.

Endlich sah Kenshin auf. Der Blick in seinen Augen ließ Izuka kalt werden. Die perfekte Waffe...

„Ich weiß es nicht. Sie waren zu fünft und griffen uns ohne Kommentar an.“ Er schaute wieder zurück in die Schüssel, rieb sich ein letztes Mal noch die Hände, dann leerte er das blassrosa Wasser langsam aus. „Sie sind tot.“

Langsam nickte Izuka. „Gut gemacht. Wir haben überall Feinde.“ Dann lächelte er wieder und zwirbelte sich den Schnurrbart. „Wie läuft’s mit Tomoe?“
 

Langsam stellte Kenshin die leere Holzschüssel neben das Waschbecken. Dann fixierte er Izuka und sein Blick war leer.

„Auch gut.“ Izuka zuckte mit den Schultern. „Seh nur zu, dass du morgen gut ausgeruht bist. Ich habe einen wichtigen Auftrag für dich.“

Kenshin nickte. Immer noch der leere Blick.

Izuka wandte sich zum Gehen. Dann blieb er kurz stehen und sah über die Schulter zurück auf Kenshin, der in der halbdunklen Kammer stand und seine Hände abtrocknete. „Ach übrigens...“ Er nickte in Richtung von Kenshins Hakama. „Die würde ich ausziehen. Du weißt schon... Frauen stehen nicht so auf Blut.“ Damit war er verschwunden.
 

Kenshin stand alleine im Dunkeln. Die Augen leer. Mechanisch ging er ins Badehaus und begann, seinen ganzen Körper abzuschrubben, die verschmutzte Kleidung weit von sich in die Ecke geschleudert. Eimer um Eimer schüttete er klares Wasser über sich und verharrte dann, sein Spiegelbild in den nassen Bodenfließen betrachtend. Alles, was er sehen konnte, war rot. Und mitten darin das Gesicht von Tomoe.
 

„Also tragen deiner Meinung nach schlechte Menschen Waffen und gute Menschen nicht?“ Er sah ihren Blick, durchdringend und klar und ihre Stimme schnitt in sein Herz. „Wenn ich also letzte Nacht ein Schwert bei mir getragen hätte, hättest du mich dann auch getötet?“
 

Mit steinernem Gesicht zog sich Kenshin frische Sachen an, nahm seine zwei Schwerter, ging in sein Zimmer und sie lag da am Boden, atmete ruhig und die Luft war schwer von ihrem Pflaumenblütenduft. Er blieb einfach stehen, sah sie an und überlegte, wie einfach es wäre, die Gedanken abzuschalten, seinen Schutzmantel der Gleichgültigkeit wieder anzuziehen wenn er einfach das Schwert wie schon hundert Mal vorher aus der Scheide ziehen und in ihr Herz bohren würde. Er blinzelte. Schnell legte er die Klingen zu Boden und setzte sich daneben an die Wand.
 

Mit der linken Hand schob er das Fenster einen Spalt breit auf und sah in den Nachthimmel. Fünf Menschen heute. Wie viele waren es gestern? Diese Woche? Wie viele in diesem Jahr? Und wie viel Blut insgesamt? Mehr als die Sterne am Himmel? Oder weniger? Wie viel Sterne gab es am Himmel? War jeder Stern ein Toter? Lebten dann die Toten und starrten auf ihn herab? Er schob das Fenster wieder zu.
 

„Wen will ich täuschen?“ seufzte er leise, während er das Katana gegen seine Schulter lehnte. Die Gedanken und Zweifel waren wiedergekommen. Und mit ihnen Fragen, die nicht beantwortet werden konnten. So wie ihre.
 

„Hätte ich sie getötet oder nicht?“ Kenshin starrte in seine Handflächen. Sie waren mehr als sauber, alles an ihm war sauber, aber er fühlte sich schmutzig und ekelte sich vor dem Blut, dass er immer noch unter seinen Fingernägeln kleben sah. Nein, er wusste keine Antwort auf ihre Frage. Vielleicht hatte er auch Angst, dass es eine Antwort geben könnte. Eine Antwort, mit der er, egal in welchem Fall, entweder sich selbst oder sie betrügen würde.
 

„Ja, ich hätte dich getötet,“ und sie wäre weg, weg aus seinem Leben, sie würde einfach gehen und vielleicht irgendwo ihr Glück finden, Hauptsache, nicht hier. Nicht in Kyoto und nicht bei jemandem wie ihm.
 

„Nein, ich hätte dich nicht getötet,“ und sie würde vielleicht bleiben, aber wem würde das etwas nützen? Vielleicht würde er sich dadurch besser fühlen.
 

„Vielleicht,“ argumentierte die kalte Stimme tief in ihm, „belügst du dich damit nur selbst. Du willst dir nicht eingestehen, dass du dazu fähig wärst, sie zu töten. Aber du bist dazu fähig, du bist Battousai, jeder fürchtet dich. Willst du etwa sagen, du könntest sie nicht töten, wenn sie dich mit dem Schwert oder ihrem lächerlichen kleinen Tanto angreift?“
 

Kenshin schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen das Holz des Fensterrahmens. Die Stimme hatte recht. Er würde ihr sagen, dass er sie getötet hätte. Sie würde gehen und mit ihr die Fragen und er hätte wieder seine Ruhe. Seine Arbeit wäre nicht mehr schlampig und er... würde sich nicht mehr der Selbsttäuschung hingeben, dass noch irgendetwas Unschuldiges in ihm übrig geblieben war. Grimmig packte er wie um Unterstützung suchend sein Schwert. Das würde eine lange Nacht werden.
 

Im Zimmer roch es immer noch nach Pflaumenblüten.

Er hörte ihren ruhigen Atem. Und... er schlief ein. Tief und fest. Das erste Mal seit knapp einem halben Jahr.
 

--
 

Nächstes Kapitel:

Was ist in der Vergangenheit zwischen Takeo Ubei und Saito passiert? Was hat Izuka für Pläne?

Eines ist sicher: Es wird Kampfesgetümmel geben, wenn Shinsengumi und Battousai zum ersten Mal direkt aufeinandertreffen...
 

Bis demnächst ^^ Danke für alle, die sich für meine kleine FF noch interessieren und weiterlesen. Ich freu mich über jeden Kommentar!

LG, Ju-Chan

Kapitel 23 - Wölfe und Schlangen

Hallo ^^ Nicht tot umfallen, wer dieses Update sieht... ich weiß, es ist Äonen her seit dem letzten Kapitel :) Aber ihr seht, die Story ist nicht tot, sie wird beendet, wenn auch langsam... um wieder reinzukommen, eine kleine..."
 

Zusammenfassung:
 

Die komplizierte politische Situation in Kyoto spitzt sich zu. Die einzelnen Choshuu-Fraktionen sind sich uneinig. Miyabe will Kyoto in Brand stecken und den Kaiser entführen, wohingegen Katsura dafür ist, mithilfe von Attentätern wie Kenshin die Sache mehr oder weniger diplomatisch über den Kaiserhof zu regeln. Izuka, ein enger Vertrauter Katsuras, ist jedoch ein Überläufer. Sein Auftrag ist, dafür zu sorgen, dass sich alle Anführer der Ishin Shishi an einem Ort sammeln – wo sie dann vom Bakufu festgenommen werden können. Zudem soll er unbedingt den gefährlichen Attentäter Hitokiri Battousai ausliefern. Dafür ist Izuka einen Bund mit den Oniwabanshu-Ninja eingegangen und gemeinsam haben sie Kenshin mit Tomoe zusammengebracht.
 

Doch auch die Shinsengumi haben von einer Verbindung zwischen den Ishin Shishi und den Oniwabanshu Wind bekommen und ihrerseits Takeo Ubei eingeschleust. Izuka kann diesen Mann jedoch nicht leiden und hat beschlossen, eine Falle zu stellen, mit der er mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen kann: Zum einen will er Hitokiri Battousai auf die Shinsengumi treffen lassen, um die Situation weiter zuzuspitzen und damit vor allem Katsura und die Ishin Shishi zu voreiligem Handeln zu zwingen. Zum anderen könnte dadurch Kenshin enttarnt werden. In letzter Konsequenz würde jedoch Takeo Ubei in Ungnade fallen, wodurch der Mittelsmann der Shinsengumi ausgeschaltet wäre und Izuka wieder alleine mit den Oniwabanshu die Fäden in der Hand halten würde.
 

All diese politischen Intrigen ziehen an Kenshin vorbei, denn er ist mit Stimmen aus der Vergangenheit beschäftigt und vor allem mit dem Mädchen, Tomoe, das so unbequeme Fragen stellt und ihn verunsichert. Auch sein alter Freund Yoshida hat ihn nicht vergessen...
 


 

Kapitel 23 - Wölfe und Schlangen
 

Es war ein sonniger und warmer Morgen und Izuka musste immer noch lachen, als er an die letzte Nacht dachte. Wie leicht es gewesen war, Takeo Ubei, zu täuschen. Und mit was für einer dämlichen Geschichte. Wie hatten sich die Shinsengumi nur einen derart beschränkten Vermittler aussuchen können?! Eines war klar: Er würde nicht lange mit Ubei zusammenarbeiten. Er kannte diese Art von Mensch, ihm selber so ähnlich.

„Bevor er mich nach gelungener Mission mit meinem Geld unbehelligt gehen lässt friert eher die Hölle zu,“ überlegte Izuka. „Er wird mich töten lassen, von einem Hitokiri der Shinsengumi, weil er denkt, dass mir nicht zu trauen ist... Da lobe ich mir die Verbindung zum Bakufu über die Oniwabanshu. Ninja wissen wenigstens um die Ehre des Hinterhalts... sie werden mich nach gelungener Mission ziehen lassen... nachdem Katsura Kogoro und die anderen Anführer ausgeliefert oder abgesetzt sind... und Hitokiri Battousai tot...“
 

Natürlich war Izuka ein Verräter – aber das bedeutete noch lange nicht, das jedes Stück Fleisch, was er den Shinsengumi zuwarf, genießbar war.
 

„Drei Treffpunkte...“ Izuka prustete in seinen dünnen Schnurrbart, während er in einen halblangen Kimono schlüpfte. „So was zu glauben schaffen auch nur die Shinsengumi...“

Rasch zog er seine Hakama an und trat pfeifend auf den Flur hinaus. Von dort aus ging er in den Hof und während er in die Sonnenstrahlen blinzelte, überlegte er, wie sich diese Sache jetzt wohl weiterentwickeln würde.
 

“Treffpunkt eins. Die Fischhalle.” Izuka ließ sich auf der hölzernen Engawa nieder. Nichts würde dort passieren. Die Halle würde bis auf stinkenden Fischdunst leer sein.

„Treffpunkt zwei. Das Bordell der umschmeichelnden Sakura-Blüten.“ Der Mann für Katsura Kogoros Geheimoperationen musste ein Grinsen unterdrücken. Natürlich war er schon dort gewesen. Die Mädchen waren gut, aber nichts besonderes. Bis auf zartes, weißes Fleisch gab es dort nichts zu holen.
 

Bis hierhin würde Takeo Ubeis Mission eine totale Blamage sein. Spannend würde es erst werden bei Treffpunkt Drei. Die Kneipe auf halbem Wege der Treppen zum südöstlichen Tempelbezirk.
 

Denn die Kneipe gehörte einem Wirt, den Izuka sehr gut kannte. Einer, der den Ishin Shishi schon oft bei Unternehmungen zur Hand gegangen war, wenn auch nur im Hintergrund. Im Herbst letzten Jahres hatte Battousai, den man damals noch als Himura kannte, dort ein kleines Massaker angerichtet. Der Wirt hatte einige Zeit untertauchen müssen, um seinen neutralen Standpunkt im Untergrund nicht zu verlieren. Doch jetzt hatte er wiedereröffnet. Und er würde erneut auf den rothaarigen Jungen treffen, den er damals belächelt hatte, weil er, wie er sagte, nicht einmal seine Schwerter richtig hatte verstecken können.
 

Natürlich würde dort kein Treffen von Katsura oder sonst einem Anführer der Ishin Shishi stattfinden. Die Verhandlungen waren noch in vollem Gange, und so wie die Lage aussah, zerstritten sich die einzelnen Fraktionen immer mehr.

Izuka wusste, dass Katsura Kogoro keine unnötigen Risiken eingehen wollte – und keine unnötigen Opfer. Doch die Pläne von Miyabe und den anderen Anführern waren radikaler.

„Kyoto in Brand stecken...“ Izuka schnalzte mit der Zunge. Was für ein Gedanke. Nicht dass er ein Problem damit hätte, falls etwas derartiges passieren würde. Die Stadt konnte ruhig brennen, am Ende wären die Truppen des Shogunats den Ishin Shishi trotzdem zahlenmäßig überlegen. Allerdings wäre es nicht schlecht, wenn er es schaffen würde, Himura vor diesem Anschlag dem Bakufu auszuliefern... denn dann könnte er sich bereits mit dem Gold in der Verwirrung des Angriffes absetzen...
 

Izuka ging wieder nach drinnen und setzte sich an seinen Schreibtisch und machte seine Schreibutensilien bereit. So weit schon voraus zu denken war im Moment sinnlos. Es galt jetzt zu aller erst mit einem lästigen Shinsengumi-Späher fertig zu werden. Ein frisches Blatt Papier und schon hatte er den Schreibpinsel angesetzt.
 

„21 Uhr, O-Sakamori-ya, Kneipe am südöstlichen Tempelbezirk,“ begann er zu schreiben. Dann hielt er kurz inne und seine düsteren Augen glitzernden im fahlen Morgenlicht, das durch die Papierscheiben drang. „Es wird sicherlich sehr interessant werden,“ überlegte er, während er den Pinsel erneut in die Tinte tauchte. „Ubei wird eine Horde Shinsengumi schicken. Und ich werde dafür sorgen, dass er nicht auf Katsura Kogoro sondern auf Battousai trifft – der gerade zufällig in besagter Kneipe einen Auftrag auszuführen hat.“
 

Izuka legte den Pinsel zur Seite und lachte leise. Wie genial seine Intrigen doch waren! Wie Marionetten an Spielfäden alle Personen in seinen Händen. Und was für ein gewaltiges Schauspiel er geben würde. Battousai träfe das erste Mal auf die Shinsengumi. Zwei Erzfeinde. Battousai alleine. Die Shinsengumi vermutlich mit mindestens 15, wenn nicht noch mehr Personen!

Er zwirbelte seinen Schnurrbart. Egal, wie die Situation ausgehen würde – er wäre aus allem fein raus. Stürbe Battousai, dann bekäme er schon einen Teil seines Lohnes vom Bakufu. Aber auch der andere Teil wäre ihm so gut wie sicher.

„Ohne Battousai,“ lachte er in seinen Schnurrbart, „fällt Katsura Kogoro und seine Revolution. Andererseits... sollte Battousai wirklich die Shinsengumi besiegen, dann macht das die Ishin Shishi nur noch nervöser, genauso wie die Shinsengumi... sie werden danach ihre Patrouillen noch verstärken...die Situation wird sich zuspitzen... Miyabe und Toshimaru würden voreilig zu den Waffen rufen und das Inferno würde losbrechen...“
 

Izuka beugte sich wieder über sein Papier. Egal, wie der morgige Tag ausgehen würde, es würde zu seinem Vorteil sein. Jede Schwächung der Ishin Shishi, jeder Tropfen Öl ins Feuer der Unruhen war für ihn ein Gramm Gold mehr in der Tasche.
 

Lächelnd schrieb er drei Namen auf den Zettel. Dann steckte er ihn in einen schwarzen Umschlag. Pfeifend verließ er sein Zimmer, auf dem Weg zu einer Besprechung mit Katsura.
 

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Unter der sonnigen Veranda wartete bereits Katsura mit Katagai und Kenshin. Der Anführer der Ishin Shishi blickte amüsiert der Frau im weißen Kimono nach, die gerade unter dem Vordach vorbeigegangen war.

„Tomoe war ihr Name, nicht wahr?“ fragte Katsura in Kenshins Richtung. Dieser nickte nur abwesend.

„Seine Freundin!“ ergänzte Izuka mit schelmischem Lächeln.

„Izuka!“ Kenshin, nun voll bei der Sache, wurde rot.

Katsura lächelte. „Sie duftet nach weißen Pflaumenblüten,“ stellte er fest.

Kenshin wurde noch röter.
 

„Nur um sicher zu gehen, solltest du ihre Vergangenheit und ihren Namen überprüfen,“ meinte Katsura zu Izuka, nun wieder ernst.

„Himura,“ mischte sich nun Katagai ungeduldig ein, „wir sind nicht hier um über deine Freundin zu reden. Es geht um den Ninja, der dir aufgelauert hat.“

Kenshin nickte und sein Gesicht war wieder blass wie eh und je. „Ich vermute, er gehört nicht zu den Shinsengumi. Seine Kampfweise war viel brutaler.“

„Oniwabanshu,“ sagte Katsura nur, während er auf den Innenhof in die Frühlingssonne trat.

Katagai fixierte Kenshin. „Nur wenige Auserwählte unseres Klans wissen von deiner Existenz und deinen Aufträgen. Ich verstehe daher nicht, wie jemand dazu im Stande sein konnte, einen Attentäter auf dich zu hetzen.“
 

Kenshins Gesicht verdüsterte sich. „Wahrscheinlich gibt es einen Verräter unter uns.“ Es wäre nicht das erste Mal, ergänzte er still in seinen Gedanken und sah flüchtig die Gesichter von Daisuke und Buntaro vor sich. Irgendwo in der Ferne hörte er Yoshidas Lachen, und er schüttelte den Kopf, als ob das die Erinnerungen vertreiben würde.

Izuka lehnte schweigend an der Wand und beobachtete den Himmel.
 

„Du hast vermutlich recht,“ ertönte Katsuras sanfte Stimme aus dem Innenhof und er trat wieder an Kenshins Seite und senkte seine Stimme. „Ich werde mich persönlich darum kümmern. Seid ihr nur auf der Hut vor den Shinsengumi. Sie werden mit jedem Tag besser organisiert. Ich werde mich um alles weitere kümmern.“

„Hai,“ antworteten Katagai und Kenshin.

Katsura Kogoro wandte sich zum gehen. „Himura?“

„Hai!“ Kenshin trat zu ihm in das Sonnenlicht, dass sich nicht in seinen Augen zu spiegeln schien.

„Bald ist der Frühling vorbei!“

„Hm?“ Verständnislos folgte Kenshins Blick der ausgestreckten Hand seines Anführers, die in den Innenhof wies. Was wollte Katsura mit solch einer Aussage bezwecken? Eine geheime Botschaft?

Katsura lächelte ihn müde an. „Die Maulbeerbäume stehen in voller Blüte.“

Dann senkte er den Arm und trat, dicht gefolgt von Katagai, durch die nächste Tür ins Innere des Gebäudes.

Kenshin starrte ihm mit verständnisloser Miene hinterher.
 

Als er sich umdrehte, sah er Uchida auf sich zukommen. Der Schwertkämpfer lächelte ihm schüchtern zu, doch Kenshin, noch mit Katsuras Worten beschäftigt, sah einfach durch ihn hindurch. Er ging weiter und hoch in sein Zimmer, doch Uchida blieb stehen und schaute ihm hinterher.
 

„Ich dachte, das Mädchen hätte sein Herz vielleicht etwas aufgetaut,“ überlegte der Samurai, schüttelte dann aber den Kopf. „Alles brauch seine Zeit.“ Er hatte beschlossen, Kenshin nicht aufzugeben. Vielleicht hatte ja dieses ernste, schweigsame Mädchen die richtigen Mittel, um durch Kenshins Eisschale zu brechen. Uchida hatte jedenfalls schon ein paar kurze Worte mit Okami gewechselt und sich gefreut, dass auch sie seiner Meinung war.

„Ich werde Tomoe-san sooft entbehren, wie ich kann,“ hatte die Wirtin des Kohagiya gelächelt, während sie in der Küche stand und Reisbällchen formte. „Vielleicht schafft sie es, wieder etwas Wärme in seine kalten Augen zu zaubern.“

Uchida trat aus dem dunklen Flur in den Innenhof. Die Sonne strahlte. Uchida musste blinzeln. Ja, vielleicht... vielleicht konnte dieses Mädchen einen Attentäter lieb gewinnen.
 

--
 

Katsuras Worte über die Shinsengumi sollten für Kenshin bereits wenig später einen konkreteren Sinn bekommen. Denn inzwischen wurden von allen Seiten Warnungen über die Wölfe von Mibu – Miburo genannt – laut. Am Nachmittag kehrte ein Konvoi zurück, der von Choshuu, der Heimatprovinz von Katsura Kogoro und Kenshin, aufgebrochen war. Die Gruppe war unterwegs am Stadtrand von Kyoto um mehr als die Hälfte dezimiert worden.

Kenshin war gerufen worden, um während des Berichts des Anführers des Konvois vor Katsura anwesend zu sein. Mit gehetzter Stimme und nur mühsam unterdrückten Emotionen berichtete der Mann, Ruiko, von dem Überfall der Shinsengumi aus dem Hinterhalt.
 

„Ihre Kampftechnik war den meisten meiner Männer überlegen,“ knirschte Ruiko mit den Zähnen. „Toshizu Hijikata hat eine neue Technik entwickelt, die uns an Schnelligkeit übertroffen hat. Noch dazu waren die Wunden so tief, dass man sie kaum verarzten konnte. Hirazuki, parallel ausgeführte Schwertstöße, die beliebig in jede andere Schlagtechnik abgeleitet werden können...“

Katsura nickte bestätigend und sah dabei kurz zu Kenshin, der jedes Wort über die Kampftechniken der Shinsengumi in seinem Gehirn abspeicherte, sich aber äußerlich nicht anmerken ließ, wie sehr ihn die Nachrichten über diese in seinen Augen arrogante Kämpfertruppe in Rage versetzte.
 

Als Ruiko seinen Bericht beendet hatte, wandte er sich zum gehen. Dabei viel sein Blick kurz auf Kenshin, der an der Wand lehnte und dessen rote Haare im Halbdunkeln leicht schimmerten. Er verbeugte sich kurz.

„Sind sie Himura-san?“ fragte er.

Kenshin nickte, verdutzt, wie unverblümt ihn dieser Mann ansprach. Hatte er keine Angst vor dem Hitokiri Battousai? Dann dämmerte ihm, dass Ruiko-san zwar höchstwahrscheinlich von Battousai gehört hatte, ihn selbst als Himura aber nicht mit den übertriebenen Erzählungen von einem riesenhaften Dämon in Verbindung brachte.

Ruiko kramte kurz in seiner Tasche und förderte einen Brief zu Tage. „Für euch, von meinem Anführer Yoshida-san,“ sagte er und überreichte Kenshin den zerknitterten Umschlag. Dann verließ er mit einer knappen Verbeugung rasch den Raum.

Kenshin schaute auf den Brief in seinen Händen und dann zu Katsura. Dieser lächelte. Schon lange hatte er Himura nicht mehr so verdutzt dreinschauen sehen. Er nickte, ein Zeichen, dass Kenshin sich entfernen durfte.
 

Schnell eilte der rothaarige Junge auf sein Zimmer und schloss die Tür. Tomoe war noch bei der Arbeit und er war zum Glück alleine.

Er öffnete den Brief und tatsächlich, es war Yoshidas Handschrift!

„Anführer?“ dachte er, während er die anfänglichen Zeilen voller Höflichkeitsfloskeln überflog. Yoshida schien sich in seiner neuen Position gut zu machen. Kenshin lächelte und irgendwie wurde es warm in ihm. Der einzige Freund, den er je hier in Kyoto gehabt hatte, dachte an ihn und begrüßte ihn mit herzlichen Worten. Ein schönes Gefühl.
 

Dann jedoch, als er weiterlas, wurde sein Gesicht wieder ernst.

Der Brief war nicht nur eine Bekräftigung ihrer Freundschaft. Er war auch eine Warnung.
 

Ich kann dir nicht so oft schreiben, wie ich eigentlich möchte, Kenshin. Zur Zeit ist die Situation mehr als chaotisch und es wird immer schlimmer. Auch wir in der Provinz hören von der angestrengten Lage in der Hauptstadt. Die Männer werden unruhig angesichts des rücksichtslosen Vorgehens der Shinsengumi. Einige Familien wurden einfach auf Verdacht von den Shinsengumi umgebracht und die Angehörigen Samurai schwören Blutrache und wollen nicht lange warten.

Takasugi hat alle Hände voll zu tun, die Männer zu beruhigen – zu Mal er gerne selber losziehen würde um die Untaten zu rächen. Aber er vertraut Katsuras Urteil, genau wie du und ich.
 

Aber nicht alle sind so, Kenshin. Viele Männer haben Angst, dass es bald einen großen Militärischen Gegenschlag gegen die Provinz Choshuu geben wird. Jeder weiß, dass die Hauptunruhen von Männern aus Choshuu angezettelt werden, allen voran dem Clan von Katsura, auch wenn auch die Provinzen Tosa und Hizen Armeen aufbauen. Und auch Satsuma macht Takasugi Sorgen. Doch Katsura ist kein Kämpfer mehr, er ist ein Taktiker. Andere Familien aus Choshuu wollen jetzt Handeln. Vor allem Miyabe...
 

Wir müssen wohl alle noch etwas Geduld haben und darauf Vertrauen, dass wir bald in Kyoto die politische Mehrheit bekommen, um den Kaiser davon zu überzeugen, das Bakufu zu übernehmen und somit abzuschaffen!
 

Ich hoffe, dir geht es gut, Kenshin... Sei auf der Hut vor Verrätern. Und lass dein Herz nicht zu hart werden! Das geht viel zu schnell in diesen Zeiten...
 

Yoshida
 

Kenshin legte den Brief beiseite und schaute aus dem Fenster.

„Wie lange es wohl noch dauern wird, bis die Unruhen beendet sind und wir unser Ziel erreicht haben?“ überlegte er, während er den wolkenlosen, blauen Himmel beobachtete. Irgendwo neben seinem Fenster zirpte monoton eine Zikade, ein Zeichen, dass der Sommer nahte. Im Herbst würde es ein Jahr sein... ein Jahr, seit er seinen Shishou das letzte Mal gesehen hatte.
 

Kenshin stand auf und zog sich eine frische Choshuu-Uniform an. Gleich würde er ein Treffen mit Izuka haben, also keine Zeit, über die Zukunft herumzugrübeln. Das Bakufu würde – musste – früher oder später fallen, mit oder ohne seine Hilfe.

Während er den dunkelblauen Gi überstreifte, kam er dennoch nicht umhin, sich zu überlegen, wann er wohl das erste Mal auf die berüchtigten Shinsengumi treffen würde.

Er würde es auf jeden Fall vermeiden müssen, mit ihnen zu kämpfen, um eine Identität nicht preiszugeben. Aber dennoch... wenn sie wirklich so gute Kämpfer waren...
 

Fertig angezogen packte der Hitokiri sein Schwert und glitt lautlos in den Flur hinaus. Er konnte nicht wissen, wie bald sein Wunsch nach einem Kampf mit dem Miburo in Erfüllung gehen sollte.
 

--
 

Ungeduldig scharrte Hioshi mit den Füßen auf dem sandigen Boden des Innenhofs des Shinsengumi-Hauptquartieres. Er fühlte sich erschöpft und sein Körper war steif von der tagelangen Anspannung.

„Schon eine Woche warten wir hier auf Abruf,“ murmelte er missmutig in sich hinein. „Und nichts tut sich. Ich dachte, Saito hätte einen Plan, aber anscheinend sind auch ihm die Hände gebunden.“
 

Hioshi war nicht entgangen, wie übellaunig der Anführer der dritten Einheit der Shinsengumi in letzter Zeit gewesen war. „Noch übellauniger als sonst, wenn das überhaupt möglich ist...“. Er warf einen Seitenblick auf Okita, der in einiger Entfernung neben ihm stand und seelenruhig in den aufklarenden Himmel blickte. Der jüngere Mann spürte seinen Blick und erwiderte ihn mit einem Lächeln. Hisohi zwang mit aller Gewalt seine Mundwinkel ein Stückchen nach oben und nickte zurück, dann starrte er wieder auf seine Füße.
 

„Immerhin ist Okita freundlicher und hat einige Andeutungen gemacht.“ Hioshi konnte nun ahnen, dass ihre ständige Alarmbereitschaft und die Verschiebung ihres Aufbruchs mit irgendeinem von Kondo Isamis Abgesandten zu tun haben musste, der Anstatt Saito nun mit den Oniwabanshu und dem Ishin Shishi-Verräter verhandelte. Ihm wurde diese Sache langsam zu kompliziert.

„Wer verhandelt mit wem, wer verrät wen...“. Hioshi bevorzugte ein klares Duell, in dem jeder nach seiner Überzeugung bis zum Ende kämpfte – und kein Intrigenspiel mit hinterrücks aus der Dunkelheit geworfenen Dolchen, mochten sie sich auch als noch so süße Worte verkleiden.
 

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Saito die Tür aufriss und auf den Innenhof stürmte. Seine Launen schien, grenzte es auch an Unmöglichkeit, noch schwärzer geworden zu sein. Ihn Anzusprechen traute sich selbst Okita nicht, der sich in gebührendem Abstand an einer Steinbank herumdruckste.

Mit einem kurzen Ruf ins Innere des Gebäudes gebot Hioshi seinen Männern, sich bereit zu halten und rasch eilten die verbliebenen Mimiwarigumi und die Männer von Saitos Einheit aus ihren Quartierräumen auf den Innenhof.
 

Während sie sich, von einem ungeduldigen Hioshi gescheucht, aufstellten, trat Okita vorsichtig an Saito heran.

„Wie ist das Gespräch gelaufen?“ fragte er so neutral wie möglich.

Saito zog eine Zigarette aus seinem Ärmel und zündete sie an. „Naja,“ grummelte er mit tiefer Stimme zwischen Rauchwolken hervor. „Es gibt einen Plan.“

„Na endlich!“ rief Okita, denn auch er war wie Hioshi das untätige Warten leid.

Saito schenkte ihm einen missbilligenden Seitenblick. „Freu dich nicht zu früh. Mir gefällt die ganze Sache nicht im geringsten, aber,“ knirschte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und seiner Zigarette hervor, „wir müssen Takeo Ubeis Befehle befolgen“.

„Und was hat er befohlen?“

„Frag ihn selbst. Da kommt er.“
 

Gerade als der hagere Mann mit der Augennarbe aus dem Gebäude trat, schnipste Saito seine halb fertig gerauchte Zigarette auf den Boden und trat sie mit glühenden Augen genüsslich aus, so als ob er sich gerade vorstellte, den glühenden Stummel statt in den Sand in die Haut seines unliebsamen Vorgesetzten zu drücken.
 

Takeo Ubei ließ sein übliches, leicht süffisantes Grinsen über die Männer schweifen, die sich vor ihm aufgereiht hatten.

„Endlich können wir ausrücken, Samurai und Shinsengumi!“ begann er theatralisch, erntete aber durchaus frohe Zustimmungsrufe. „Es geht hierbei nicht nur um den Attentäter, der uns das Leben seit Monaten in Kyoto zur Hölle macht,“ fuhr Ubei fort, „es geht um die Zerschlagung der gesamten Ishin Shishi, um die Verhaftung aller führenden Köpfe dieser Revoltierenden hier in Kyoto!“
 

Okita und Saito sahen sich mit vielsagendem Blick an während Takeo Ubei die Einzelheiten seines Planes enthüllte. Hioshi, der sich mit seinen Mimiwarigumi näher an Saito hielt, sah die Beunruhigung auf ihren Gesichtern.

„Drei Treffpunkte?“ dachte Hioshi finster, als Ubei geendet hatte. „Und wir sollen uns dritteln?“

„Macht euch in zwei Stunden zum Aufbruch bereit!“ verkündete Ubei und verschwand dann wieder im Gebäude. Saito, Okita und Hioshi blieb nichts anderes übrig, als ihre Männer zu gruppieren, Einzelheiten noch mal zu erklären und sich dann selber fertig zu machen. Kaum hatte Hioshi seine Einheit instruiert, da eilte er auch schon zu Okita und Saito, die inzwischen in einem angrenzenden Raum über einen Stadtplan gebeugt saßen.
 

„So ein Ahou,“ zischte Saito gerade, als Hioshi dazutrat, und zeigte mit dem Finger auf die drei Stellen. „Mir ist keine davon jemals in irgendeiner Verbindung mit den Ishin untergekommen. Teehaus der umschmeichelnden Sakura-Blüten!“ - ein Laut des Missfallens - „...dass ich nicht lache, so ein Schwachsinn. Nicht mal Katsura würde sich an solch einem Ort zu einer wichtigen Beratung treffen.“

„Und der Hafen?“ fragte Okita. „Immerhin gibt es dort viele Fluchtmöglichkeiten. Und die Taverne am Tempelbezirk scheint mir auch nicht so unwahrscheinlich zu sein.“

„Und wenn alle Informationen falsch sind und wir in eine Falle gelockt werden sollen?“ gab Hioshi zu Bedenken.

„Nein, der Informant aus den Reihen der Ishin steht mit den Ninja in Verbindung. Ich glaube nicht, dass er derartige Falschinformationen verbreiten würde...“ Saitos Augen verengten sich. „Zumindest ein Ort ist von Bedeutung, ob da nun das Treffen stattfindet oder nicht. Mit ziemlicher Sicherheit glaube ich, dass wir wenigstens auf den Hitokiri treffen werden – und das reicht für mich als Motivation... Verdammt!!“ Er schlug mit der Faust auf die Karte.

„Ich bin mir sicher, dass es der Tempelbezirk ist...“
 

„Na toll,“ meinte Okita. „Und ich bin im Hafen eingeteilt.“

„Möchtest du lieber ein Bordell stürmen?“ Unwirsch kramte Saito nach einer weiteren Zigarette. „Und noch dazu mit Ubei im Schlepptau...“

„Und ich soll mit einigen Männern zum Tempelbezirk,“ murmelte Hioshi. „Komische Entscheidung...“

„Für Ubei erscheint wohl der Tempelbezirk als am Unwahrscheinlichsten... als ob ihm das irgendjemand eingeredet hätte.“ Saito sah Hioshi scharf an. “Das könnte unter Umständen ein großer Fehler sein… es wäre nicht das erste Mal, das Ubei eine schwerwiegende falsche Entscheidung trifft.“ Er stand ruckartig auf. Seine Augen leuchteten gefährlich. „Ich werde noch ein letztes Wort mit Kondo Isami sprechen müssen, bevor wir aufbrechen. So die Kami es wollen sehen wir uns alle nach der Mission wieder.“ Er eilte zur Tür, wandte sich aber noch ein letztes Mal um. „Sei auf der Hut, Hioshi!“

Hioshi nickte. Mit weichen Knien begann auch er, sich für den Abend fertig zu machen. Sein Bauch sagte ihm, das Saito recht behalten würde...
 

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Der Mond stand bereits hoch am Himmel und warf ein bleiches, kühles Licht auf die Baracken, die auf Holzplanken im seichten Wasser des Hafenbeckens standen. In der Tat war es so hell, dass Okita mit seinen scharfen Augen jede Ratte sehen konnte, die sich von einem Lagerraum zum Anderen schlich. Hinter ihm wartete lautlos eine ganze Abteilung Shinsengumi. Sie standen zusammengezwängt in einer kleinen Holzhütte, von der aus man das Hafenareal, in dem das Treffen der Ishin Shishi abgehalten werden sollte, gut durch die breiten Spalten in den Holzplanken überblicken konnte.
 

Okita überprüfte sein Schwert, zum hundersten Mal an diesem Abend, wie ihm schien. Mit jeder Stunde Warten war seine innere Anspannung gewachsen – genau wie sein Wunsch, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Nicht aus Angst vor dem berüchtigten Hitokiri sondern aus Angst, am falschen Ort zu warten. Der Mond stand inzwischen schon so hoch, dass ein Treffen schon längst arrangiert worden wäre. Es war einfach zu viel Licht. Trügerisch erschien es Okita, falsch dieser ganze, nach Fisch stinkende Ort.
 

Er schloss die Augen. Die Männer spürten seine Anspannung und waren nun inzwischen ebenfalls unruhig. Okita fühlte eine neue Welle an Unruhe heranrollen, die ihn nun diesmal zu überfluten drohte. Es war Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Okita wusste, was es bedeutete, sich Befehlen zu wiedersetzen. Aber immerhin war er Anführer einer Einheit und bereit, die Konsequenzen für sein Handeln zu übernehmen. Er hob den Blick.
 

„Männer,“ flüsterte er in die Runde und alle spitzten die Ohren. „Wir warten an der falschen Stelle. Zur Sicherheit bleibt eine ausgewählte Einheit von 5 Männern hier vor Ort. Tadasuke, du bist der schnellste Läufer, du wirst ihr Anführer sein. Wenn sich hier irgendetwas tut, dann alarmier uns so schnell als ob Hajime mit seinem Gatotsu hinter dir her wäre!“
 

„Hai!“ flüsterte Tadasuke mit einem grimmigen Grinsen. „Was werdet ihr tun, Souji-sama?“

„Mein Gefühl sagt mir, sofort zu Hioshi in den Tempelbezirk zu eilen... aber ich muss zuerst meinem Oberbefehlshaber Ubei über die Lage hier informieren. Wir werden also ins Gion-Viertel gehen!“ Mit diesen Worten stieß er vorsichtig die Holztür des Verschlages auf. Ihm folgte Schattengleich seine Einheit und Sekunden später konnte Tadasuke ihre Gestalten zwischen den zahlreichen Lagerräumen des Hafens schon nicht mehr ausmachen.
 

Doch als Okita vornweg durch die Gassen Richtung Gion-Viertel stürmte, hatte seine Unruhe immer noch nicht nachgelassen. Tief im Inneren sagte ihm sein Kämpferinstinkt, dass er schon wieder in falsche Richtung eilte und an anderer Stelle mehr gebraucht würde. Und er sollte Recht behalten.
 

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Kenshin überkam ein seltsames Gefühl, als er sich an den hintersten Tisch der Kneipe setzte. Hier drinnen war es schon dunkel, obwohl es draußen erst dämmerte. Das schwummrige Kerzenlicht erhellte den Raum nur mäßig, aber genug für ihn, um alles zwischen seinen tief in die Stirn fallenden roten Haaren zu überblicken. Er hob kaum den Kopf, als der Wirt an seinen Tisch trat und sich seine Hände an der schmierigen Schürze abwusch.
 

„O-Samurai-san, was darf ich ihnen bringen?“ fragte er im geschäftsmäßigen Ton. Natürlich hatte Kenshin ihn längst erkannt. Es war derselbe Wirt, in dessen Gastwirtschaft er schon einmal einen Auftrag ausgeführt hatte. Damals hatte ihm der Mann sogar noch Tipps gegeben. Es kam ich vor wie in einem anderen Leben.
 

„Sake o kudasai,“ bestellte er mit tonloser Stimme, die dem Wirt einen Schauer über den Rücken rinnen ließ. Er hatte fast zweimal hinsehen müssen, um den Jungen noch wiederzuerkennen. Natürlich war er äußerlich fast der selbe wie vor einem halben Jahr, er war nur wenig gewachsen. Aber sein ganzes Verhalten, seine Ausstrahlung hatte sich um 180 Grad gewandelt. Er war immer noch zurückhaltend und unauffällig, aber der Wirt, der schon einige Hitokiri in seinem Leben gesehen hatte, spürte deutlich die Bedrohung, die unter dieser scheinbaren Oberfläche lauerten. Er hatte inzwischen genug Geschichten über Hitokiri Battousai gehört, um diesen Jungen nicht eine Sekunde zu unterschätzen.

Er gefror, als ihn plötzlich ein paar bernsteinfarbener Augen kalt anblitzten.

„Heute noch!“

Der Wirt versteckte seine plötzliche Angst unter einer raschen Verbeugung und eilte davon. Nicht im Traum würde er daran denken, dem Jungen jetzt noch irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Rasch brachte er den Sake zurück an den Tisch und kümmerte sich dann um die wenigen anderen Gäste.
 

Kenshin unterdessen trank einen Schluck, wobei er keinen der anwesenden Personen aus den Augen ließ. Er zuckte unmerklich zurück, als die lauwarme Flüssigkeit seine Lippen berührte.

„Blut, schon wieder Blut,“ dachte er verbittert und zwang sich, einen Schluck zu trinken. „Immer noch schmeckt Sake nach Blut.“
 

Draußen stieg der Mond langsam über die Baumwipfel und Kenshin verfluchte die Minuten des Wartens, die ihm wie Stunden erschien, in denen er gezwungen war, den Stimmen aus der Vergangenheit und ihren Anschuldigungen zu lauschen.

Inzwischen war er schon beim letzten Rest der Sakeflasche angelangt, doch er fühlte sich immer noch kalt und der Geschmack von Blut war stärker den je auf seinen Lippen. Doch er bekam nicht noch mehr Zeit, darüber nachzubrüten, denn just in diesem Moment öffnete sich die Kneipentür und ein untersetzter Mann trat mit zwei Leibwächtern ein. Sie machten sich gar nicht erst die Mühe, so zu tun, als ob sie zum Trinken hier wären. Anscheinend besaß der Mann, Ganbei, genug Selbstvertrauen, um gleich den Wirt quer durch das Lokal herbeizurufen.

„Schick deine Gäste nach Hause, Wirt! Ich bezahle für alle Umkosten! Sorg nur dafür, dass es hier leer wird, ich habe wichtige Dinge zu besprechen.“

Mit einem lauten „Kling“ stellte Kenshin sein Schälen Sake auf dem Holztisch ab. Sorgsam achtete er darauf, dass der Wirt, wie abgemacht, alle die anderen schweigsamen Gäste vor ihm ohne Proteste aus dem Lokal scheuchte. Dann stand auch er langsam auf.
 

„Hey du da!“ blaffte ihn einer der Bodyguards von Ganbei an. „Mach, dass du verschwindest. Das ist jetzt hier eine Privatveranstaltung.“
 

Seelenruhig steckte Kenshin sein Wakisashi in seinen Obi.

„Hast du nicht gehört?!“ rief jetzt auch der andere, grobschlächtige Leibwächter und trat auf Kenshin zu. „Verschwinde, du hast hier nichts verloren.“
 

Langsam schob Kenshin sein Katana durch seinen Gürtel, ließ die Hand jedoch aber am Griff.

„Ihr irrt euch,“ sprach er leise, während er mit dem Daumen gegen die Tsuba drückte und die Klinge mit einem Klicken aus ihrer Sicherung löste. Er sah auf und fixierte seine Gegner mit kalten Augen. „Ihr habt hier nichts verloren!“ Dann zog er in einem silbernen Blitz sein Schwert.
 

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„Warum so ernst, O-Samurai-san?“ gurrte eine Frauenstimme neben ihm, ihr nur in einen Hauch von zarter Seide gehüllter Körper berührte sich sanft, jedoch nicht aufdringlich. „Auch so männliche Schwertkämpfer wie ihr, mein Herr, müssen sich mal entspannen!“ Wolken von süßem Rosenduft hüllten ihn ein, während die Geisha neben ihm ihr glockenhell lachte.
 

Mit einem finsteren Blick brachte er die weißgepuderte Dame zum Schweigen. „Geh!“ knurrte er und mit verschüchtert erhob sich die Geisha langsam.

„Warte!“

Sie versteinerte und sah Saito fragend und mit leicht geöffneten, knallroten Lippen an. Dieser wandte sich langsam zu ihr um und hob eine Augenbraue nach oben, während er ihr zunickte. „Den Sake kannst du hier lassen.“
 

Als die Geisha mit leicht beleidigtem Gesichtsausdruck verschwunden war, schenkte sich Saito langsam sein Schälchen voll. Er wirkte beherrscht, doch seine Hand zitterte leicht, während er das Schälchen anhob. So leicht, das es kaum zu sehen war, aber für Saito war das ein Zeichen, dass er kurz davor war, die Kontrolle über sich zu verlieren.
 

„Ubei,“ brachte er nur mühsam über die Lippen, nachdem er das Schälchen in einem Schluck geleert hatte. „Wie lange sollen wir hier noch warten?“

Der hagere Mann mit der Narbe im Gesicht saß ihm gegenüber, am anderen Ende des Raumes. So weit wie möglich entfernt. Es war selbst für einen Trottel erkennbar, das hier in einen Raum gepfercht war, was sich sonst nicht einmal auf 100 Meter freiwillig nähern würde. Zwischen ihnen befanden sich die anderen Männer der Shinsengumi. Fast 20 von ihnen hatten sich in den schmalen Raum gequetscht, direkt neben dem Empfangszimmer, jedoch von dort aus nicht erkennbar. Es war ein versteckter Raum, und der Zugang befand sich direkt hinter einem Schrank. Normalerweise benutzten ihn die Geishas des Hauses der umscheichelnden Sakura-Blüten zum Umziehen und Herrichten, nachdem sie die Wünsche ihrer Gäste befriedigt hatten. Jetzt stapelten sich hier keine Kimonos sondern Shinsengumi.
 

Takeo Ubei zuckte mit den Schultern, doch auch er war nervös und der Schweiß stand ihm bereits auf der Stirn. Er hatte fest damit gerechnet, dass das Treffen von Katsura, Miyabe und den anderen Choshuu-Anführern heute hier stattfinden würde. Langsam kamen ihm jedoch Zweifel, ob ihm dieser schnurrbärtige Informant und Verräter wirklich die Wahrheit gesagt hatte. Aber selbst wenn er falsch lag, er hatte ja auch Einheiten zu den zwei anderen möglichen Treffpunkten gesandt. Es könnte also eigentlich nichts schief gehen... zudem bereitete es ihm Vergnügen, zu sehen, wie Saito Hajime langsam die Geduld verlor.

„Wenn er meinen Befehlen zuwider handelt,“ schmunzelte er finster in sich hinein, „dann wird ihm Kondi Isami Seppuku befehlen... und ich werde dafür sorgen, dass es keinen Sekundanten gibt.“
 

Saito starrte ihn immer noch mit stechenden Augen an, als ob er jeden Gedanken lesen könnte. Ubei lächelte leicht. Er fand dieses Machtspielchen amüsant. Zudem war er sich Siegesgewiss.
 

Die Zeit verrann und nichts geschah. Die Männer warteten immer noch bewegungslos, wurden aber langsam immer ungeduldiger. Die meisten sahen immer öfter fragend in Saitos Richtung und tuschelten untereinander. Der Wolf hatte unterdessen den Blick gesenkt und konzentriert die Tatami fokussiert, als ob er in ihren Mustern irgendwelche Antworten auf die Situation erkennen könne. Plötzlich, in einer flüssigen Bewegung, die alle Männer hochschrecken lies, war er aufgestanden.
 

„Hajime?“ Ubeis Ton war drohend und herausfordernd zugleich. Würde der Wolf jetzt seinen Befehl missachten?

Voller Hass sah ihn der Kommandeur der dritten Einheit der Shinsengumi an. „Wir sind hier falsch. Die Informationen deines sogenannten Informanten sind offensichtlich nicht zuverlässig. Es ist nicht das erste Mal, das ich meine Männer in Gefahr schicke, weil ich deinem verkümmertem Urteilsvermögen vertrauen muss!“
 

Ubei stand nun ebenfalls auf den Beinen. Die Männer hielten den Atem an. Für diesen Respektlosen Ton gegenüber einem Vorgesetzten würde sich Saito verantworten müssen.

„Saito,“ fauchte Ubei, „damals –...“

„Damals,“ schnitt ihm Saito das Wort ab, „habe ich 10 meiner besten Männer verloren, weil ich deinen Befehlen gehorcht habe. Ich habe sie in den Hinterhalt geschickt, obwohl ich es hätte besser wissen müssen. Genau das Gefühl von damals habe ich jetzt! Männer in den Hinterhalt geschickt und verraten zu haben. Ich breche auf!“

Sofort erhoben sich alle Männer aus Saitos Einheit mit zustimmendem Gemurmel. Sie wussten, wem ihre Treue galt. Einige jedoch blieben sitzen. Es waren Verbündete Ubeis – oder Feiglinge, die sich nicht trauten, Ubeis Befehl zu missachten.
 

„Wo willst du hin?“ fragte der Vertraute von Kondo Isami kalt. „Du weißt, dass mit deinem Aufbruch dein Leben verwirkt ist?“

Saito ging unberührt zur Tür. „Ich werde Hioshi nicht im Stich lassen.“ Seine kalten, grünbraunen Augen fokussierten Ubei. „Und wenn ich gehen muss, dann werde ich sicher nicht allein gehen.“

Ubei zog sein Schwert. Sofort scharten sich seine Anhänger hinter ihm und auch sie hielten ihrer Schwerter griffbereit. Saito rührte sich nicht.

„Willst du mich aufhalten?“ flüsterte er fast. Seine Stimme war pures Eis und ließ die Anhänger Ubeis zurückweichen. „So wie letztes Mal?“

Ubei spürte eine Gänsehaut auf seinen Armen und seine linke Hand fuhr zu seiner Augenbraue und der rauen Narbe, die noch immer deutlich sichtbar war. Sein Schwert zitterte leicht.

„Kondo wird es erfahren!“ drohte er, doch seine Stimme klang inzwischen dünn und leicht hysterisch.
 

Jetzt war es Saito, der kalt lächelte. „Oh, Kondo Isami hat bereits alles erfahren.“
 

Ubeis Augen wurden groß und angsterfüllt.

„Oh ja,“ fuhr Saito fort. „Er hat erfahren, dass es deine Fehlentscheidung war, bei unserem letzten gemeinsamen Auftrag die Männer in den Tod zu schicken. Er hat erfahren, dass die Narbe in deinem Gesicht von mir stammt, meine bittere Rache. Er hat erfahren, dass ich damals die Schuld auf mich genommen habe, aus Verantwortung gegenüber meinen gefallenen Männern.“

„Ich hab dich damals nicht verraten!“ rief Ubei. „Ich-...“

„Du hast mir die Verantwortung für den Tod meiner Männer in die Schuhe geschoben. Ich musste zwei Jahre lang warten, bevor ich wieder das Vertrauen von Kondo genießen konnte. Meine Ehre hat es nicht erlaubt, dich bloß zu stellen, weil es eine so simple, so unwichtige Mission war. Und vor allem, da es letztendlich auch meine Schuld war – ich hätte deinen Befehlen nicht gehorchen müssen.“ Saito spuckte aus. „Eine einfache Eskorte eines Mannes, den DU für vertrauenswürdig erklärt hast. Und alle liefen wir ein einen Hinterhalt. Mit Mühe konnte ich mein eigenes Leben retten, doch habe ich es geschafft, den Verräter zu töten. Beinahe hätte ich das auch mit dir getan. Doch ich habe dich damals für einen Mann mit Ehre gehalten, der eine zweite Chance verdient hatte. Ein Fehler, den ich heute nicht wiederholen werde!“
 

Mit einer schwungvollen Bewegung tauchte Saito unter dem Schwert von Takeo durch und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Der Samurai taumelte und wurde nach hinten in die Arme seiner Anhänger geschleudert. „Deine zweite Chance ist verspielt. Sollten heute Abend wieder Männer sterben aufgrund deiner Fehlentscheidungen wirst du und nur du alleine die Konsequenzen zu tragen haben.“ Saito befingerte seinen Schwertgriff. „Kondo Isami hat mir zugestimmt, nachdem ich ihm alles erklärt hatte.“

„Du-...“ keuchte Ubei, zu geschockt, um einen sinnvollen Satz über seine Lippen zu bringen. Langsam rappelte er sich wieder auf, in gebührendem Abstand zu Saito.

„Kein Wolf von Mibu,“ verkündete dieser, während er seine Fingerknochen knacken lies und sich zum gehen wandte, „gehorcht den Befehlen eines Hundes, der unter dem Tisch an den Fingern seines Herrchens leckt.“

Dann stürmte er zur Tür hinaus und hinter ihm folgten seine Männer.
 

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Während Hioshi mit seiner Einheit aus Mimiwarigumi und Shinsengumi die Treppen zum Tempelbezirk hinaufschlich, überkam ihm mit jeder Stufe ein seltsameres Gefühl. Es war wie damals, vor einigen Monaten, als er zu spät zu seiner Einheit eilte, die eigentlich nur einen Routine-Einsatz hatte. Als er ankam, lagen einige seiner besten Schwertkämpfer in Stücken auf der Straße...

Hioshi schüttelte sich kaum merklich, während er leise seine Männer weiter nach oben führte. Hinter der nächsten Biegung würden sie die Kneipe finden, in der das Treffen von Katsura und den anderen Verrätern von Choshuu stattfinden könnte.
 

Könnte... den der Anführer dieser ganzen Mission, Takeo Ubei, hatte ihm mehr als einmal versichert, dass es sehr unwahrscheinlich sein würde, dass sich Katsura genau diesen Treffpunkt ausgesucht hätte.

„Doch Saito war anderer Meinung,“ erinnerte sich der Kommandant, „und ich würde in dieser Sache mein Schwert lieber dem Wolf von Mibu anvertrauen.“
 

Da, endlich. Schwaches Kerzenlicht fiel aus den papierbespannten Fenstern auf die Straße. Rings umher war alles dunkel. Mit einem Wink befahl Hioshi seinen Männern, sich im Schatten einiger Weiden zu verstecken. Er selbst eilte an einer Mauer entlang zu der gegenüberliegenden Seite des Eingangs. Dort war ein alter Schuppen, vor dem Fässer gestapelt waren, die ein gutes Versteck boten und gleichzeitig einen guten Ausblick auf den Eingang. Der Mond stieg inzwischen langsam höher und zwang die Shinsengumi, tiefer in den Schatzen zu rücken. Dann plötzlich hörten sie Stimmen.

Ein Trupp Männer kam die Treppe zur Kneipe hochgestiegen. Hioshi spannte sich an und lockerte lautlos sein Schwert. Katsura. Miyabe. Endlich...
 

Doch die Männer, die sich näherten waren laut. Zu laut für ein so wichtiges, heimlich Treffen. Oder war es nur Tarnung? Hioshi reckte seinen Hals über eines der Fässer. Da näherte sich eine Gruppe von drei Männer... klobige Gestalten... sie rochen nach Sake und einer der Leibwächter war offensichtlich betrunken... Niemand sah auch nur ansatzweise so aus wie ein Anführer von Choshu. Vor allem sprach einer von ihnen ziemlich laut mit einem Aizu-Akzent. Hioshi rührte sich nicht und wartete, bis die Männer in der Kneipe verschwunden waren.

„Was sollen wir machen?“ flüsterte einer seiner Männer neben ihm.

Hioshi überlegte kurz. Er hatte keine Wahl. Selbst wenn dies unschuldige Männer waren war die Gefahr doch größer, sie einfach laufen zu lassen. Langsam zog er sein Schwert und signalisierte mit einem Handzeichen seinen Männern hinter den Bäumen, sich bereit zu halten. Dann winkte er, und ein teil seiner Truppe stürmte nach vorne.
 

Einer der größten und kräftigen Männer, Ruko, sprang vor die Tür und trat sie mit einem gewaltigen Tritt ein. „Wir sind die Shinsengumi!“ brüllte er und versperrte mit seinem Körpergewicht den gesamten Türeingang. „Keiner bewegt sich! Wir sind hier, um....“

Dann versagte seine Stimme und er wich angsterfüllt zurück.

Hioshi sprang nach vorne, um zu sehen, was hier vor sich ging, doch er wurde zurückgeworfen durch den massigen Körper von Ruko, der ihm entgegentaumelte. Seine Arme wurden plötzlich warm.

„Was zur Hölle...Ruko?“ Hioshi taumelte weiter vom Eingang weg, seine Arme stützten Ruko, doch der Mann war zu schwer, seine Beine gaben nach und Hioshi ließ ihn neben sich auf den Boden gleiten. Seine Augen starrten voller Entsetzen zu ihm empor. Sie waren aufgerissen und leer. Erst jetzt merkte Hioshi, dass seine Arme in Blut getränkt waren. Ein großer, diagonaler Schwertstrich zog sich über Rukos ganzen, massigen Körper.
 

Hioshi spürte heiße Wut. Entsetzliche Wut. Er hatte diese Wunden schon einmal gesehen. In jener dunklen Gasse, als er die Gefallenen seiner Einheit begutachtet hatte, Männer, die er jahrelang gekannt und ausgebildet hatte. Die meisten von ihnen waren auf die selbe Art und Weise getötet worden. „Battoujutsu...“ flüsterte er tonlos und sah dann auf. Seine Männer hatten sich in einem Halbkreis um die Tür geschart, ihre grimmigen aber verängstigten Gesichter vom Schein des Lichtes drinnen leicht erhellt. Es war kein Ton zu hören. Dann verdunkelte eine Gestalt das Licht der Tür, ihr langer Schatten ragte am Boden wie ein mahnender Finger des Todes, auf Ruko weisend.
 

Hass über den Tod seiner Kameraden und Freunde gab Hioshi den Mut, sein Schwert noch fester zu packen. „Wer bist du?“ schrie er. Die regungslose Gestalt gab keine Antwort.

„Ich weiß wer du bist!“ brüllte Hioshi weiter. „Ich kenne dich. Du bist den, den man Battousai nennt, nicht wahr?“

Die Männer um ihn herum sahen sich einen Moment panisch an, einige wichen zurück.

Hioshi spuckte aus. „Ein Mörder, weiter nichts!“ Er trat vor. Seine Wut ließ ihn alle Angst vergessen und seine Ki wallte so kräftig wie noch nie in seinem Leben.

„Ich bin Hioshi Bengoku, Kommandant der Mimiwarigumi! Ich kämpfe im Kenbo Itten Ryu!“ Seine Stimme donnerte so kräftig, dass die Männer rings um ihm wieder Mut fassten und auch vortraten.

„Wir sind die Shinsengumi! Ergib dich im Namen des Kyoto Shugoshoko!“
 

Langsam trat Battousai einen Schritt aus der Tür hinaus. Sein Gesicht lag im Schatten. Langsam glitt seine rechte Hand zu seinem Schwertgriff.
 

„Lasst ihn das Schwert nicht ziehen!“ rief einer der Mimiwarigumi und stürzte mit gezogenem Schwert nach vorne. „Für Ruko!“
 

Ein paar eisblaue Augen glitzerten plötzlich golden unter dem blutroten Haar. Seine Stimme war leise, kaum hörbar und doch von solcher Bedrohung erfüllt, dass es jedem der Kämpfer kalt den Rücken hinabrann. „Eure Namen sind bedeutungslos für mich.“
 

Hioshi sah nur ein kaltes Aufblitzen von Stahl im Mondlicht, bevor es Blut über ihn regnete. Neben ihm lag Ruko, ein verzerrtes Gesicht, leblose glasige Augen, in denen sich das Mondlicht und der Nachthimmel spiegelten.
 

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Ich hoffe auf Feedback und gebe keine Versprechungen bezüglich des nächsten Updates ab ^_^x Aber ich bedanke mich bei allen treuen Fans für die Unterstützung :)

Kapitel 24: Aku Soku Zan

Ein Update.... bitte nicht in Ohnmacht fallen ^^

Ich brauche nicht lange zu erklären - mein RL ist zur Zeit so voller Krimskrams, dass fast nichts mehr für meinen geliebten Ruroken übrig bleibt ;_;
 

Ich hoffe zumindest, dass der ein oder andere noch meine FF liest und sich über dieses neue Kapitel freut :) Dieses Mal bekommen die Shinsengumi einen ausführlicheren Auftritt - und es zeigen sich erste Gemeinsamkeiten zwischen Attentäter und den Wölfen von Mibu...
 

Wer sich nicht mehr an die Handlung erinnert, im letzten Kapitel "Wölfe und Schlangen" gibt es auf der ersten Seite eine ausführliche Zusammenfassung!
 

Viel Spaß, freu mich über Kommentare :)
 


 


 

Kapitel 24 – Aku soku zan
 

Er kam über sie wie ein rachesüchtiger Oni.
 

Hoshi blinzelte kurz, eine natürliche Reaktion, als ihm das Blut der Männer – seiner Männer! – ins Gesicht spritzte. Ihm blieb nicht einmal Zeit, sich mit dem Ärmel über die Augen zu wischen. Der Überlebensinstinkt befahl dem Kommandeur der Mimiwarigumi, sich zu Boden fallen zu lassen. Und das keine Sekunde zu früh. Über sich hörte er das scharfe Zischen der Klinge des Hitokiris, die ihn um wenige Zentimeter verfehlte.
 

In einem atemberaubenden Zusammenspiel aus Schnelligkeit und purer Gewalt war der Hitokiri aus der Tür des Trinklokals geschossen, im einen Moment noch bewegungslos wie Stein, im anderen Moment ein flüchtiger Schatten. Hioshi schien es, als ob nur eine einzige Bewegung von Nöten gewesen war, um all seine Männer, die die Tür umstellt hatten, wie Grashalme niederzumähen. Er biss die Zähne zusammen. Unter sich spürte er den festgestampften Erdboden, „das letzte, was ich rieche,“ dachte er für den Bruchteil einer Sekunde, „Erde feucht vom Blut. Ein vertrauter und verhasster Geruch.“

Doch als Hioshi aufsah, um dem Tod in Form eines rothaarigen Dämons in die Augen zu sehen fand sein Blick nichts als den Nachthimmel.
 

Adrenalin strömte in seinen Körper zurück. Um in herum lagen seine Männer, sie waren tot, doch nein, nicht alle. Einige standen noch herum wie groteske Figuren, versteinert vor Schrecken. Hioshi sprang auf die Beine. Offensichtlich hatte der Attentäter beschlossen, sein Heil in der Flucht zu suchen, und sich nicht auf weitere Scharmützel einzulassen – was seltsam war, denn normalerweise ließ der Hitokiri keiner seiner Gegner am Leben.

„Wo ist er?!“ schrie er und sah sich verzweifelt um. Sie durften den Hitokiri jetzt nicht entkommen lassen. Nicht nur, weil er ein Ziel oberster Priorität war, nein. Hioshi hatte seine ganz persönliche Rechnung mit diesem Dämon zu begleichen. Seine Freunde, fast schon seine ganze Einheit an persönlich ausgebildeten Kämpfern war inzwischen dieser Bestie zum Opfer gefallen. Hioshi würde ihn stellen, auch wenn er ahnte, dass seine Schwerttechnik bei Weitem unterlegen war. Er hoffte, diesen Mangel mit ihm Wut und Entschlossenheit ausgleichen zu können.
 

„Die Treppe,“ keuchte einer der noch übrigen Männer, der anscheinend als erster den Zustand der Erstarrung überwinden konnte. Sofort eilte Hioshi auf die im Mondlicht bleich schimmernden Stufen zu, die am Rand Kyotos hoch in den Tempelbezirk führten. Unter ihnen glitzerte schwach die Stadt.

„Hinterher!“ befahl Hioshi, während er seine Beine zwang, sich so schnell wie noch nie zu den Stufen hin zu bewegen. Er sah hoch und erblickte eine kleine Gestalt weiter oben auf der Treppe.

Der Hitokiri!

Er konnte ihn einholen! Mit einem Aufschrei beschleunigte Hioshi seine Schritte und ließ seine Männer auf den Stufen hinter sich zurück, während der Rücken des Attentäters immer größer in seinem Blickfeld wurde. Er bemerkte nicht, dass sein Aufholen nicht Schnelligkeit zu verdanken war sondern dem Willen des Hitokiri, der sich absichtlich zurückfallen ließ.
 

Auf einer kleinen Anhöhe schließlich holte Hioshi ihn ein.

Du Bastard, wollte er schreien, doch er hatte keinen Atem mehr. Statt dessen lenkte er all seine Kraft in einen schwungvollen Vorwärtsstoß, die stärkste Technik des Jigen-Stils. Doch der Attentäter hatte ihn längst bemerkt und wich mühelos seitlich aus, während er mit der linken Hand einen Schlag auf Hioshis Rücken ausführte, der den Schwertstreich des Mimiwarigumi-Kämpfers zu Boden lenkte. Hioshi verlor das Gleichgewicht.

„Aaahhrr...“.

Mit einem Aufschrei fiel er zu Boden.
 

„Jetzt,“ durchzuckte es sein Gehirn und er erwartete den Todesstoß. Sein Herz pochte wie wild, ein zuckender Muskel eingesperrt zwischen seiner Brust und der Erde. Doch nichts geschah. Zum zweiten Mal ließ der Hitokiri ihn liegen und am Leben. Hioshi konnte es kaum glauben. Wenn er ihn nicht stellen konnte, was war dann sein Leben als Krieger wert?!

„Was für ein Bastard!“ Er spuckte aus und rappelte sich auf. Inzwischen hatten ihn auch die vier verbliebenen Männer fast eingeholt.
 

„Los,“ brüllte Hioshi, ein nie da gewesenes Feuer in seinen Augen. Noch einmal würde er sich nicht abschütteln lassen. Beim dritten Versuch würde er den Hitokiri stellen – zum Guten oder zum Schlechten. Der Schatten des Attentäters war über ihm, der helle Mond stand in seinem Rücken. Er preschte los, die Treppen hinauf in die Nacht hinein.
 

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Gerade, als Okita mit seinen Männern die letzten Brücken am Hafen überquerte und die Lichter des unweiten Gion-Bezirkes erahnen konnte, spürte er eine ihm bekannte Kämpferaura näherkommen. Mit einer Handbewegung gebot er seinen Männern anzuhalten. Wie erwartet stürmte kaum eine halbe Minute später die dritte Einheit der Shinsengumi aus einer engen Gasse. Die zwei Kommandanten trafen sich mitten auf der Brücke im hellen Mondschein. Okita sah die Anspannung in Saitos Gesicht.
 

„Was ist passiert?“ fragte er atemlos.

Saito gestikulierte den Männern, nicht anzuhalten, sondern weiterzumarschieren, wenn auch nicht ganz so schnell wie vorher. Er übernahm zusammen mit Okita die Spitze des Zuges.

„Was ist mit Ubei?“ fragte Okita noch einmal, während sie rannten und die Brücke hinter sich ließen. „Hat er dich gehen lassen?“

„Verschwende keine Zeit an diesen Idioten,“ fauchte Saito. „Ehe die Sonne aufgegangen ist, wird er den Preis für sein Handeln erhalten.“ Er packte die Schwerter an seiner Seite und erhöhte das Tempo. „Hoffentlich hat wenigstens Hioshi klug gehandelt.“
 

„Vielleicht ist er noch in Deckung,“ entgegnete Okita. „Aber ich spüre etwas Anderes. Deswegen bin ich mit einer handvoll Männer auf dem Weg zu Euch gewesen.“

„Hm.“ Saito nickte dumpf. „Das Gefühl hat dich nicht getäuscht. Diese ganze Sache mit den drei Treffpunkten. Eine offensichtlichere Falle gibt es gar nicht.“

„Wir hatten keine Wahl, wir mussten darauf eingehen.“

Saito sah ihn von der Seite aus an. „Nur ein Narr wie Ubei würde an solch einen vergifteten Köder anbeißen. Lass uns schneller gehen,“ murmelte er mit tiefer Stimme und eilte voraus.
 

Ihr Atem ging heftig, als sie sich der Treppen näherten, die sich an den Stadträndern Kyotos an die Hänge schmiegten. Die zwei Anführer hatten ihre Einheit mit jedem Meter schneller vorangetrieben. Mit Schwung nahmen sie die ersten Stufen in Angriff, eine Gruppe hellblau gekleideter Männer, nur ein Schatten und wie das Geräusch von im Wind raschelnden Bäumen in der Nacht.
 

Saitos Augen blitzten auf und er ließ die restliche Gruppe hinter sich. Er fühlte nichts als eine finstere Leere, die einen immer dann beschleicht, wenn düstere Vorausahnungen auch wirklich eintreffen. Im Mondlicht sah er überdeutlich Lumpen, Bündel, etwas Glänzendes, das die kühle Einheit der akkurat gesetzten Stufen wie schwarze, ausgefressene Löcher unterbrach. Er erreichte den kleinen Platz, an dessen Rand sich das Lokal gruppierte, von dem Ubei behauptete, dass dort Nie und Nimmer ein geheimes Treffen der Ishin Shishi zu erwarten sei. Saito spukte aus.
 

„Ahou.“
 

Okita trat neben ihm, leicht keuchend, obwohl für ihn die Stufen eigentlich keine Anstrengung hätten bedeuten dürfen. Doch Saito hatte jetzt nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Mit einem stummen Handwink gebot er seinen Männern, das Gelände zu umstellen, doch er wusste auch so, dass das Einzige, was sie hier umzingeln würden, zur Flucht unfähige Leichen waren.

Mit kaum unterdrückbaren Lauten des Entsetzens musterten die Shinsengumi die am Boden liegenden Gefallenen der Mimiwarigumi. Die Männer hatten sich gut gekannt und zusammen einige Einsätze ausgeführt.
 

„Ubei ist so gut wie tot,“ murmelte Saito zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er war jetzt nicht einmal in der Stimmung, sich eine Zigarette anzuzünden. Nicht, solange er nicht Ubeis Leiche vor sich liegen sehen würde, ein kläglicher Preis für all die Leben, die seine von Machtgier beeinflusste Unüberlegtheit gefordert hatte.

„Sieh,“ rief ihm Okita zu, der vom Platz weg an die Treppe getreten war, die von der kleinen Schenke weiter nach oben in Richtung Tempelbezirk führte. „Anscheinend konnte der Attentäter es nicht mit allen aufnehmen. Er ist geflüchtet und unsere Leute haben ihn verfolgt.“
 

Interessiert trat Saito näher und gebot einigen Shinsengumi, Fackeln anzuzünden, um die Körper, die auf der Treppe lagen, näher untersuchen zu können.

„Seine Knochen wurden glatt durchschnitten,“ murmelte einer der Shinsengumi. Seine Stimme klang gepresst und seine Augen waren hart, denn er hatte eben unter einem der Opfer vor dem Trinklokal einen Freund, Ruko-san, entdeckt. Doch keiner der Shinsengumi ließ seinen Gefühlen von Wut, Trauer und Angst freien Lauf. Zu lang und zu hart hatten sie trainiert, ihre Emotionen unter Kontrolle zu behalten.
 

„Der Hitokiri muss in der Jigen-Technik ausgebildet sein,“ murmelte ein Anderer. Einige Shinsengumi nickten bestätigend, denn die Jigen-Technik war eine der tödlichsten und unter Attentätern wie Shinsengumi verbreitet, obwohl nur wenige sie wirklich mit voller Perfektion beherrschen konnten.
 

„Nein, ihr irrt euch!“ ertönte Saitos tiefe Stimme aus dem Schatten der Fackeln. Fragend wandten die Männer ihre Köpfe von dem am Boden liegenden hin zu dem Gesicht ihres Anführers.
 

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In einer kraftvollen Vorwärtsbewegung hatte sich Kenshin rücksichtslos seinen Weg durch die Männer in hellblauen Umhängen gebahnt, die vor dem Trinklokal auf ihn gewartet hatten. Durch seinen überraschenden Vorstoß waren die auf ihn zupreschenden Mimiwarigumi irritiert gewesen. Es war ein leichtes für den Hitokiri, ihre durch Emotionen aufgewühlten Gemüter zu durchschauen und ihre Unsicherheit mit einem brutalen Vorstoß auszunutzen. Sie fielen vor ihm wie die Grashalme vor der Sense und innerhalb weniger Sekunden hatte er den Kreis durchbrochen. Doch er blieb nicht stehen, um sich den verbliebenden Kämpfern zuzuwenden.
 

Sein Auftrag war bereits erledigt, die Samurai in dem Trinklokal tot. Offensichtlich jedoch war zum zweiten Mal irgendetwas durchgesickert und ein Hinterhalt vorbereitet worden. Diesmal Shinsengumi! Es gab tatsächlich einen Verräter.

Doch so sehr es Kenshin auch verlangte, sich mit ihnen zu messen – die Männer, die ihn hier umzingelt hatten, waren offensichtlich eher gering ausgebildet oder noch nicht lange dabei. Sie waren keine Herausforderung, wenn er sich ihnen stellen würde, wäre es nur sinnloses Dahinschlachten. Nein, Kenshin floh, die Treppen hinauf in Richtung Tempelbezirk. Er wollte nicht mehr töten, als wirklich nötig. Warum auch immer ihm dies auf einmal wichtig war.
 

Über seine Schulter sah er entsetzt, dass die Männer ihm laut schreiend folgten, allen voran ein Samurai von kräftigerer Statur, der die anderen antrieb. Offensichtlich der Kommandant der Einheit, auch wenn er nicht die übliche Shinsengumitracht in Hellblau trug, sondern die markante Mimiwarigumi-Kleidung in Rot und weiß. Kenshin spürte seine Ki, voller Wut und Rachsucht. Er unterdrückte einen Fluch und ließ sein Schwert in der Hand, anstatt es wieder einzustecken.

„Wie kann er nur so dumm sein und mir folgen?“, dachte er wütend. „Ihm ist doch klar, dass er sich nicht mit mir messen kann. Schon gar nicht, wenn er seinen Geist nicht frei von Emotionen machen kann. Und trotzdem rennt er mir zusammen mit den Anderen Shinsengumi nach. Dank ihrem Geschrei werden gleich noch mehr Menschen auf mich aufmerksam.“
 

Eine andere Sache, die Kenshin plötzlich beunruhigte war, dass jeder der ihm nachstürmenden Shinsengumi sich ein gutes Bild von ihm machen konnte. Im Schatten des Trinklokals war seine Figur nur schemenhaft zu erkennen gewesen, doch jetzt hier, auf den hellen Treppen, wo das Mondlicht seine Haare rot zum leuchten brachte, wäre es mit der Tarnung bald dahin. Wenn er einen von seinen Verfolgern am Leben lassen würde, dann könnten sie ein recht detailliertes Phantombild von ihm erstellen.

Die Shinsengumi holten auf. Er hatte keine Wahl.
 

Eine traurige Frauenstimme erklang in seinem Kopf. „Wenn ich also letzte Nacht ein Schwert bei mir getragen hätte,“ hauchte sie, „hättest du mich dann auch getötet?“
 

Kenshin blinzelte das Bild von den so seltsam durchdringenden, schwarzen Augen davon. Unglaubliche Wut durchfuhr ihn, Wut auf sich selbst und seine Unfähigkeit, irgendetwas an dieser Situation ändern zu können, irgendein Leben retten zu können anstatt immer nur zu töten, zerstören zu müssen...

Er leitete seine Wut auf die Männer über, die ihm mit hassverzerrten Gesichtern nacheilten, die wie er ihre törichten Rollen dieses Spiel zu Ende spielen würden. Sie waren der Grund, warum die Revolution noch immer andauerte, warum die Patrioten noch immer keinen Sieg erzielt hatten. Sie waren seine Feinde, die zwischen den Patrioten und dem Sieg standen. Sie waren die Beschützer der alten, unterdrückerischen Ordnung, die es zu zerstören galt. Er fasste sein Schwert fester, wandelte die Wut in kalte Entschlossenheit.
 

Als die Treppe endete und es ein Stück geradeaus führte, vorbei an dichten Bambuswäldern, fuhr Kenshin herum. Er stellte sich dem schnellsten seiner Verfolger. Der etwas ältere Mann der Mimiwarigumi legte all seine Geschwindigkeit in die Wucht des Angriffs. Ein Fehler. Kenshin blockte nur halbherzig ab und der Mann torkelte von seiner eigenen Körperkraft getrieben an ihm vorbei und fiel auf den Boden. Doch Kenshin hieb nicht auf den gefallenen Mann ein sondern rannte die Treppen weiter hoch. Irgendwas in ihm hoffte, dass die Verfolger vielleicht doch noch aufgeben würden, doch der Hitokiri in ihm hatte bereits kalkuliert, welche Schritte als nächstes zu tun wären, wenn nicht.
 

Der Mann, den er gestellt hatte, war recht rasch wieder auf die Beine gekommen und hinter ihm die Treppe hinaufgerannt. In etwas Abstand folgten die restlichen Shinsengumi.

Abrupt blieb Kenshin stehen und drehte sich halb nach hinten, sein Katana auf den Verfolger gerichtet, der zum zweiten Mal den selben Fehler beging und mit voller Wucht auf ihn zu preschte. Wie erwartet brauchte Kenshin sich nur rasch zu ducken. Der Gegner konnte seinen Körper nicht mehr zum Stehen bringen, stach ins leere und lief direkt in das Schwert, das Kenshin in der Hocke nach oben stieß. Mit hassverzerrtem Gesicht starrte er ihn an, Sekunden vergingen, und die Augen des Kämpfers funkelten ungebrochen. Kenshin konnte dem bohrenden, hasserfüllten Blick nicht ausweichen, er spürte genau, dass es diesem Mimiwarigumikämpfer nicht um Sieg oder Ehre ging, sondern um pure Rache, um etwas persönliches. Und einen kurzen Moment lang war Kenshin wieder in dem stinkenden Keller, wo sein entführter Freund Yoshida blutend und gefesselt als Köder bereit lag und er sah sich selbst, wie er die Mimiwarigumi bedrohte, um seinen Freund zu schützen. Offensichtlich war dieser Mann vor ihm einer von ihnen, vielleicht sogar ihr Anführer. Er hatte sie damals getötet, diese Kämpfer, die seinen Freund austauschen wollten für sein Leben. Er hatte sich und Yoshida gerettet, die Mimiwarigumi hatten seine Rache zu spüren bekommen, und dennoch hatten sie ihn tief verwundet – die Freundschaft zwischen Yoshida und ihm war danach nicht mehr so wie früher. Yoshida hatte Hitokiri Battousai mit eigenen Augen gesehen. Danach war er versetzt worden, nach Choshuu. Und er war allein gewesen, allein, bis jetzt. Undurchdringliche, schwarze Augen schoben sich in sein Blickfeld.
 

Kenshin blinzelte.
 

Vor sich sah er wieder das Gesicht des Hauptmanns. Seine Augen rollten sich gerade nach hinten. Ruckartig zog der Hitokiri sein Schwert aus dem zusammenbrechenden Körper. Es waren nur Sekunden vergangen, doch dieser Blick des Mimiwarigumi, er hatte so viele bittere Erinnerungen ausgelöst. Der Körper vor ihm fiel zu Boden. Kenshin spürte warmes Blut auf seinen Händen. Es musste weitergehen. Es würde immer weitergehen.
 

Battousai sprang einfach über den fallenden Körper direkt auf den Nachfolgenden Shinsengumi zu. Es gab für ihn kein Erinnern mehr, nicht jetzt. Vor ihm waren seine Gegner. Sie hatten sich entschieden, sie kämpften gegen ihn, er musste sie vernichten, jetzt!
 

Der Wucht von Battousais Angriff und Arai Shakkus Klinge hatte der gut geschmiedete Stahl des zweiten Shinsengumi nichts entgegenzusetzen. Sie brach und Battousais Schwert schnitt glatt in die rechte Schulter des Mannes, schräg in Brust und Lunge. Ihm blieb kaum Zeit, sein Schwert aus dem Körper des Mannes zu befreien, denn der dritte Verfolger war gleich hinter ihm und zielte mit einem Schwertstreich auf seine Seite. Battousai fuhr herum und blockte den Streich ab, während er dabei auf die gleiche Stufe seines Angreifers sprang. Dieser konnte sich nicht schnell genug von seinem verfehlten Angriff aufrappeln und das Schwert des Hitokiri traf ihn auf seinen ungeschützen Rücken.
 

Battousai wartete jetzt nicht länger, bis die noch verbliebenen Shinsengumi ihn eingeholt hatten. Mit kalter Entschlossenheit sprang er ihnen entgegen. Im Augenwinkel sah er, dass Izuka aus dem Schatten des Babumswaldes zu Seiten der Treppe trat und seine Schritte wurden für einen Augenblick langsamer. Es überraschte ihn nicht, seinen Vorgesetzten hier zu sehen, denn schließlich war es normal, dass Izuka seine erledigte Arbeit begutachtete und auf den Toten die Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ befestigte.
 

„Hey Junge, bist du unverletzt?“ rief Izuka mit einigermaßen entsetzter Stimme.

Doch Battousai hatte jetzt keine Zeit für Worte und stürmte an seinem Befehlshaber vorbei. Der letzte der Shinsengumi stieß sein Schwert mit einem verzweifelten Aufschrei nach vorne. Kenshin sprang über ihn hinweg und schmetterte den Mann mit einem Ryu Tsui Sen auf die steinernen Stufen.
 

Unheimliche Stille trat ein. Kenshin atmete aus und befreite sein Schwert mit einem Chiburi von dem Blut. Während er es einsteckte, hörte er Izuka die Stufen zu ihm herabeilen.

„Schnell,“ keuchte der schnurrbärtige Mann, „wahrscheinlich kommen noch mehr. Wir wurden schon wieder verraten, verdammt!“

Gemeinsam rannten sie von den Treppen weg auf einen schmalen Pfad mitten durch den Bambuswald.
 

„Dieses Mal auch noch die Shinsengumi!“ fluchte Izuka, während Kenshin vorausrannte. „Ich werde die Neuigkeiten sofort an Katsura persönlich übermitteln!“

Kenshin beachtete ihn kaum. Er rannte geradeaus weiter, in seinem Kopf die Stimme von Tomoe in seltsamem Kontrast mit einer ungewohnten Genugtuung. Er hatte zum ersten Mal gegen die stärkste Kämpfereinheit des Shoguns gekämpft und die Shinsengumi besiegt, noch dazu einen Hauptmann der Mimiwarigumi. Er hatte nicht einmal einen Kratzer. Eine seltsame Euphorie durchflutete ihn. Wenn alle dieser Kampfeinheit so ausgebildet waren, dann war in der Tat ihr Ruf größer als die Wahrheit. Die Shinsengumi waren zu besiegen! Fast hätte er grimmig gelächelt, doch dann sah er seine Hände, und an seinen Händen das Blut von weiteren sinnlos gestorbenen Männern, Kämpfern wie ihm selbst, die bereit gewesen waren, ihr Leben für eine Sache zu opfern, an die sie glaubten. Kenshin schüttelte den Kopf. Alles Hochgefühl war schnell verschwunden. Einzig ein Gedanke blieb: Sich schnell das Blut von den Händen zu waschen. Und diesen funkelnden, hasserfüllten Blick des Kommandanten der Mimiwarigumi zu verdrängen.
 

Neben sich hörte er Izuka entrüstet murmeln.

„Es gibt tatsächlich einen Verräter unter uns.“
 

--
 

„Wahrscheinlich wich der Attentäter dem ersten Angriff von Hioshi aus.“
 

Die Shinsengumi aus Okita und Saitos Einheit hatten sich in stummer Wut um den Körper des gefallenen Kommandanten der Mimiwarigumi geschart. Im Fackelschein sah man, dass er auf dem Bauch am Boden lag, nicht weit von dem Trinklokal entfernt auf halber Anhöhe zum Tempelberg. Sein Gesicht war halb in die Erde gedrückt und von wirrem Haar verborgen. Obwohl sein rechter Arm von der Wucht des Angriffs fast abgetrennt war hielt er noch fest seinen Schwertgriff umklammert.
 

Erde und Blut. Das waren die letzten Gerüche, die er eingeatmet hatte, bevor seine Seele in die andere Welt übergetreten war. Der Tod eines Kriegers.
 

Außerhalb des Kreises schaute der Anführer der ersten Einheit interessiert in die Bäume am Wegesrand. Er hatte etwas glitzern gesehen. Schließlich entdeckte Okita die Spitze des abgebrochenen Schwertes. Es war offensichtlich mit solcher Wucht davongeflogen, dass es tief in der Rinde eines nahen Baumes stecken geblieben war und dort wie ein stummer Vorwurf nach vorne stand, kalt schimmernd im Mondlicht.
 

„Wenn Hioshi von einem Kämpfer des Jigen-Stils angegriffen worden wäre,“ fuhr Saito weiter fort, „dann wäre vielleicht sein Schwert unter der Wucht des Angriffs zersplittert. Aber...“
 

„Sie waren sich nicht annähernd ebenbürtig,“ konstatierte Okita mit einem seltsamen Lächeln im Gesicht. „Der Jigen-Stil kann mit der Technik und Begabung dieses Attentäters nicht mithalten. Er ist besser.“

„Bei Weitem besser,“ murmelte Saito mit verächtlicher Stimme und die Männer sahen ihn voll Furcht an. Selten hörten sie ihren Anführer so voller anerkennendem Hass über ihre Feinde sprechen.

„Wenn ich gewusst hätte“, sprach Saito weiter, „dass ein Schwertkämpfer von diesem Kaliber hier draußen ist, dann hätte ich die Männer persönlich begleitet.“

„Aber wer,“ sprach einer der Shinsengumi, „könnte das getan haben? Wer beherrscht eine solch überlegene Technik?“
 

In Saitos Augen leuchtete das Feuer der Fackeln. „Ein dämonischer Mann, soviel ist sicher.“ Normalerweise waren solche Äußerungen nicht seine Art, aber dieses Mal... zum ersten Mal seit langem war er sich nicht sicher, ob seine Schwerttechnik dazu ausreichen würde, sich mit dem mysteriösen Hitokiri Battousai messen zu können. Gleichzeitig jedoch reifte in seinem Herzen ein Gedanke zu einem unbändigen Wunsch heran – eines Tages Auge in Auge mit diesem Dämon stehen zu können. Er würde ihn fallen sehen und wenn nicht, von der Hand solch eines Kämpfers zu sterben war keine Schande.
 

„Okita!“

Rasch trat der kleinere Mann an seine Seite. „Wir gehen?“

Saitou nickte. Mit wenigen Worten befahl er seiner Einheit, zum Hauptquartier zurückzugehen. Dann sah er zu Okita und lächelte kalt.

„Es wird Zeit, den Verräter zu stellen, der für all das verantwortlich ist.“

„Ubei. Willst du auf die Jagd gehen wie ein Hitokiri?“ fragte Okita leicht amüsiert, leicht ernstgemeint.

Saitou zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, bevor er antwortete.

„Nicht wie,“ sprach er. „Wir sind Hitokiri.“

Okita hob die Augenbrauen. „Genau wie dieser Dämon?“

Saito bließ erneut Rauch aus und nickte. „Wir stehen auf unterschiedlichen Seiten, aber kämpfen nach dem selbem Prinzip.“

„Aku soku zan,“ murmelte neben ihm Okita leise.

Der schwarzhaarige Wolf nickte. Dann schnippte er seine Zigarette fort. Noch bevor sie in einem Funken von Glut auf den Boden fiel, waren die beiden Shinsengumi verschwunden.
 

--
 

Tausend Gedanken durchströmten Kenshin, während er durch die tiefen Schatten der verlassenen Gassen zum Kohagiya eilte. Sein Herz klopfte immer noch, auch wenn er äußerlich ruhig wirkte, sein Gesicht ausdruckslos wie immer. Bevor er durch den Hintereingang die Küche betrat, vergewisserte er sich mit einem routinierten Blick, wie viel Blut der Shinsengumi an ihm noch zu sehen war. Seine Hände und ledernen Armschienen waren voll. Er war aber nicht erstaunt, kaum mehr als ein paar kleine Spritzer auf seiner Kleidung zu sehen, die jeder normale Mensch vielleicht für Spuren eines ausgedehnten Abendessens gehalten hätte. Ihn widerten sie an. Doch er konnte sich jetzt nicht umziehen, geschweige denn schlafen. Zuviel war passiert.
 

Schnell füllte er den kleinen Holzzuber am Brunnen des Innenhofes, trug ihn in die spärlich beleuchtete Küche und begann, sich die Hände zu waschen.

Dieses Ritual half ihm, den Grauen der nächtlichen Aufträge abzuschütteln. Normalerweise.

Jetzt jedoch spukten ihm zu viele Gedanken im Kopfe herum.

„Mein erster Kampf mit den Shinsengumi....“ überlegte er. „Unter normalen Umständen, wenn es mehr gewesen wären...“ Kenshin beging nicht den Fehler, die Stärke dieser gefährlichen Gegner zu unterschätzen. Dennoch waren sie für ihn nicht das Schreckgespenst des Bakufu wie für viele andere Ishin Shishi. Sie waren sterblich, wie jeder andere auch.

Kenshin sah in den Waschzuber. Das Wasser hatte sich, da war er sich selbst im schwummrigen Kerzenlicht sicher, schon hellrot verfärbt. Plötzlich tropfte es auf seine Hand. Ein verwässerter, roter Fleck. Seine Narbe.
 

Warum kam ihm ausgerechnet jetzt wieder dieses seltsame Mädchen in den Sinn. Er roch ihren Pflaumenduft....
 

„Sie ist im Hof,“ sagte ihm plötzlich sein Instinkt, der seit einem Jahr nichts anderes mehr tat, als unbewusst seine Umgebung sofort auf jede Ungewöhnlichkeit hin abzutasten. „Sie kommt näher.“

Seine Bewegungen wurden langsamer und sein Rücken spannte sich an.

„Sie wird doch wohl nicht...“
 

Er hörte entsetzt, wie hinter ihm die Küchentür aufgeschoben wurde, und ein süßlicher Hauch ihres Parfüms zu ihm hereinwehte. Sie blieb an der Schwelle stehen.

Kenshin beschloss, so zu tun, als ob sie nicht da wäre und schrubbte plötzlich mit großem Interesse seine Hände, die eigentlich schon längst sauber waren.
 

Wieso, wieso, wieso konnte sie nicht einfach verschwinden? Er wollte nachdenken, er wollte alleine sein! Er brauchte jetzt niemanden, der ihn mit Blicken musterte, niemanden, der ihm Gesellschaft leisten wollte. So lange war er hier im Kohagi in Ruhe gelassen worden, warum musste jetzt dieses Mädchen kommen und ihn um seine Konzentration bringen. Wusste sie nicht, mit wem sie sich abgab? Sie hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sie seine Arbeit für die Ishin Shishi – seine Tätigkeit als Hitokiri, als Attentäter – verabscheute. Er hatte ihr erklärt, dass es für ihn keinen anderen Weg gäbe. Damit war doch alles erledigt, oder nicht?
 

Sie kam näher. Im Augenwinkel sah Kenshin, dass sie ein Handtuch auf dem Arm hatte und ihm in einer auffordernden Geste reichte.
 

„Bevor du deine Hände wäscht, solltest du dich um deine Verletzung kümmern.“
 

Verletzung, schnaufte Kenshin innerlich. Naives Mädchen. Diese lästige Narbe ist vielleicht das Einzige an mir, das noch menschlich ist. Soll sie doch bluten.

Sie hielt ihm immer noch das Handtuch hin. So leicht war sie also doch nicht zu ignorieren. Etwas unwirsch nahm Kenshin schließlich das Tuch, jedoch ohne sie dabei anzusehen.
 

„Warum bist du noch auf?“ fragte er, barscher als er es eigentlich beabsichtigt hatte. „Und wenn schon,“ dachte er entschuldigend, „vielleicht schreckt sich das ja ab und sie beschränkt sich darauf, mich wenigstens nachts nicht mehr zu belästigen.“

Er hatte das Gefühl, dass sie die kleinen Blutspritzer auf seinem Gi genau gesehen hatte und irgendwie machte ihn das nur noch mehr wütend.
 

Tomoe trat einen Schritt zurück und sah weg. „Wir schlafen zwar in verschiedenen Räumen,“ murmelte sie, „aber... ich kann nicht schlafen, wenn...“ Sie stockte. „...wenn du da draußen bist...“

Kenshin drückte das Handtuch auf die blutende Narbe an seiner Wange. Dieses Mädchen war ihm total rätselhaft. Was wollte sie ihm damit sagen? Dass sie nicht schlafen konnte, weil sie wusste, was er nachts tat? Oder, was natürlich total absurd war, machte sie sich Sorgen... um ihn?! Undenkbar und... unakzeptabel!
 

„Halt dich fern von mir,“ sagte er einfach nur, nicht sehr höflich, aber sie musste verstehen... er konnte mit keinem Mädchen zusammen sein, mit niemandem, denn früher oder später würde das Gleiche passieren wie mit Yoshida. Das Blut an seinen Händen würde unweigerlich auch die Menschen in seiner nächsten Nähe besudeln und in Gefahr bringen.
 

„Ich glaube,“ spracht Tomoe nach kurzer Stille wieder mit festerer Stimme, „ich werde heute nacht vom blutigen Regen träumen. Schlaf gut.“
 

Blutiger Regen... Sein Alltag... Es dauerte einen Moment, bevor ihre Worte einsickerten. Ihre erste Begegnung! Ruckartig drehte sich Kenshin um, doch Tomoe war schon wieder aus der Küche verschwunden, einzigster Beweis ihrer kurzen Anwesenheit war der Pflaumenduft, der noch in der Luft stand und das Handtuch in seiner Hand – mit einem länglichen Blutfleck auf dem hellblauen Stoff.
 

--
 

Zitternd rannte Ubei durch die schmalen Gassen, die zum Hafenbezirk führten. Hinter ihm hörte er das dumpfe Getrappel zweier weiterer Männer. Die einzig Treuen, die ihm gefolgt waren. Wütend schnaubte Ubei auf.
 

Nachdem Saito so offensichtlich vor all den Männern seinen Befehl missachtet hatte und in Richtung Tempelbezirk aufgebrochen war, trat unangenehmes Schweigen in Ubeis Truppe ein. Die Shinsengumi waren Saitos Männer, er hatte mit ihnen trainiert, sie in Mibu ausgebildet und sie waren seinem Befehl ergeben. Natürlich war ihr aller oberster Befehlshaber immer noch Kondo Isami, aber in dieser Situation... nur zwei Männer waren ihm gefolgt.
 

Ubei wischte sich den Schweiß von der Stirn und vergewisserte sich mit einem schnellen Schulterblick, dass ihnen keiner folgte. Durch seine Flucht hatte er genauso wie Saito Hajime einen direkten Befehl Isamis ignoriert. Noch mehr als das. Fliehen, das wiedersprach dem Ehrenkodex der Samurai. Fliehen war keine Option. Entweder man stellte sich dem Gegner und gewann, oder man unterlag. Und wenn man die Pflicht eines ehrenvollen Todes im Kampfe nicht erfüllen konnte, dann blieb nur der ehrenvolle Selbstmord. Ihm erschauderte. Ubei kannte all diese Regeln, doch wenn es um sein eigenes Leben ging, hatten sie für ihn wenig Bedeutung. Ehre war ein abstrakter Begriff. Schmerz, Leiden und Tod, dass konnte er verstehen.
 

Im Gegensatz zu Saito. Wütend umfasste Ubei sein Schwert.

Schon einmal hatten sie einen Einsatz zusammen ausgeführt und seitdem hassten sie sich.
 

Plötzlich hörte Ubei hinter sich ein dumpfes Poltern. Einer der Samurai, die ihm gefolgt waren, lag am Boden und bewegte sich nicht mehr. Der andere seiner Begleiter wollte schon stehen bleiben, um nach dem Gefallenen zu sehen, doch Ubei rannte weiter auf das Ende der dunklen Gasse zu. Entfernt sah er Mondlicht auf den Wellen glitzern. Wenn er diese Straße hinter sich gelassen hatte, wäre er am Kai. Dort könnte er sich auf einem der Schiffe verstecken oder notfalls ins Wasser springen und davonschwimmen. Er würde entkommen!
 

Keuchend befahl er seinen Füßen, noch schneller zu gehen. Fast hatte er das Ende der Gasse erreicht. Doch dann schob sich eine dunkle Gestalt zwischen ihn und dem rettenden Ausweg.
 

„Hajiime...“ Mit zusammengebissenen Zähnen blieb er stehen. Die Gestalt bewegte sich nicht.

Gehetzt blickte Ubei nach hinten. Doch von dort erwartete ihn keine Hilfe mehr. Sein anderer Begleiter war gefallen, lag blutend am Boden, und über ihm stand Okita.

Er war gefangen.
 

„Du hast verloren, Ubei!“ dröhnte Saitos herablassende Stimme durch die schmale Gasse und Ubei drehte sich zu ihm um. Langsam und mit zitternden Händen zog er sein Schwert.

„Du hast meinen Befehl missachtet!“ spuckte er aus. „Und jetzt willst du auch noch verhindern, dass ich Kondo Bericht erstatte. Du Verräter.“

Saitos Augen wurden gefährlich schmal. „Unser Hauptquartier liegt in der anderen Richtung.“ Er trat einen Schritt vor. „Und all die toten Männer, die ich heute Abend gesehen habe, gehen auf deine Rechnung.“ Ein weiterer Schritt. Ubei konnte nicht zurückweichen, weil hinter ihm Okita wie eine Mauer die Straße blockierte.
 

„Du Abschaum!“ Jetzt endlich zog Saito sein Schwert.

„Ich hätte dich schon damals töten sollen. Deine mangelnde Urteilskraft und dein persönlicher Ehrgeiz haben schon damals das Leben meiner Männer gefährdet.“

„Nicht ich sondern du hast sie in den Hinterhalt geführt!“ verteidigte sich Ubei.

Saito trat weiter vor, Schwert erhoben. „Aber du hast den falschen Informationen geglaubt. Informationen eines Verräters!“

„Es war Kondos Befehl!“ schrie Ubei verzweifelt. Er sah sein Ende kommen.

„Nein, es war deine Fehlentscheidung,“ flüsterte Saito mit kalter Stimme. „Und nur auf Kondos Bitten habe ich dein Leben verschont. Spürst du die Narbe in deinem Gesicht?“ Saitos Augen blitzten im Mondlicht auf, während sich sein Mund zu einem gruseligen Lächeln verzerrte.

Mit bebenden Fingern fuhr Ubei über die Längliche Narbe, die seine linke Gesichtshäfte verunstaltete. Saito hatte sie ihm damals im Kampf zugefügt, nachdem sie dem Hinterhalt entkommen waren und ihre Angreifer besiegt hatten.

Saito hob langsam sein Schwert und ging in die Gatotsu-Stellung.

Ubei erbleichte. Er war nicht einmal mehr fähig, sein Schwert zu heben. „Bitte,“ keuchte er, „verschont mich. Überlasst mich dem Urteil von Kondo-sama.“

Ein böses Lachen entglitt Saitos Lippen. „Schon damals hast du um dein Leben gefleht. Doch jetzt endlich werde ich beenden, was ich unvollendet gelassen habe.“

Wie ein Blitz sprang Saito nach vorne, und ehe Ubei sein Schwert heben konnte, hatte ein senkrechter Schlag seinen Kopf gespalten.
 

Saito befreite sein Schwert vom Blut und steckte es langsam wieder ein, während Okita schweigend neben ihn trat. Stumm sahen sie auf Ubeis leblosen Körper.

Schleißlich rührte sich Okita. „Es wird Zeit, Kondo zu informieren.“

Saito nickte. Er ging ein paar Schritte, sah dann noch einmal in die dunkle Gasse.

„Aku Soku zan,“ murmelte er. Dann ging er davon.
 

--
 

So. Ich hoffe, es kam rüber, dass man Hajimes Wahlspruch "aku soku zan", also quasi "böses wird sofort bestraft", auf beide Seiten beziehen kann. Ich habe versucht, deutlich zu machen, dass auch Kenshin nach diesem Spruch gehandelt hat - wenn auch, im Unterschied zu Saito, nie wirklich freiwillig. Und das ist ja letztendlich der entscheidende Punkt zwischen diesen sich ebenbürtigen Charakteren...

Wie immer, Kritik und Verbesserungsvorschläge sowie sonstiges Feedback ist sehr erwünscht^^ bis zum nächsten Update, in, äh, diesem Jahrzehnt ^^°



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Kommentare zu dieser Fanfic (65)
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Von:  Carcajou
2011-02-22T12:05:03+00:00 22.02.2011 13:05
Wie gewohnt sehr beeindruckend!
Die schnellen, plastischen und mitreißenden Kampfszenen, die Emotionen und Gedanken der Charaktere... ich kann immer nur wieder in Ehrfurcht den Hut vor dir ziehen!^^

Die feststellung, das keine der beiden Seiten "besser" ist, das beide, ob Hitokiri oder Shinsengumi nach ihren Überzeugungen, ihrem Ehrenkodex handeln und dafür über Leichen gehen... kein Schwarz/weiß, sondern nur grau auf allen Seiten... es rundet das Bild irgendwie sehr schön ab. kein gut, kein böse, nur Ideale, Überzeugungen und auf allen seiten jede menge Leid und Tod.
traurige Realität.

Ganz, ganz großes Kino- udn ich freue mich auf nächste Kapitel!
Von:  Skelleter
2011-02-21T21:20:24+00:00 21.02.2011 22:20
Super das es weiter geht das freut mich sehr!

Das Kapi war wieder einmal sehr gut und freue mich jetzt schon auf das nächste, hoffentlich müssen wir dafür nicht wieder ein Jahr warten. *g*
Von: abgemeldet
2010-03-30T11:03:33+00:00 30.03.2010 13:03
Ohje, Ohje, das Kapitel ist schon mehr als zwei Monte on und ich war einfach zu faul um es zu lesen, Schande über mich.
So, dafür jetzt frisch ans Werk *Händereib*

Du, du solltest mal über das Kapitel schauen, weil du Anreden wie 'Ihr' oder 'Euch' immer klein schreibst - auch in der FF-Beschreibung ist das klein geschrieben, vielleicht besserst du das ja mal aus ._.?
Dann muss ich löblich sagen, dass, obgleich es schon so wahnsinnig lange her ist, dass ich das letzte Kapitel gelesen habe, es mir wirklich nicht schwer fiel, mich da wieder einzufinden - dank deines wunderbaren Schreibstiles *~*
SO, ich bin jetzt schon mit der zweiten Seite zu ende und hab immer noch nichts dazu gesagt XD
Zu meiner Entschudigung; Dein Schreibstil ist Schuld xDD. Das geht echt runter, wie Butter <3
> „Und wir sollen uns dritteln?“
lol, nichts für ungut, das klingt iwie lustig XD
>„Immer noch schmeckt Sake nach Blut.“
Das ist nur so ein einfacher Satz udn trotzdem sagt er irgendwie so unglaublich viel über die Charakterwandlung des Jungen aus; Wirklich gelungen.
Uh, na, ob sich betrinken so vorteilhaft ist, wenn man einen Auftrag auszuführen hat óo. Ich weiß ja nicht... Man sagt zwar, Wein schärft die Sinne, aber ne ganze Flasche Sake haut einen auch schonmal um, besonders, bei so einem relativ zierlichen Körperbau...
...
So fertig x)
Also, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll... Es macht einfach süchtig >.< Du musst unbedingt schneller ein neues Kapitel hochladen, als das letzte mal, dann bleibt man auch schön drin und so mancher Leser verliert bestimmt nicht den Bezug oder die Lust x)
Naja, egal, wie lange es auch dauern wird, ich werd treu dabei bleiben <3

LG, Katze
Von:  Carcajou
2010-02-08T11:47:56+00:00 08.02.2010 12:47
wenn du mich fragst: eine verdammt eindrucksvolle rückmeldung!!!
und so ein verdammt gemeiner Cliffhanger!
der Einstieg ist dir offensichtlich problemlos gelungen, ich ahhet keinerlei Schwierigkeiten, wieder in die geschichte hineinzufinden.
habe ich schon erwähnt, das ich diese FF wirklich genieße...?
Das alles, die gedanken, die gefühle, dialoge und auch Szenarien sind so reif, ausdrucksvoll und klar, das man wirklich in der geschichte versinken kann.
Battousai kommt zum Ende so geheimnisvoll udn bedrolich 'rüber, das ich nägelkauend auf die Fortsetzung warte!
^^ und nein, ich werde bestimmt nicht wegen der Updates jaulen... ich ganz bestimmt nicht.*hüstel*
ich verharre in freudiger Erwartung.

das ist jetzt zwar nur ein allegemeiner Begeisterungsausbruch, kein kitischer Kommenatr, aber ich hoffe, du kannst dennoch etwas damit anfangen.

ganz liebe grüße,
der Marder
Von: abgemeldet
2009-03-15T16:31:53+00:00 15.03.2009 17:31
Und der Wahnsinn nimmt seinen lauf...
Irgendwie sieht man jetzt schon leicht die Abspaltung in "Battosai" und "Kenshin" bei dem letzten Dialog mit sich selbst.
Irgendwie reißt mich deine Geschichte immer so mit! Man kann Kenshins Gefühle wirklich gut nachvollziehen...
Bin schon Mal neugierig wer ihm seinen Spitznamen verpasst, der ihn dann für sein restliches Leben anhaftet.
Von: abgemeldet
2009-03-15T16:03:50+00:00 15.03.2009 17:03
Zitat:„Du Depp! Er ist erst seit drei Tagen hier, und du packst gleich die Gruselgeschichten aus!“ *rofl*
Du schaffst es irgendwie trotz des ddepressiven Themas noch lustige Stellen einzubauen! Und dann im selben Kapi ohne Stilbruch gleich wieder nervös-gespannte Atmosphäre rein zu bringen!
Bin noch ganz hibbelig und muss sofort weiterlesen!
Von: abgemeldet
2009-03-15T15:41:07+00:00 15.03.2009 16:41
Oh je, ab jetzt wirds also richtig ernst... würde ihm ja wünschen dass es nicht schlimmer wird, aber da ich den Manga kenne WEIß ich ja dass es schlimmer wird... armer, armer Kenshin!
Überhaupt hast du seinen inneren Konflikt sehr gut geschildert... hat einen richtig mitgerissen!
Muss sofort weiterlesen gehen.
*freuzitter*
Von: abgemeldet
2009-03-15T15:09:06+00:00 15.03.2009 16:09
Hihi, er ist ja so naiv.... Leider wird er dann ja wohl ziemlich hart am Boden der Realität landen...u.u
Besonders witzig fand ich sein kleines Schwert-training... Glaubt doch tatsächlich, sie starren ihn an weil er so schlecht ist und nicht, weil er so schnell ist, dass man seine Bewegungen kaum noch sieht... du hast seinen Idealismus und seine Naivität wirklich gut getroffen! Bin schon neugierig wie´s weitergeht, deshalb geh ich gleich Mal weiterlesen!^^
Von: abgemeldet
2009-03-15T14:45:32+00:00 15.03.2009 15:45
Hmmm... Kenshins Naivität und die beiden Philosophien hast du wirklich gut rüber gebracht... außerdem gefällt mir, dass du scheinbar wirklich Ahnung von der Geschichte hast und nicht falsche Fakten einbaust. (<=Das bei manch anderen FF's hasse!!!)
Übrigens muss ich Schneekatze widersprechen: Ich mag die Absätze, für mich ist es dann irgendwie leichter zu lesen weil man nicht ständig die Zeile verliert. Wenn alles in einem Block geschrieben ist, finde ich es bei weitem anstrengender zu lesen (vor allem am Computer)
Muss gleich weiterlesen gehen,
lg
naias
Von: abgemeldet
2009-03-15T14:27:10+00:00 15.03.2009 15:27
Uiii, da bin ich ja scheinbar grad eben auf eine Goldgrube gestoßen! ^^
Ich mag deinen schreibstil wirklich und vom Prolog allein erwarte ich mir schon viel! Muss gleich weiterlesen gehen!
(Alles andere wichtige wurde ja schon von meinen Vorgängern erwähnt... da schließe ich mich auch gleich Mal an^^)


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