Divine Justice von MajinMina (Göttliche Gerechtigkeit) ================================================================================ Kapitel 8: Kapitel 8 - Der Brief -------------------------------- Der Hitokiri Choshuus stürzt die Stadt ins Chaos. Doch noch bleibt seine Existenz bis auf wenige Eingeweihte unentdeckt. Wie lange wird Kenshin seine Identität als Hitokiri noch vor seinen Freunden geheim halten können? Und wie lange kann er sich noch gegen die Kälte des Attentäter wehren, die mehr und mehr in seine Seele dringt? Divine Justice – Göttliche Gerechtigkeit Kapitel 8: Der Brief Das blankpolierte Dach des Iamasu-Schreines erglühte rot in der untergehenden Sonne. Der Winter kam früh dieses Jahr. An den Bäumen des nahe liegenden Wäldchens sah man, dass der Herbst bereits seinem Ende entgegen ging, denn nur noch vereinzelt hingen einige traurig raschelnde Blätter an den Zweigen der Bäume. Die meisten waren, nachdem sie sich mit letzten, kräftigen Farbtönen vom Leben verabschiedet hatten, braun zu Boden gefallen und zerbröselten nun unter den Schritten eines jungen Mannes, dessen schlanke und schmächtige Gestalt sich den Weg durch das Unterholz bahnte. Das Sterben der Natur stimmte den nach Einsamkeit Suchenden melancholisch. Die verknöcherten, kahlen Äste, die schwarz in den Abendhimmel ragten, warfen bizarre Schatten auf den Waldboden, auf dem die Blätter noch ein letztes Mal aufleuchteten, bevor die Sonne hinter dem Horizont zu versinken begann und alles im Dämmerlicht des Abends versank. Seufzend machte Himura Kenshin sich auf den Weg zurück in die Stadt, die sich, zwischen den Bergen eingebettet, vor seinen Füßen erstreckte. Es würde das letzte Mal in diesem Jahr gewesen sein, dass er diesen Ort der Ruhe hatte besuchen können. Er spürte an der eisigen Luft, dass es heute Nacht höchstwahrscheinlich frieren oder sogar schneien würde. Nicht, dass er Probleme damit gehabt hätte, in einem verschneiten Wald zu trainieren – die Kälte des Winters machte ihm nach den harten Trainings-Jahren bei seinem Shishou nichts mehr aus. Aber da die Bäume, so kahl wie sie nun waren, ihm keinen Schutz mehr vor den neugierigen Blicken der Mönche und Besucher des Iamasu-Schreines bieten würden, würde es sinnlos sein, nochmals hierher zu kommen. Grimmig verschmälerte sich Kenshins Mund zu einer dünnen Linie. Er hatte unsichtbar zu sein. Und selbst Mönchen war heutzutage nicht zu trauen. Er ließ die Hand an seinem Schwertgriff, während er über einigen Umwegen zurück zum Kohagiya eilte. Vorsicht war geboten, denn seit dem Vorfall in einer Taverne, bei der acht Menschen getötet wurden, war alles, was Waffen trug, auf der Hut. Acht Menschen waren vor gut zehn Tagen in einem total verwüsteten Trinklokal gefunden worden. Alle waren tot, das Lokal schwamm im Blut und als man später zwei Augenzeugen ausfindig machen konnte, waren das offenbar welche von der Sorte, die schon zuviel Sake in ihrem Leben getrunken hatten, als gut für sie war. Denn alles, was sie stotternd über den Vorfall berichten konnten, war, das die Männer aufeinander losgegangen seien, bevor ein Schwertkämpfer mit leuchtenden Augen und Haaren, mindestens zwei Meter groß, wie ein Berserker alle niedergemacht hatte. Es musste ein Dämon gewesen sein, versicherten die zwei Zeugen immer wieder, ein Rachedämon. Die Bakufu-Soldaten schickten die Männer schließlich kopfschüttelnd nach Hause. Doch in einem Punkt hatten sie Recht: das es hier um Rache ging, war mehr als offensichtlich, denn auf den Körpern der Toten hatte man Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ gefunden. „Dieser Dämon scheint mir eher ein Hitokiri gewesen zu sein,“ hatte einer der Soldaten gemeint, während ein anderer die Leichen untersuchte. Mit einem anerkennenden Pfiff hatte er sich schließlich erhoben und das Blut von seinen Händen abgewischt. „Ein Hitokiri, der sein Handwerk versteht.“ Sein Kamerad hatte verachtend auf den Boden gespuckt. „Keine schlechte Bilanz – acht Tote auf einmal.“ Was die Männer des Bakufu nicht wussten, war, das der Hitokiri nicht acht, sondern nur drei Menschen mit eigener Hand an jenem Abend getötet hatte. Wenn man es genau nahm, sogar nur zwei. Doch das alles hatte keine Bedeutung. Wichtig war nur, das alle tot waren und auf welche Weise oder von wessen Hand auch immer, war relativ egal. Kenshin rieb sich die müden Augen. Die folgenden zehn Tage hatten für ihn nur in einem Rausch aus Adrenalin und Blut bestanden. Kaum war es bekannt geworden, dass nach Yabu Sekura nun auch Hiragana Nara und Kobo Osamu der „göttlichen Gerechtigkeit“ zum Opfer gefallen waren, hatten alle Shogunats-Anhänger ihre Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Misstrauen hatte sich wie ein giftiger Hauch über die Stadt gelegt, denn keiner wusste, wer genau für die Attentate verantwortlich war, wenn man auch in einigen Kreisen bereits munkelte, dass die Morde wohl die Taten eines einzelnen Hitokiri gewesen sein mussten – offensichtlich eines sehr talentierten Schwertkämpfers – und der Auftraggeber jemand aus der Choshuu-Fraktion sein könnte, die sich zur Zeit im Untergrund zu formieren begann. Für Kenshin bedeutete der Zuwachs an Sicherheitsmaßnahmen mehr Arbeit. Er hatte die zehn Tage größtenteils mit auf der Lauer liegend verbracht. Oftmals musste er Stunden, einmal sogar die ganze Nacht warten, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, in der er seine Feinde erledigen konnte. Tagsüber hatte er dann meistens versucht, den verlorengegangenen Schlaf nachzuholen. Doch bei dem Lärm und Betrieb in der Herberge konnte und wollte er auch gar nicht tief schlafen, denn jedes Geräusch, das etwas lauter oder verdächtiger war, ließ ihn sofort hellwach nach dem Griff seines Schwertes tasten. Er hatte versucht, sich zu beruhigen. Sich einzureden, dass hier in der Herberge ein sicherer Ort war. Doch er konnte sich nicht entspannen. Immer, wenn er die Augen schloss, kamen schreckliche Bilder hoch. Gestern hatte er versucht, an seinen Fingern abzuzählen, wie viele... Doch als ihm die Finger ausgingen, hatten seine Hände so heftig das Zittern angefangen, dass er schnell aufgehört hatte. „Ruhig…” hatte er sich ermahnt und wie ein Tantra vor sich hingemurmelt: “Eine Waffe hat keine Gefühle. Sie führt Befehle aus. Für ein neues Zeitalter, in dem Menschen in Frieden leben können.“ Doch das dies in den Strassen Kyotos noch lange nicht der Fall sein würde, hatten ihm die letzten Tage gezeigt. Oftmals kamen jetzt verwundete Männer ins Kohagiya, fast jede Nacht gab es Krawalle und Anschläge, einzelne Gruppen lieferten sich Straßenschlachten, die Shinsengumi hatten ihre Einheiten verdoppelt und verschiedene Hitokiri töteten aus dem Hinterhalt. Es herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände und Chaos. Nur immer da, wo die weißen Zettel mit der Aufschrift „Tenchuu“ auf den blutenden Körpern lagen, wusste man mit Sicherheit, das es sich um wichtige, gut geschützte Leute handeln musste, die nur von einem herausragendem Schwertkämpfer – manche behaupteten sogar, einem Rachedämon – getötet worden waren. Choshuu war es durch diese geheimen Operationen gelungen, viele wichtige Gegner auszuschalten. Wie Izuka Kenshin erzählt hatte, war es jetzt die Absicht, die Situation etwas zur Ruhe kommen zu lassen. „Die pissen sich jetzt alle ein vor Angst,“ hatte er gelacht. „Die werden sich erst mal alle bis an die Zähne bewaffnen und in ihren Villen verschanzen. Und Katsura kann während dessen die verschiedenen Fraktionen von Choshuu vereinen, damit wir alle an einem Strang ziehen. Erst dann werden uns sie anderen Provinzen nicht mehr als wilder Haufen von Rebellen, sondern als einheitliche Macht wahrnehmen und sie werden weichgekocht genug für Bündnisse sein.“ Er hatte Kenshin auf die Schulter geklopft. „Bald hast du Pause. Nur noch ein, zwei wichtige Aufträge vor Wintereinbruch, dann ist erst Mal etwas Ruhe...“ Übermüdet hatte Kenshin ihm mit halbem Ohr zugehört und war danach wie fast jeden Nachmittag in sein Wäldchen verschwunden, um die Müdigkeit und den Schrecken der Nächte durch seine Schwertübungen abzuschütteln. Jetzt war es wohl vorerst vorbei mit dem unbeobachteten Schwertraining. Doch er fühlte sich nicht besonders wehmütig. Das Training hatte ihm die letzten Tage kaum noch Freude bereitet, da es nichts anderes mehr war, wie ein mechanisches Durchexerzieren mit dem Ziel, am Ende einfach nur so erschöpft zu sein, um nicht mehr denken zu müssen. Immer wenn er auf sein Schwert sah, bildete er sich ein, Rückstände von Blut auf der Klinge zu sehen und oftmals war er mehr mit dem Putzen der Schwerter beschäftigt wie mit dem eigentlichen Trainieren. Wenn er dann soweit war und die ersten Schritte seiner Kata durchging, fühlte er sich angenehm leer. Manchmal übte er Stundenlang, um seine tödlichen Schwünge immer und immer mehr zu perfektionieren und seine Schnelligkeit bis zum äußersten zu bringen. Das schnelle Töten war in den letzten Tagen Dreh- und Angelpunkt seiner Operationen geworden. Meistens waren seine Ziele von Leibwächtern geschützt und Kenshin konnte nur einmal sein Opfer weglocken und das Leben der Leibwächter verschonen. In den anderen Fällen musste er sich offenbaren – und folglich alle töten. Im Training mit Hiko hatte er zwar nur mit seinem Meister trainiert. Doch der Hiten-Stil war so angelegt, dass man die Techniken problemlos so anwenden konnte, um mehrere Gegner blitzschnell hintereinander zu erledigen. Nicht zu vergessen die legendäre Fähigkeit, die Angriffe der Gegner vorauszusehen... Für mehr oder weniger heimliche Zuschauer, wie Izuka vor ein paar Tagen gewesen war, schien es deshalb so, als ob Kenshin trotz mehrerer Schläge alle Mann in einer einzigen Flut aus Bewegung tötete. Mit offenem Mund hatte er den schmächtigen Jungen angestarrt, der nach vollbrachter Tat die Leichen der Männer betrachtete, als würde er sie gerade zum ersten Mal sehen. Izuka hatte sich schnell aus seiner Erstarrung gelöst den verwirrt wirkenden Jungen davon gescheucht. Kenshin hatte wie gebannt auf sein Schwert gestarrt und sich gefragt, ob das wirklich er gewesen war, der gerade ohne Nachzudenken die drei Männer getötet hatte. Doch wie immer in letzter Zeit kam da die Stimme in seinen Gedanken zur Hilfe, die ihn anwies, ruhig zu bleiben, eine Waffe zu sein, an das neue Zeitalter zu denken. Und so viel Zeit zum Nachdenken hatte er auch nicht, da wenig später meist schon der nächste schwarze Umschlag den Weg in seine Hände fand. Nur noch zwei Aufträge...dann erst mal ausruhen. Ob er sich darüber freuen sollte, plötzlich so viel Zeit zu haben und im Kohagiya festzusitzen, wusste Kenshin noch nicht. Er betrat die Herberge und ging auf leisen Sohlen in sein Zimmer. Trotz seiner Haarfarbe hatte er es in den letzten Tagen geschafft, unauffällig zu bleiben. Meistens zog er sich in sein Zimmer zurück und er sprach mit keinem, außer Izuka-san oder Okami-san. Ihre Gesellschaft genoss er im Gegensatz zu der von Izuka, denn alle Zettel, die sie ihm überreichte, beinhalteten nicht Namen und Gewissheit auf noch mehr Blut in den Strassen sondern Lebensmittel oder kleinere Dinge, die Kenshin vom Markt besorgen sollte. Kenshin kam ihren Bitten gerne nach, denn so konnte er den tristen Wänden seines Zimmers, das ihm oftmals viel zu eng erschien, entfliehen. Außerdem hatte er langsam den Dreh heraus, sich unbemerkt unter die Leute zu mischen. Wenn er seinen Hut aufhatte, wurde er kaum von den Menschen beachtet und so konnte er für normale Augen fast unsichtbar oftmals schon bei Tag seine Opfer beschatten ohne, dass sie ihn bemerkt hätten. Auch die Männer hier im Kohagiya schenkten ihm kaum Beachtung, weil er an keiner ihrer wichtigen Missionen teilnahm. „Junge...“ hatte ihm sogar mal einer der Samurai zugeraunzt, „...sei froh, dass du nicht da draußen bist. Auf den Strassen regnet es Blut!“ Kenshin hatte ihm ausdruckslos hinterher gesehen und fast laut losgelacht, während sich sein Magen verkrampft hatte. „Wenn er nur wüsste...“ Jedes Mal, wenn er die Herberge betrat, hatte er Angst, einer der Männer könnte bemerken, wie er ins Badehaus eilte und sich das Blut vom Körper wusch. Kenshin hatte versucht, Izuka-sans Rat zu befolgen, doch je mehr Gegner er auf einmal hatte, desto schwieriger war es, nicht von Blut bespritzt zu werden. Und selbst wenn er einigermaßen sauber blieb, fühlte er sich dreckig und eklig und der Geruch brachte ihn jedes Mal mehr an den Rand des Wahnsinns. Im Badehaus wurde das Waschen schon zum fanatischen Akt und bis er das Gefühl hatte, dass seine Hände nun sauber seinen, verging immer mehr Zeit. Immerhin fiel er zur Zeit nicht auf, da oft Verwundete noch spät in der Nacht ankamen. Doch Kenshin wusste, dass die Männer neugierig waren, wer genau denn nun der Vollbringer der „göttlichen Gerechtigkeit“ sein mochte. Es gab ja nicht nur den einen Unterschlupf in Kyoto, außer dem Kohagiya gab es noch mindestens drei andere Unterkünfte, in denen Einheiten der Ishin Shishi stationiert waren. Auch an diesem Abend, nach s einem Abschied von dem Wäldchen, betrat Kenshin das Kohagiya möglichst unauffällig und versuchte, mit der Wand hinter sich zu verschmelzen und in sein Zimmer zu verschwinden, ehe er von irgendjemandem bemerkt werden konnte. Heute hatte er keinen schwarzen Umschlag bekommen... er wusste gar nicht, wie er sich jetzt fühlen sollte. Es war ihm in den letzten Tagen schon zu einer grausigen Routine geworden: mehr oder weniger früh aufstehen, vielleicht ein paar Worte mit Okami-san wechseln und bei ihr seine gewaschene Wäsche abholen um sie nach erledigter Arbeit am Ende der Nacht blutverschmiert wieder hinzulegen. Seit seinem Abend mit Yoshida vor über zwei Wochen war es der erste freie Abend. Kaum war er im Zimmer, fühlte er die innere Unruhe in sich hochsteigen, der ständige Anstieg seines Adrenalinspiegels immer dann, wenn die Nacht hereinbrach und er wusste, das es kein Entrinnen zwischen Ihm und der Ausführung der Befehle in den schwarzen Umschlägen gab... Erschrocken zuckte er zusammen, als es plötzlich klopfte. Ehe Kenshin „Herein“ sagen konnte, schob ein Mann die Tür schon auf und lächelte schief auf ihn herab. „Daisuke..“ stellte Kenshin überrascht fest. „Hey Himura!“ grüßte dieser fröhlich und betrat das Zimmer. „Lang nicht mehr gesehn!“ Schweigend senkte Kenshin den Blick. „Was willst du?“ fragte er. „Nicht so freundlich,“ antwortete Daisuke ironisch. „Wenn ich ungelegen komme, geh ich wieder! Ich wollte nur mal schauen, was du so machst. Du siehst ja aus wie ein Geist. Ich dachte, wir könnten was trinken gehen. Aber wenn ich störe...“ Daisuke war schon auf halbem Weg zur Tür hinaus, als sich Kenshin „Warte!“ sagen hörte. Er war selbst über sich überrascht. Eigentlich wollte er ja alleine sein. Doch er wusste auch, was ihm das Alleinsein so brachte – schlimme Gedanken, die zu nichts führten und später Albträume, denen er nicht entkommen konnte. Lächelnd drehte sich Daisuke um und winkte Kenshin zu sich. „Komm, wir gehen einen heben!“ Kenshin folgte ihm nach draußen auf die Strasse. Sofort waren alle seine Sinne alarmiert. Die Möglichkeit, dass ihn jemand erkennen würde, war zwar gleich Null – aber trotzdem könnte vielleicht jemand des Bakufu auf die Idee kommen, ihn verdächtig zu finden und dann würde er schnell flüchten müssen. Kenshin schielte hoch zu den Dächern. Das war immer noch der beste Fluchtweg von allen, denn die meisten konnten gar nicht so hoch springen. „Was schaust du dich denn die ganze Zeit so um? Ist da oben was auf dem Dach?“ schnitt Daisuke’s Stimme plötzlich durch seine Gedanken. „Ah, nein. Ich denke nur nach,“ meinte Kenshin und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Daisuke nickte, aber Kenshin spürte, dass er irgendwie aufgeregt war. „Wenn hier einer aufgeregt ist, dann bin ich das,“ murmelte er, ärgerlich ob seiner Übervorsichtigkeit, in sich hinein. „Wann kommt Yoshida eigentlich wieder?“ fragte Kenshin um das entstandene Schweigen zu brechen. „Oh, die Schnarchnase? Ich glaube, er hat was von drei Wochen erzählt. Könnte also bald wieder da sein. Ich hab gehört, das alle wichtigen Ishin Shishi jetzt erst mal im Kohagiya zusammengetrommelt werden. Katsura soll die nächsten Tage eintreffen, da wird Yoshida dabei sein. Ach ja...“ Daisuke kramte in seiner Tasche und förderte schließlich einen zerknitterten Brief zutage. „Der ist für dich, hat Yoshida geschickt. Er kam schon vorgestern, aber ich hab dich ja kaum gesehen...“ Dankbar nahm Kenshin den Brief, der aussah, als ob er schon einmal gelesen wurde und öffnete ihn. Lieber Kenshin, altes Haus, ich komme mir ja schon richtig doof vor, einen Brief zu schreiben, wo wir doch schon in weniger als 10 Tagen wieder in Kyoto eintreffen werden. Aber alles, was wir hier zu tun haben, ist rum sitzen und die Bosse, die wichtige Entscheidungen treffen, anzustarren. Das heißt zumindest, dass alles gut läuft. Bei euch in Kyoto scheint es ja etwas spannender zuzugehen, wie man so hört... selbst uns erreichen die Nachrichten von dem ständigen Kämpfen nachts in den Strassen. Ich hörte einmal Katsura-sama und Katagai-san von dir sprechen, sie lobten deine Arbeit. Ich hoffe, dass du vorsichtig bist, was auch immer du tust. Auf den Strassen ist man nicht sicher. Und nimm dich bloß vor den Hitokiri in acht! Die töten jeden, der ihnen in den Weg kommt, sei es absichtlich oder zufällig. Wie man sich erzählt, macht zur Zeit einer die Strassen unsicher, der sehr gefährlich ist. Die Männer meinen, er sei kein Mensch sondern eher ein Dämon, weil er so schnell und so viele auf einen Streich töten kann. Allerdings wissen von unserer Gruppe nur Katagai-san, Ich und einige andere (natürlich auch Katsura-sama), dass es der neue Hitokiri der Ishin Shishi ist. Trotzdem, auch wenn er auf unserer Seite ist, lass dich nicht mit ihm ein. Mit Hitokiri pflegt man keinen Umgang, denn schon im nächsten Moment können sie dich niedermetzeln, weil ihnen dein Gesicht nicht passt. Auf dein Gesicht freu ich mich jedenfalls, alle anderen Männer hier bis auf Buntaro sind mindestens 10 Jahre älter wie ich und reden nur über langweilige Dinge wie... Kenshin konnte nicht weiterlesen. Er starrte auf die Wörter „Hitokiri“ und „niedermetzeln“, solange, bis seine Augen brannten. Langsam faltete er den Brief zusammen. Wie konnte er es Yoshida verübeln, so zu denken? Er wusste ja von nichts. Er war nur ein normaler Kämpfer wie die anderen Männer auch... Er schwor sich, ihm so schnell wie möglich die ganze Wahrheit zu erzählen, wenn er zurückkäme. Ob er ihn dann verachten würde oder nicht - diese Lüge noch länger vor dem einzigen Mensch, mit dem ihm hier in Kyoto eine tiefere Freundschaft verband, aufrechtzuerhalten, konnte er nicht ertragen. Er kniff den Mund zusammen und steckte den Brief in seinen Ärmel. „Und?“ fragte Daisuke. „Wichtige Neuigkeiten?“ Er hatte Kenshin’s Reaktionen auf den Brief genau beobachtet, vor allem, weil er wusste, was in dem Brief stand. Ein paar Mal war es ihm, als ob sich so etwas wie Entsetzen in seinen Augen spiegeln würde, doch dann sahen sie wieder genauso ausdruckslos aus, wie in letzter Zeit immer. Kenshin schüttelte den Kopf. Die zwei bahnten sich ihren Weg weiter durch die belebten Strassen. Ab und zu rempelten die Leute Kenshin im Vorbeigehen an, der sich daraufhin jedes Mal versteifte, einen plötzlichen Schlag aus dem Hinterhalt erwartend. „Wenn die Leute nur wüssten, wen sie da anrempeln...“ überlegte er finster. Er musterte die vorbeigehenden und es war ihm plötzlich so, als ob sie ihn alle verstohlen anstarren würden. Nicht mit einem spöttischen Blick wegen seinen Haaren, sondern mit einem wissenden Blick - als ob auf seiner Stirn das Wort „Killer“ geschrieben stand. Ihm brach der Schweiß aus. Er fuhr, die Hand am Schwertgriff, herum, als ein paar Männer unverhofft neben ihm aus einer Gasse traten. Seine Augen verschmälerten sich. Das Lachen der Menschen auf der Strasse klang verdächtig und schrill. Das Geflüster zweier Mädchen vor ihm hörte sich wie drohendes Zischen an. Plötzlich nahm er den Geruch von Blut wahr und er blickte hastig an sich hinunter, halb in Erwartung, dass er vielleicht vergessen hatte, sich umzuziehen. Als sie schließlich die Kneipe erreicht hatten, stürmte Kenshin nassgeschwitzt hinein und ließ sich keuchend auf einen Eckplatz mit Blick auf die Tür fallen. „Meine Güte,“ bemerkte Daisuke, „was ist denn mit dir los? Du bist ja total fertig.“ Kenshin atmete tief durch. Verlor er jetzt etwa die Nerven? Oder gar den Verstand? Er sah sich im Raum um, der zum Glück recht leer war. Nein, hier saßen keine Feinde, nur er und Daisuke, die niemandem auflauerten, sondern nur wie ganz normale Menschen etwas trinken wollten. Etwas atemlos bestellte Kenshin zwei Flaschen Sake und etwas zu knabbern. Kaum kam das warme Getränk, goss er sich auch schon ein Schälchen ein, nickte Daisuke kurz zu und trank es in einem Zug leer. Daisuke beobachtete ihn über den Rand seines Schälchens hinweg und trank dann selber mit einem Lächeln auf den Lippen schnell leer. Ein Plan hatte in seinem Kopf Gestalt angenommen. Kenshin verschluckte sich fast und setzte die Schale laut am Tisch ab. Sofort spürte er eine Wärme in sich aufsteigen. Genau das, was er jetzt brauchte. Er fühlte sich kalt. Nicht wegen den frischen Temperaturen – es würde diese Nacht frieren – sondern wegen etwas anderem. Vielleicht war es der Brief gewesen. Die Erkenntnis, dass er wahrscheinlich bald seinen besten und einzigen Freund hier in Kyoto verlieren würde. Die Erkenntnis, dass das wahrscheinlich nicht das schlimmste war, was ihm und Yoshida passieren konnte. Was hatte er geschrieben? ... „Mit Hitokiri pflegt man keinen Umgang“... Wie Recht er doch hatte. Wer will sich schon mit einem Mörder abgeben... „Schmeckt dir der Sake nicht?“ riss ihn Daisuke aus den Gedanken. „Du starrst in dein Schälchen, als ob du gleich reinkotzen willst.“ „Nein,“ erwiderte Kenshin, „der Sake schmeckt gut.“ „Du hast vorher nicht oft Sake getrunken, Himura, oder?“ fragte Daisuke, der die leichte Röte, die bereits in Kenshins Gesicht aufstieg, bemerkt hatte und ihm nachschenkte. „Nein,“ war Kenshins einzige Antwort. Wenn er jetzt über etwas nicht sprechen wollte, dann waren das die Erinnerungen an eine gewisse Person, die Diskussionen über Sake bei ihm auslösten. Während sie tranken, begann Daisuke über irgendwelche belanglosen Dinge zu sprechen, doch Kenshin hörte ihm kaum zu. Statt dessen kroch langsam in ihm ein ungutes Gefühl hoch. Verstohlen musterte er Daisuke, der trotz der lockeren Atmosphäre unruhig auf seinem Platz hin und her rutschte und mit den Fingern der linken Hand auf den Tisch trommelte. Kenshin schloss kurz seine Augen und versuchte, die Emotionen seines Gegenübers wahrzunehmen. Er spürte Vorsicht, Misstrauen, Angst und etwas anderes... ob er wohl Bescheid wusste? „Na, schon müde?“ Daisuke hielt Kenshins geschlossene Augen wohl für ein Zeichen, dass der Alkohol seine Wirkung tat und frohlockte innerlich. Schnell bestellte er die zweite Runde. Kenshin zwang sich zu einem schiefen Lächeln, als der neue Sake kam und Daisuke ihm erneut einschenkte. Er hatte Daisuke und Buntaro eigentlich ganz gerne, sie waren außer Yoshida seine einzigen Bekannten – aber als enge Freunde würde er sie nicht bezeichnen. Was hatte Daisuke jetzt vor? Kenshin spürte bereits ein warmes Kribbeln in den Fußzehen, allerdings war sein Kopf nach wie vor klar. Nur eines war anders... die Gedanken waren auf einmal so leicht. Er fühlte sich nicht mehr so schwermütig wie die letzten Tage. Nein, statt Schuldgefühle oder Bilder blutiger Gesichter war jetzt eine angenehme Leere in seinem Kopf, fast wie nach einem anstrengenden Training... Er lehnte sich zurück und trank ein weiteres Schälchen. Nicht, dass es ihm wirklich gut schmeckte... aber er wollte noch ein bisschen den Zustand der inneren Gelassenheit anhalten. Trotzdem ließ seine Aufmerksamkeit und seine Vorsicht keine Sekunde nach. Er spürte Daisukes forschenden Blick. Dieser sah nun endlich seine Gelegenheit gekommen. „Mensch,“ begann er zögerlich, „findest du nicht auch, dass es in letzter Zeit ganz schön abgeht in Kyoto? Ich meine, viele Leute haben die Stadt schon verlassen, weil sich nachts die verschiedenen Fraktionen gegenseitig niederstechen.“ Kenshin versteckte seine Augen hinter einem roten Haarvorhang. Hier lag also der Hund begraben. Daisuke wollte ihn ausfragen! „Wir sind im Krieg...“ antwortete er vorsichtig. „Leider trifft es da auch die Menschen, die damit nichts zu tun haben. Gut, wenn sie die Stadt verlassen, auf dem Land ist es sicherer.“ „Hm...“ nickte Daisuke zustimmend. „Man sollte es vermeiden, Nachts viel unterwegs zu sein. Leider haben wir da keine Wahl, nicht? Unsere Aufträge erledigt man am besten, wenn es dunkel ist, nicht? Haha!“ Kenshin sagte nichts. „Naja... ein Glück haben wir ja Katsura-sama, der weiß wohl, was er macht. Du scheinst ja gute Kontakte zu ihm zu haben. Bekommst deine Aufträge von ihm persönlich und so...“ Ausdruckslos schaute Kenshin ein sein Schälchen. Worauf wollte Daisuke hinaus? „Ich hoffe, das er uns Ishin Shishi zum Sieg führt, du nicht auch?“ fragte Daisuke weiter. „Ich hoffe, dass so schnell wie möglich eine Zeit des Friedens für die Menschen, die jetzt in Angst leben müssen, beginnt,“ entgegnete Kenshin schließlich. „Gut gesagt!“ bestätigte Daisuke. „Und alles, was wir dazu beitragen können, ist, unsere Pflicht so gut es geht zu erfüllen, egal welche.“ „Mh.“ „Ich meine, bist du nicht auch der Meinung, das jedes Mittel recht ist, um das neue Zeitalter so schnell wie möglich zu erreichen? Es ist die göttliche Gerechtigkeit, das Tenchuu. Egal, wie -...“ Daisuke verstummte, als Kenshins Augen unter dem roten Haarvorhang wieder auftauchten und ihn anfunkelten. Kenshin spürte die plötzliche Angst seines Gegenübers, doch er dachte überhaupt nicht daran, irgendwas dagegen zu tun. Statt dessen starrte er ihn nur noch eindringlicher an und bemerkte mit Genugtuung, wie sich langsam Schweißperlen auf Daisukes Stirn bildeten. „Manchmal...“ sprach Kenshin schließlich leise und die plötzliche Kälte in seiner Stimme ließ Daisuke zusammenzucken, „... muss man Dinge tun, die einem wie Wahnsinn erscheinen. Allerdings darf man nie vergessen, wofür. Auf sich selbst kann man dabei nicht immer Rücksicht nehmen. Da bist du doch sicher meiner Meinung, Daisuke?“ Dieser nickte schnell, immer noch verstört durch die wie verwandelte Stimme und den stechenden Blick des Jungen. Niemals hätte er gedacht, dass einer, der acht Jahre jünger wie er war, ihm so eine Angst einflössen konnte. Kenshin packte plötzlich eine tiefe Traurigkeit und sein gerade eben noch stechender Blick wich einer ausdruckslosen Maske, die ihm in den letzten Tagen immer häufiger ein angenehmer Begleiter geworden war. Hinter ihr konnte er alle seine Gefühle verstecken. Er trank seine Schale leer, legte einige Münzen auf den Tisch und verabschiedete sich knapp. Daisuke sah ihm hinterher, als er den Raum verließ. „Ich wusste es...“ entfuhr es ihm und er schüttete hastig den Rest der Flasche in sich hinein. Diese kalten Augen... Das war kein normaler Junge. Und dann die Reaktion, als er von Tenchuu gesprochen hatte... Er musste es sein. Auf dem Weg zurück zur Herberge schimpfte sich Kenshin selbst für sein Verhalten. Warum war er so kühl zu Daisuke gewesen. War er zu misstrauisch? Vielleicht hatte er ja gar keine Hintergedanken und war einfach nur neugierig? „Unwahrscheinlich,“ meldete sich eine Stimme in seinem Kopf zu Wort. „Lieber zu vorsichtig als zu nachsichtig. Vertrauen ist eine Schwäche, die sich ein Hitokiri nicht leisten kann. Kontrolliere deine Emotionen. Sei immer auf der Hut. Du bist Katsura-samas persönliche Waffe und musst perfekt funktionieren. Unwichtige Gedanken über Gefühle und ob dich jemand mag oder nicht mag haben da keinen Platz. Nur zweitklassige Schwertkämpfer zeigen ihre Gefühle. Ein Gegner würde sich so was sofort zunutze machen. Nein, ich muss meine Gefühle tief in mir begraben, damit ich für einen Gegner undurchschaubar und ohne Schwachpunkt erscheine.“ Kenshin nickte innerlich. Doch trotz seiner Aufgewühltheit blieb sein Gesicht weiterhin starr und ausdruckslos. Mit Hitokiri pflegte man keinen Umgang. Für jemand so Gutmütigen wie Yoshida hatte er zuviel Blut an den Händen. Wenn Daisuke ihm nicht schon zuvor käme, würde er Yoshida bei seiner Ankunft sofort alles erzählen. Und ihm raten, sich von ihm fern zu halten. Für jemandem, der Menschen aus dem Hinterhalt tötet, gehörte es sich nicht, Freunde zu haben. Starr blickten seine blauen Augen geradeaus. Kenshin bemerkte gar nicht, wie ihn dieses Mal keiner anrempelte. Die Menschen wichen vor ihm zurück und machten ihm Platz, denn sie spürten eine unheimliche Aura von ihm ausgehen, die nichts Gutes verhieß. Auch war sein Gesicht nun vekniffen und emotionslos. Vor allem diese hellen, blauen Augen... Nur, wer sich nicht abschrecken ließ und die Gelegenheit hatte, näher hinzusehen, sah vielleicht die Traurigkeit, die Leere und Einsamkeit, die die Augen des Jungen stumpf werden ließen. -- Anmerkungen: Wird Kenshin wirklich langsam paranoid? Oder führt Daisuke wirklich etwas im Schilde? Ihr werdet es im nächsten Kapitel erfahren... ;) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)