Die Magie der Musik 2 von abgemeldet (Die Fürsorge eines Bruders) ================================================================================ Kapitel 5: ----------- Kapitel 5 Am nächsten Morgen stand Yoshiko schon recht früh auf. Sie hatte Serdalls unruhigen Schlaf mitbekommen, da sie selbst schon seit jeher bei jedem Geräusch hochschreckte. Allerdings hatte sie nichts gesagt da sie ahnte, dass Serdall seine Träume selbst mit sich ausmachen wollte und garantiert keinen brauchte, der ihm besorgt die Hand tätschelte. Vor allem niemandem, dem er misstraute. Sie schloss Serdalls Tür auf und lugte um die Ecke. Als sie niemandem im Flur sehen konnte, schlich sie in ihr Zimmer und zog sich an, bevor sie in die Küche ging und Frühstück vorbereitete. Ihr Blick fiel auf das Pflaster an ihrer Hand. Serdall war eigentlich gar kein schlechter Kerl, wenn er nicht von Natur aus so misstrauisch und übellaunig wäre. Zumindest Fremden gegenüber, wie es schien. Gähnend kam Dustin in die Küche geschlichen und steuerte sofort auf die Kaffeemaschine zu. Mit müdem Blick und hochgezogener Augenbraue visierte er Yoshiko neben sich an, die eifrig Schnittchen schmierte. „Guten Morgen“, murmelte er ihr zu und erntete von ihr einen fragenden Blick. Den Kopf schief legend überlegte Dustin laut. „Du kannst kein Deutsch, was?“ Yoshiko wandte sich ihm zu und sprach auf Japanisch irgendetwas. „Und ich kein Japanisch“, murrte Dustin und zog nachdenklich die Stirn kraus. „Dann halt auf Englisch?“, fragte er sie in der englischen Sprache und sah sie auffordernd an. „Ja, Englisch ist in Ordnung“, erwiderte Yoshiko mit recht starkem Akzent, allerdings sehr fließend. Sie legte den Kopf schief und sah Dustin fragend an. „Was hattest du gesagt?“ Lächelnd zwinkerte Dustin ihr zu. „Ich meinte guten Morgen“, antwortete er ihr und schenkte sich einen Kaffee ein. „Endlich jemand zum Erzählen!“, meinte er und sah sie grinsend an. „Du musst verstehen, normalerweise bin ich der einzige Frühaufsteher in diesem Haus.“ Dustin genoss es mit Yoshiko auf Englisch zu sprechen. Es war etwas Anderes, als wenn er es seinen Schülern beibrachte, auch wenn Yoshiko stark mit Akzent sprach, doch das war bei Japanern normal. „Ja, ich habe schon mitbekommen, dass Serdall ziemlich lange schläft“, meinte sie und dachte daran, dass es zumindest im Moment kein Wunder war, wenn man so unruhig schlief. „Du sprichst Englisch als Muttersprache, kann das sein?“, wollte sie wissen. Dustin nickte immer noch grinsend. „Ich bin ein waschechter Amerikaner“, meinte er stolz und klopfte sich spielerisch auf die Brust. „Aber ich lebe in Deutschland, seit ich vierzehn bin“, erklärte er weiter. Er musste leise bei seinem nächsten Gedanken lachen. In diesem Haus war es richtig multikulturell. Ethan ein Engländer, Serdall zum Teil Japaner, Russe und Finne, er selbst Amerikaner und nun eine waschechte Japanerin. „Hier treffen irgendwann noch einmal alle Kontinente und Länder zusammen“, feixte er grinsend, lehnte sich an die Anrichte und nippte an seinem Kaffee. „Serdall ist übrigens ein absoluter Morgenmuffel“, eröffnete er ihr noch. „Sprich ihn lieber nicht an, wenn es vor zwölf ist.“ Seit Yoshiko ihnen dazu verholfen hatte, dass er und Serdall miteinander reden konnten, empfand sie Dustin als nicht so schreckliche Plage. „Du bist doch auf Serdalls Seite, oder?“, fragte er sie nun offen. „Ja, bin ich“, bestätigte Yoshiko und legte nun endgültig das Messer beiseite. „Zwar scheint jeder außer Serdall es zu sehen und zu akzeptieren, aber solange er sich von irgendjemandem überreden lässt, sich von mir helfen zu lassen, ist er zumindest etwas besser dran.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schloss etwas erschöpft die Augen. „Was meinst du wie lange dauert es, bis Serdall auch mal erkennt, dass ich ihn an niemanden verraten werde. Ganz davon abgesehen, dass meine Handlungen recht dämlich wären, wenn mich jemand angestiftet hätte.“ Dustin rollte theatralisch mit den Augen und setzte sich neben sie. „Echt, Serdall ist nun mal so. Er ist nicht wirklich sozial. Pflegt kaum Freundschaften und hasst Fremde, weil er ihnen eben nicht vertrauen kann. Ehrlich, du hättest ihn mal erleben müssen, als das mit Daniel sich entwickelt hatte.“ Dustin schüttelte den Kopf. „In der Hinsicht ist er leider wirklich nicht zu gebrauchen. Serdall macht sich immer viel zu viele Gedanken. Man kann manchmal gar nicht nachvollziehen, wie er zu verschiedenen Standpunkten kommt, weil er im Kopf halt ziemlich verquer ist.“ Freundschaftlich berührte er Yoshiko am Arm. „Also mach dir nichts daraus, wenn er deine Hilfe nicht jauchzend annimmt. Dass er sie überhaupt irgendwie berücksichtigt, ist schon ein enormer Fortschritt.“ „Nun, das haben wir auch Daniel zu verdanken“, meinte Yoshiko seufzend. „Er hat gestern noch mit ihm telefoniert und Daniel hat ihm wohl geraten, sich von mir helfen zu lassen. Ansonsten wäre ich gestern wohl wieder hochkant rausgeflogen. Nur wie soll ich ihm helfen, wenn er sich das nächste Mal auch wieder so querstellt? Denn ich möchte wirklich nicht, dass das ganze Fiasko hier in einer Hochzeit endet, wenn die Voraussetzungen dafür so ungünstig sind“, teilte sie Dustin ihre Gedanken mit. „Mir war klar, dass ich irgendwann womöglich irgendeinen Fremden heiraten muss und ich habe generell auch kein Problem damit, da ich nun mal so erzogen wurde, allerdings will ich nicht, dass dem soviel Leid vorausgeht.“ Du kannst dir gar nicht vorstellen wie viel Leid, dachte sich Dustin unwohl. Er glaubte kaum, dass diese Hochzeit gut verlaufen würde, wenn sie denn stattfand. „Serdall ist momentan etwas überfordert, würde ich sagen. Weißt du, er hört viel zu sehr auf seine Gefühle und besonders jetzt macht ihm die Angst um Daniel schwer zu schaffen. Ich kann verstehen, dass er dir nicht auf Anhieb trauen kann, dass er sich darüber erst einmal klar werden muss. Du musst dabei aber konsequent bleiben, weil Serdall wirklich schrecklich verquer ist, wenn es um seine Liebsten geht“, seufzte Dustin schwer. Es war schon verwunderlich, dass er es mit Serdall zusammen so lange ausgehalten hatte und sie eigentlich auch ganz gute Freunde waren, auch wenn sein Schwager ziemlich abgedreht war, manchmal. „Wenn er es erst einmal eingesehen hat, ist er dementsprechend offener. So hab ich das für mich zumindest festgestellt.“ Dustin dachte dabei an die Zeit, als Serdall mit Daniel zusammengekommen war und er mit Ethan. Serdall hatte ihm mehr erlaubt als vorher, wenn auch wiederwillig und nur mit Daniels gutem Zureden. „Du willst gar nicht wissen, wie schwer es für Serdall überhaupt gewesen war, sich einzugestehen, dass er sich in Daniel verliebt hat. Ich sag dir, er war richtig widerwärtig zu der Zeit.“ Ein wenig wunderte sich Dustin über seine eigene Redseligkeit gegenüber Yoshiko, doch irgendwie tat sie ihm leid. Er konnte sie doch nicht ahnungslos auf Serdall loslassen. Wenigstens ein paar Dinge wollt er ihr erklären. Serdall war schließlich ein Rätsel in Person, wenn man ihn nicht kannte. „Noch widerwärtiger als jetzt?“, fragte Yoshiko spitz, senkte aber kurz darauf schuldbewusst die Augen. Sie seufzte. „Tut mir leid. Mir schlägt die ganze Sache nur auch irgendwie aufs Gemüt und jetzt, wo ich jemanden zum Reden habe, kommt es hoch. Wenn man Serdall kennt, ist er bestimmt ganz nett, nur denke ich nicht, dass ich ihn so gut kennen lernen werde, bevor der Oyabun uns vor den Traualtar schleift. Leider wird Serdall mir zumindest freie Hand lassen müssen, damit wir wenigstens eine Chance haben, das zu verhindern, aber er hat sich schon schwer genug damit getan, mich bei sich auf dem Boden schlafen zu lassen.“ Dustin lachte laut auf bei der Vorstellung, wie sich Serdall gegenüber Yoshiko zierte. „Ich glaube, dass du überhaupt da schlafen durftest, ist ein Wunder. Das Zimmer ist ihm heilig, gerade weil es ihm und Daniel gehört. Maximal Taki darf ab und an bei ihnen schlafen, ansonsten ist die Region Sperrzone“, erklärte er ihr und lächelte sie schief an. „Und ich versicher dir, Serdall ist noch wirklich nett im Vergleich zu damals. Daniel ist absolut das Beste, was ihm nach dem Tod von Louise passieren konnte. Hoffentlich fällt er jetzt nicht wieder in dieses Schema“, murrte Dustin leidlich. „Na da habe ich wohl noch Glück gehabt, dass ich nicht schon damals mit ihm verheiratet werden sollte“, murmelte Yoshiko und machte sich jetzt wieder weiter daran, das Frühstück fertig zu bekommen, bevor der Oyabun aufstand. „Sag mal, hast du eine Idee, wie wir Serdall sonst irgendwie helfen könnten? Gut, er hat jetzt die Möglichkeit, ab und an mit Daniel zu reden bis der Akku deines Handys leer ist, aber vielleicht wäre es ganz gut, wenn sie sich mal sehen könnten?“ Abwiegend ließ Dustin seinen Kopf hin und her wandern. „Wie sollen wir denn das einrichten, ohne dass Fei Wind davon bekommt?“, meinte er halblaut und lehnte sich verschwörerisch zu Yoshiko. „Fei macht ernst, wenn er davon erfährt, oder nicht? Schließlich ist er nicht umsonst euer Boss.“ „Wenn er davon erfährt.“ Emotionslos sah Yoshiko Dustin an. „Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder man akzeptiert das Schicksal, das einem durch andere Leute vorbestimmt wird, was ich im Übrigen schon viel zu lange getan habe, oder man fängt an zumindest zu versuchen sich dagegen zu wehren und geht das Risiko ein, dass man dabei ertappt wird. Wenn alles aber gut läuft, dann bemerkt keiner, dass wir nicht das machen, was der Oyabun will. Wenn ich beispielsweise sagen würde…“ Yoshiko überlegte kurz, bis ihr etwas Passende einfiel. „Stellen wir uns mal vor, ich würde den Oyabun fragen, ob er mir die Erlaubnis erteilt mit Serdall auszugehen, damit wir uns besser kennen lernen und wir würden es irgendwie schaffen, dass Kikuchi uns nicht folgt. Meinst du nicht es wäre dann machbar, ohne dass es jemand bemerkt, zu Daniel zu gelangen?“ Unsicher legte Dustin den Kopf schief. „Und was, wenn doch? Fei killt Daniel dann und das wäre Serdall wohl zu viel Risiko und wer soll bitte Kikuchi ablenken?“ Ihm kam zwar eine Idee wer, aber das wäre wahrscheinlich nicht mit Ethan vereinbar. „Okay, vielleicht kriege ich das mit Kikuchi hin“, meinte er nach kurzem Zögern, „trotzdem ist die Gefahr immer noch ziemlich hoch und Serdall wahrscheinlich zu groß.“ „Er hätte keine Wahl, wenn er nichts von unserem Plan weiß und vom Oyabun dazu gezwungen wird, mich zu begleiten“, erklärte Yoshiko. „Wenn der Oyabun uns gehen und kommen sieht und Kikuchi nicht dabei ist, um mit uns zu gehen, der Oyabun aber nicht weiß, dass er nicht bei uns ist, wie soll er dann überhaupt erfahren, dass wir tatsächlich nicht zusammen unterwegs waren? Zumindest nicht die ganze Zeit.“ Dustin musste sich wirklich konzentrieren Yoshikos Ausführungen zu folgen. Er nickte schlussendlich doch einigermaßen verstehend. „Du willst also Serdall in deinen Plan nicht einweihen und Fei anlügen, okay.“ Grinsend legte Dustin den Kopf schief, als er an Daniels und Serdalls Begegnung dachte. „Dir ist klar, dass Serdall und Daniel dann wohl ein bisschen Sex haben werden?“, feixte er anzüglich und sah vergnügt, wie die Wangen der beherrschten Japanerin einen sanften Rotton annahmen. „Das ist mir bewusst“, zischte Yoshiko leicht beleidigt. „Aber ich bin schon groß und kann mich anderweitig beschäftigen und bin nicht gezwungen, bei ihnen zu bleiben.“ Yoshiko strich etwas sehr viel Leberwurst auf ein Schnittchen, sonst ließ sie sich anhand ihrer Handlungen aber nichts von ihrer inneren Gemütslage anmerken. „Du bist also dabei?“, wollte sie von Dustin wissen. Dustin nickte grinsend. „Auf jeden Fall und dir rate ich, ein bisschen durch das Schlüsselloch zu schauen, wenn die beiden allein sind.“ Kichernd schob er seinen Kopf in ihr Blickfeld. „Du glaubst gar nicht, wie gut die beiden zusammen aussehen, besonders so“, erklärte er ihr spitzbübisch und lachte laut, als sie noch eine Spur dunkler im Gesicht wurde. „Ich habe nicht das Bedürfnis zu spannen, danke“, erwiderte Yoshiko kühl. Das Gespräch verlief ihrer Meinung nach in eine vollkommen falsche Richtung. „Holst du mir mal ein neues Stück Butter? Du stehst gerade fast.“ Grinsend holte Dustin das Gewünschte und hielt es ihr vor die Nase. Es machte ihm ungemein Spaß, Yoshiko ein wenig zu reizen. Auf gewisse Art und Weise war sie fast wie Serdall, der von so etwas auch nie hören wollte. Er zog dir Butter zurück, als Yoshiko sie ergreifen wollte. „Weißt du, wozu man die auch ganz gut nutzen kann?“, fragte er sie grinsend und lehnte sich an ihr Ohr, um es ihr zuzuflüstern. Ihre Augen wurden groß, als er zu dem spannenden Teil kam und Dustin wich von ihr zurück, als sie empört nach ihm schlug. Das war fast wie mit Louise damals, als er ihr erklärt hatte, was er mit seinen Freunden immer angestellt hatte. „Meine Mutter hätte jetzt gesagt, du solltest dir den Mund mal mit Seife auswaschen, aber ich glaube, dass das bei dir nicht mehr viel helfen würde. Du scheinst von innen heraus so extrem dreckig zu denken“, empörte Yoshiko sich und bekam den dezenten Rotton auf ihren Wangen nicht mehr in den Griff. Dustins kleiner Vortag über andere Anwendungsgebiete von Butter hatte ihr diverse Bilder durch den Kopf schwirren lassen, die sie lieber nicht gehabt hätte. Dank der lieben Fürsorge ihres Vaters hatte sie auf dem Gebiet überhaupt keine Erfahrungen und konnte nicht einmal in der Theorie wirklich glänzen. Und jetzt kam Dustin und… Tränen lachend setzte sich Dustin ihr gegenüber. Dieses Mädchen tat so schrecklich erwachsen und wusste wahrscheinlich nicht einmal über die grundlegendsten Dinge vom Sex Bescheid. „Das war doch noch das Harmloseste. Wenn ich dir erzählen würde, was ich gestern Abend mit Ethan getan habe… Obwohl, warum erzähle ich es dir nicht einfach? Du scheinst ja sowieso sehr offen in der Hinsicht zu sein“, meinte er grinsend und wollte gerade anfangen Yoshiko über alles aufzuklären, was er allein gestern mit Ethan angestellt hatte, doch Feis und Kikuchis Eintreten ließen ihn verstummen. Verschmitzt blickte Dustin zu dem Assassinen. Er würde mit Ethan über ein Ablenkungsmanöver reden müssen. „Guten Morgen, Yoshiko, Dustin“, sagte Fei kalt und ließ sich von Yoshiko seinen Tee bringen. Sie war froh, dass Dustin nicht ausreden konnte. Wahrscheinlich wäre sie vor Scham im Erdboden versunken, wenn die Sprache auf diverse Sexpraktiken gekommen wäre. Es erstaunte sie schon, wie offen einige Menschen über dieses Thema sprechen konnten. „Ich würde Sie gerne etwas fragen“, kam Yoshiko gegenüber Fei gleich auf das Thema zu sprechen, das sie vorhin mit Dustin diskutiert hatte. „Entschuldige, Yoshiko, dafür habe ich im Moment keine Zeit“, erwiderte Fei kalt und stand wieder auf. Mit einem Kopfnicken bedeutete er Kikuchi, ihm ins Wohnzimmer zu folgen, in das sie sich für kurze Zeit zurückzogen. In Japan war ein Geschäft geplatzt, was Fei sehr verärgerte und den Aufenthalt hier in Deutschland in ein schlechtes Licht rückte. Man hörte, obwohl die Tür geschlossen war, wie Fei lautstark mit Kikuchi diskutierte. Dustin zog währenddessen überrascht die Augenbrauen nach oben. „Da brennt die Luft“, meinte er grinsend. „Scheinbar“, erwiderte Yoshiko und sah skeptisch auf die nicht angerührten Schnittchen. Das war schon das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen, dass sie fast das komplette Frühstück in den Müll befördern konnte. „Hast du Hunger?“, fragte sie Dustin seufzend. Der Blonde nickte. „Wenn du mich so fragst“, murmelte Dustin und griff beherzt zu. „Alles Banausen“, meinte er zwinkernd zu Yoshiko und biss den ersten Happen ab. Dustin verschluckte sich daran fast, als Serdall zerknittert die Küche betrat und sich richtig griesgrämig ein Glas nahm, mit dem er zum Wasserhahn trottete. „Kannst du plötzlich die Uhr nicht mehr lesen?“, fragte Dustin seinen Schwager und erntete einen finsteren Blick, ehe sich Serdall wortlos an die Theke setzte. „Schnittchen?“, fragte Yoshiko und hielt Serdall den Teller vor die Nase, doch alles, was sie bekam, war ein kurzer, mörderischer Blick, bevor Serdall sich wieder abwandte. „Scheinbar nicht“, stellte sie fest und stellte die Brote etwas lauter als nötig ab, bevor sie aufstand und die Küche in Richtung Flur verließ. Sie hatte keine Ahnung warum, aber gerade war sie ziemlich gereizt. Vielleicht weil es bis jetzt ein recht schöner Morgen gewesen war und Serdall mit seiner Art die Stimmung tötete, vielleicht weil keiner die Arbeit würdigte, die sie sich machte und vielleicht auch nur, weil sie wieder zurück nach Japan und den ganzen Stress der bevorstehenden Hochzeit einfach ignorieren wollte. Jedenfalls ging sie ziemlich geladen in ihr Zimmer und schnappte sich eines ihrer mitgebrachten Bücher. Dustin war sichtlich überrascht über Yoshikos Abgang. Augenrollend griff er sich noch eines der Brote, ehe er sich vor Serdall stellte und ihn ansah, während er kaute. „Schlecht geschlafen?“, fragte er seinen Schwager mit noch vollem Mund und Serdall lehnte sich sogleich genervt zurück. „Ja“, murrte Serdall ihn an und trank von seinem Wasser. „Yoshiko will dir helfen, ist dir klar, oder?“ Serdall sah Dustin wütend an und schnappte ihn am Kragen. Dessen unbekümmerte Art war jetzt total fehl am Platz. „Lass die beknackten Sprüche und sieh den Ernst der Lage“, zischte Serdall ihn an und Dustin schluckte an dem Brocken, den er nur halb gekaut hatte. „Ist ja gut“, knurrte Dustin zurück. Serdall war wirklich massiv schlecht gelaunt. Sein Schwager ließ ihn los und trank finsteren Blickes weiter sein Wasser. Kopfschüttelnd wandte Dustin sich ab. Mit Serdall war jetzt nicht zu reden. Er schien besonders empfindlich zu sein. „Du wirst mit Fei sprechen?“, ging Dustin trotzdem das Risiko ein, von Serdall angeraunzt zu werden. „Nachher“, erwiderte Serdall kühl und seine Gestalt spannte sich sofort an. Dustin nickte. Serdall schien sich wirklich genug Gedanken zu machen und Dustin hatte nicht mehr tun können, als ihm sein Handy zuzustecken. Jetzt hing es eben nur an Serdall und Fei selbst. Seufzend lächelte Dustin sparsam. „Ich drück dir die Daumen“, meinte er leise und Serdall nickte abgehackt. Kopfschüttelnd wandte sich Dustin ab. Serdall brauchte anscheinend wirklich seine Ruhe. ------------------------------------- Yoshiko sah von ihrem Buch auf, als Taki seinen Kopf zur Tür hereinstreckte. „Hey, möchtest du was von mir?“, fragte sie leise auf Japanisch und sah ihn aufmerksam an. Unsicher lugte Taki um die Ecke. „Wieso bist du in Dans Zimmer?“, fragte er sie böse und trat in den Raum. Taki war immer noch im Pyjama und war gerade erst aufgestanden. Unhörbar seufzte Yoshiko auf. Taki vermisste Daniel auch, das war deutlich zu erkennen. Nur warum sah der Oyabun selbst, dem diese ganze Misere zuzuschreiben war, nicht, was er seinem Bruder, seinem Neffen und auch Dustin mit seiner fixen Idee einer arrangierten Hochzeit antat. Schwach lächelnd sah Yoshiko Taki an. „Solange Daniel nicht da ist, darf ich hier wohnen. Sobald er wiederkommt, ist das hier dann wieder sein Zimmer.“ Nicht verstehend ging Taki zu ihr und setzte sich neben sie. „Wann ist Daniel wieder da? Wieso bist du hier? Bist du eine Freundin von Onkel Fei?“, fragte Taki auf seine kindliche Art und sah sie aus großen Augen an. „Dein Papa hat dir doch gesagt, dass Daniel bald wieder da ist“, antworte Yoshiko ihm, da sie Serdalls Geflüster gestern mitbekommen hatte und sah Taki aufmerksam an. Er war wirklich schlau für sein Alter und stellte die richtigen Fragen, die allerdings schlecht zu beantworten waren, wenn man ihn nicht zu sehr in das ganze Geschehen mit reinziehen wollte. Und Yoshiko zweifelte nicht, dass das das Letzte war, was Serdall sich im Moment für seinen Sohn wünschte. Deswegen zog sie es vor, die anderen Fragen erst einmal zu ignorieren und zu hoffen, dass Taki sie auf sich beruhen lassen würde. Kurz zog Taki die Augen zu Schlitze, ehe er Yoshiko freundlich ansah. „Kochst du heute auch das Mittagessen?“, fragte er sie nun unbekümmert. „Ich würde mir gern was wünschen“, sagte er und griff Yoshikos Hand, wobei er seinen besten Bettelblick aufsetzte. „Natürlich koche ich oder denkst du etwa, dass dein Vater sich dem Herd näher als auf einen Meter nähern würde? Und dein Onkel hat genug andere Sachen zu tun. Also, was hättest du denn gern?“ Taki grinste verstohlen. „Nudeln!“, rief er kichernd und fasste Yoshiko bei der Hand. „Bitte, bitte! Ich helfe dir auch“, sagte er ernst. „Nun, ich glaube unter den Umständen könnte ich mich tatsächlich dazu überwinden, heute Nudeln zu kochen“, erwiderte Yoshiko gespielt ernst. „Allerdings brauchen wir dafür nicht so lange, von daher denke ich, dass es reichen wird, wenn wir uns um elf in der Küche treffen, in Ordnung? Dann kannst du dich bis dahin anziehen, fertig machen und noch mit den Hunden beschäftigen.“ Taki nickte glücklich. „Okay, Yoshi!“, rief er vergnügt und lief sogleich in sein Zimmer um sich anzuziehen. „Yoshi“, wiederholte Yoshiko etwas perplex, schüttelte dann aber den Kopf. Zumindest zeigte dieser unfreiwillige Spitzname, dass Taki sie recht gern hatte. Leicht lächelnd nahm sie wieder ihr Buch auf und las weiter. ------------------------------------- Serdalls Finger hielten krampfhaft das Glas fest. Er hörte die Geräusche um sicher herum nur dumpf. Das leise Rauschen, das die Spülmaschine verursachte, die Musik, die von Dustins Zimmer herunter drang und die lautstarke Diskussion, die Fei mit Kikuchi führte, all dies nahm er kaum wahr. Der Albtraum der letzten Nacht beschäftigte ihn. Bilder daraus sprangen ihm sekündlich vor die Augen und zeigten ihm eine sterbende Louise und einen verblutenden Daniel. Unwirsch schüttelte Serdall den Kopf, als Magenschmerzen sich bemerkbar machten. Er schnaubte unwirsch. Wieder musste er sich zusammennehmen und seine Gedanken ordnen. Entschlossen stellte Serdall das Glas weg und stand auf. Er ballte die Hände zu Fäusten, als er festen Schrittes auf die geschlossene Wohnzimmertür zuging, hinter der Fei nun scheinbar ruhig telefonierte. Ohne zu zögern öffnete Serdall die Tür und ließ sein Blick sofort über die Anwesenden schweifen. Kikuchi fasste ihn ins Auge und Serdall sah kalt zurück. Ohne Kikuchi hätte Serdall Fei vielleicht auch mit Waffengewalt wieder aus dem Haus befördern können, durch ihn aber hatte er seinen letzten Trumpf verloren, weil er vorgestern eingeschritten war. Der Assassine bekam ein blankes Lächeln und führte den Zeigefinger am Hals entlang, symbolisch für das Messer, das eine Kehle durchschneiden würde. Unwillkürlich schluckte Serdall bei diesem Anblick, ließ sich aber danach nichts mehr anmerken, auch wenn Kikuchi hämisch zu ihm sah. Serdall erahnte jetzt, wer den Auftrag ausführen würde, Daniel zu töten, wenn es dazu kam und dieser Gedanke behagte ihm gar nicht. Kikuchi war ein blutrünstiges Monster, das berüchtigt war für seine Skrupellosigkeit. Serdall wusste nicht mehr, welchen Spitznamen man Kikuchi in Japan gegeben hatte, doch er glaubte, dass es ihm selbst die Nackenhaare hochgetrieben hatte, als er Kikuchi einmal als Schüler begegnet war. So wie Serdall seine Geige als Leidenschaft pflegte, so hielt es Kikuchi mit dem Töten. Serdall ließ sich von dem emotionslosen Blick nicht irritieren und trat zu seinem Bruder, der immer noch telefonierte. Kurzerhand setzte sich Serdall neben ihn, was Fei schlagartig im Gespräch inne halten und ihn verwirrt ansehen ließ. Serdall lächelte ihn minimal an und Fei beendete sein Gespräch wenige Minuten später. Kikuchi ließ Serdall währenddessen nicht aus den Augen. „Ich muss mit dir reden“, sagte Serdall, als Fei ansetzte ihn etwas zu fragen. „Allein“, fügte er noch an, als sein Blick wieder auf Kikuchi fiel. Fei nickte seinem Untergebenem zu und Kikuchi erhob sich, verbeugte sich kurz vor den Agamies, ehe er ergeben den Raum verließ. Fei lehnte sich zurück und sah seinem Bruder in die blaugrünen Augen. Auffordernd nickte er Serdall zu und der Schwarzhaarige seufzte innerlich. „Warum mischst du dich in mein Leben ein, Fei?“, fragte Serdall ihn schwach. Fei schnaubte verächtlich. „Das fragst du noch? Sieh dich doch an! Schläfst mit einem Mann, belügst deinen Bruder und bietest Taki eine schlechte Familie! Was ist nur aus dir geworden? Was würde Louise zu deinem Lebensstil sagen?“, zischte Fei aufgebracht und sah seinen Bruder fassungslos an. Serdall blickte ihm stur in die Augen. „Und es geht dich trotzdem nichts an“, zischte Serdall. „Es ist mein Leben und Taki ist mein Sohn und Daniel mein Freund. Glaubst du wirklich, ich hätte nicht lang genug über meine Entscheidung nachgedacht?“ „Ja, das glaube ich. Sonst wärst du mit diesem Abschaum nicht zusammen“, knurrte der Yakuza gefühlvoll und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Sonst hättest du diesen Mist nie gemacht.“ Serdall schüttelte wirr den Kopf. „Was weißt du schon, Fei!“, rief er aufgebracht, nahm sich aber in seinen Weiteren Worten in der Laustärke zurück. „Du kommst hierher, drohst mir und hältst mich buchstäblich in meinem eigenen Haus gefangen und verurteilst das, was ich schon vor zwei Jahren entschieden habe und mich in dieser vergangenen Zeit glücklich gemacht hat.“ „Glücklich?“, schrie Fei hart und stand auf. Nicht, dass es in Japan gerade drunter und drüber ging, seit er nicht mehr da war, jetzt klagte ihn Serdall auch noch an, weil er ihm helfen wollte. „Ich glaube eher, dass dieser Erhard dir das Hirn vernebelt hat“, fauchte Fei aufgebracht. Seine japanische Beherrschung hatte er schon vor Stunden verloren, als ihm ein Millionengeschäft in Kyoto vereitelt worden war, auf das er mühsam hingearbeitet hatte. „Du hattest schon immer andere Ansichten, besonders als du mit Louise zusammen warst. Bist du wirklich durch ihren Tod so dermaßen abgerutscht?“ Serdall erhob sich ebenfalls, nun wirklich wütend. „Was heißt hier abgerutscht?“, zischte Serdall. „Was kann ich denn dafür, dass ich mich in Daniel verliebt habe?“ Zornig sah Fei seinen kleinen Bruder an. „So einiges“, knurrte er und griff Serdall fest in die schwarzen Haare. „Dass du ihn überhaupt damals als Babysitter für Taki eingestellt hast, war mir unverständlich. Gerade weil er mir nur Obszönitäten an den Kopf geworfen hat und schon da hat sich herausgestellt, dass er dir den Weg in eine Hochzeit nicht gegönnt hat“, zischte Fei. Schmerzlich verzog Serdall das Gesicht und packte Feis Hand. „Er hat mich aus meinem Tief geholt“, fauchte Serdall und versuchte seine Haare aus Feis Griff zu befreien. „Und in welches hat er dich nun hineingezogen? Du hintergehst dich und deine eigene Familie für diesen Mann und du merkst es noch nicht einmal. Ist es dieser Arschfick wert?“, schrie Fei laut und zog stärker an Serdalls Haaren. „Ist er es?“, bohrte er wütend weiter, als Serdall nicht antwortete. „Ich sag es dir, Serdall“, flüsterte Fei böse. „Er ist es nicht. Was hast du denn davon, wenn du dich mit ihm abgibst? Er gebärt dir keine Kinder, er hat sicher keinen finanziellen Rückhalt, er ist ein Nichts, das in dir ein lukratives Geschäft sieht, mehr nicht.“ „Das stimmt nicht“, erwiderte Serdall gepresst. „Er liebt mich auch“, flüsterte er, doch kam er sich jetzt, wo er in Feis wütende Augen sah, bei diesen Worten ziemlich dumm vor. „Ja“, flüsterte Fei hämisch grinsend, „dich, dieses Haus, dein Geld, alles was mit dir zusammenhängt.“ Serdall verzog wütend die Augenbrauen. „Du kennst Daniel nicht“, hauchte er. „Er ist nicht so, wie du denkst. Du hast keine Ahnung, wie ich mich bei ihm fühle.“ „Ich weiß es wirklich nicht, denn soviel Verblendung habe ich zum Glück noch nie empfunden“, gab Fei kalt zurück. „Wenn du nur eine Minute dein Hirn anschalten würdest, Serdall, wüsstest du was ich meine.“ Fei ließ von Serdall ab. Der Schwarzhaarige taumelte kurz und rieb sich krampfhaft über die Kopfhaut. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wie auch? Er konnte Fei nicht einmal seine Gefühle erklären, geschweige denn, dass Fei es hören wollte. Unsicherheit machte sich jedoch in ihm breit. War es so, wie Fei es sagte? „Er nutzt dich aus, Serdall. Sieh es ein.“ Tut er das? Nutzt er mich aus?, fragte sich Serdall und wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Bisher hatte ihn Dustin immer wieder nur zu Daniel geraten, doch jetzt, wo sein eigener Bruder ihm diese Dinge so offen an den Kopf warf, machten ihm seine eigenen Gefühle Angst. Fei ging auf ihn zu, denn er sah es seinem Bruder an, dass ihn die Zweifel plagten. „Er hat dein Tief nach Louises Tod ausgenutzt, siehst du das nicht? Serdall, was hat er sich denn von dieser Beziehung versprochen? Du bist viel zu gut für diesen Mann, merkst du das nicht? Er hat es gesehen, er hat deinen materiellen Wert erkannt und wahrscheinlich wohl auch deine absolute Treue. So ist ihm doch alles sicher, oder nicht?“ Keuchend schüttelte Serdall den Kopf. „Lass den Mist“, zischte Serdall. „Ich brauche keine Gehirnwäsche“, fauchte er, doch insgeheim hatte Fei in ihm einen wahren Wust an Fragen aufgewirbelt und seine alte Unsicherheit begann wieder zu keimen. War es wirklich so, wie Fei es sagte? Verwirrt trat Serdall noch einen Schritt zurück, dabei den Kopf immer noch schüttelnd. Wortlos wandte er sich um und ging aus dem Zimmer heraus und nach oben. Fei grinste selbstzufrieden, als er seinem Bruder nachsah. So war es doch schon viel besser, dachte er sich erfreut und setzte sich zurück an seinen Laptop. Serdall würde ihm wirklich noch einmal danken, das wusste er. Serdall verkroch sich indes in seinem Schlafzimmer. Er legte sich schwach in sein Bett und zog die Decke über seinen Kopf. Ihn ließ der Gedanke nicht mehr los. Hatte Daniel ihn wirklich nur ausgenutzt? War es ihm wirklich nur gelegen gekommen, dass Serdall es so schlecht gegangen war? Hatte er all dies geplant? „Oh Himmel“, flüsterte Serdall verängstigt und drückte seine Hände auf die Ohren, doch er konnte Feis Stimme nicht mehr abschalten, die immer weiter ihre Beziehung zerpflückte. ------------------------------------- Gähnend verließ Daniel am Montag den großen Hörsaal und machte sich auf den Weg in die nahe gelegene Mensa. Er wäre gerade während der Vorlesung fast eingeschlafen, da er dank der nervenaufreibenden letzten Tage total übermüdet war. Er hatte sich nicht aus dem Haus getraut, da er jede Minute damit gerechnet hatte, dass Serdall anrief und bei diesem Gespräch ungestört sein und nicht zufällig irgendwo auf der Straße stehen wollte. Doch Serdall hatte nicht angerufen. Das gesamte Wochenende hatte er sehnsüchtig darauf gewartet, dass sein Handy klingelte, jetzt wo Serdall Dustins Mobiltelefon hatte, doch er hatte sich umsonst zuhause verschanzt. Nervös war Daniel in seinem ehemaligen Zimmer auf und ab getigert und hatte sich verzweifelt gefragt, ob irgendwas passiert war, gehofft, dass nur der Akku leer war oder Serdall einfach keine Zeit hatte, ihn anzurufen. Getraut, selbst auf Dustins Handy anzuklingeln, hatte er sich nicht. Was, wenn Fei es beschlagnahmt hatte? Es käme nicht gut, wenn er schon wieder unerwartet Serdalls Bruder an der Strippe hatte. Seufzend trat Daniel vor zur Essensausgabe und nahm sich einmal Geschnetzeltes mit Reis. Sich noch Besteck auf das Tablett ladend und einen Kakao dazustellend schlenderte er in Gedanken versunken in Richtung seines Stammplatzes, wo meist ein paar seiner Bekannten saßen und sich während des Essens unterhielten. Hoffentlich hörte er bald etwas von Serdall. Aus Angst und Sorge um seinen Freund machte er nachts kein Auge zu und sein Handy kontrollierte er auch alle fünf Minuten, ob zumindest eine Nachricht eingegangen war. Betrübt starrte Daniel auf sein Essen. Normalerweise kam er oft, wenn er Mittagspause hatte, schnell zuhause bei Serdall vorbei und kochte ihnen selbst etwas. Dann hätte er jetzt kein Geschnetzeltes aus der Großküche auf dem Teller, sondern etwas aus der eigenen Küche. Außerdem würde er nicht mit eher flüchtigen Bekannten essen und über unwichtige Themen reden, die sie ohnehin eine halbe Stunde später wieder vergessen hatten, sondern vielleicht über die Pläne, was Serdall und er noch unternehmen würden oder über vollkommen belanglose Dinge. Ein plötzlicher Ruck ging durch sein Tablett und Daniel stolperte zwei Schritte zur Seite. Das Geschirr klirrte, als es kurz vom Holz abhob und ein Schwall Kakao ergoss sich über die Person, mit der Daniel gerade zusammengestoßen war. „Oh verdammt, das tut mir leid!“, rief er erschrocken. Überrascht sah ihn ein etwa eins neunzig großer, junger Mann an und lachte im nächsten Moment laut auf. „Himmel, und ich hab mich bis eben noch gefragt, warum mein Tag so langweilig war. Jetzt weiß ich warum“, meinte er kichernd. „Ich habe dich noch nicht getroffen.“ Grinsend nahm sich der blonde Mann die Serviette von Daniels Tablett und wischte sich den Kakao von seinem Markenshirt. „Hey, ich bin Kai“, stellte er sich in diesem unpassenden Moment vor. Ziemlich verwirrt starrte Daniel ihn an. Kein Gezeter, weil er sein teures Shirt versaut hatte? Nur ein flachsiger Kommentar? „Daniel“, erwiderte er reichlich perplex und stand ziemlich dumm noch immer mit seinem Tablett in den Händen vor Kai. „Okay, Dan“, erwiderte Kai, nun wieder einigermaßen trocken und um einen satten braunen Fleck auf dem gelben Shirt reicher. Grinsend legte Kai einen Arm auf Daniels Schulter. „Dafür, dass du mein Shirt versaut hast, freunden wir uns ein bisschen an, okay? Ich habe nämlich gerade echt nichts zu tun und dich hat mir der Himmel geschickt.“ Daniel zog die Augenbrauen nach oben, folgte Kai aber widerstandslos zu einem der entfernteren Tische, an dem sie sich gegenüber niederließen. Irgendwie war Kai Daniels Meinung nach ziemlich schräg, allerdings fand er das nicht wirklich unsympathisch an ihm. Dustin war beispielsweise auch recht aufgedreht und Daniel konnte mit Leuten, die so offen waren, eigentlich ziemlich gut umgehen. „Du studierst hier auch“, fragte Daniel beiläufig, während er sich die erste Gabel seines Essens in den Mund steckte und etwas schuldbewusst auf Kais ruiniertes Shirt starrte. „Ja“, meinte Kai grinsend. „Medizin im achten Semester. Du kannst mich auch ruhig schon Dr. Kai Hahn nennen“, lachte er vergnügt und musterte Daniel kurz. Himmelblaue Augen, pechschwarzes Haar und einen zuckersüßen Gesichtsausdruck, wenn er erschrocken war. „Und was studierst du? Wie alt bist du? Was machst du heute Nachmittag?“, bombardierte Kai Daniel mit Fragen und legte grinsend den Kopf schief. Kopfschüttelnd lächelte Daniel zurück und kaute noch schnell zu ende. „Ich studiere Grundschullehramt im dritten Semester, bin einundzwanzig und habe heute Nachmittag noch nichts vor“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Warum? Hast du etwa vor, unsere Freundschaft gleich noch zu vertiefen und mich irgendwohin einzuladen?“ Kai grinste verschmitzt. „Genau das hatte ich vor. Weil alle meine Freunde heute leider keine Zeit für mich haben und ich mich jetzt gezwungen fühle, mit dir nettem Kerl eine bessere Freundschaft aufzubauen. Du bist hoffentlich nicht so eine treulose Tomate, oder?“, fragte er grinsend und klaubte sich den Apfel von Daniels Tablett. „Haste Bock auf Tennis? Würde ich gern mal ausprobieren.“ „Klar“, meinte Daniel schulterzuckend. „Tennis habe ich noch nie gespielt. Das wäre mal eine Erfahrung wert. Stellt sich nur die Frage, wo wir Schläger und so weiter herbekommen? Nur muss ich dich leider enttäuschen, da ich unter gewöhnlichen Umständen leider auch nicht so extrem viel Zeit habe.“ Er dachte an Serdall und dass er normalerweise fast den ganzen Tag mit ihm verbrachte. Immer noch. Auch nach über eineinhalb Jahren Beziehung. Momentan wusste Daniel echt nicht, was er den ganzen Tag lang mit sich anfangen sollte und so kam es ihm gerade recht, dass er in Kai gelaufen war. „Ach, die werden die Dinger uns schon irgendwie leihen. Und ich sage ja, dich schickt der Himmel, denn anscheinend hast du ja jetzt Zeit“, meinte Kai grinsend. „Außerdem, wenn du erst mal siehst, was ich eigentlich für ein superlieber Kerl bin, nimmst du dir freiwillig für mich Zeit. Schließlich kannst du mich doch nicht guten Gewissens meinen treulosen Freunden überlassen, oder?“ „Nun, wenn ich dich ihnen überlasse, assoziiere ich damit, dass ich dich in ihre Arme übergebe und dann haben sie ja Zeit für dich. Denn ich fürchte, dass mein Freund nicht so glücklich sein wird, wenn ich meine freie Zeit immer mit jemand anderem als ihm verbringe. Er ist da sehr nachtragend, weißt du“, grinste Daniel jetzt auch. Nun wirklich überrascht zog Kai eine Augenbraue hoch. „Du meinst jetzt richtiger Freund, oder? So mit Sex und allem drum und dran?“, fragte er ziemlich geschockt und lehnte sich zurück. „Na toll, das habe ich jetzt davon. Bis eben hatte ich ja noch Hoffnungen, aber jetzt zerschlägst du sie wie Seifenblasen!“, rief er gespielt empört und fasste sich an die Stirn. „Na egal, wir können trotzdem Tennis spielen, meine Kumpels haben da nie Bock drauf und ich brauche unbedingt einen neuen Kumpel, der das mit mir mal testet. Also, was sagst du, Dan? Ein bisschen Zeit wirst du doch für mich abzwacken können, oder?“ Glücklich stellte Daniel fest, dass Kai scheinbar überhaupt kein Problem damit hatte, dass er schwul und in festen Händen war. Ehrlich gesagt hätte es ihn aber, obwohl sie sich erst so kurz kannten, bei Kais Charakter auch gewundert, wenn er in so einem Punkt nicht tolerant gewesen wäre. Im Gegenteil, er… Daniel stutzte und rief sich Kais Antwort noch einmal ins Gedächtnis. „Entschuldige, wenn ich hier mal kurz nachhake, aber bist du auch schwul?“, fragte er erstaunt. Plötzlich ernst verzog Kai das Gesicht. „Daniel“, sagte er nun ruhig und blickte ihm in die Augen. „Du sitzt hier einem angehenden Arzt gegenüber“, erklärte er doktorhaft und wedelte mit dem Zeigefinger durch die Luft. „Ich bin jedenfalls nicht schwul, wenn wir das schon diskutieren“, meinte er weiterhin sehr ruhig, grinste dann aber, als Daniel langsam die Unsicherheit ins Gesicht geschrieben stand. Lachend schnippte Kai mit dem Finger gegen Daniels Nase. „Homosexuell, Schatzi. Schwul hört sich so abwertend an.“ „Wenn du meinst“, erwiderte Daniel schlicht, aber lächelnd. „Nur habe ich nicht ganz verstanden, was dein Doktor sein mit Homosexuellen zu tun hat.“ „Als Arzt ist es meine Pflicht, auch medizinische Fachbegriffe zu verwenden und nicht den Jargon. Ich meine, mal ehrlich, schwul ist so sozial geprägt und hört sich an, als ob es eklig wäre, was wir tun. Und wir wissen doch beide, dass es alles ist, aber nicht eklig“, meinte er grinsend. „Und nun iss, Danniboy. Ich will in dieser verkeimten Mensa nicht versauern, sondern den Spaß des Lebens mit dir genießen.“ „Du bist echt schräg“, stellte Daniel lachend fest, machte sich aber brav weiter über sein Essen her. Er warf immer mal wieder einen Blick auf Kai, der ihm interessiert aus seinen braunen Augen zusah, die wahrscheinlich ebenfalls braunen, aber momentan blond gefärbten Haare wurden durch Gel in einem geordnetem Chaos gehalten, das ihn verwegen aussehen ließ. Daniel befand für sich, dass die Frisur zu Kai passte wie die Faust aufs Auge. „Willst du jetzt gleich Tennis spielen gehen?“, fragte er Kai, als auch der letzte Rest Reis vom Teller verschwunden war. „Ich persönlich bin heute fertig mit der Uni.“ „Na und ich erst“, meinte Kai geschafft und griff sich sogleich Daniels Tablett. „Also, wenn du nichts dagegen hast, fahren wir erst mal zu mir. Egal wie cool und künstlerisch der Kakaofleck hier“, er deutete auf seine Brust, „auch aussehen mag, er trägt sich doch ganz eklig.“ Zwinkernd ging Kai gleich zum Tablettwagen und dann wieder zu Daniel, dem er kumpelhaft den Arm um die Schulter legte. „Also, bist du mit Auto da oder soll ich dich mitnehmen?“ „Kein Auto. Ist kaputt“, erwiderte Daniel und ließ sich von Kai aus der Mensa in Richtung Parkplatz leiten. Schmerzlich dachte er daran, dass Serdalls Auto wohl wieder bei ihm auf dem Hof stehen würde. Wie sehr er seinen Freund doch vermisste. Leise seufzte Daniel auf und zog seine Jacke enger um sich, als sie ins Freie traten. Kai führte Daniel zu einem schwarzen-orangen Motorrad. Er steckte seinen Schlüssel kurz in ein Schloss am Sitz und klappte ihn danach hoch. Hervor holte er einen Motorradhelm, den er Daniel reichte, während er seine Lederjacke zuzog. „So, Daniel. Jetzt begehe ich eine Straftat“, meinte er mit einem Augenzwinkern und setzte sich ohne Helm auf seine Maschine. „Machen wir eine kleine Wette. Schaffe ich es bis zu mir nach Hause, ohne von den Bullen angehalten zu werden, gehen wir heute Abend noch auf die Piste. Schaffe ich es nicht, gebe ich dir ein Essen aus, okay?“ „Gut, meinetwegen“, bestätigte Daniel und stieg hinter Kai auf. Er war beiden Dingen nicht abgeneigt. Jede Ablenkung war momentan wohl nur zu seinem Besten. Außerdem hatte er schon lange nicht mehr solche für seine Altersgruppe normale Sachen gemacht, wie mit einem Bekannten um die Häuser zu ziehen. „Nur wenn ich eingefroren bin, bis wir bei dir ankommen und du mich dann vom Motorrad runterkratzen musst, müssen wir das wohl knicken“, fügte er noch an. Daniel schlang die Arme um Kai und machte es sich einigermaßen bequem. Er war noch nie Motorrad gefahren. Leichtes Bauchkribbeln machte sich bemerkbar. Kai tätschelte kurz Daniels Finger an seinem Bauch. „Keine Sorge, es ist nicht weit bis zu mir“, meinte er gut gelaunt, ließ dann seine Maschine aufheulen und langsam die Kupplung kommen. Auf dem Uniparkplatz fuhr er noch relativ langsam, als er sich jedoch im Straßenverkehr eingeordnet hatte, drehte er seine Ninja auf und preschte auf dem Mittelstreifen an den Autos vorbei. Ende Kapitel 5 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)