Methadon von Tattoo (Kyo x Kaoru x Ryo) ================================================================================ Kapitel 12: ------------ ~12~ Kaoru hatte sich nach ihrem Streit zwar bei Kyo entschuldigt, verbessert hatte sich ihre Beziehung dadurch aber kaum. Der Gitarrist merkte inzwischen selbst, dass er leicht reizbar und sehr kritisch geworden war, wenn es um seinen Freund ging, konnte sich dies aber weder erklären noch verkneifen, weshalb es in der Wohnung der beiden auch weiterhin oft laut wurde und auch mal die eine oder andere Tür knallte. Früher hatte es nach solchen Auseinandersetzungen einfach Versöhnungssex gegeben und alles war wieder in Ordnung, doch das funktionierte inzwischen nicht mehr und Kaoru verbrachte die Nächte immer öfter auf dem Sofa. Auch heute, nach einer erneuten hitzigen Diskussion, war er von Kyo aus ihrem Schlafzimmer verbannt worden, und so lag Kaoru mal wieder im Wohnzimmer, starrte an die Decke und versuchte, aus seinem irrationalen Verhalten schlau zu werden. Er hätte doch eigentlich glücklich sein müssen, jetzt, da Kyo wieder da war, also warum war er es nicht? Warum hatte er ständig etwas an dem Sänger auszusetzen? Und warum fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner eigenen Haut? Kaoru war Selbstzweifel nicht gewohnt und seine Gefühlsachterbahn ging nicht nur Kyo sondern auch ihm selbst gehörig auf die Nerven, doch egal, wie lange er darüber nachdachte, irgendetwas blockierte ihn und ließ nicht zu, dass er den Grund für das Chaos in seinem Kopf erkannte. Die einzige Erkenntnis, zu der er am heutigen Abend gelangte, war die, dass es so nicht weitergehen konnte. Allerdings war er noch nicht dazu bereit, Kyo und ihre Beziehung aufzugeben, er wollte um sie kämpfen, und so musste er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und etwas tun, das er zutiefst verabscheute: Er musste mit jemandem über seine Gefühle sprechen. Und dummerweise fiel ihm nur eine Person ein, die dafür in Frage kam. Ein Blick auf seine Uhr bestätigte dem Gitarristen, dass es für einen kleinen Hausbesuch wohl noch nicht zu spät war, und so erhob er sich langsam (und auch ein bisschen widerwillig), stopfte seinen Wohnungsschlüssel in die Hosentasche und machte sich auf den Weg. **** Er wusste nicht, ob es richtig war, was er tat, aber im Grunde wusste er das schon längst nicht mehr. All seine Entscheidungen der letzten Wochen und Monaten hatten ihm oder anderen über kurz oder lang nur Leid gebracht, da kam es auf diese hier wohl auch nicht mehr an. Und wenn er sich nicht mehr auf sein eigenes Urteil verlassen konnte, dann musste er sich eben zur Abwechslung mal Rat von einem Außenstehenden holen, der die Situation neutral und nüchtern betrachten konnte – zumindest hoffte Kaoru, dass der Mann, der gerade neben ihm auf der Couch Platz nahm, die ganze Angelegenheit neutral sehen würde. "Also ich sollte langsam wirklich Honorar dafür verlangen, ständig als Seelenklempner herzuhalten." nuschelte Gara, während er seinem Sitznachbarn einen Tee reichte, doch ihm war anzusehen, dass er nicht wirklich etwas gegen den Besuch des Gitarristen einzuwenden hatte. Vielleicht war er sogar froh darüber, dass Kaoru mit seinem Problem ausgerechnet zu ihm gekommen war, immerhin hatte sich ihre Freundschaft immer auf recht dünnem Eis bewegt, was Gara gerne ändern wollte. "Kyo hat mir schon erzählt, dass ihr euch dauernd streitet und du dich seiner Meinung nach... verändert hast. Siehst du das auch so?" Kaoru wich seinem Blick aus, nickte aber nach kurzem Zögern. "Ja, ich schätze, das kann man so sagen." Dabei beließ er es zunächst, doch als Gara nichts dazu sagte, sondern ihn nur stumm und erwartungsvoll ansah, rang er sich zu einer etwas ausführlicheren Erklärung durch. "Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist. Ich bin ständig unzufrieden und launisch, habe aber keine Ahnung, warum. Mich regen jetzt Sachen an Kyo auf, die mir früher gar nicht aufgefallen sind oder egal waren, und-" Er brach ab als Gara eine Hand hob und ihn forschend ansah. "Was genau meinst du mit 'früher'?" fragte der Sänger, woraufhin Kaoru irritiert beide Augenbrauen hob. "Na die Zeit, bevor Kyo sich von mir getrennt hatte." Ihm kam diese Frage völlig überflüssig vor und er wunderte sich, worauf sein Gegenüber, dessen abschätzender Blick ihm langsam aber sicher unangenehm wurde, hinauswollte. Gara ließ ihn auch nicht lange zappeln. "Meinst du nicht vielleicht eher die Zeit, bevor du Ryo kennengelernt hast?" Mit seiner Frage, die für Kaoru irgendwie gar nicht wie eine richtige Frage sondern eher wie eine Feststellung klang, nahm Gara dem Älteren erst mal den Wind aus den Segeln. Ehrlich überrascht blinzelte Kaoru ihn an. "Wie... wieso kommst du denn jetzt auf Ryo?" Er schien den Zusammenhang wirklich nicht zu sehen und Gara staunte, wie begriffsstutzig der eigentlich so smarte Leader in manchen Dingen sein konnte. Er musste hier wohl etwas weiter ausholen. "Weißt du, ich muss zugeben, dass ich enttäuscht von dir war, als du Ryo so einfach verlassen hast und zu Kyo zurückgegangen bist." Kaoru's Blick verfinsterte sich bei diesen Worten und er wollte schon etwas ziemlich giftiges darauf erwidern, doch Gara kam ihm zuvor. "Ich hatte ehrlich geglaubt, dass Kyo's Theorie darüber, dass du mit Ryo nur zusammen warst, weil er Kyo äußerlich ähnelt, absoluter Unsinn ist und du ihn nicht bei der erstbesten Gelegenheit einfach abservieren würdest. Als das dann aber doch passierte, habe ich stark an meiner Menschenkenntnis gezweifelt..." Dieser Gedanke störte Gara sichtlich, doch nach einer kurzen Pause fuhr er mit einem winzigen Schmunzeln fort. "Inzwischen glaube ich allerdings, dass ich doch nicht so falsch lag." Er versuchte zu erkennen, ob Kaoru langsam dämmerte, wovon er sprach, und tatsächlich schien sich der Nebel im Verstand des Gitarristen etwas zu lichten. Zumindest sah er jetzt weniger verwirrt als vielmehr wie vom Blitz getroffen aus, und Gara wunderte sich erneut, warum der Ältere nicht von selbst darauf gekommen war. Dieser fand nun auch allmählich seine Zunge wieder. "Du meinst..." "Ich meine, dass du gegenüber Ryo ein schlechtes Gewissen hast. Und was noch viel wichtiger ist: Ich glaube, du empfindest mehr für ihn, als dir tatsächlich bewusst ist." Dabei tippte Gara sich lächelnd an die Schläfe und Kaoru sah das Verständnis in den intelligenten Augen seines Gegenübers und musste unwillkürlich daran denken, wie sehr dieser Mann, den er nun schon seit so vielen Jahren kannte, sich von seiner Bühnen-Persona unterschied. Abseits des Rampenlichts war Gara einer der ruhigsten, vernünftigsten und gescheitesten Menschen, die Kaoru kannte, doch sobald der Sänger von Merry ein Mikrofon in der Hand hielt und vor Publikum stand, war er es, der dringend einen Seelenklempner brauchte. In dieser Hinsicht stand er Kyo in nichts nach… womit wir auch gleich wieder beim Thema wären. "Aber... ich liebe Kyo." wandte Kaoru ein und sah sich im Handumdrehen wieder Gara's kalkulierendem Blick ausgesetzt. Der Jüngere schien über seine nächsten Worte genau nachzudenken, und schließlich sprach er sie aus. "Bist du sicher, dass du Liebe nicht vielleicht mit Gewohnheit verwechselst?" Und damit lieferte er Kaoru das fehlende Puzzleteil, auch wenn dem Gitarristen das dadurch entstandene Bild nicht wirklich gefiel. Denn nun musste er sich damit auseinandersetzen, dass er sich lieber an etwas altem und vertrauten festgeklammt hatte, als sich etwas neuem, besseren zu öffnen. Das Verfallsdatum war abgelaufen, und er hatte es ignoriert. Doch Gara war noch nicht fertig, er wollte absolut sicher gehen, dass Kaoru sich wirklich über seine Gefühle klar wurde. "Vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, was Kyo eigentlich genau für dich ist." Kaoru, der sich inzwischen eingestand, dass das Reden mit Gara tatsächlich etwas Licht ins Dunkle brachte, richtete langsam den Blick zur Zimmerdecke und überlegt laut. "Kyo ist… Kyo ist Sex. Leidenschaft. Hingabe. Und Versuchung. Bei ihm hast du das Gefühl, dass du ihn erobern und zähmen willst, auch wenn du weißt, dass es dir nie gelingen wird. Er ist wie diese griechische Göttin, Mars oder wie die heißt." Bei diesem Vergleich verdrehte Gara die Augen, konnte sich ein belustigtes Grinsen aber nicht verkneifen. "Ähm… erlaube mir bitte, dein von Sailor Moon ruiniertes Allgemeinwissen etwas aufzupolieren. Also Mars gehört eigentlich zur römischen Mythologie, und es ist auch keine Göttin sondern ein Gott, nämlich der des Krieges. Und so, wie du Kyo gerade beschrieben hast, ist er wohl eher eine Mischung aus Mars und Venus. Aber ist das wirklich schon alles, was dir zu ihm einfällt? Denn bis jetzt klingt es so, als wäre er für dich nur ein Abenteuer oder eine Herausforderung, und es fällt mir schwer, zu glauben, dass eure jahrelange Beziehung nur darauf aufbaut. Was ist er denn noch?" Sein Gegenüber sah wieder hinauf zur Decke und runzelte nachdenklich die Stirn. "Willensstark und entschlossen. Ich schätze, dafür bewundere ich ihn ein bisschen. Wenn er ein Ziel klar vor Augen hat, dann sieht er zwar die Hindernisse, die ihm im Weg stehen, zuckt aber einfach nur mit den Schultern und stürzt sich in die Schlacht. Vielleicht ist er dabei manchmal etwas rücksichtslos und nimmt es in Kauf, dass jemand verletzt wird, aber er übertreibt es nicht. Und er sagt, was er denkt. Manchmal ist er dabei sogar so schonungslos ehrlich, dass nicht jeder damit klarkommt, aber mit solchen Leuten will er ja eh nichts zu tun haben..." Als Kaoru nichts weiter aufzählte, nickte Gara und übernahm wieder das Wort. "Zusammengefasst heißt das also, dass du Kyo begehrst, respektierst und bis zu einem gewissen Grad bewunderst. Klingt für mich zwar eher nach einer ungesunden Hentai-Männerfreundschaft als nach einer erfüllten, herzlichen Beziehung, aber da das bei euch ja über viele Jahre hinweg funktioniert hat, will ich mal nichts dagegen sagen. Worauf es jetzt ankommt, ist… was ist Ryo?" Darüber musste Kaoru nicht lange nachdenken, ihm fielen auf Anhieb gleich mehrere Attribute für den kleinen Kerl ein. Er konnte jetzt sagen, wie empfindsam und gefühlsbetont Ryo war und dass er sich manches zu sehr zu Herzen nahm. Dass er anhänglich, unsicher und überbesorgt sein konnte. Dass er hilfsbereit war und sich immer um das Wohl seiner Mitmenschen bemühte. Dass er sich nicht schämte, vor anderen zu weinen. Dass er oft weinte. Dass er öfter lachte. Dass er viele Freunde hatte. Dass er unglaublich neugierig war. Dass er vor Lebenslust sprühen und jeden um sich herum damit anstecken konnte, und dass ein Blick in seine leuchtenden Augen genügte, um selbst den grauesten Regentag in den schönsten Tag des Jahres zu verwandeln. Doch Kaoru sprach nichts davon aus, da ihm mit einem Schlag bewusst geworden war, dass all diese Eigenschaften in einem einzigen Wort zusammengefasst werden konnten. "Ryo ist Liebe." **** Am nächsten Morgen lockte der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee den Sänger Dir en grey's aus dem Schlafzimmer. Als er die Küche betrat, registrierte er, dass Kaoru mit einer Tasse am Küchentisch saß, und seufzte innerlich. Hoffentlich kamen sie wenigstens heute mal ohne Streit aus. Mit seiner eigenen gefüllten Kaffeetasse bewaffnet setzte er sich einen Moment später ebenfalls an den Tisch und wollte seinem Freund als Friedensangebot gerade einen guten Morgen wünschen, da ließ ihn etwas im Blick des Gitarristen den Mund wortlos wieder schließen. Kaoru sah ihn nicht an, er starrte stattdessen auf die Tasse in seiner Hand, und er schien sehr angestrengt über etwas nachzudenken. Man konnte förmlich hören, wie es in seinem Kopf ratterte, und obwohl er nicht wütend wirkte, blieb Kyo vorsichtshalber lieber still. Nicht, dass er aus Versehen eine erneute Auseinandersetzung provozierte, denn dann würde er Kaoru leider den Kopf abreißen müssen. Also trank der Sänger einfach seinen Kaffee. Oder hatte es zumindest vor, denn gerade, als er den ersten Schluck nehmen wollte, wurde sein Gegenüber plötzlich lebendig und schaute ihn an. "Kyo, warum wolltest du eigentlich wieder mit mir zusammen sein?" Oha. Daher wehte der Wind also. Na das konnte ja fast nur wieder im Desaster enden. Kurz überlegte Kyo, ob er noch schnell seinen Kaffee trinken sollte, entschied sich aber dann doch dagegen. Wozu das Unvermeidliche hinauszögern? "Ich dachte, das hätten wir damals schon geklärt." lautete seine Antwort, die Kaoru natürlich alles andere als zufrieden stellte. Der Gitarrist stützte sein Kinn auf eine Hand und schüttelte nachdenklich den Kopf. "Nein, du hast mir damals nur erklärt, dass du meinen 'Hilfeschrei' gehört hast. Und den hättest du immerhin auch einfach ignorieren können. Also, warum hattest du plötzlich wieder Interesse an mir?" Kaoru hatte nicht ganz Unrecht, das musste Kyo zugeben, und so rückte er endlich mit dem Grund für seinen Sinneswandel heraus. "Weil ich annahm, dass du mich nach unserer Pause wieder mehr zu schätzen wissen würdest und wir wieder miteinander statt nur nebeneinander leben könnten. Dass es so sein würde wie früher." Kaoru reagierte darauf nur mit einem kleinen Nicken, er schien mit dieser Antwort gerechnet zu haben, und nun war es an Kyo, den Gitarristen nachdenklich anzusehen. "Aber es funktioniert nicht, stimmt's?" Es war eigentlich keine Frage, und das wussten sie beide. "Nein, tut es nicht." stimmte der Ältere ihm wenige Sekunden später resigniert zu. "Wir haben uns da wohl beide etwas eingeredet." "Dann kommt jetzt wahrscheinlich der Teil, in dem du mit mir Schluß machst?" fragte Kyo ohne jede Wut oder Enttäuschung und Kaoru nickte erneut. "Es sei denn, dir fällt etwas besseres ein?" Nun endlich genehmigte sich der Sänger einen Schluck aus seiner Tasse, schloß dabei kurz die Augen und sah dann wieder hinüber zu Kaoru. "Nein, ich glaube auch nicht, dass das mit uns beiden noch einen Sinn hat. Und ich bin ehrlich gesagt sogar ein bisschen erleichtert." Statt beleidigt zu sein, antwortete Kaoru darauf mit einem entschuldigenden Lächeln, und Kyo begann sich zu fragen, wie der Gemütszustand des Gitarristen in der vergangenen Nacht diese 180°-Drehung hinbekommen hatte. "Ich war ein ziemliches Ekel, nicht wahr?" murmelte Kaoru leicht beschämt und Kyo konnte trotz der Umstände nicht anders, als breit zu grinsen. "Das würde ich glatt die Untertreibung des Jahrhunderts nennen." Auch der Ältere musste nun grinsen, und mit einem Mal war es so, als hätte es die letzten zwei Monate gar nicht gegeben und sie konnten wieder ganz entspannt miteinander umgehen. "Na hoffentlich bekommen Die und Totchi nicht wieder einen Nervenzusammenbruch, wenn wir es ihnen sagen. Aber wenigstens sind wir uns dieses Mal einig. Und du wirst jetzt wahrscheinlich postwendend zu Ryo gehen und ihn auf Knien rutschend anflehen, dich zurückzunehmen, oder?" hakte Kyo augenzwinkernd nach, doch da schüttelte Kaoru den Kopf und sein Grinsen verschwand. "Nein, das wäre zwecklos. Erstens glaube ich nicht, dass er mir verzeihen würde, zweitens hat er gerade noch genug andere Probleme, und drittens meinte Gara, mir würde eine längere Beziehungspause mal ganz gut tun." Bei diesen letzten Worten verschluckte Kyo sich fast an seinem restlichen Kaffee. "Moment mal, halt! Gara? Was hat denn ausgerechnet Gara jetzt damit zu tun?" wollte er sofort wissen und wurde gleich darauf Zeuge, wie Kaoru leicht errötete, die Arme vor der Brust verschränkte und trotzig auf die Tischplatte stierte. "Naja, ich war gestern Abend bei ihm, um ihn um Rat zu fragen, und er-" Weiter kam der Gitarrist nicht, und es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis Kyo sich von seinem Lachanfall erholt hatte. **** 3 Jahre später Die Sonne wanderte erst zu seinem Ohr, dann wärmte sie seine Wange und kitzelte ihn schließlich an der Nase, woraufhin Kaoru endlich die Augen öffnete und selig lächelte. Wie eine Katze streckte er alle Viere von sich, gähnte herzhaft und dachte einmal mehr darüber nach, wie sehr er diesen Winter doch liebte. Kein Stress, keine Termine, keine Tour, keine Aufnahmen, nichts! Er hatte monatelang frei, und das war nach dem letzten Jahr auch mehr als verdient. Immerhin hatten Dir en grey 2007 ihr 10-jähriges Bandjubiläum gefeiert, und das hatte unter anderem mehrmonatiges Touren durch Japan, die USA und Europa bedeutet. Zusätzlich waren sie auf diversen Festivals aufgetreten und hatten ganz nebenbei noch eine Single, ein Album und ein Best-of-Album veröffentlicht. So sehr der Gitarrist seine Band und das Touren auch liebte, so war er doch heilfroh, dass es nun endlich geschafft war. Ihr letztes Konzert hatten sie vor reichlich vier Wochen, am 25. Dezember, gegeben, und seitdem genoß Kaoru das süße Nichtstun, an das er sich erst wieder hatte gewöhnen müssen. Für heute stand ein ausgedehnter Besuch in seinem Lieblingsplattenladen auf dem Programm, Frühstück würde er sich unterwegs besorgen, und da das Wetter mitzuspielen schien, dachte er auch an einen Spaziergang über die Rainbow Bridge hinüber nach Odaiba. Aber dazu musst er er erst einmal aufstehen, also schwang sich der Gitarrist aus dem Bett und schlenderte gut gelaunt in's Bad. Eine knappe halbe Stunde später warf er sich im Flur eine dicke Jacke über, schlüpfte in seine Stiefel und wollte gerade nach dem Wohnungsschlüssel greifen, als es an der Tür klingelte. Überrascht öffnete er sie und war gleich noch um einiges überraschter, denn er hatte nicht damit gerechnet, den jungen Mann, der da stand, je wiederzusehen. "Hallo." nuschelte Kei und wirkte auch nicht sonderlich begeistert über seine Anwesenheit. Missmutig starrte er Kaoru an; es war offensichtlich, dass er immer noch nicht gut auf den Älteren zu sprechen war, selbst nach so langer Zeit. Aber was wollte er dann hier? "Hallo Kei," erwiderte Kaoru also, "lange nicht gesehen. Kann ich was für dich tun?" Da veränderte sich der abweisende Ausdruck in Kei's Augen, seine Schultern sackten ein wenig nach unten und er wirkte plötzlich sehr erschöpft. "Nein, für mich kannst du nichts tun, aber..." Er zögerte kurz. "Ryo schickt mich." Kaoru drehte sich um und schloß seine Wohnungstür ab. "Und warum schickt er dich? Bist du sein Laufbursche, oder warum kommt er nicht selbst?" Seine Worte waren zwar nicht besonders feinfühlig, aber er hatte ganz gewiss nicht vor, auf ewig für seine Tat vor drei Jahren vor dem Jüngeren zu Kreuze zu kriechen. Als er sich wieder zu eben diesem umdrehte, schäumte Kei zwar innerlich vor Wut, zwang sich aber bei dem Gedanken daran, weshalb er hier war, zivilisiert zu bleiben. Falls Kaoru sich weigerte, konnte er ihm ja immer noch seine Meinung auf's Butterbrot schmieren. "Ich wünschte, er hätte selber kommen können, aber Ryo ist im Krankenhaus." Zu seiner Erleichterung stellte Kei fest, dass Kaoru sofort ernst und besorgt aussah - er hatte fast damit gerechnet, dass es dem Älteren egal sein würde. "Was ist mit ihm? Ist er verletzt?" wollte dieser sofort wissen, und da ließ Kei die zweite Bombe platzen. "Nein, er ist nicht in der Notaufnahme oder so. Er ist... auf der psychiatrischen Station." **** Kaoru mochte keine Krankenhäuser, und er war noch nie auf einer psychiatrischen Station gewesen. Entsprechend unwohl fühlte er sich, als er das Foyer des abgesonderten Gebäudeflügels betrat und sich der Rezeption näherte. 'Hier scheinen sich keine Patienten aufzuhalten, zumindest sehen die Leute auf den Wartestühlen ziemlich normal aus.' Bei diesem Gedanken tadelte er sich sofort für seine Ignoranz, denn dem Gitarristen war eigentlich schon bewusst, dass die wenigsten Menschen mit psychischen Problemen wie im Film schreiend und in Zwangsjacke durch die Gegend liefen. Es war nur eben ein Thema, das in Japan eher vermieden und totgeschwiegen wurde. Aber er hatte sich vorgenommen, Ryo ohne Vorurteile gegenüberzutreten und ihm, soweit es Kaoru möglich war, zu helfen. An der Rezeption angekommen, musste er sich noch einen Moment gedulden, bis eine Schwester Zeit für ihn hatte. "Guten Tag, Sie wünschen?" begrüßte sie ihn schließlich und Kaoru erklärte ihr, dass er ein Bekannter von Ryo Kodama war und ihn sprechen wollte. Es sei Teil der Therapie. Die Krankenschwester wies ihm daraufhin den Weg zu einem Besuchszimmer im hinteren Teil des Traktes und das war dann auch recht schnell gefunden. Die Tür hatte ein kleines Sichtfenster, damit die Patienten immer überwacht werden konnten, aber der Gitarrist blieb zunächst auf Abstand und sah nicht hindurch. Er war inzwischen doch ein wenig nervös geworden, schließlich wusste er nicht, was ihn gleich erwartete, denn darüber hatte Kei geschwiegen, genau wie über die Gründe, warum genau Ryo hier war. Wenn Kaoru es also wissen wollte und kein Angsthase war, dann musste er durch diese Tür gehen und es selbst herausfinden. Langsam näherte er sich und schaute nach einem erneuten kurzen Zögern durch das kleine Fenster, ohne zu merken, dass er dabei den Atem anhielt. Doch was er sah, erleichterte ihn schon mal. Ryo saß in einem großen Sessel, hatte die Beine übereinander geschlagen und zupfte an einer Akustikgitarre. Dabei sah er gedankenverloren aus einem großen Fenster, das fast die gesamte gegenüberliegende Wand einnahm. Der Sänger schien sich, soweit Kaoru das von hier aus beurteilen konnte, in den vergangenen drei Jahren zumindest äußerlich kaum verändert zu haben; seine Haare waren nur ein wenig kürzer und er wirkte etwas schmaler. Das konnte aber auch an dem riesigen Sessel liegen. Also keine ausgerissenen Haare, kein Schreien und Fluchen, keine Zwangsjacke. Nur Ryo. Mit neuem Mut ausgerüstet klopfte Kaoru nun endlich an die Tür und betrat das Zimmer. Ryo machte noch keine Anstalten, seine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen, sondern schaute weiter aus dem Fenster, nur seine Finger hatten aufgehört, zu spielen. Also nahm der Ältere erst einmal ihm gegenüber auf einem der Stühle Platz, und es dauerte auch nur wenige Sekunden, bis Ryo seine Augen von der Aussicht losriss und ihn ansah. Das schien ihn allerdings einiges an Überwindung zu kosten, er lächelte auch nicht, und wenn man darüber nachdachte, war das absolut verständlich. Immerhin hatten sie sich das letzte Mal gesehen, als er Kaoru zusammen mit Kyo quasi in flagranti erwischt hatte. Der Gedanke daran bescherte Kaoru erneut Gewissensbisse, auch wenn er mit diesem Kapitel eigentlich abgeschlossen hatte - für ihn war das offensichtlich einfacher gewesen als für Ryo, denn sonst wäre Kaoru heute nicht hergebeten worden. "Hey." war alles, was der Jüngere zur Begrüßung sagte, und seinem Gegenüber wurde klar, dass das hier kein simpler kleiner Plausch werden würde. Ryo's Blick wirkte nicht direkt leer, aber irgendwie dumpf und resigniert, ganz anders, als Kaoru ihn von damals in Erinnerung hatte. Damals, als Kaoru's Anblick Ryo immer zum Strahlen gebracht hatte... "Hallo Kleiner." erwiderte der Gitarrist schließlich mit einem kleinen Lächeln und beobachtete im nächsten Moment, wie Ryo überrascht die Stirn runzelte. Das war offenbar nicht der beste Start gewesen. "Tut mir leid, ich hätte dich nicht so nennen sollen." entschuldigte Kaoru sich eilig, doch Ryo schien sich schon wieder gefangen zu haben und winkte ab. "Schon gut, nicht weiter wild, das kam nur etwas... unerwartet." Er sah Kaoru prüfend an. "Ich nehme an, Kei hat dir erzählt, worum es geht?" Der Gitarrist nickte. "Er hat gesagt, dass es in deiner Therapie darum geht, dich mit traumatischen Erlebnissen aus deiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, damit du sie endlich richtig verarbeiten kannst." wiederholte er Kei's Erklärung praktisch Wort für Wort, dann stutzte er und runzelte seinerseits die Stirn. "Er hat mir allerdings nicht gesagt, wogegen du eigentlich therapiert wirst." Die offene Frage schwebte einen Moment lang im Raum, dann atmete Ryo hörbar aus und antwortete "Ich wurde vor drei Wochen wegen schwerer Depressionen eingeliefert." Das war es also. Kaoru kannte sich mit Depressionen zwar nicht besonders aus, aber ihm war zumindest bewusst, dass das nichts war, worüber man schnell hinweg kam. Wenn man denn überhaupt jemals ganz darüber hinweg kam. Bei diesem Gedanken spürte Kaoru Trauer in sich aufsteigen und er sah Ryo plötzlich mit anderen Augen, als würde ihm erst jetzt richtig klar werden, mit wem er hier eigentlich sprach. Würde dieser junge Mann, mit dem er zumindest eine Zeit lang sehr glücklich gewesen war und dessen Charakter er einst mit dem Wort 'Liebe' zusammengefasst hatte, vielleicht nie mehr wiederkehren? War seine Lebensfreude wirklich derart zerstört worden? Und- "Bin ich schuld?" kam es schon fast geflüstert aus dem Mund des Gitarristen und er machte sich innerlich darauf gefasst, mit der Antwort für immer leben zu müssen. Unsicher sah er Ryo in die Augen, suchte darin nach einer Anklage, nach Hass, nach Wut oder Enttäuschung, fand aber nichts davon. Er fand überhaupt nichts, und das war eigentlich sogar noch schlimmer. Ryo erwiderte einfach nur nachdenklich seinen Blick und antwortete schließlich "Nein, bist du nicht." Doch dann schlich sich ein trauriges kleines Lächeln auf sein Gesicht. "Du hast es mir aber auch nicht gerade leichter gemacht." Da seufzte Kaoru und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. "Nein, das habe ich ganz bestimmt nicht. Es tut mir so leid, Ryo..." "Warum hast du es getan?" entgegnete der Jüngere da wie aus der Pistole geschossen und mehr und mehr Gefühle schienen sich in ihm zu regen, die er oder vielleicht auch Medikamente bis jetzt unterdrückt hatten. Das kleine Lächeln war weg, dafür wirkte er nun verwirrt und enttäuscht. "Warum hast du mich betrogen, wo doch alles so gut lief zwischen uns, und dann auch noch mit jemandem, den du schon ewig kennst? Das macht doch überhaupt keinen Sinn!" Der Sänger hatte also nie auf irgendeinem Weg erfahren, dass Kaoru und Kyo zuvor jahrelang zusammengewesen waren, und tappte noch genauso im Dunkeln wie damals vor drei Jahren. Kaoru war nicht sicher, wie er darauf antworten sollte. Er rief sich in's Gedächtnis, was Kei ihm mit auf den Weg gegeben hatte: "Sei ehrlich, aber nicht brutal ehrlich. Wenn es etwas ist, dass ihn wirklich schwer verletzen würde, dann versuch es ihm schonend beizubringen. Oder lass es am besten gleich ganz weg." Also versuchte der Gitarrist sein Glück auf einem kleinen Umweg. "Das wollte ich dir damals erklären, aber nachdem ich von Kei erfahren hatte, was zu der Zeit noch alles passiert war und wie fertig du warst, hielt ich es für keine gute Idee mehr." Er konnte sich noch genau an diese kleine Szene vor Ryo's Wohnungstür erinnern, doch jetzt wünschte Kaoru, er hätte an diesem Tag doch noch mit Ryo gesprochen. Wie zur Bestätigung meinte dieser nun traurig "Ich hätte es schon überlebt, von dir die Wahrheit zu hören. Immer noch besser, als sich monatelang beschissen zu fühlen. Ich sag dir eins, betrogen zu werden kann einem ganz schön das Selbstbewusstsein kaputtmachen." Das glaubte Kaoru dem Sänger auf's Wort. "Und du denkst wirklich, dass es dir hilft, jetzt alles zu erfahren?" Darauf reagierte sein Gegenüber nur mit einem ernsten Nicken, und Kaoru blieb nichts anders übrig, als die ganze Geschichte von Anfang an und mit jeder unangenehmen Wahrheit zu erzählen. Als er damit fertig war, fühlte er sich wieder genauso elend wie an dem Tag, als ihm auf Gara's Couch klar geworden war, was genau er mit Ryo verloren hatte. Und dass er es wohl nie zurückbekommen würde. Was der Sänger hingegen gerade empfand, das konnte Kaoru nicht erkennen. Ryo hatte sich Kaoru's Vortrag stumm angehört und nicht ein einziges Mal auch nur einen Ton von sich gegeben, nicht einmal, als der Gitarrist all die angeblichen Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Kyo erwähnt hatte. Und auch jetzt sagte er nichts sondern schien durch den Älteren hindurchzusehen. "Ryo?" fragte Kaoru schließlich vorsichtig, woraufhin Ryo blinzelte, als hätte man ihn aus einem Traum gerissen. "Oh Mann..." murmelte er nur, er hatte das Gesagte offenbar noch nicht vollständig verdaut, also blieb Kaoru wieder still und wartete ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit fand Ryo dann doch die Sprache wieder. "Wenn das alles stimmt, dann... dann hast du mich also nicht betrogen, weil ich dir nicht gut genug war, sondern-" "Sondern weil ich ein begriffsstutziger Idiot war, der den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hat." vollendete Kaoru den Satz und sah Ryo schuldbewusst an. "Es tut mir wirklich unendlich leid, Kleiner. Du warst der Hauptpreis, und ich hab es einfach nicht gemerkt." Und seine Worte schienen wie Balsam auf Ryo's vernarbte Seele zu wirken, jedenfalls fand das verloren geglaubte Lächeln den Weg zurück auf sein Gesicht und er erwiderte schon beinahe schelmisch "Nach allem, was ich gerade über dich erfahren habe, müsstest du eigentlich schon fast mir leid tun." Erleichtert über diese unerwartet positive Reaktion auf sein Geständnis, merkte Kaoru, wie langsam Hoffnung in ihm aufkeimte. Vielleicht konnte dieser Therapieansatz Ryo wirklich helfen, sich aus dem schwarzen Loch, in das er gefallen war, zu befreien und wieder auf Dauer gesund zu werden. Kaoru wünschte es ihm jedenfalls von ganzem Herzen. Doch da war auch noch eine andere Hoffnung, die nun wieder zaghaft an seinem Bewusstsein anklopfte, nachdem er sie vor Jahren zusammen mit diesem ganzen Schlamassel begraben hatte. Und auch jetzt versuchte er sie zu unterdrücken, immerhin war ihr Timing diesmal sogar noch schlechter als damals, doch so richtig wollte es ihm heute nicht gelingen. Nun ja, vielleicht blieb man ja in Kontakt, und wenn es Ryo irgendwann mal besser ging... Er wurde aus seinen Gedanken gerissen als es plötzlich klopfte und gleich darauf ein Arzt seinen Kopf zur Tür reinsteckte. "Entschuldigen Sie die Störung, Herr Kodama, aber es wird Zeit für unsere Sitzung." Dabei wies er auf die Uhr an der Wand und Ryo nickte. "In Ordnung, ich bin gleich da." Dann waren sie wieder allein und Ryo lehnte die Gitarre, welche er die ganze Zeit über wie einen Rettungsanker auf seinem Schoß behalten hatte, gegen den Sessel und stand auf. Kaoru tat es ihm gleich, doch bevor er sich von dem Jüngeren verabschieden konnte, überraschte dieser ihn mit einer unerwarteten Bitte, der Kaoru aber sehr gern nachkam. "Nur für den Fall, dass mir noch Fragen einfallen sollten." murmelte Ryo, während Kaoru seine Handynummer auf das Cover einer Zeitschrift, die auf dem kleinen Beistelltisch gelegen hatte, schrieb. Dabei unterdrückte der Gitarrist erfolgreich ein Schmunzeln, und die weggeschubste kleine Hoffnung in seinem Inneren wedelte aufgeregt mit einem Fähnchen. "Kein Problem, du kannst mich jederzeit anrufen, egal, was los ist." versicherte er dem Sänger und gab ihm die Zeitschrift mit der Nummer, dann wünschte er ihm noch gute Besserung und ging zur Tür. Einen Moment stand er davor, ohne sie zu öffnen, dann drehte er sich noch einmal zu Ryo um und lächelte. "Vielleicht können wir ja irgendwann mal wieder in's Aquarium gehen." Überrascht und etwas unsicher blinzelte Ryo ihn an, und der Ältere fürchtete schon, damit einen Schritt zu weit gegangen zu sein, doch schließlich entspannte Ryo sich sichtlich und brachte sogar wieder ein vages Lächeln zustande. "Ja, vielleicht." Damit musste Kaoru sich im Moment begnügen, aber das war für ihn auch vollkommen in Ordnung. Es war nicht perfekt. Aber es war ein Anfang. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)