Ayashi - Der Weg zur Wahrheit von abgemeldet ((überarbeitet)) ================================================================================ Kapitel 139: ------------- Es war ein warmer Samstagnachmittag im Juni – der zweite Juni, seitdem sie aus dem Koma erwacht war - und Ayashi saß im Garten unter einem Baum, unter dem der Schatten und das Licht, das durch die Blätter auf den Boden fiel, ausgelassen miteinander zu spielen schienen, wenn ein leichter Lufthauch die Baumkrone und die feinen Äste bewegte. Aufmerksam sog Ayashi den Duft von frischem Gras und leicht feuchter Erde in sich ein und lauschte mit geschlossenen Augen genau auf ihre Umgebung. In der Ferne rauschte mit einem dumpfen Geräusch der städtische Verkehr vorbei, doch Ayashi blendete dieses Geräusch aus und konzentrierte sich auf das Vogelgezwitscher und das Rascheln der Blätter und der Grashalme, die durch den Wind bewegt wurden. Es war alles so friedlich und sie fühlte sich genau an diesem Ort wohl und ruhig. Sie liebte die Natur so sehr. Sie suchte sie regelrecht. War das auch schon vor ihrem Unfall und dem Koma so gewesen? War sie schon immer ein ‚Naturkind’ gewesen? Sie konnte es unmöglich sagen, aber irgendetwas in ihr sagte ihr, dass sie ohne die Natur und ohne die Verbindung zu ihr kein vollständiges Wesen sein konnte. Ayashi mochte es auch, allein zu sein, weshalb sie auch nicht selten die Einsamkeit suchte. Menschen hatte Ayashi in den letzten Monaten soweit es ging gemieden und nur Kontakte mit den Leuten aufrechterhalten, die sie schon vor ihrem Unfall näher gekannt hatte. Neue Bekanntschaften hatte sie überhaupt nicht gesucht. Woher kam dieser Charakterzug? Sie hatte Freundinnen, die sich auch in den letzten Monaten nicht davon abschrecken hatten lassen, dass sie ihnen auch öfters unter dem Vorwand des Lernens absagt hatte, also musste sie einmal kontaktfreudiger gewesen sein. ‚In einem anderen Leben’, schoss es Ayashi den Kopf, worauf sie diesen unwillig schüttelte. Immer wieder hatte sie solche Blitzgedanken, bei denen ihr ein Schauer über den Rücken lief, als sei das, was sie gerade gedacht hatte, eine wichtige Erkenntnis, die endlich wieder den Stellenwert und die Aufmerksamkeit erlangen wollte, die sie so lange vermisst hatte. Doch es half nicht: Ayashi wehrte sich. Ayashi hatte irgendwann aufgegeben, bestimmte Lücken in ihrem Gedächtnis mit Wissen und Erinnerung füllen zu wollen. Es gelang ihr nicht. Natürlich wusste das niemand außer ihr. Alle dachten, sie sei wieder völlig hergestellt, doch es gab immer noch Dinge, die hinter einem dichten Schleier verborgen lagen…. Wie zum Beispiel den Ursprung der Kette, die sie seit jenem Abend nur zum Schulsport ablegte. Ayashi fasste zwar unwillkürlich an das Schmuckstück, doch lenkte ihre Gedanken eisern wieder zu ihren Freundinnen Yukiko, Aoko, Suki und Minami, die hinnahmen, wenn Ayashi ihnen absagte, und es auch in gewissem Maß entschuldigten, da sie wussten, dass Ayashi die Schule sehr ernst nahm. Diese Ausrede fiel nun weg, das wusste Ayashi, denn seit knapp einer Woche waren die Abschlussprüfungen geschrieben worden. Gestern waren die große Zeugnisausgabe und das offizielle Abschlussfest gewesen. Es kam Ayashi immer noch alles unwirklich vor, doch die Schule und die letzten Monate harter Anstrengung waren tatsächlich vorbei. Theoretisch waren die ehemaligen Schüler nun für das Leben vorbereitet, das wollten zumindest die Schulleitung und die Familien glauben. Mit Eifer und Ehrgeiz schmiedeten die Absolventen nun alle ihre wichtigen Pläne für die Zukunft, wenn sie nicht gleich Universitätsplätze antreten würden, die ihre Eltern bereits im Kindergartenalter für ihre Sprösslinge reserviert hatten. Ayashi hatte ebenfalls Anspruch auf einen solchen Platz, doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie damit sollte. Sehr zum Leidwesen von Yoko und Taka, die ihr seit mehreren Wochen in den Ohren lagen, sie solle endlich entscheiden, welche Richtung ihr Leben nach der Schule einschlagen sollte. Ja, nun begann für sie alle wirklich eine Zukunft, deren Existenz Ayashi in den letzten Monaten immer ein wenig verdrängt hatte. Von ihrem Sitzplatz aus hörte Ayashi, dass es an der Haustür klingelte, doch vertraute darauf, dass Taka den Besuch schon hereinlassen würde. Entspannt lehnte sie den Kopf gegen den Baumstamm und schloss die Augen. Sie wusste, wer kam, aber sie hätte die Stimmen auch so leicht gehört und gleich erkannt, obwohl sie nicht laut waren. Ayashis hatte nach ihrem Unfall festgestellt, dass sie viel besser als alle andere zu hören schien, doch schnell gemerkt, kein Wort mehr darüber zu verlieren, wenn sie das Müllauto hörte, obwohl das noch vier Straßen entfernt war. Wie zur Bestätigung hörte Ayashi nun beschwingte Schritte durch das Haus hallen und auf die Terrasse und schließlich über den Rasen treten. Vier Paar Füße. Alle barfuß in Sandalen und Sandaletten. Erst Yukiko. Dann Minami. Und Suki und Aoko ein wenig hinter den ersten beiden. „Hallo, Ayashi!“ riefen sie und Ayashi öffnete die Augen, um festzustellen, dass sie Recht gehabt hatte. „Hallo! Was macht ihr denn hier?“ wollte sie wissen, da kein Treffen verabredet war, doch ihre Freundinnen setzten sich grinsend, gut gelaunt und fröhlich zu ihr ins Gras. „Ich dachte, wir sollten uns noch einmal wegen unserer Abschlussfahrt besprechen… Wer was mitnimmt… und so weiter.“ meinte Aoko und zupfte ein Grashalm aus dem Rasen, um es wenige duzend Zentimeter weiter wieder fallen zu lassen. Die Abschlussfahrt. Natürlich. Die lag nun noch vor ihr. Ayashi atmete unmerklich tief durch, während sie sich fragte, wie die Fahrt werden würde. Einerseits freute sie sich, denn es war immerhin ihre Abschlussfahrt, und damit die letzte Gelegenheit, noch einmal wirklich Zeit mit ihren Freundinnen zu verbringen, bevor alle mehr oder weniger getrennte Wege gingen und es eher unrealistisch war, dass sie es regelmäßig schaffen würden, sich zu sehen. Andererseits jedoch hatte sich an ihrem seltsamen Gefühl gegenüber Gesellschaft seit dem Unfall ja nichts geändert, obwohl sie das so gehofft hatte. Sie fühlte sich auch bei ihren Freundinnen nicht recht zugehörig, was zum Glück bisher keine von ihnen bemerkt hatte. „Nun?“ fragte Minami, worauf Ayashi aus ihren Gedanken schreckte. „Hatten wir das nicht schon besprochen?“ wollte Ayashi wissen, da sie sich nicht nur an ein derartiges Pläneschmieden erinnerte. „Teilweise, aber noch längst nicht alles.“ grinste Minami und fuhr fort: „Also, wir hatten besprochen, dass wir alle unsere Musik mitbringen, die wir so eben hören. Aoko bringt noch ihre kleinen Lautsprecher für die beiden Zimmer mit. Haben wir eigentlich schon abgemacht, wer mit wem ins Zimmer geht? Es sind ja Dreibettzimmer.“ „Ich glaube, Suki und du sollten auf jeden Fall in dasselbe Zimmer gehen. Dann könnt ihr euch so richtig vorschwärmen, wie toll Heiji und Kenjiro sind.“ meinte Yukiko im Scherz, sodass es ihr keine von den Angesprochenen verübelte. „Sehr witzig!“ lachte Suki und schüttelte den Kopf. „Nein, im Ernst.“ „Ich glaube, das war Yukikos Ernst.“ gab Ayashi amüsiert zurück und fuhr fort: „Sollen wir das nicht vor Ort spontan entscheiden? Wir haben ja an mehreren Orten Übernachtungen… und können uns ja auch abwechseln… Wann fahren wir eigentlich los?“ „In zwei Tagen. Montag.“ meinte Aoko und sah zur Terrasse, weil Taka mit einem Tablett mit Gläsern aus dem Haus trat. „Ja, das war mir auch klar, danke! Ich meinte die Uhrzeit.“ gab Ayashi zurück, erhob sich, um Taka das Tablett wenigstens abzunehmen, nachdem sie ihren Gästen schon nichts angeboten hatte, und kam zurück. „Um 8 Uhr sollen wir am Flughafen sein. Zu blöd, dass Sakaida mitgeht. Ohne Lehrer wäre es besser.“ entgegnete Minami und fügte hinzu: „Wir haben aber zum Glück den ersten Nachmittag zu unserer freien Verfügung. Dann können wir schon einmal die Stadt unsicher machen.“ Ayashi nickte und schmiedete dann mit ihren Freundinnen noch weitere Pläne, wobei sie sich schon überlegte, was sie alles einpacken musste. Irgendwie freute sie sich doch schon auf ihre Reise durch Japan. Ayashi konnte kaum glauben, wie schnell die Zeit verging. Es kam ihr vor, als sei sie erst am gestrigen Tag am Flughafen gestanden, um mit ihrer Klasse und ihrem Lehrer Herrn Sakaida nach Osaka zu fliegen, doch das war bereits am Montag gewesen und nun war schon Sonntag. Vielleicht lag ihr verändertes Zeitgefühl daran, wie viel sie in den paar Tagen gesehen hatte. In Osaka hatten sie den ersten Nachmittag wie geplant zur freien Verfügung gehabt und natürlich hatten Ayashi und ihre vier Freundinnen die Stadt schon einmal erkundet, bevor es am nächsten Tag zur Burg von Osaka, zu den beiden Shinto-Schreinen Sumiyoshi-Taisha und Osaka Tenman-gu und auf den Aussichtsturm Tsutenkaku gegangen war. Von Osaka aus war die Reise dann Richtung Kobe fortgesetzt worden. Dort hatten sie China-Town, das Nankin-Machi, und die ehemaligen Ausländersiedlung Kitano, wo heute noch die Häuser der amerikanischen und europäischen Einwanderer der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts in entsprechendem Stil standen, besucht. Anschließend hatte Ayashi die Besichtigung der modernen Akashi-Kaikyo-Brücke als sehr krassen Kontrast empfunden, doch es war trotzdem beeindruckend gewesen, und auch das Kosetsu Kunstmuseum war ein schöner Abschluss eines gut durchgeplanten Tages geworden. Der zweite Tag in Kobe hatte wieder mit der Besichtigung von Shinto-Schreinen begonnen, nämlich dem Ikuta-Schrein, dem Minatogawa-Schrein und dem Nagata-Schrein, ehe sie am Nachmittag den chinesischen Tempel Kanteibyo, die Nunobiki-Wasserfälle und den Nunobiki-Kräutergarten besucht hatten. Relativ früh am Freitagmorgen waren sie mit dem Bus weitergefahren, über Ayajijima und die große Seto-Brücke auf die Insel Shikoku, über die sie vor allem wegen der Landschaft reisen wollten. In der Mittagspause hatten sie in Sakashita gehalten und noch einen Shinto-Schrein, den Shiogama-Jinjya, angesehen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich Ayashi gefragt, wie viele Schreine sie noch sehen würde, doch sie hatte nichts gesagt. Andere Schüler und Schülerinnen hatten schon gemeckert und mehr Zeit zur freien Verfügung gefordert – unter anderem auch Aoko und Yukiko, die unbedingt noch eine Shopping-Tour machen wollten. Nach dem Versprechen Sakaidas, dass in Okayama kein Schrein besichtigt werden würde, waren sie nach Okayama weitergefahren. Dort besichtigten sie am ersten Tag einen der drei berühmtesten Gärten Japans, den Koraku-en, der im Jahr 1700 vollendet worden war, und am zweiten Vormittag die Burg in Okayama. Den Nachmittag hatten sie frei und Yukiko und Aoko konnten die anderen drei zu ihrer ersehnten Shopping-Tour überreden, denn die Geschäfte waren ja auch sonntags mindestens bis 20 Uhr geöffnet. Ayashi wusste nicht genau, wie oft sie schon ein einem der vielen kleinen Straßenstände im Einkaufsviertel stehen geblieben waren, doch es war ihr auch gleichgültig. Während Yukiko und Aoko mit Eifer und Begeisterung nach allen möglichen Souvenirs suchten, inspizierte Minami die Postkarten, die sie eigentlich schon in Osaka hatte schreiben wollen. Ayashi und Suki betrachteten die kitschigen Tücher, Schneekugeln, Porzellanfigürchen, Untersetzer, Scherzartikel und den übrigen Krimskrams eher skeptisch, doch amüsierten sich trotzdem. Plötzlich fühlte sich Ayashi, als würde sie beobachtet. Sie spürte das Augenpaar in ihren Rücken bohren. Langsam ließ sie ihre Hand sinken und legte den Kühlschrankmagnet in Form des Fuji zurück in den kleinen Korb zu seinen Artgenossen, ehe sie sich suchend umdrehte. Natürlich stand niemand hinter ihr und blickte sie an, doch weshalb fühlte sie sich dann so seltsam. „Was ist los, Ayashi?“ fragte Suki und blickte in die Richtung, in die auch ihre Freundin mit starrem, angestrengtem Blick sah. „Nichts.“ entgegnete Ayashi nach kurzem Zögern. „Nichts, ich dachte nur, ich… Ach, nichts!“ fügte sie hinzu und wandte sich wieder dem Souvenir zu, während das Gefühl tief in ihren Knochen stecken haften blieb. Dann huschte ein grauer Schatten schnell zwischen den drehbaren Ständen von Sonnenbrillen und Armbändchen mit Namen vorbei, der wieder Ayashis volle Aufmerksamkeit auf sich zog. „Hast du das gesehen?“ fragte sie Suki, die immer noch neben ihr stand. „Was? Hast du etwas gefunden, das du kaufen willst? Ich glaube, ich nehme die hier. Die ist irgendwie süß.“ erwiderte die Freundin und hielt Ayashi eine kleine rosafarbene Puppe mit Puschelhänden und Puschelfüßen und knalligem, pinkfarbenem Haar hin. Ayashi blickte Suki verwirrt an, schaffte es aber, den Kopf zu schütteln. „Nein, da war ein Schatten.“ erklärte sie, während sie noch zusätzlich auf genau die Stelle deutete, wo sie den Schatten gesehen hatte. Suki zog eine Augenbraue hoch, blickte erst auf die gezeigte Stelle und dann in den Himmel. „Es wird eine Wolke gewesen sein, die sich kurz vor die Sonne geschoben hat. Oder eine Lichtreflexion eines vorbeifahrenden Fahrrads. Oder so etwas in der Art. Auf jeden Fall habe ich nichts gesehen.“ „Hm.“ machte Ayashi nur und schaute sich die Puppe, die Suki in der Hand hielt, genauer an. „Ist die etwa für dich?“ „Nein, natürlich nicht.“ lachte Suki. „Die will ich meiner kleinen Cousine Cho mitbringen.“ Ayashi nickte, doch ehe sie etwas erwidern konnte, folgte ihr Blick unwillkürlich einem sich bewegenden Körper, dessen Bewegung sie nur aus dem Augenwinkel gesehen hatte. Sie konnte sich das doch nicht alles einbilden!, dachte sie und erspähte im nächsten Moment auf der anderen Straßenseite einen großen, grauen Wolf, der sie mit seinen gelben, schimmernden Augen direkt fixierte. „Siehst du! Da!“ rief Ayashi, stieß Suki an und wandte sich nur für einen kurzen Augenblick ihrer Freundin zu, um zu sehen, ob sie deren Aufmerksamkeit auch wirklich hatte. „Erschreck’ mich doch nicht so! Was denn?“ rief Suki aufgeregt zurück. „Ein Wolf!“ stieß Ayashi aus, doch das Tier war verschwunden. „Ein Wolf? Ich sehe keinen…“ „Da war aber einer!“ beharrte Ayashi, doch sie wusste selbst, wie das klingen musste. „Was ist bei euch denn los?“ fragte Yukiko und kam mit Aoko zu Suki und Ayashi, worauf auch Minami von ihren Postkarten Abschied nahm. „Ayashi hat einen Wolf gesehen.“ teilte Suki so neutral wie möglich zurück, doch Ayashi bemerkte, dass sie Mühe hatte, nicht zu kichern. „Wirklich!“ versicherte sie dennoch. „Also, ich weiß nicht… Wölfe sind in Japan längst ausgestorben… und dann noch mitten in Okayama… Ich halte das nicht nur für ziemlich unwahrscheinlich…“ meinte Minami diplomatisch, doch Ayashi ließ sie nicht ausreden. „… sondern auch für unmöglich.“ beendete sie den Satz, blickte noch einmal zu der Stelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo sie geglaubt hatte, einen Wolf zu sehen. Am nächsten Morgen stand eine kleine Wanderung von ungefähr zehn Kilometern Länge auf dem Programm, die schon vor Beginn für kurzes Murren sorgte. Ayashi hingegen freute sich auf die Natur, nachdem sie in der letzten Zeit nur Städte und Bauwerke gesehen hatten. Vielleicht konnte sie währenddessen ein bisschen darüber nachdenken, was sie in Okayama eigentlich gesehen hatte, wenn ihre Freundinnen sich nicht ständig mit ihr unterhielten, sondern auch damit beschäftigt waren, nicht über Steine und Wurzeln zu stolpern. Die Gruppe fuhr mit dem Bus eine gute Stunde nach Takebe und ein Stückchen weiter zu einem Parkplatz, in dessen Nähe sich ein kleiner Laden befand, falls jemand – trotz mehrfacher Ermahnung, nichts zu vergessen – doch noch etwas zu trinken brauchte. Tatsächlich gab es einige solcher Kandidaten, zu denen Sakaida daher meinte: „Gut, beeilt euch. In zehn Minuten gehen wir von hier los.“ Yukiko kicherte und schnürte ihre Wanderschuhe noch einmal richtig, während Ayashi ihren anderen drei Freundinnen nachsah, die mit einigen anderen zu dem Laden gingen. Sakaida seufzte, als er sah, dass mehr Schüler und Schülerinnen den Laden aufsuchten als am Bus blieben, und wechselte dann noch einige Worte mit dem Busfahrer über den Ort und Zeitpunkt, an dem sie wieder abgeholt werden wollten. „Ich dachte, wir hätten alle etwas zu trinken?“ wunderte sich Yukiko, als sie sah, dass nur noch Ayashi bei ihr stand. „Ich vermute, sie besorgen süße und zuckerreiche Wegzehrung.“ erklärte sie. „Ah… Das ist eigentlich eine gute Idee!“ meinte Yukiko, kramte nach ihrem Geld und rannte ebenfalls hinüber zu dem kleinen Geschäft. „Yukiko! Was ist denn nur noch?“ rief Herr Sakaida ihr hinterher, worauf sie nur entgegnete: „Ich bin ganz schnell wieder da! Die anderen sind ja auch noch nicht da!“ Ayashi zog eine Augenbraue hoch, konnte sich das Grinsen aber nicht verkneifen. Wenn Sakaida eins nicht mochte, waren das Zeitpläne, die aus Nachlässigkeit nicht eingehalten wurden. In den letzten Tagen war es sehr gut um die Pünktlichkeit der Schüler bestellt gewesen, stellte Ayashi selbst ein wenig verwundert fest. Nachdenklich und abwartend drehte sich Ayashi um, ging einige Schritte auf und ab und blickte dann in die Umgebung. Der Parkplatz lag an der Straße 53, die den Stadtteil Kawaguchi von Takebe durch ein Tal in Richtung Kume hinter sich lassen würde. Im Norden vor Ayashi floss ein kleiner Fluss mit dem Namen Tanjoji, doch hinter ihm erhob sich ein bewaldeter Bergkettenabschnitt, wie auch im Süden hinter ihr. Ließ sie den Blick nach Westen gleiten, so sah sie eine Ebene, die der Tanjoji zerschnitt, ehe er in den Fluss Asahi mündete, dessen Namen sie vor wenigen Minuten auf einem Schild gelesen hatte. Hinter dem Asahi erhob sich eine weitere bewaldete Bergkette. Ayashi sog die frische Bergluft in sich ein und betrachtete die Ebene mit ihren Feldern und Wiesen, den vereinzelten Ansammlungen von Häusern und dachte sich, dass ihr das alles so bekannt vorkam. Sie war allerdings noch niemals hier gewesen. Wie also sollte das sein? Sie wandte ihren Blick wieder nach Süden – und zuckte zusammen. Der graue Wolf stand wie am Tag zuvor auf der anderen Seite der Straße und blickte sie an. Ayashi schaute das Tier ebenfalls an, während sie das sichere Gefühl hatte, dass sie sich nicht irrte. Der Wolfs war da und blickte sie an. Unsicher blickte sie sich um, doch niemand sonst schien das wilde Tier gesehen zu haben. Sakaida unterhielt sich immer noch mit dem Busfahrer und inzwischen schienen fast alle Schüler das Geschäft aufgesucht zu haben. Diejenigen, die noch auf dem Parkplatz herumstanden, unterhielten sich angeregt und bemerkten das Tier nicht. Ayashi wandte sich wieder dem Tier zu, das dort in einer Entfernung von höchstens zehn Metern stand. Sein Fell sah unglaublich weich aus und war an den Beinen und Pfoten dunkel. Seine gelben Augen leuchteten, als er noch eine Weile regungslos dort stand, als wolle er sicher sein, dass Ayashi ihr gesehen und registriert hatte. Ayashi konnte nicht anders und nickte ihm zu, worauf der Wolf seinen Kopf in den Nacken warf und quer über die Straße trabte, stehen blieb und sie noch einmal anblickte. Kurz entschlossen setzte Ayashi ihren Rucksack ab und tat, was sie vor wenigen Tagen noch für unmöglich gehalten hatte: Sie folgte furchtlos dem wilden Tier, wohin es sie führen würde. Der Wolf trabte recht schnell die Landstraße entlang, sodass Ayashi zu laufen beginnen musste, dass sie einigermaßen Schritt halten konnte. Sie hielt Abstand, doch sie folgte ihm, worauf das wilde Tier Wert legen zu schien, denn immer wieder verlangsamte er seinen Schritt, sah sich nach ihr um und eilte dann weiter. Wenn jemand das sah, musste er glauben, er sehe nicht richtig, vermutete Ayashi, doch sie folgte hier keinem Trugbild und keiner Illusion. Nein, der Wolf war da. Sie wusste es nicht nur, da er sie führte, da sie ihm folgte, sondern auch, da tief in ihr irgendetwas äußerst zufrieden mit ihrer Entscheidung war, ihm zu folgen. Sie spürte, dass es richtig war. Sie spürte eine Zuversicht, eine Ruhe, die sie noch nie empfunden hatte. Das Vertrauen, das sie dem Tier entgegenbrachte, würde sie leiten. Es war richtig. Sie war davon überzeugt. Ayashi sah, dass der Wolf nach rechts in eine andere Straße bog, die direkt auf eine Brücke zuführte. Wohin wollte er? Wohin führte er sie? Das Tier blieb vor der Brücke stehen und wartete auf sie. „Dort hinüber?“ fragte sie und kam einige Schritte näher. Sie konnte nicht glauben, dass sie mit einem Wolf sprach, doch noch weniger konnte sie glauben, dass sie irgendwie mit einer Antwort rechnete. Seine gelben Augen musterten sie, dann trat er einige langsame Schritte auf sie zu, wartete, ob sie zurückschreckte und blieb dann so dicht vor ihr stehen, dass sie nur die Hand ausstrecken brauchte, um ihn zu berühren. „Wohin bringst du mich?“ fragte sie. Inzwischen war es ihr egal, ob ihr Verhalten an Wahnsinn grenzte. Sie hatte keine Angst. Sie fühlte sie sicher. Langsam und vorsichtig streckte sie ihre Hand nach vorne und berührte wenige Augenblicke später den warmen Kopf des Wolfes, ließ ihre Finger über seine Stirn gleiten und hielt seinen Blickkontakt mit ihrem Blick. Er schloss zuerst die Augen, rieb seinen Kopf an ihrer Hand, machte dann kehrt und lief über die Brücke. Ayashi folgte ihm, überquerte den Tanjoji und glaubte einen Moment lang, ihren Begleiter verloren zu haben, doch dann tauchte er wieder aus dem Unterholz auf, das sich rechts von ihr erstreckte, wartete auf sie und setzte sich wieder in Bewegung, als sie sich auf den Weg machte. Ayashi betrat den Wald und folgte ihrem tierischen Führer durch das unwegsame, ansteigende Gelände, womit sie sehr wenige Schwierigkeiten hatte, wie sie zu ihrem Erstaunen feststellte. Sie waren schnell, flink und geschickt. Beide. Beinahe gleichermaßen. Genauso sollte es sein, schoss ihr mit einer Gewissheit durch den Kopf, die sie sich nicht erklären konnte. Der Wolf heulte leise auf und Ayashi meinte, es als eine Art Aufforderung verstehen zu können. Er hatte es eilig? Nun, sie wollte ihn nicht unnötig warten lassen, also beschleunigte sie ihre Schritte noch ein wenig und drängte bald auf gleicher Höhe mit ihm durch den Wald, bis sie auf einen Weg stießen, der von weit unten kam und in mehreren Stufen aus großen, schönen, hellen Steinen durch ein holzfarbenes Torii, hinter dem Ayashi weitere Stufen und einen weiteren Eingang in einen heiligen Bezirk zu erkennen glaubte, den Berg weiter hinaufführte. „Ein Schrein?“ richtete sie das Wort an ihren Begleiter, blickte den Weg entlang nach unten, wo sie weitere Torii erblickte, und schaute dann wieder zum letzten Torii. „Sind wir da? Ist das der Ort, an den du mich bringen wolltest?“ fragte sie und blickte neben sich, doch der Wolf hatte bereits die ersten Stufen erklommen und das oberste Torii passiert, weshalb Ayashi ihm folgte, da ihr das Antwort genug war. Wenig später trat Ayashi in den Hof vor dem hölzernen, kleinen Schrein und fühlte, dass ihr Herz einen unerklärlichen Sprung machte, ihre Seele sich ausdehnte und weitete und sie sich – so unerklärlich ihr das am Anfang schien, desto deutlicher wurde es, je länger sie an diesem Ort weilte und je öfter sie den reichen Duft der Bäume, der Erde und der Sträucher einatmete – fühlte, als seien die Erinnerungen, die ihr fehlten, an genau diesem Ort zum Greifen nah. Und noch etwas bemerkte sie: Sie fühlte sich, als sei sie nach einer unfassbar langen Zeit endlich ihrer Heimat wieder so nah, dass es nur noch ein kleiner Schritt war, den sie unternehmen musste, um wirklich zu Hause zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)