Incidents von Lail (7/11) ================================================================================ Kapitel 1: Briefing 1: Theory and Practical Experience ------------------------------------------------------ Der unscheinbare, graue Kleinbus hielt in einer Seitengasse nahe der großen Einkaufsmeile im Stadtzentrum. Es war ein sonniger Tag; an sich zu warm für einen langen, dunklen schwarzen Mantel, den der junge Mann, der den Bus verließ. Er nickte dem Fahrer zu, der die Geste erwiderte, bevor er wieder davonfuhr. Der junge Mann wartete, bis das Fahrzeug nicht mehr zu sehen war, dann zog er eine schwarze Sonnenbrille aus der Innentasche seines Mantels, setzte sie sich auf und drückte auf einen kleinen Knopf am Bügel, um die eingebaute Mini-Kamera einzuschalten. Einmal noch strich er sich über das schwarze Haar, prüfte, ob der Zopf in seinem Nacken auch wirklich alle Strähnen hielt, bevor er die Gasse hinter sich ließ und in die Menschenmasse auf der Einkaufsstraße eintauchte. Junge Frauen drehten sich nach ihm um, begannen mit leuchtenden Augen zu kichern und zu tuscheln. Es entging ihm nicht, verleitete ihn zu einem beinahe selbstgefälligen Grinsen. Er wusste um sein gutes Aussehen und wäre vielleicht sogar irritiert gewesen, wenn niemand entsprechend auf ihn reagiert hätte. Nach kurzer Zeit ließ er die belebte Straße wieder hinter sich, stieg er hinab in die U-Bahn und nahm einen Zug Richtung Norden. Dicht drängten sich die Menschen aneinander. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es halb zwei Uhr war. Schüler auf dem Heimweg, Frauen auf Shoppingtour, Arbeitende, die ihre Mittagspause nutzen wollten. Es roch nach Fastfood, Schweiß und billigem Parfüm; es war ein Gestank, der Six daran erinnerte, wie sehr er die Menschen verachtete und wie unwürdig sie ihres Lebens doch waren. Die Lippen des schwarzhaarigen Genes formten erneut ein spöttisches Lächeln, als er daran dachte, dass er gerade die Macht hatte, sofort alle hier anwesenden in den Tod zu reißen. Das einzige, was ihn faktisch davon abhielt, war die Tatsache, dass es ihn in diesem Fall auch sein eigenes Leben gekostet hätte. So beließ er es bei weiteren abfälligen Verwünschungen, bis er den Zug wieder verlassen konnte. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichte er ein wohl-situiertes Wohngebiet mit gepflegten Vorgärten und individuell gestalteten Häusern – von der römischen Villa bis zum futuristischen Stahl-Glas-Konstrukt. Kurz sah er sich suchend um und zog dann ein Handy aus der Tasche, das im gleichen Augenblick zu blinken und surren begann. „Ich bin gerade in der Wohngegend angekommen. Was gibt’s?“, meldete er sich. „Hallo Six. Hier spricht Eleven. Ab heute werde ich dir deine Anweisungen geben und dich durch deine Missionen führen”, erwiderte eine weibliche Stimme. Die unbekannte Stimme irritierte den schwarzhaarigen Gene nur geringfügig. Aber der Inhalt der Nachricht sorgte beinahe für ernsthafte Verwirrung, auch wenn er die Richtigkeit des Inhalts sofort anzweifelte. „Anweisungen?“ „Begib dich zum Haus Nummer 14“, fuhr die Stimme fort, ohne auf Six einzugehen. „Das Ziel ist gerade mit seinem Hund spazieren. Dir bleiben noch etwa zwölf Minuten, um die Sprengsätze anzubringen und das Haus ungesehen zu verlassen. In deiner rechten Tasche findest du ein Freisprech-Modul. Benutze es.“ Etwas in Six lehnte sich nachdrücklich dagegen auf, diese Instruktionen zu befolgen. Aber andererseits war es vielleicht taktisch klüger, sich diese Anweisungssache erst einmal anzusehen. So griff er wie befohlen in seine Manteltasche und fand das kleine Clip-Modul, das er daraufhin an seinem linken Ohr anbrachte. Eleven also? Er hatte diese Gene noch nie gesehen – und auch noch nie von ihr gehört. Gewohnheitsmäßig war er davon ausgegangen, dass sie tot war. Dass sie aber lebte und jetzt plötzlich auftauchte und ihm Anweisungen gab, bereitete ihm Unbehagen. Im Endeffekt waren sie alle Rivalen um die Gunst des Centers – gewiss würde die Organisation nur den Stärksten ihrer Kreationen Verantwortung und Macht übertragen. Bedeutete dies nun, dass Eleven aus irgendeinem Grund über ihm stand? Dieser Gedanke schürte seine Abneigung, weckte aber auch seine Neugier. Das war eine Herausforderung: Es würde eine willkommene Abwechslung sein, Elevens Identität herauszufinden und sie auf ihren Platz zu verweisen. Ein Blick auf das Display seines Handys verriet ihm, dass die Verbindung zu dem Freisprech-Modul stand, also steckte er es in seine Tasche. „In Ordnung“, murmelte er und suchte nach der entsprechenden Hausnummer. „Das Haus ist in Sichtweite“, berichtete er, erinnerte sich dann aber an die Kamera und fügte dann schnell hinzu: „Aber das hast du vermutlich gerade auf deinem Monitor, nicht wahr?“ „Die Gartentür von Haus Nummer 12 steht offen. Die Mauer zum Garten von Nummer 14 solltest du überwinden können.“ Six gab einen bejahenden Laut von sich und ging den beschriebenen Weg. Elevens Stimme ließ keine Rückschlüsse auf Emotionen zu, wirkte fast mechanisch. Und diese Feststellung war reizvoll genug, um einen Versuch zu starten, sie zu verunsichern: „Ist das deine erste Mission, Eleven?“, fragte er, während er sich über die Mauer in den Garten des Hauses Nummer 14 schwang. „Ich weiß was ich tue“, erklang es so monoton, dass es für Six nicht einmal genug hergab, dass er daraus hätte schließen können, sie beleidigt zu haben. „Du kannst die Verandatür öffnen, ich habe Alarmanlage und Überwachungskameras abgeschaltet. Platziere die Sprengsätze an den markierten Punkten.“ Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sich der Gene, wie sie das alles bewerkstelligt hatte. Aber auch wirklich nur für den Bruchteil einer Sekunde. In seinem linken Brillenglas erschien für einen Moment ein Grundriss des Hauses – mit Markierungen für die Sprengsätze. „Du hast noch acht Minuten.“ Kein Grund, sich zu hetzen. Routiniert lief Six durch das zweistöckige Haus und brachte alles an seinen Platz. Immer wieder meldete sich Elevens Stimme, um ihm mitzuteilen, wenn eine weitere Minute abgelaufen war. „Ziel in Sichtweite. Mach, dass du da verschwindest, Six“, warnte sie plötzlich, eineinhalb Minuten vor Countdown-Ende. Vielleicht war es die Tatsache, dass sich der Ausdruck in ihrer Stimme im Vergleich zu dem, was sie vorher gesagt hatte, nicht veränderte, die dafür sorgte, dass auch Six vollkommen gelassen blieb und in Seelenruhe die Verandatür wieder hinter sich schloss. Erst das Bellen eines Hundes ließ ihn fluchtartig das Gelände verlassen, schnell drückte er sich im Nachbargarten an die schützende Mauer. „Alarmanlage und Kameras funktionieren wieder“, berichtete Eleven. „Mach dich auf den Weg zum Bus.“ „Und die Zündung?“, fragte Six wie aus der Pistole geschossen. Wollte sie ihm die jetzt etwa auch abnehmen?! „Ich werde mich darum kümmern.“ Der schwarzhaarige Gene knirschte mit den Zähnen. „In Ordnung.“ Sollte das Gespräch etwa so enden? Das war äußerst unbefriedigend; er hatte viel zu wenig Information über Eleven sammeln können. „Wir sehen uns dann später zum Essen in der Cafeteria für die Nachbesprechung“, schloss er und war gespannt auf ihre Reaktion. Und tatsächlich schien die Gene einen Moment zu zögern, bevor sie jedoch wieder in gewohnter Manier antwortete: „Ich verfasse den Bericht selbst und leite ihn weiter. Bis zur nächsten Mission.“ Ein Klicken verriet Six, dass sie daraufhin die Verbindung unterbrach. „Tse“, murrte er unzufrieden und schaltete kopfschüttelnd die Kamera in seiner Brille aus, bevor er sich auf den Rückweg machte. Er hatte gerade die U-Bahnstation erreichte, als der Knall der Explosion durch die warme Mittagsluft hallte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)