Zigarettenrauch von Hoellenhund (Zorn) ================================================================================ Kapitel 1: Angst ---------------- „Es tut mir Leid!“, rief sie mit zitternder Stimme. Er konnte ihre Verzweiflung spüren und Tränen über ihre Wangen rinnen sehen, doch das vermochte nichts zu ändern. Unaufhaltsam breitete sich diese Hitze von seiner Brust bis hin zu seinen Fingerspitzen aus – er würde ihr nicht verzeihen. Beinahe ohne, dass er es bemerkt hatte, war er neben den Couchtisch getreten und hatte nach der Vase mit den Magaritten gegriffen, die sie ihm mitgebracht hatte. „Nicht, Daniel!“, fuhr sie zwischen zwei Schluchzern auf, doch es war zu spät. Die Wut hatte sich wie eine brennende Faust aus Feuer um sein Herz geschlossen und würde es in ihrer Gewalt halten, bis es nur noch Scherben gab, alles zerbrochen war und die Flammen erloschen. „Verschwinde!“, brüllte er ihr entgegen, ohne ihr offenkundiges Leid bis in sein Innerstes vordringen zu lassen. Und noch bevor er selbst begriffen hatte, was er tat, war die Vase hinter der jungen Frau an der Wand zerschellt. Noch mehr Tränen peinigten sie und von Angst getrieben rannte sie schließlich aus dem Zimmer. Die Porzellanscherben knrischten unter ihren Schuhen und nachdem sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, erklang das Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür. Dann war alles still. Er stand einfach nur da, spürte seine Hände zittern. Nun, da alles verstummt war, schien in ihm nichts als Leere zu herrschen. Jäh wurden seine Knie weich und drohten seinem Gewicht nachzugeben, sodass er sich langsam auf das Sofa in seinem Rücken sinken ließ, den Kopf in die Hände gestützt. Von Sekunde zu Sekunde schien das Ticken der Wanduhr anzuschwellen, bis es eine unnatürlich hohe Lautstärke erreicht hatte und das Hämmern seines schmerzenden Herzens in seiner Brust übertönte. Erst jetzt drängte sich ihm die Erkenntnis auf, sie verletzt zu haben, so tief, wie er es niemals gewollt hatte und ein brennender Hass auf sich selbst pulsierte durch seine Adern, welcher ihn seinerseits verletzte – so tief, wie er sie verletzt hatte. Er trieb ihm die Tränen in die Augen, denen er allerdings nicht nachgeben wollte. So zwang er sich zu der Uhr aufzublicken, die in diesem Augenblick das Einzige schien, was sein Leben ausfüllte. Es war bereits 10.30Uhr, höchste Zeit sich zusammenzunehmen und den Weg zum einzigen Ort in seinem Leben anzutreten, an dem es ihm möglich war, vor sich selbst zu fliehen. Als er um die Ecke bog, fiel ihm das große sandsteinfarbene Gebäude, das mit zahlreichen Verzierungen im Stil der Renaissance geschmückt war, sofort ins Auge. Es war mit großen schwarzen Plakaten beklebt, auf denen rote Schrift verkündete: „Musical: Tanz der Vampire“. Und etwas kleiner darunter hieß es: „05. bis 25. Mai“. Daniel schritt an den opulenten Flügeltüren des Theaters vorüber, ohne ihnen auch nur einen Blick zu schenken; er kannte ihren Anblick nur zu gut. Stattdessen ging er um das geschlossen anmutende Bauwerk herum und betrat es auf dessen Rückseite durch eine unauffällige Hintertür, welche auf der Außenseite nur über einen Türknauf verfügte, weshalb er sie aufschließen musste. Hinter ihr tat sich ein schlichter Gang auf, der im Zwielicht dalag, nur von einer unverkleideten Glühlampe an der Decke erhellt. Eine Tür schwang auf und eine kleine, zierliche Frau mit braunem Haar trat in den Gang, sie musste die an den Wänden widerhallenden Schritte Daniels gehört haben. „Guten Morgen. Du bist mal wieder ganz schön spät dran. Komm am besten gleich mit“, begrüßte sie ihn und winkte ihn zu sich heran. „Marie“, nickte der Angesprochene und folgte ihr durch die soeben aufgesprungene Tür. Sie trug bereits das Kostüm der Sarah, welche er auf der Bühne verführen sollte. Noch empfand er nichts für sie; sie war nur eine freundlich gesinnte Kollegin für ihn. Doch sobald er auf der Bühne stünden, würde er sie begehren - er würde den Vampir Graf von Krolock nicht spielen, er würde zu ihm werden, sein Selbst ablegen und die Rolle leben. „Ich hoffe es hat nicht schon wieder Ärger gegeben“, plapperte Marie fröhlich weiter, während sie Daniel zur Garderobe führte. Sie kannte das Spiel bereits, denn auch Daniel selbst war ihr schon seit einigen Jahren bekannt und sie wusste mit seinen gefühlslastigen Handlungen umzugehen. Nicht um sein Selbst und nicht um sein Sein, doch um sein Talent bei Spiel und Gesang bewunderte sie ihn. „Lass das meine Sorge sein“, gab Daniel abweisend zurück; er wollte nicht länger darüber nachdenken, nicht mehr an den Morgen erinnert werden. Ein Seufzen Maries war die Antwort, bevor sie die nun erreichte Garderobentür zwischen sich und Daniel schloss. „Ich schicke dir Laines vorbei, der kann dir ein wenig zur Hand gehen, damit es schneller geht. Die Kostümprobe fängt in fünfzehn Minuten an“, rief sie noch durch die geschlossene Tür hindurch, bevor sie sich entfernte. Es war Daniel ein Rätsel, aus welchem Grund der neue Regisseur des Theaters bereits in einem derartig frühen Stadium der Proben eine Kostümprobe angesetzt hatte. Vielleicht lag es an den Vampirzähnen, welche die meisten Schauspieler zu tragen hatten und mit denen es durchaus schwer fiel, deutlich zu sprechen. Doch im Grunde war es ihm gleich, er mochte es, sich auch äußerlich einer Rolle anzugleichen, denn so blieb umso weniger seines eigenen Seins zurück. Daniel war gerade in seinen dunkelvioletten Umhang geschlüpft, als es an der Tür klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde sie auch sogleich aufgedrückt und ein hochgewachsener Mann mit langem Blondhaar, welches in seinem Nacken zu seinem Dutt zusammengebunden war, trat ein. „Marie schickt mich“, meinte Laines erklärend und zupfte sein weißes Rüschenhemd zureckt. „Ich weiß“, war Daniels schlichte Antwort, während der er sich dem Spiegel zuwandte und nach einer weißen Perücke griff. Sein bereits komplett kostümierter Kollege schloss die Tür hinter sich und trat an Daniel heran, um ihm die Perücke aus der Hand zu nehmen: „Lass mich das machen.“ „Sieht aus, als hätte mein Dad schlechte Laune“, fügte er hinzu, nachdem er Daniels Grimasse im Spiegel bemerkt hatte. Im Musical spielte er Daniels Sohn Herbert, einen homosexuellen Vampir, der Interesse an einem der Besucher des Schlosses, in dem er mit anderen Vampiren lebte, gefunden hatte. Daniel Zog es vor, nicht zu Antworten. Und mit Hilfe der vier zur Verfügung stehenden Hände saß das Kostüm des Grafen schon nach wenigen Minuten perfekt. „Zweiter Akt, Szene eins: In der Schlosshalle“, dröhnte die forsche Stimme des Regisseurs durch den leeren Saal zur Bühne hin. „Der Graf nähert sich Sarah und lässt sich beinahe dazu hinreißen, sie zu beißen. Das Lied: 'Totale Finsternis'.“ Dumpfe Schritte auf Holz waren zu vernehmen, als das Tanz Ensemble, welches noch von der zuvor geprobten Einzelszene auf der Bühne befand, die selbige verließ, um Marie und Daniel Platz zu machen. Sie wirkten allesamt erschöpft, denn ihre Szene hatte einige Male wiederholt werden müssen, bis sie dem Regisseur bis ins kleinste Detail gefallen hatte. Fast zeitgleich wurde am anderen Ende des Saals eine Tür aufgestoßen und eine Hand voll Menschen trat ein; sie waren nicht kostümiert, denn wie jeder im Saal wusste, handelte es sich um die Zweitbesetzungen der tragenden Rollen, weshalb niemand Notiz von ihnen nahm. Heute würden sie nicht proben, doch der Regisseur hatte ihnen scharf angeraten, die Proben zu verfolgen, um die Fehler der Erstbesetzung nicht zu wiederholen. Das Orchester stimmte nun 'Totale Finsternis' an und entführte die Schauspieler und auch alle anderen Anwesenden so noch tiefer in eine Welt, welche nicht der Realen entsprach. Schauspieler, wie auch Musiker, machten ihre Sache gut, weshalb sie während der Szene nicht ein einziges Mal unterbrochen und korrigiert wurden. Daniel spürte ein brennendes Verlangen in seiner Brust aufsteigen, während er sich Sarah zusehens nährte – nein, er war nicht mehr Daniel, nicht mehr er selbst. Tief in seinem Innern war er Vampir, nach Blut durstend, nach ihrem Blut. Rasch, fast in Trance, packte er sie, wollte seine Lippen ihrem Hals nähern, wie er es jedes Mal in dieser Szene, in diesem Augenblick seines Lebens, tat – Doch bevor er seine Bewegung vollführt hatte, erstarrte er. Er hatte einen Glanz in Sarahs Augen entdeckt, den er nie zuvor gesehen hatte. Und doch war er ihm bekannt. Was war es, woher kannte er es und wieso irritierte es ihn so sehr? Die Sekunden verstrichen und die Welt um ihn herum schien stillzustehen. Daniel war dieser Glanz nur allzu gut bekannt, er spiegelte eine Mischung aus Hingabe und Angst wider, die sein Verhalten schon so oft ausgelöst hatte – doch für den Grafen war dieser Schimmer der Augen unbekannt. Seine Hände begannen zu zittern und der Zauber war gebrochen. Er war wieder er selbst, Daniel, in seinem grauen Alltag und mit seinem Sein, dem er nicht entfliehen konnte. Allein. Abrupt wandte er sich von Marie ab und verließ raschen Schrittes die Bühne. „Daniel...?“, begann Marie verunsichert, doch der Angesprochene drehte sich nicht noch einmal zu ihr um und war kurz darauf im Off verschwunden. Es schien, als wären alle Anwesenden jäh in Diskussionen und Mutmaßungen verfallen, zumindest aber stieg der Geräuschpegel um ein Vielfaches an. „Vielleicht sollte man ihm die Zweitbesetzung überlassen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass er den ganzen Betrieb aufhält“, äußerte sich eine junge Frau weiter hinten im Raum gezielt so laut, dass man es auch auf der Bühne noch hören konnte, was bei Marie nicht gerade auf Begeisterung stieß. Dana war der Name der Blonden, welche die Zweitbesetzung der Sarah spielte und bereits mehr als ein Mal versucht hatte, unter die Erstbesatzer zu gelangen. „Daniel ist ein hervorragender Sänger und Schauspieler, der beste in diesem Theater und vielleicht der beste der ganzen Stadt. Man kann ihn nicht einfach ersetzen!“, fuhr Marie als Antwort auf diese scheinbar unverschämte Forderung zornig auf. Durch den Aufruhr angelockt traten nun auch einige Schauspieler aus dem Off auf die Bühne, darunter einige Tänzer des Ensembles. Unter ihnen wiederum befand sich auch die Tänzerin, welche in der Szene des Albtraumes eines Schlossbesuchers im zweiten Akt die Rolle der Sarah übernahm, da Marie zwar ausgezeichnet singen konnte, jedoch nicht mit übermäßigem Talent zum Tanz gesegnet war. Kostümiert wie in diesem Moment waren die beiden kaum voneinander zu unterscheiden. „Er ist der Sache aber scheinbar nicht gewachsen“, fauchte Dana vom Rand der Bühne, an den sie zwischenzeitlich getreten war, zurück. Nun fuhr auch Tänzerin Sarah auf: „Ich denke nicht, dass du darüber zu entscheiden hast!“ „Fünfzehn Minuten Pause“, erhob sich endlich die Stimme des Regisseurs über die Streitgespräche, „und ich will, dass wir die Szene danach noch einmal durchgehen: Und zwar mit Daniel, verstanden?“ Als Daniel aufgebracht ins Off gestürmt war, hatte ihn sein Weg direkt an Laines vorbeigeführt, welcher auf seinen Auftritt gewartet hatte. Und er hatte sich mindestens genauso verwundert nach seinem Kollegen umgeblickt, wie Marie vor ihm und war ihm sogleich gefolgt. Nun fand er ihn auf einer schmalen Holzband sitzend vor, den Kopf in die Hände gestützt, sodass er sein Gesicht nicht sehen konnte. Ohne ein Wort ließ er sich neben dem Grafen nieder und wartete eine Reaktion ab, die jedoch ausblieb. Schließlich sagte er: „Lass uns vor die Tür gehen.“ Fahrig fuhr sich Daniel mit dem Handrücken über die Augen, dann erhob er sich und folgte dem Blonden aus dem Theater. Neben dem Hintereingang standen einige Müllcontainer, die den kleinen Hinterhof eine schmutzige und ungemütliche Atmosphäre verliehen und das sich daneben türmende Altpapier trug nur dazu bei, was Daniel dazu bewog, das erste Mal, seit er die Bühne verlassen hatte, einen kurzen Satz zu sagen: „Gehen wir herum.“ Und bevor Laines Einspruch erheben und auf die Kostüme hinweisen konnte, hatte er sich schon auf den Weg gemacht. Als Laines seinen Freund eingeholt hatte, lehnte dieser bereits mit dem Rücken an der Front des Theaters. „Was sollen denn die Leute denken?“, gab er Daniel leicht verstimmt zu bedenken, zugleich war ihm jedoch klar, dass er nicht auf ihn hören würde; das hatte er noch nie getan. Da er jedoch bemerkte, dass Daniel eine Zigarette rauchte, fuhr er erneut auf: „Hör auf damit!“ Der Angesprochene nahm die Zigarette aus dem Mund und blies den Qualm in Richtung der Straße davon. „Wieso?“, wollte er dumpf wissen, sein Blick war leer und schien durch seine Umgebung hindurchzugehen. „Weil es der Stimme schadet“, war die bissige Antwort und noch ehe Daniel etwas erwidern konnte, hatte Laines ihm die Zigarette aus der Hand genommen, sie auf den Fußweg fallen lassen und ausgetreten. „Na schön“, war das Einzige, das der Graf nun noch zurückgeben konnte, er schien immer noch abwesend. Nach einigen Sekunden der Stille erhob Laines erneut die Stimme: „Wieso hast du die Probe unterbrochen?“ Auf der anderen Straßenseite ertönte jäh ein gellender Aufschrei und ersparte Daniel die Antwort: „Mami, Mami, sieh doch!“ „Warte, Nina!“, rief eine ängstliche Frauenstimme, welche nur der Mutter gehören konnte, hinter einem kleinen Mädchen von vielleicht acht Jahren her, das nun über die stark befahrene Straße auf die Schauspieler zu lief. Keuchend machte es nun auch direkt vor den beiden Halt: „Bist du es wirklich, bist du wirklich Daniel Zingerle?“ Da der Angesprochene keine Notiz von der Kleinen zu nehmen schien, beugte sich Laines zu ihr hinunter, wobei er sich auf seinen Knien abstützte, um an Daniels Stelle zu antworten. „Ja, genau der ist er“, erklärte er freundlich und lächelte. „Oh, wie schön! Ich habe dich schon ganz oft im Theater gesehen, du singst wunderschön!“, begeisterte sich das Mädchen und begann einen Block aus ihrem Rucksack zu kramen, um diesen dann Daniel zu reichen. „Schreibst du mir ein Autogramm?“ Erst jetzt wandte Daniel den Blick von den grauen Hauswänden auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab und dem Mädchen zu. Langsam, leicht verwirrt, nahm er den Block und einen Stift entgegen. „Wie heißt du denn, meine Kleine?“, fragte er seinen Fan, einen süßen Unterton in der Stimme. „Nina!“ Während er nun einige von Herzen kommende Worte in den Block schrieb, trat auch Ninas Mutter an seine Seite. „Entschuldigen Sie bitte“, murmelte diese bitter, entriss Daniel den Block block beinahe und nahm ihre Tochter bei der Hand. „Komm jetzt“, fügte sie forsch an Nina gewandt hinzu und zog das Mädchen weiter die Straße entlang, welches sich noch einmal zu den Vampiren umwandte und kurz winkte. Laines erwiderte die Geste lächelnd, während Daniel den beiden nur stumm nachblicken konnte, den Stift Ninas noch in der Hand. Er wollte nicht, dass sie schon jetzt verschwand, ohne, dass er sich von ihr hatte verabschieden können, wollte sie nicht ihrer kalt wirkenden Mutter überlassen – und doch blieb ihm keine Wahl. „Was ist denn mir dir los, du bist doch sonst nicht so nett“, grinste Laines frech und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. Dieser ließ den zurückgebliebenen Stift wie in Trance in seine Hosentasche gleiten. Das Strahlen auf Ninas Gesicht hatte ihn bewegt, so tief, wie lange kein positives Ereignis mehr. Laines hatte ihn stumm beobachtet, nun sprach er mit ernster Stimme: „Sie liebt deinen Gesang und sie ist nicht die Einzige“. Er machte eine Handbewegung in Richtung des Gebäudes hinter den beiden. „Also geh da rein und sing.“ Ohne zu antworten wandte sich Daniel von seinem Freund ab und schritt mit im Wind wehendem Umhang um das Theater herum – zurück zum Hintereingang. Vielleicht hatte Laines Recht, er spielte nicht nur für sich selbst, es war egoistisch, aus persönlichen Gründen das Handtuch zu werfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)