Schwarzer Engel von JinShin ================================================================================ Kapitel 1: Teil 1 ----------------- Wie ein Wesen aus einer anderen Welt durchquerte der junge Mann den kleinen Park. Trotz des zwar eleganten, doch unauffälligen Anzugs, den er trug, wirkte er dank seiner asiatischen Gesichtszüge fremd und exotisch. Für einen Japaner war er ungewöhnlich groß. Er hatte seinen Wagen am Universitätshauptgebäude stehen lassen und ging den Weg zur Sporthalle gerne zu Fuß. Es war nichts Besonderes an diesem Tag, und er schenkte den hübsch arrangierten Blütenstauden und Baumgruppen mehr Beachtung als den Menschen, die ihm begegneten. Auch als sich ihm einer der heruntergekommenen Freaks näherte, die ständig am Eingang an der Memphisstreet herumlungerten und Passanten um Kleingeld baten, wollte er nur achtlos verneinend vorüber gehen. Er hielt nichts von diesen Herumtreibern. Er fand sich ohnehin aufgrund seiner Abstammung und Herkunft den meisten US-Amerikanern überlegen. Und vor allem gegenüber diesen verwahrlosten Junkies, die es seiner Meinung nach im Leben nie zu etwas bringen würden. Diesmal hatte er es allerdings anscheinend mit einem besonders aufdringlichen Kerl zu tun, denn anstatt ihn einfach vorbei zu lassen, stellte er sich ihm in den Weg und begann ihn wüst zu beschimpfen. „Hälst dich wohl für was Besseres, du beschissener Japse, was!“ Auch jetzt noch blieb der fremde Student gelassen, denn vor diesem Junkie brauchte er keine Angst zu haben. Er war in mehreren Kampfsportarten bestens ausgebildet. Erst kürzlich hatte er eine kleine Auseinandersetzung mit einem anderen Drogensüchtigen gehabt, der versucht hatte, ihn zu bestehlen. Innerhalb von Sekunden hatte der am Boden gelegen und hatte nicht einmal Zeit gehabt, zu begreifen, dass es sein Schultergelenk war, das dieses krachende Geräusch splitternden Knochens von sich gegeben hatte. „Lass mich vorbei“, sagte der Ausländer in selbstsicherem Ton, trotz seines starken Akzents. Er war so abgelenkt von dem Penner vor ihm, dass er viel zu spät bemerkte, wie jemand von hinten an ihn heran trat. Jemand packte fest seine Arme und gleichzeitig spürte er einen heftigen Schlag auf den Kopf, der ihn Sterne vor den Augen tanzen lassen ließ. Die Angreifer nutzten seine Benommenheit und zerrten ihn hinter die den Park umgebende Mauer. Durch einen dichten Busch waren sie hier vor den Blicken der Spaziergänger geschützt. Sie stießen ihn grob zu Boden, seine Arme wurden über dem Kopf festgehalten, jemand drückte ein Knie schmerzhaft gegen seinen Brustkorb und verhinderte auf die Art, dass er sich aufrichten konnte. Eine schmuddelige, nach Schweiß und kaltem Zigarettenrauch riechende Jacke wurde auf sein Gesicht gedrückt und nahm ihm die Sicht und einen Großteil der Atemluft. Jetzt erst begann er, sich heftig zu wehren. Umsonst. „Schnell, beeilt euch! Lasst ihn nicht los!“ Er spürte, wie sein Hemdsärmel hastig hochgeschoben wurde und hektisch tastende Finger auf seiner Haut. Dann stach ihm etwas in den Arm, und die Welt entfernte sich von ihm. Alle Geräusche klangen gedämpft wie aus weiter Ferne, und selbst sein rasender Kopfschmerz schien nicht mehr zu ihm zu gehören. Sein Widerstand wurde schwächer und unkoordiniert. In diesem Zustand konnten sie ihn leicht auf den Bauch drehen und seine Hände hinten fest zusammen binden. Sie hoben ihn hoch, hängten ihm die Jacke über die Schulter, so dass niemand die gefesselten Hände sehen konnte. Zwei von ihnen packten ihn an den Armen, und dann schleiften sie ihn auf die Strasse. Sie waren zu viert. Vier stinkende, vor Schmutz starrende Gestalten mit fettigem, strähnigem Haar. Die Männer waren zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Seine Beine wollten ihm nicht gehorchen, und immer wieder knickten sie unter ihm einfach weg. „Hast du seine Tasche?“ „Klar.“ Eine Frau kam ihnen entgegen und sah ihm ins Gesicht. Zumindest hatte er den Eindruck, dass sie es tat. Alles wirkte unecht und wie in Zeitlupe. „Tasukete“, sagte er zu ihr, bevor er merkte, dass er Japanisch sprach. „Helfen Sie m…“ Die beiden Entführer ließen kurz seine Arme los, und fast wäre er auf das Pflaster gestürzt. Torkelnd führten sie ihn weiter. „Unser Freund hier verträgt nicht viel, hahaha. Musst du kotzen? Hier!“ Der Mann auf seiner linken Seite drückte ihm ein Tuch vor den Mund. Die Frau wandte angewidert ihren Blick ab und entfernte sich. Auch wenn es ihm wie eine Ewigkeit erschien, weit konnten sie ihn in dieser Verfassung nicht gebracht haben. Sie betraten ein verwildertes Grundstück direkt an der Hauptstrasse. Durch den Hintereingang kamen sie in einen leer stehenden, baufälligen Bungalow und brachten ihn sofort in den Keller. Es war ein fensterloser Raum, von dem zwei Türen abgingen. Eine nackte Glühbirne hing an der Decke und spendete Licht. Auf dem Boden lag eine schmutzige Matratze, auf die er geworfen wurde. Die Männer lachten und scherzten, während sie ihn hielten. Sein Gesicht drückten sie gegen den muffigen, feuchten Stoff, und der intensive Schimmelgeruch war so überwältigend, dass er würgen musste. Jemand griff um seine Taille und öffnete seine Hose. „Haltet ihn bloß gut fest! Ihr wisst, was er mit Ed gemacht hat.“ Und sie hielten ihn gut fest, immer mindestens zu zweit. Er hatte keine Chance, sich zu wehren, während sie ihm die Kleidung vom Leib rissen und seine Arme und Beine mit einem dicken Seil fesselten. Es war rau und brannte auf der Haut. Die Knoten wurden so fest gezogen, dass es schmerzte und er sich kaum noch bewegen konnte. Um seinen Hals legten sie eine schwere Eisenkette und zogen seinen Kopf nach hinten, um ihm eine große Hartgummikugel in den Mund zu zwingen. Ein Lederriemen verhinderte, dass er sie ausspucken konnte. So ließen sie ihn liegen und löschten das Licht. Natürlich versuchte er, sich zu befreien, doch es war unmöglich. Er zerrte vergeblich an den Fesseln, sie waren zu fest und scheuerten nur seine Haut auf. Er wand und drehte sich, bis er von der Matratze auf den kalten Betonboden rutschte. Doch die Seile lockerten sich nicht, sondern hatten sich im Gegenteil noch fester gezogen. Schließlich blieb er erschöpft liegen und spürte, wie der Speichel seitlich aus seinem Mundwinkel lief, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Seltsamerweise fand er das am Schlimmsten. Es war so demütigend. Während er im Dunkeln seinen Atemzügen lauschte, ließ die Wirkung der Droge langsam nach. Mit der Zeit konnte er wieder klar denken. Was wollten diese Männer von ihm? Nur des Geldes wegen hätten sie ihn nicht mitnehmen müssen. Oder wollten sie Lösegeld erpressen? Doch warum erniedrigten sie ihn dann so? Die Vorstellung, dass ihn jemand so sehen würde, nackt und gefesselt und mit Speichel beschmiert, war noch entsetzlicher als die Situation an sich. Er versuchte diesmal in aller Ruhe, sich aus der Fesselung zu befreien. Sie hatten seine Hände hinten zusammen gebunden und zusätzlich das Seil um den Brustkorb geschnürt. Seine Beine waren bis über die Knie straff umwickelt, und dann musste noch ein Seil von den Fußgelenken zu der Halskette führen, denn er konnte die Beine nicht ausstrecken, ohne dass es ihm unangenehm am Hals zog. Inzwischen schnitt das Tau so tief ein, dass jede kleine Bewegung wehtat. Er gab vorerst auf. Wer war eigentlich dieser Ed, mit dem er irgendwas gemacht haben sollte? Er kannte niemanden mit diesem Namen. Aber er hatte eine kleine Ahnung, wer das sein könnte und wurde bestätigt, als die Männer eine Weile später wieder zurückkehrten. Sie hatten noch jemanden mitgebracht. Er erkannte ihn sofort. Das musste Ed sein, von dem die anderen gesprochen hatten. Ed war der Junkie, der ihn vor einigen Wochen überfallen wollte. Er hatte ihn abends angesprochen, als er auf dem Weg nach Hause gewesen war. Es war in der Nähe des Bahnhofs gewesen. Er hatte er ihm angeboten, ihm für dreißig Dollar „einen zu blasen“. Erst hatte er gar nicht verstanden, was dieser kaputte Typ von ihm wollte. Solche Wörter gehörten nicht gerade zu dem englischen Vokabular, das er für sein Wirtschaftsstudium benötigte. Als er schließlich begriff und abgelehnt hatte, war der Junkie mit dem Preis bis auf zehn Dollar runter gegangen. Es war eindeutig, dass er auf Entzug gewesen war und dringend einen Schuss brauchte, so zittrig und hektisch, wie er sich verhalten hatte. Er hatte ihm widerwillig etwas Kleingeld geben wollen, doch Ed hatte gierig nach der Brieftasche gegriffen. Als der Japaner ihm geschickt ausgewichen war, hatte Ed sein Messer gezogen. „Jetzt gib schon dein Geld oder ich schlitze dir den Bauch auf!“ Der Mann hatte ihn sogar mit dem Messer angegriffen, doch bevor der Angreifer wusste, wie ihm geschah, wurde ihm die Waffe aus der Hand getreten, und gleich darauf wurde er am Arm gegriffen und fand sich auf dem Straßenpflaster liegend wieder. Dabei war sein Schulterblatt gebrochen. Sich abzurollen, hatte Ed nie gelernt. Ed kniete sich vor ihn nieder und zog brutal mit der Kette sein Gesicht zu seinem. Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und blies ihm den Rauch in die Augen. „Na, Freundchen? Erinnerst du dich an mich?“ Er erwiderte ruhig Eds Blick, obwohl sein Magen sich vor Angst zusammen zog. Er war noch nie einem Menschen so hilflos ausgeliefert gewesen. Was hatten sie jetzt mit ihm vor? Als hätte Ed seine Gedanken gelesen, beantwortete er die nicht ausgesprochene Frage. „Ich verlange von dir Genugtuung. Für die Schmerzen, die du mir zugefügt hast.“ Er ließ ihn los und tippte sich an die Schulter. „Ich kann den Arm immer noch nicht richtig bewegen. Ich hatte eine Menge Ärger wegen dir, du arrogantes Arschloch! Ich werde mich ein wenig mit dir amüsieren. Und wenn ich mit dir fertig bin, kommen meine Freunde hier auf ihre Kosten, wenn du verstehst, was ich meine… Na? Wie fühlt man sich, wenn man da ganz unten angekommen ist? Hier bist du ein Nichts, egal wie viel Geld dein Papi hat. Hier bist du gerade mal wert, mir als Aschenbecher zu dienen.“ Langsam, ganz langsam, näherte sich die Zigarette seiner Schulter. Ed ließ ihm Zeit, der Bewegung mit den Augen zu folgen. Als die Glut die Haut berührte, sog der junge Mann zischend die Luft ein und biss auf den Knebel, um nicht aufzustöhnen. Seine Nasenflügel bebten. „Du wirst schon noch schreien“, sagte Ed leise. „Ich möchte dich schreien hören.“ Niemals, dachte er und schloss die Augen. Niemals würde er tun, was dieser Widerling von ihm verlangte. Da sollte er sich allerdings gründlich irren. Kapitel 2: Teil 2 ----------------- Es war reiner Zufall, dass das Handy gerade nicht ausgeschaltet war, als der Anruf kam. Kurauchi Shigi stand gerade vor dem Krankenhaus, um schnell eine Zigarette zu rauchen. Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen, und er ging davon aus, dass dies seine letzte Zigarette sein würde, bevor er Vater wurde. Er sah auf das Display. Es war eine unbekannte Nummer. „Moshi-moshi“, meldete er sich. „Kurauchi?“ Der Anrufer war kaum zu verstehen. Shigi drückte das Handy mehr an sein Ohr. Um ihn herum die Menschen schienen plötzlich viel zu laut in ihren Gesprächen. „Ja. Wer ist denn da?“ „Kannst du kommen? Kannst du nach Boston kommen, bitte?“ War das Hirose? Es war so abwegig, ihn mit so kläglicher Stimme zu hören, dass er ihn erst nicht erkannt hatte. „Hirose-sama! Was ist passiert?“ Shigi entfernte sich von den anderen in großen Schritten und steuerte den ruhigeren Garten an, der im halbkreisförmigen Bogen um das Krankenhausgebäude angelegt war. Er konzentrierte sich auf jedes Wort, das Hirose sprach. „Ich kann hier nicht weg, ich habe es versucht, es geht nicht allein. Bitte, du musst mir helfen, sie bringen mich sonst um und dann…“ „Wer hält Sie fest? Wo?“ fragte Kurauchi bestürzt. Hirose klang furchtbar verzweifelt, so kannte er den jungen Nanjo gar nicht. „Keine Polizei, Kurauchi. Kein Wort zu meinem Vater. Aber bitte, komm bitte schnell, ich…“ Abrupt unterbrach er sich, und Shigi dachte schon, die Verbindung wäre getrennt worden. „Hirose-sama? Hirose…“ Dann hörte er auf einmal eine andere, fremde Stimme in amerikanischem Englisch. Im Hintergrund klirrten eiserne Ketten. „Wer hat dich denn los gemacht? Hatte Geoff Mitleid mit deinen Handgelenken? Oder warst du das womöglich selbst?“ Die Stimme nahm einen lüsternen Ausdruck an. „Hast du etwa Gefallen gefunden an den Bestrafungen, hm?“ Shigi hielt die Luft an und lauschte angestrengt mit zusammengezogenen Augenbrauen. Was machten sie mit ihm? „Hey, Johnny, unser Vögelchen will ausfliegen!“ rief der Mann jetzt. Er klang älter als Hirose-sama und hatte eine undeutliche Aussprache. „Ihr Feiglinge.“ Shigi war erleichtert, Hiroses Stimme zu vernehmen. Die Verzweiflung von gerade eben war ihm nicht mehr anzuhören. „Ihr seid zu fünft und trotzdem…“ Ein dumpfes Poltern und Kettengerassel unterbrachen ihn, und Shigi hörte einen unterdrückten kurzen Schrei. Seine Finger krallten sich um das Mobiltelefon. Es war furchtbar, nicht eingreifen zu können. „Wir sind nur vorsichtig“, sagte in überheblichem Ton eine weitere Stimme, wahrscheinlich Johnny. „Das ist nicht das gleiche wie feige, du Stück Kung-Fu-Scheisse.“ Wieder unterdrückte Hirose einen Schmerzlaut. „Schaffst du den Rest allein, oder soll ich euch behilflich sein?“ fragte Johnny. „Kannst bleiben, wie du willst“, antwortete wieder die erste Stimme. Dann wurde der Tonfall barsch: „Und du, knie dich hin. Los, los, und schön den hübschen Arsch hoch, wird’s bald!“ „Nein.“ „Wie bitte?“ In der Stimme klang echte Überraschung. „Nein…“ „Ich glaub’s ja nicht. Johnny, er will’s wohl nicht anders…“ „Bin schon da.“ „Nein!“ Es entstand ein Handgemenge, das mit einem hämischen Lachen endete. Hirose atmete laut und keuchend. „Ist wohl schon ein bisschen wund, was?“ fragte der Mann mit hörbarem Grinsen, und Hirose begann, laut auf Japanisch zu rufen: „Ich bin in einem Keller, in einem leerstehenden Haus in der Memphisstreet, in der Nähe vom…“ Er wurde zum Schweigen gebracht. „Was war jetzt das?“ fragte Johnny schließlich. Ausgerechnet in diesem Moment begann das Handy zu piepen, um anzuzeigen, dass der Akku bald leer sein würde. Einen Augenblick herrschte Stille. Dann fragte der Mann in drohendem Ton: „Wen hast du angerufen?“ Ein kurzer Schrei war die einzige Antwort. Schritte näherten sich dem Hörer. „Wer ist da? Hallo?“ „Was ist da los?“ fragte Shigi und zwang seine Stimme, ruhig und autoritär zu klingen. „Verdammt! Wer bist du, und wie heißt du?“ „Mein Name ist Kurauchi. Ich bin…“, Er zögerte unmerklich, bevor er die nächsten Worte aussprach. „… ein Freund.“ „Okay. Hör gut zu. Wenn du deinem Freund hier helfen willst, dann lass Kohle rüber wachsen. Ist er dir 500 000 Dollar wert?“ „Ja. Aber das wird eine Weile dauern, das ist viel Geld. Ich brauche bestimmt zwei oder drei Tage, um die Summe zusammen zu bekommen. Ich möchte Mr. Nanjo sprechen.“ „Nein. Aber du darfst ihn noch mal hören.“ Er machte irgendetwas mit Hirose, bis er kleine Schmerzlaute ausstieß. „Lassen Sie das!“ rief Shigi. „Sie bekommen das Geld ja.“ „Gut. Und keine Polizei. Sonst siehst du ihn nie wieder, ist das klar! Ich melde mich bei dir!“ Der Typ legte auf, und Shigi knirschte zornig und hilflos mit den Zähnen. Während er zurück zu seiner Frau hastete, telefonierte er bereits mit dem Flughafen und reservierte das nächstmögliche Ticket nach Boston. Nanjo-sama hatte ihn gebeten, niemandem davon zu erzählen. Das war der einzige Grund, weshalb Shigi nicht die Polizei einschaltete und genauso wenig die Familie. Und leider betraf das auch Shigis Frau. Er hatte extra drei Tage Urlaub genommen. Er würde ihr nicht erklären können, warum er so kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes plötzlich verschwand. Nur wegen ihrer Schwangerschaft war er überhaupt in Japan und nicht bei Hirose-sama in den Staaten. Wäre er bei ihm geblieben, er war sicher, dann wäre seinem jungen Herrn nichts zugestoßen. Dabei war es ausgerechnet Hirose gewesen, der darauf bestanden hatte, dass Shigi bei seiner Frau blieb. Die Enttäuschung in ihren Augen, als er sie verließ, nahm er als Stich in seinem Herzen mit auf die Reise. Kapitel 3: Teil 3 ----------------- Als schwarzer Schatten huschte er durch den wuchernden Garten und schmiegte sich unauffällig an die Hauswand neben der Hintertür. Dank des dichten Gestrüpps um das Grundstück herum konnte ihn kein aufmerksamer Nachbar dabei beobachten als er das Schloss öffnete. Wie ein Ninja aus alten Zeiten sah er aus in dem schwarzen Anzug und der über Kopf und Gesicht gezogenen Maske. Das war ein Erbstück seiner Familie, ebenso wie die spezielle Technik des lautlosen Schleichens. Eigentlich hatte er dieses Leben hinter sich lassen wollen, als er vor zehn Jahren die Stelle bei den Nanjos angenommen hatte. Offiziell gab es keine Ninja-Clans mehr. Doch wie auch die Nanjos weiterhin dem Bushido folgten, pflegte auch Shigis Familie die alte Tradition von Generation zu Generation weiter zu geben. Obwohl die Memphisstreet unglaublich lang war, fand er den Bungalow ohne Probleme. Er hatte eine Karte besorgt und alle Orte markiert, von denen er wusste, dass sie für den jungen Nanjo von Bedeutung waren. Die Memphisstreet kreuzte genau den Weg von der Hauptuniversität zu den Sportanlagen. „In der Nähe vom Park“ hatte Hirose-sama bestimmt gemeint, bevor er unterbrochen worden war. Tatsächlich bestätigte sich diese Annahme. Er schlüpfte in den dämmrig kühlen Flur des alten Bungalows und lauschte. Als nichts zu hören war, schlich er weiter. Sein erstes Ziel war der Keller. Von unten drangen gedämpfte Stimmen und Musik herauf. Es klang wie Fernsehen. Er überprüfte erst die anderen Zimmer. In einem entdeckte er im Schein der Taschenlampe eine schäbige Matratze. Da lagen auch Seile und achtlos in einer der Ecken Hirose-samas Anzug. Shigi zwang sein Herz, ruhig zu schlagen. Die Sorge durfte ihn nicht ablenken. Wenigstens hatte er nun den Beweis, hier richtig zu sein. Er wirbelte in das Zimmer wie die personifizierte Rache der Götter und verschaffte sich in Sekundenbruchteilen einen Überblick über die Lage. Hirose-sama sah er nicht, dafür drei schläfrige Gestalten auf dem Sofa vor der Glotze. Spritzen und Tüten mit weißem Pulver lagen gedankenlos platziert neben Bierflaschen und Zigarettenstummeln. Die Luft roch abgestanden und nach kaltem Rauch und altem Schweiß. Zwei der Männer starrten ihn perplex an, während der dritte geistesgegenwärtig aufsprang und aus dem Zimmer flüchten wollte. Shigi hielt seine Pistole auf das Sofa gerichtet und schickte ihm blitzschnell ein Messer hinterher. Er wollte unter keinen Umständen Hiroses Leben gefährden. Falls er noch am Leben war. Der Mann brach gurgelnd zusammen, noch bevor er die Tür erreichte. Shigi beachtete ihn nicht weiter. Er wusste, wann ein Treffer tödlich war. Er wandte seine Aufmerksamkeit den geschockten Männern auf der Couch zu. „Wo ist Nanjo Hirose?“ fragte er in gefährlich ruhigem Ton. „Oben… im Bad…“ stotterte einer der beiden. Das genügte vorerst. Mit zwei gezielten Schlägen ließ Shigi sie leblos zusammensacken. Dann griff er nach dem gerollten, dünnen Seil an seinem Gürtel, band ihnen Arme und Beine und stopfte ihnen einen Knebel in den Mund, damit sie keinen Lärm machen konnten. Jetzt waren noch zwei übrig. Dank Hirose-sama wusste er, dass mit fünf Gegnern zu rechnen war. Am wichtigsten war jetzt, schnell den jungen Herrn zu finden. Lautlos glitt er die Treppe hinauf in das Erdgeschoss zurück. Wenn Hirose nicht gewusst hätte, was es war, hätte er die warme Flüssigkeit, die ihm über Rücken und Hinterkopf lief, wohl als angenehm empfunden. Ihm war furchtbar kalt. Der eklige Uringeruch verstärkte sich, und Hirose kämpfte gegen das aufkommende Würgegefühl an. Wie er schon hatte feststellen dürfen, waren Knebel und Erbrechen keine gute Kombination. Er war erleichtert, als Ed seine Hose gleich wieder schloss und ihn allein ließ. So konnte er seinen Entführern wenigstens geistig entfliehen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er sich schon in der Gewalt dieser Männer befand. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Seit seinem Telefonat mit Kurauchi musste er hier kauern und neue Demütigungen über sich ergehen lassen. Die Fesselung war stramm wie immer und zwang ihn diesmal in eine knieende Position. Die Halskette umschlang mehrmals den Wasserhahn und verhinderte, dass er sich aufrichten oder die Haltung verändern konnte. Trotz seiner Erschöpfung musste er wach bleiben, denn sobald er zusammensackte, schnürte die Kette ihm die Luft ab. Er hatte schon daran gedacht, sich fallen zu lassen. Vielleicht wäre es möglich, sich auf diese Art selbst zu strangulieren und dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Doch allein die Vorstellung, wie die Polizei dann seine Leiche vorfinden würde, hielt ihn davon ab. Unmöglich, sich so sehen zu lassen: Nackt in einer Badewanne, beschmiert mit getrocknetem Sperma und Pisse und Speichel aus dem Mund sabbernd. Diese Schande musste er sich und seiner Familie ersparen. Warum auch hatte er sich erst so spät gewehrt! Mit freien Armen und Beinen hätten sie selbst zu fünft auf einmal keine Chance gehabt, ihn zu überwältigen. Wie hatte er so unaufmerksam sein können, dass sich jemand von hinten an ihn heranschleichen konnte? Und dann auch noch von solchen Kreaturen hereingelegt worden zu sein… Wenn er sich doch nur selbst befreien könnte, bevor Kurauchi kam! Und trotzdem - hoffentlich kam Kurauchi bald! Als sich erneut die Tür öffnete, fuhr er erschrocken zusammen. Wenn sich ihm jemand näherte, bedeutete das weitere Schmerzen, weitere Erniedrigungen. „Hirose-sama! Bei allen Göttern!“ Obwohl er gerade an ihn gedacht hatte, erkannte er die vertraute Stimme erst, als schon seine Fesseln durchgeschnitten wurden. Heiße Scham ließ Tränen in seine Augen schießen, und er drehte den Kopf so gut es ging zur Seite, fort von seinem Retter. Gleichzeitig untergrub die tiefe Erleichterung seine mühsam aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung und ließ ihn unkontrolliert zittern. Kurauchi murmelte unverständliche Worte, bis er die Kette lösen wollte. „Verdammt! Ein Schloss!“ Er entfernte behutsam den Knebel und stützte Hirose, damit er sich in eine bequemere Position bringen konnte. Hirose spürte die warmen Hände auf seiner Haut. Nein! Nicht! Ich bin schmutzig! Er versuchte, der gut meinenden Berührung auszuweichen. Kurauchi zog rasch seine Jacke aus und legte sie sacht über die bebenden Schultern des jungen Herrn. Er sah die Striemen und Flecken. Er sah die Einstichstellen an den Venen und das Blut an den Schenkeln. Er sah, wie er seinem Blick und seiner Berührung auswich. In seinem Inneren öffnete sich eine Tür. „Herr, ich muss Euch noch einmal kurz verlassen.“ Seine Stimme war leise und hart. „Ich verspreche Euch, sogleich wieder hier bei Euch zu sein. Dann bringe ich Euch zu einem Arzt, und die Polizei…“ „Nein!“ Der Kopf ruckte an der Eisenkette. „Keine Polizei! Keinen Arzt! Ich… bitte nicht…“ Seine Stimme erstarb in einem entsetzten Flüstern. Kurauchi verneigte sich tief. „Wie Ihr wünscht, Herr. Haltet nur einen kleinen Moment noch durch!“ Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. „Was zum Teufel…“ Shigi fuhr herum, zielte noch in der Drehung und schoss dem Mann ohne nachzudenken eine Kugel in den Kopf. Gut, dass er Schalldämpfer benutzte. Einer der Männer musste noch irgendwo frei herum laufen. Mit etwas Glück hatte er das gedämpfte Geräusch des Schusses nicht gehört. „Herr, wisst Ihr, welcher von ihnen den Schlüssel hat?“ „Nein… weiß ich nicht… entschuldige.“ Wie jämmerlich er sich fühlte! Wie unerträglich, dass Kurauchi ihn so sah! Er begann zu schluchzen, obwohl das alles nur schlimmer machte. Er konnte einfach nichts dagegen tun. Er schluchzte noch, als Kurauchi mit dem Schlüssel zurückkehrte. Er ließ sich von ihm aus der Wanne helfen. Der ganze Körper tat ihm weh und dazu kam noch dieser grauenvolle Gestank. Alles begann sich zu drehen, und Kurauchi musste ihn stützten, während er sich erbrach. Nahm das denn nie ein Ende? Er fühlte sich unendlich erbärmlich und beschmutzt. Shigi mietete ein Apartment in einem Vier-Sterne-Motel mit Garage und Durchgang zur Wohnung, damit Nanjo-sama vor Blicken geschützt das Auto verlassen konnte. Während der Fahrt hatte er immer wieder besorgte Blicke in den Rückspiegel geworfen, wo der junge Herr verzweifelt versuchte, sich zu beruhigen. Seine Hände hielten das Lenkrad so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervor traten. Jetzt, im Flur des Apartments stehend, klang Hiroses Stimme schon wieder relativ normal, als er ihm dankte und ihn nach Hause zu seiner Familie schickte. Doch noch immer wichen seine Augen aus. Es war undenkbar, unter diesen Umständen abzureisen. Seine Wunden mussten versorgt werden, ebenso seine Seele. Kurauchi wusste nur zu gut, dass der Hirose, der da vor ihm stand, nur die Hülle des jungen Mannes war, den er seit seinem zwölften Lebensjahr kannte. Wie es tatsächlich in ihm aussah, hatte er sehr wohl bemerkt, als er ihn gefunden hatte. Es musste ihn alles kosten, was er an Fassung noch übrig hatte, um diese äußere Ruhe aufrecht zu erhalten. Bemüht, ihm diesen letzten Rest Würde zu erhalten, sank Kurauchi vor ihm auf die Knie, bevor er sich weigerte, ihn zu verlassen. Und Hirose, dem einfach die Kraft für eine Auseinandersetzung fehlte, gab schließlich nach. Er ließ sogar zu, dass Kurauchi ihm in die Duschkabine half und das Wasser einstellte, doch dann schickte er ihn wirklich fort – wenn auch nur aus dem Badezimmer. Er ließ seinen jungen Herrn wirklich ungern in diesem Zustand allein und wartete nicht lange, bis er an die Tür klopfte „Nanjo-sama? Ist alles in Ordnung bei Euch?“ Unverschämter Weise, doch voller Sorge, trat er ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Warmer Dampf schwebte ihm entgegen. Er sah Hiroses Silhouette in der Dusche und schob entschlossen den Vorhang zur Seite. Hirose war dabei, sich die Haut blutig zu schrubben. „Ich bekomme den Gestank nicht ab“, sagte er hilflos und ließ sich widerstandslos den Waschlappen aus der Hand nehmen. „Ich fühle mich so schmutzig.“ „Das seid Ihr nicht.“ Kurauchi duschte ihm vorsichtig die Seifenreste ab und hüllte ihn in den moteleigenen Bademantel. Hirose ließ es geschehen und lehnte seinen Kopf erschöpft an seine Schulter. Es tat ihm in der Seele weh, den jungen Herrn in solcher Verfassung zu sehen. Aber wenigsten war er gerächt worden. Später wachte Shigi an seinem Bett über den unruhigen Schlaf und dachte über die letzten Stunden nach. Er würde Hirose jetzt nicht verlassen, soviel stand fest. Auch wenn das bedeuten sollte, dass Hiroses Vater ihn entlassen würde, weil er länger als die drei Tage fort blieb. Und auch wenn das bedeutete, seine Frau mit dem Neugeborenen im Stich zu lassen. „Das Schicksal hat unsere Leben eng miteinander verwoben“, sagte er leise und strich Hirose vorsichtig eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Er wusste, Hirose würde nie wieder derselbe sein wie früher. Und er selbst ebenso wenig. Er war an demselben Tag zu einem Mörder geworden, an dem sein Sohn das Licht der Welt erblickt hatte. Doch er bereute nichts. Epilog: -------- Mir, der seit frühster Kindheit nur Hässliches gesehen hatte, kam er wie ein Engel vor. Als ich Hirose Nanjo zum ersten Mal sah, war er wunderschön. Voller Stolz und Selbstbewusstsein jagte er eifrig seinen Idealen nach. Ich wollte doch nur, dass ich für ihn genau so aussah. Wie ein Engel wollte ich ihm erscheinen. Als Ed nicht an sein Handy ging, ahnte ich bereits, dass mir die Sache entglitt. Als ich in den Abendnachrichten sah, warum Ed keine Telefonanrufe mehr entgegennahm, wusste ich, dass mir jemand zuvor gekommen war. Aber ich konnte warten. Es würde andere Gelegenheiten geben. - Ende - Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)