Schwarzer Engel von JinShin ================================================================================ Kapitel 2: Teil 2 ----------------- Es war reiner Zufall, dass das Handy gerade nicht ausgeschaltet war, als der Anruf kam. Kurauchi Shigi stand gerade vor dem Krankenhaus, um schnell eine Zigarette zu rauchen. Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen, und er ging davon aus, dass dies seine letzte Zigarette sein würde, bevor er Vater wurde. Er sah auf das Display. Es war eine unbekannte Nummer. „Moshi-moshi“, meldete er sich. „Kurauchi?“ Der Anrufer war kaum zu verstehen. Shigi drückte das Handy mehr an sein Ohr. Um ihn herum die Menschen schienen plötzlich viel zu laut in ihren Gesprächen. „Ja. Wer ist denn da?“ „Kannst du kommen? Kannst du nach Boston kommen, bitte?“ War das Hirose? Es war so abwegig, ihn mit so kläglicher Stimme zu hören, dass er ihn erst nicht erkannt hatte. „Hirose-sama! Was ist passiert?“ Shigi entfernte sich von den anderen in großen Schritten und steuerte den ruhigeren Garten an, der im halbkreisförmigen Bogen um das Krankenhausgebäude angelegt war. Er konzentrierte sich auf jedes Wort, das Hirose sprach. „Ich kann hier nicht weg, ich habe es versucht, es geht nicht allein. Bitte, du musst mir helfen, sie bringen mich sonst um und dann…“ „Wer hält Sie fest? Wo?“ fragte Kurauchi bestürzt. Hirose klang furchtbar verzweifelt, so kannte er den jungen Nanjo gar nicht. „Keine Polizei, Kurauchi. Kein Wort zu meinem Vater. Aber bitte, komm bitte schnell, ich…“ Abrupt unterbrach er sich, und Shigi dachte schon, die Verbindung wäre getrennt worden. „Hirose-sama? Hirose…“ Dann hörte er auf einmal eine andere, fremde Stimme in amerikanischem Englisch. Im Hintergrund klirrten eiserne Ketten. „Wer hat dich denn los gemacht? Hatte Geoff Mitleid mit deinen Handgelenken? Oder warst du das womöglich selbst?“ Die Stimme nahm einen lüsternen Ausdruck an. „Hast du etwa Gefallen gefunden an den Bestrafungen, hm?“ Shigi hielt die Luft an und lauschte angestrengt mit zusammengezogenen Augenbrauen. Was machten sie mit ihm? „Hey, Johnny, unser Vögelchen will ausfliegen!“ rief der Mann jetzt. Er klang älter als Hirose-sama und hatte eine undeutliche Aussprache. „Ihr Feiglinge.“ Shigi war erleichtert, Hiroses Stimme zu vernehmen. Die Verzweiflung von gerade eben war ihm nicht mehr anzuhören. „Ihr seid zu fünft und trotzdem…“ Ein dumpfes Poltern und Kettengerassel unterbrachen ihn, und Shigi hörte einen unterdrückten kurzen Schrei. Seine Finger krallten sich um das Mobiltelefon. Es war furchtbar, nicht eingreifen zu können. „Wir sind nur vorsichtig“, sagte in überheblichem Ton eine weitere Stimme, wahrscheinlich Johnny. „Das ist nicht das gleiche wie feige, du Stück Kung-Fu-Scheisse.“ Wieder unterdrückte Hirose einen Schmerzlaut. „Schaffst du den Rest allein, oder soll ich euch behilflich sein?“ fragte Johnny. „Kannst bleiben, wie du willst“, antwortete wieder die erste Stimme. Dann wurde der Tonfall barsch: „Und du, knie dich hin. Los, los, und schön den hübschen Arsch hoch, wird’s bald!“ „Nein.“ „Wie bitte?“ In der Stimme klang echte Überraschung. „Nein…“ „Ich glaub’s ja nicht. Johnny, er will’s wohl nicht anders…“ „Bin schon da.“ „Nein!“ Es entstand ein Handgemenge, das mit einem hämischen Lachen endete. Hirose atmete laut und keuchend. „Ist wohl schon ein bisschen wund, was?“ fragte der Mann mit hörbarem Grinsen, und Hirose begann, laut auf Japanisch zu rufen: „Ich bin in einem Keller, in einem leerstehenden Haus in der Memphisstreet, in der Nähe vom…“ Er wurde zum Schweigen gebracht. „Was war jetzt das?“ fragte Johnny schließlich. Ausgerechnet in diesem Moment begann das Handy zu piepen, um anzuzeigen, dass der Akku bald leer sein würde. Einen Augenblick herrschte Stille. Dann fragte der Mann in drohendem Ton: „Wen hast du angerufen?“ Ein kurzer Schrei war die einzige Antwort. Schritte näherten sich dem Hörer. „Wer ist da? Hallo?“ „Was ist da los?“ fragte Shigi und zwang seine Stimme, ruhig und autoritär zu klingen. „Verdammt! Wer bist du, und wie heißt du?“ „Mein Name ist Kurauchi. Ich bin…“, Er zögerte unmerklich, bevor er die nächsten Worte aussprach. „… ein Freund.“ „Okay. Hör gut zu. Wenn du deinem Freund hier helfen willst, dann lass Kohle rüber wachsen. Ist er dir 500 000 Dollar wert?“ „Ja. Aber das wird eine Weile dauern, das ist viel Geld. Ich brauche bestimmt zwei oder drei Tage, um die Summe zusammen zu bekommen. Ich möchte Mr. Nanjo sprechen.“ „Nein. Aber du darfst ihn noch mal hören.“ Er machte irgendetwas mit Hirose, bis er kleine Schmerzlaute ausstieß. „Lassen Sie das!“ rief Shigi. „Sie bekommen das Geld ja.“ „Gut. Und keine Polizei. Sonst siehst du ihn nie wieder, ist das klar! Ich melde mich bei dir!“ Der Typ legte auf, und Shigi knirschte zornig und hilflos mit den Zähnen. Während er zurück zu seiner Frau hastete, telefonierte er bereits mit dem Flughafen und reservierte das nächstmögliche Ticket nach Boston. Nanjo-sama hatte ihn gebeten, niemandem davon zu erzählen. Das war der einzige Grund, weshalb Shigi nicht die Polizei einschaltete und genauso wenig die Familie. Und leider betraf das auch Shigis Frau. Er hatte extra drei Tage Urlaub genommen. Er würde ihr nicht erklären können, warum er so kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes plötzlich verschwand. Nur wegen ihrer Schwangerschaft war er überhaupt in Japan und nicht bei Hirose-sama in den Staaten. Wäre er bei ihm geblieben, er war sicher, dann wäre seinem jungen Herrn nichts zugestoßen. Dabei war es ausgerechnet Hirose gewesen, der darauf bestanden hatte, dass Shigi bei seiner Frau blieb. Die Enttäuschung in ihren Augen, als er sie verließ, nahm er als Stich in seinem Herzen mit auf die Reise. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)