Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 16 ---------- Marco tötete sie aus Willkür. Auf dem Videoband sah ich, dass er sich gerade vom Verlust seiner Freundin und meinem Vertrauensbruch erholt hatte. Der Kontrast zwischen seiner wiedergefundenen Fröhlichkeit und seinem sehnsüchtigen Gesichtsausdruck, als er spürte, dass er starb, machten diesen letzten Film für mich am schlimmsten. Zudem war ich durch die Tatsache, dass Lavande die Festung meiner Intimität nach und nach eingenommen hatte, schwach und angreifbar geworden. Nicht einmal mehr meine eisige Gleichgültigkeit gab mir Schutz. Diese Ohnmacht, zusammen mit meiner Wut und einem einzelnen Sonnenstrahl, verhalfen mir schließlich zur Flucht. Lavande brachte, wenn sie mich besuchte, inzwischen keine Kerze mehr mit und auch das künstliche Licht blieb draußen. Ich wurde zu einem sich vorantastenden, blinden Maulwurf. Dafür wurde mein Gehör umso besser. Wenn sie den Raum betrat, konnte ich sie genau ausmachen und sogar die Geräusche von draußen hörte ich inzwischen durch das dicke Mauerwerk. Zumindest in den letzten Tagen, denn es hatte gestürmt. Ich war dünn geworden, denn inzwischen verweigerte ich erst recht die Nahrungsaufnahme, es sei denn, Luv zwang mich, was sie nicht öfter tat als es notwendig war, um mich am Leben zu erhalten. Meine ohnehin spärlichen Besitztümer hatten sich auf ein weißes Laken reduziert, das ich um die Hüften trug. In gewisser Weise war ich froh, mich nicht sehen zu müssen. Am selben Tag, ja es war hundertprozentig Tag gewesen, als sie mir das letzte Band brachte, machten der fortschreitende Verfall des alten Mauerwerks und wahrscheinlich diverse Kleintiere meinem lichtlosen Dasein ein abruptes Ende. In einer der Fugen zwischen den gigantischen Felsquadern bildete sich ein Loch. Ich war allein, als ich die Reste aus der Fuge zu Boden rieseln hörte. Verschwommen, aber gleißend hell bahnte sich ein Lichtstrahl den Weg von Wand zu Wand und bildete einen kleinen Lichtpunkt auf dem Gestein. Erschrocken versuchte ich, meine Augen scharf zu stellen, um den winzigen Fleck zu betrachten. Es war nur unter großer Anstrengung möglich. Wie lang hab ich kein Licht mehr gesehen? Der Anblick dieses Quäntchens Sonnenlicht war der Tropfen, der das Fass in mir zum Überlaufen brachte. Ich stieß einen unartikulierten Schrei aus, um meinem Zorn über das, was Luv meinen Freunden, meiner Familie und mir angetan hatte, Luft zu machen. Mit dem Schrei begann sich Hitze im Raum auszubreiten. Immer heißer wurde es. Auch dann noch als ich bebend, keuchend und mit halb geöffneten Mund dasaß und registrierte, wie die Ketten an meinen Fußgelenken zerschmolzen, ohne mir auch nur eine Brandblase zu bescheren. Druck baute sich auf, wurde stärker und stärker. Plötzlich flog mein Kerker einfach auseinander. Mir passierte nichts. Von irgendwoher vernahm ich alarmierte Rufe und schelle Schritte, während meine Sicht sich mit Licht füllte. Es war furchtbar. Viel zu hell für meine Augen, die sich so an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ich wurde so heftig geblendet, dass sie mir tränten. Blind taumelte ich zwischen den Gesteinsbrocken hindurch, fiel vornüber, riss mir Hände und Knie auf. Die Rufe, die ich gehört hatte, wurden lauter. Eine derartige Explosion blieb nicht unbemerkt. Hastig sprang ich auf und zwang meine Beine zum Rennen, obwohl mein Verstand mir sagte, das sei unklug, da ich immer noch nicht richtig sehen konnte. Ich rannte einfach. Der Wind trug den Geruch von Salzwasser an meine Nase. Meer. Freiheit. Instinktiv lief ich stolpernd und schwankend darauf zu. Bis ich mit einem Mal keinen Grund mehr unter den Füßen hatte. Ich stürzte hinab ins Meerwasser. Panisch kämpfte ich mich an die Oberfläche und schwamm wie ein Besessener. Nur weg von hier. Weit genug weg, um entweder ein rettendes Ufer zu erreichen oder einfach zu ertrinken. Hauptsache, es hatte ein Ende. Ich fand nicht heraus, wo die Insel gewesen war, von der ich floh. Irgendwann erfasste mich unendliche Ruhe. Ich schwamm einfach und irgendwann hörte ich genauso einfach damit auf und ließ mich treiben. Wie viel Logik, wie viel Glück und wie viel Magie dabei im Spiel waren, weiß ich bis heute nicht, doch irgendwie gelangte ich lebend an die Küste Japans. -- In der Praxis hing ein Bild von einer weißen Taube. Kori betrachtete es eingehend, als er den Raum betrat. Das Tier saß in einer Zelle, eine riesige Bleikugel am Bein und schaute sehnsüchtig zu einem winzigen Fenster hinaus. Hinter den Gitterstäben war ein kleines Rechteck des Himmels zu sehen. „Ich dachte, Psychologen hängen sich nur nichtssagende Bilder in die Praxis“, wunderte er sich. „Wäre das nicht irgendwie langweilig?“ fragte die Psychologin freundlich zurück. „Es heißt „Frieden“. Der Maler hatte wohl einen Sinn für Ironie.“ Kori rutschte in dem Sessel herum, in dem er saß. Er hatte den Platz gewählt, auf dem er ihr gegenübersitzen konnte. „Sieht mir auch danach aus“, murmelte er. „Mein Vater brachte mir ein altes Sprichwort bei. „Zeige einem Einzelhäftling nie die Sonne.“ Das Bild erinnert mich daran. Deswegen hängt es hier.“ „Was passiert, wenn man’s doch tut?“ fragte er, damit sie weiterredete. „Nun... Er zerbricht daran, schätze ich.“ „Oder er kriegt endlich den Hintern hoch und befreit sich“, wandte Kori ein. In ihrem nachdenklichen Gesicht machte sich ein Lächeln breit. „Ein positiver Denker. Das sagte Tanaka-san schon, als er mich anrief. Stimmt es, was man sich über Ihre Bewerbung erzählt?“ „Was erzählt man sich denn?“ „Dass Sie ein überheblicher, größenwahnsinniger Dickkopf sind. Und alles andere als dumm.“ „Also ersteres stimmt garantiert“, meinte er trocken. „Hat das Tanaka-san gesagt?“ „Ja, das hat er“, stellte sie fest Kori lachte verlegen. Seine Haltung lockerte sich ein wenig. Er hörte auf, haarscharf an ihr vorbeizusehen, betrachtete die etwa dreißigjährige Frau. Die ersten Falten in ihrem Gesicht waren Lachfalten um die Mundwinkel und um die wachen grauen Augen. Ihre Bewegungen und ihr Blick wirkten ausgesprochen kultiviert. In krassem Gegensatz dazu standen die filzigen, ungezähmten schwarzen Locken, die ihren Kopf bedeckten und um ihre Schultern wallten. Sein Blick war reserviert freundlich. Ohne Mühe hielt sie ihm stand, sah jedoch weg, als sie spürte, dass ihm der Augenkontakt unbehaglich wurde. Sah sie ihn länger an, schob sich ein Schleier vor seinen Blick und seine Augen wurden so leer, als fühle er nichts. „Ehrlichgesagt...“ fuhr sie fort. „Habe ich, was ihre Intelligenz angeht so meine Zweifel. Nicht an Ihrem Intellekt, doch ich frage mich, ob sie wirklich wissen, was gut für Sie ist.“ Pause, damit er über das Gesagte nachdenken konnte. Sofort roch ihre überdurchschnittlich feine Nase seine wachsende Anspannung. „Tanaka-san sagte, sie wollen sich hypnotisieren lassen. Um Erinnerungen zu entfernen.“ Kori nickte. „Mir sagte er, das könnten sie“, erwiderte er und grenzte sich von ihr ab, indem er ein Bein quer über das andere legte, sodass eine Schranke entstand. „Nun... Ich kann sie manipulieren, ja. Aber ich halte davon nicht viel. Sie rennen vor ihrem Problem davon.“ „Wenn Sie können, tun Sie’s; wenn nicht, lassen Sie’s eben bleiben“, fuhr Kori sie an. Er merkte nicht, dass sich die Luft im Raum deutlich erwärmte, doch ihr entging es nicht und sie wusste es zu deuten. Ein Drache also... Und ein ziemlicher Hitzkopf. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Temperatur dieses Raumes wieder auf ihren ursprünglichen Stand zu bringen?“ fragte sie freundlich. Verwirrung zeichnete sein Gesicht. Nur kurz. Dann feuerte er zurück: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, das zu tun, worum Sie gebeten wurden?“ Der drohende Unterton in seiner Stimme kam so an wie er sollte. Ihre eigenen magischen Fähigkeiten waren begrenzt, das wusste sie. Sollte er sich dafür entscheiden, sie in Schutt und Asche zu verwandeln, würde er dieses Vorhaben ohne Schwierigkeiten in die Tat umsetzen können. Die junge Frau mit den Lachfalten hing an ihrem Leben, also nickte sie widerwillig. Wut machte sich in ihr breit, verschrie seine Dreistigkeit und Dummheit. „Vielleicht sind Sie nicht auf den Kopf gefallen“, seufzte sie. „Aber Sie sind eindeutig blind... und feige... Also gut, Sie haben mein Wort.“ „Werden Sie sich dran halten, wenn ich geistig abwesend bin?“ Anstrengung. Mühsame Beherrschung. Im ganzen Raum roch es danach. Sie lachte. „Sie sind es bereits, wenn Sie jemandem so einen Auftrag erteilen. Ich werde Sie nicht daran hindern, in Ihr Verderben zu rennen, wenn Sie meinen, mir drohen zu müssen.“ „Sehr gut, dann kann’s ja losgehen.“ Seine Augen fielen zu. "Stellen Sie sich eine Treppe vor. Eine Wendeltreppe, die weit, weit nach unten führt“, begann Sie und schob ihn mit einem leichten Zauber über die Grenze zu seinem Unterbewusstsein. Traditionelle Hypnose war bei weitem nicht so effektiv und für sie auch weit aufwändiger, wo der Zauber ihr doch so leicht von der Hand ging. Sie hatte die Fähigkeit von ihren Eltern. Ebenso wie die gute Nase, das wilde Haar und die Eigenschaft, bei Nacht auf vier Beinen zu gehen. Im Gegensatz zum Gründer ihres kleinen Klans war sie Taggeborene. Der Angespannte Körper im gegenüberliegenden Sessel sank in eine lockerere Haltung. Zeitgleich erschien das Bild der Treppe vor ihren Augen, so wie er sie sich im Geiste ausmalte. Gute bildliche Vorstellungskraft, wie sie es von ihm erwartet hatte. „Sie führt zu Ihren Erinnerungen. Je weiter sie hinabgehen, desto weiter gehen Sie in ihrer empfundenen Zeit zurück. Auf jeder Ebene befinden sich Türen. Hinter diesen liegen die Erinnerungen, nach denen wir suchen.“ Sie führte ihn an die Stelle, die kurz vor den Ereignissen lag, die er zu vergessen gedachte. Von dort aus ließ sie sich führen, sah die Erinnerungsfetzen, vor denen er sich fürchtete. Abscheu erfüllte sie. Und Mitleid. Sie hätte ihm gern langfristig geholfen. Als sie zum Ende kamen, gab sie ihm einen Schlüssel in die Hand und ließ ihn die Türen verschließen. Er war fleißig dabei und das machte ihr Angst. Auch die Erinnerung an seine Magie versiegelte er. Schließlich schickte sie ihn wieder hinauf. Nun hätte das Schema vorgesehen, dass er den Schlüssel behielt, doch sie entschied sich dagegen. Eine Weile würde er ein normales Leben führen können, doch was, wenn das Verdrängte sich auf magische Weise Luft machte? Er hatte Drachenblut und gehörte somit, wie sie selbst, zu den ältesten Lebewesen der Erde. Sein Feuer konnte Städte, Länder, ja ganze Kontinente zerstören, wenn es ungebremst aus ihm hervorbrach. Irgendeine Hintertür musste sie seinen Empfindungen lassen. So nahm sie den Schlüssel an sich und blendete sein Bewusstsein völlig aus. Er nahm sie nicht mehr wahr, während sie die Treppe erneut hinablief, eine der Türen wieder aufschloss und einen kleinen Spalt offen ließ. Früher oder später wirst du mit dem Geschehenen zurechtkommen müssen und dies hier wird dich daran erinnern. Vorerst ist es das kleinste Übel. Visionen wirst du sowieso haben, jetzt wo deine Kräfte erwacht sind. Möglicherweise sogar welche aus der Zukunft. Warum nicht auch welche aus deiner Vergangenheit? Immer noch war sie wütend auf ihn. Sie vernahm den trotzigen Unterton in ihren Gedanken sehr wohl und zog sich hastig aus seinem Geist zurück, um nicht in Versuchung geraten, ihm zu schaden. Sachte tastete sie nach seinem bewussten Denken und zog es wieder an die Oberfläche zurück. „Warten Sie draußen“, bat sie ihn, als er wieder bei vollem Bewusstsein war. „Ich gebe Ihnen ein Schriftstück, dass ihnen bestätigt, was hier vorgefallen ist. Nur für den Fall der Fälle...“ „Zu Risiken und Nebenwirkungen...?“ scherzte er sichtlich erleichtert. „Sozusagen“, gab sie zurück und wünschte sich nichts sehnlicher, als zu wissen, ob sie das Richtige getan hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)