Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 15 ---------- Als sie am nächsten Tag (wenn es denn Tag da draußen war) zurückkam, fragte sie mich erneut nach meinem Namen, doch der, den sie fragte, was nicht mehr derselbe. Sein Gesicht war eine Maske, seine Augen leer und seine Gedanken ein Wirrwarr aus Gleichmut, Abscheu und nagenden Schuldgefühlen. „Kori“, sagte er zu ihr und der Kerl hatte meine Stimme. „Ich bin Lavande“, teilte sie mir mit, als wäre dies ein Kaffeekränzchen. „Freut mich“, entgegnete der Fremde und benutzte dabei immer noch meine Stimme. Plötzlich kam mir etwas in den Sinn, was Marco - ein Sprachfanatiker sondergleichen - mir einmal gesagt hatte. Er hatte behauptet, Kori wäre das japanische Wort für „Eis“. Er hatte mir sogar das Schriftzeichen dafür gezeigt und es hatte mir gefallen. Dennoch hatte ich es damals als unpassend empfunden. Jetzt allerdings, beschloss ich, dass es passen würde. Ich würde zu diesem Fremden werden, der mit meiner Stimme sprach, meinen Namen hatte und ihr mit meinen Augen zuschaute, wie sie die Kamera mitnahm. „Ich hab mir die Wände angeschaut. Meine Vorgänger kürzen dich „Luv“ ab. Kommt das von deiner grenzenlosen Nächstenliebe?“ Darauf lachte sie. „Das tun sie, ja. Ich weiß nicht, wie sie darauf gekommen sind. Vielleicht habt ihr in eurer Blutlinie so eine Art Familienhumor. Es ist jedenfalls sehr amüsant, finde ich.“ „Fand ich auch.“ Blutlinie? Meinen Geschwistern war nie etwas geschehen. Wie konnte ich also einen Vorgänger aus meiner Blutlinie hier gehabt haben? Meine Eltern vielleicht? Was war aus ihnen geworden? Sie ging zur Tür, öffnete sie und schaltete gleich darauf die Leuchtstoffröhre aus. Ich lauschte auf die Worte des Fremden, dessen Name „Eis“ bedeutete. „Luv?“ hob er an und ich stimmte ein. „Ja?“ „Verstehe ich dich richtig? Jedes Mal, wenn ich mich widersetze, stirbt jemand?“ „Exakt“ „Und was passiert, wenn du meinen Widerstand nicht überlebst?“ „Nun, dann sollte alles vorbei sein. Das ist die logische Konsequenz, oder?“ „Ja“, stimmten der Fremde und ich ihr zu. „Das ist sie wohl...“ „Und was tust du, bis du es schaffst?“ fragte sie neugierig, so als wäre es selbstverständlich, dass ich in Erwägung zog, sie umzubringen. „Keinen Widerstand leisten. Das ist die logische Konsequenz, oder?“ „Ja“, ging sie auf meinen makabren Scherz ein. „Das ist sie wohl...“ Fortan nahm sie mir nicht nur die räumliche Freiheit, sondern sämtliche Rechte, die ich in jeder funktionierenden Gemeinschaft gehabt hätte. Ich wurde unfrei in dem, was ich sagte und erst recht in dem, was ich tat, doch was immer sie mir auftrug, ich erledigte es augenblicklich. Mein einziger Widerstand bestand daran, dass ich ihr das Vergnügen missgönnte, die Früchte ihrer kleinen und großen Grausamkeiten zu ernten. Ich tat, als wäre mir alles egal, wurde nach und nach zu dem eiskalten Fremden, der ich sein wollte. Zwischen uns entbrannte ein Wettstreit. Sie dachte sich immer listigere Schikanen aus, um mir wenigstens einen verärgerten Seufzer zu entlocken. Ich reagierte im selben Maße wie sie sich anstrengte mit Gleichgültigkeit, was sie von Neuem anstachelte. Schließlich war sie es leid und ließ mich einfach in dem stockdunklen Raum, ohne mich weiter zu beachten. Ich wähnte mich dem Siege nahe. Entweder sie würde mich töten, oder sie würde mich freilassen. Angesichts des Lebens, das ich hier führte, war mir beides mehr als recht. Ich hatte keine Ahnung, dass es sich bei dieser Pause nur um die Ruhe vor dem Sturm handelte. Sie gab mir Zeit, mich etwas von körperlicher und seelischer Folter zu erholen, während sie weit zum Gegenschlag ausholte. Geduldig wartete sie, bis ich mir sicher war, das Leben hier irgendwie hinter mich bringen zu können. Erst dann kam sie wieder zu mir in die Kammer, statt der Leuchtstoffröhre eine Kerze in der Hand. Ist ihr der Strom ausgefallen, oder hat sie heute einen romantischen Tag? Ein gehässiges Grinsen breitete sich in meinem Verstand aus. „Wie geht es dir?“ fragte sie zärtlich. „Wunderbar!“ rief ich aus. „Wie romantisch... Heute mit Kerze?“ „Man vermisst dein loses Mundwerk fast, wenn man es dir verbietet, oder dich lang nicht besucht. Nur weiter.“ Damit verdarb sie mir den Spaß am Spott. „Sei jetzt spontan“, sagte ich, was für jemanden, zu dem man dies sagte ein Ding der Unmöglichkeit war. Ähnlich verhielt es sich mit „Hey Kori, hab jetzt eine große Klappe.“ „Verstehe... Vielleicht sollte ich dir das als Aufgabe stellen, um zu testen, ob es unter extremen Bedingungen entgegen der landläufigen Meinung doch funktioniert.“ Ich verfluchte mein loses Mundwerk. Nun brachte ich sie auch noch auf Ideen. Ich unterdrückte den Impuls, mir auf die Unterlippe zu beißen, versteckte meine Nervosität gründlich in der untersten Schublade meiner Gedanken. Dass ich keine schnippische Antwort hatte, gab ihr jedoch Auskunft genug über meinen Gemütszustand. „Keine Sorge. Vorerst hab ich was Besseres.“ Langsam schritt sie bis auf Armeslänge an mich heran. Sie kniete sich vor mich, sodass unsere Gesichter auf gleicher Höhe waren und brachte die brennende Kerze genau zwischen unsere beiden Gesichter. „Auspusten bitte“, bat sie kokett. Ich blies die Kerze aus. Dunkelheit legte sich über den Raum wie ein Schleier. Der Geruch von auch stieg mir in die Nase. Ihr Gesicht kam näher an meines, ihre Hände legten sich auf meine Schultern. Ich spürte ihren Atem auf meinen Wangen. Es war absurd, aber ich glaubte zu wissen, dass sie lächelte, bevor sie ihre Lippen auf meine legte. Ich gab einen erstickten Laut von mir, stieß sie von mir, zu Tode erschrocken, so heftig, dass sie fast bis an die gegenüberliegende Wand schlitterte. Mit einem metallischen Poltern fiel die Kerze samt Halter zu Boden und rollte ein Stück weit. Sie folgte dem Geräusch, hob die Kerze auf und entzündete die Flamme erneut. „Ich würde sagen“, begann sie, als sie sich zum Gehen wandte „diese Runde geht an mich.“ Nur kurze Zeit später brachte sie mir ein Videoband, auf dem ich meinen „italienischen Eltern“, wie ich sie nannte, beim Sterben zusehen konnte. Ich hätte es wissen müssen, dachte ich, angeekelt von ihr und von mir selbst. Warum sollte sie mir das Privileg eines eigenen Körpers lassen? „Du bist so dumm“, tadelte ich mich. „Herzlichen Glückwunsch. Nun bist du schon ein dreifacher Mörder.“ -- „Kori! Mann! Aua! Wach endlich auf!“ Jazz schüttelte ihn heftig. „Dass du rumrollst und Müll laberst, weiß ich ja, aber dass du im Schlaf auf deine Mitmenschen einschlägst, ist mir neu.“ Kori versuchte, seinen Atem wieder in einen langsameren Rhythmus zu zwingen. „Sorry...“ entschuldigte er sich betroffen. „Schon vergessen“, gab sie zurück und machte eine wegwerfende Bewegung. Sie kuschelte sich an ihn. „Alles okay?“ „Hm“, brummte er, gewohnt einsilbig. „Denk schon.“ „Hm...“ wiederholte sie nachdenklich. Seit einigen Tagen brannte es ihr auf der Seele, was sie gesehen hatte. Warum musste es ihr gerade jetzt wieder in den Sinn kommen? Sie beschloss, dem sinnlosen Weglaufen ein Ende zu machen. Sie musste fragen. „Wo wir bei schlaflosen Nächten sind... Wem gehörte das goldene Haar in deiner Jackentasche?“ „Du hast das also gesehen...“ sagte er abwesend. Sie spürte deutlich wie er zusammenzuckte und das versetzte ihr einen Stich. Dennoch zwang sie sich, abzuwarten, wie er es erklären würde. Sie wollte ihm vertrauen. „Ich hab nichts mit ner Anderen, wenn das dein Verdacht ist“, versicherte er. Zu diesem Zeitpunkt stimmte es sogar noch. Kori wusste nicht, wie das Haar in seine Tasche gekommen war, doch es zu finden war ein Schock gewesen, der die Alpträume verschlimmert hatte. Darum, dachte er, hatte er wohl auch um sich geschlagen. Natürlich war sie keineswegs überzeugt. „Was dann...?“ fragte sie und er hörte deutlich, dass sie mit ihrer Stimme rang, die sich gern überschlagen und wütend herumschreien wollte. Er atmete tief ein. Das Geräusch war kein durchgehender Luftzug, sondern zitterte. Offensichtlich musste er sich zu irgendetwas überwinden. Ein Geständnis? „Also gut“, entschloss er sich schließlich und kletterte aus dem Bett, das sie teilten. Also gut, was? Also gut, es ist Schluss? Raus aus meiner Wohnung? Ängstlich folgte sie ihm ins Wohnzimmer. Er kramte in Schubladen. Suchte er nach Sachen, die sie hier vergessen hatte? Yasemin brach der Schweiß aus. Ihre Hände und Füße gefroren. „Kori...?“ fragte sie zögerlich. Er kam mit einem Schriftstück zurück, nicht mit den wenigen Habseligkeiten, die sie bei ihm ließ. Hauptsächlich waren es sowieso Pflanzen, die nicht mehr in ihr Zimmer passten, wie ihre Eltern behaupteten. Die Tatsache, dass ihre Tochter sich nicht mit dem Stadtleben anfreunden konnte, obwohl sie hier geboren war, und deshalb jedes Zimmer, das sie benutzte mit Pflanzen voll stopfte, missfiel ihnen sehr. Kori hingegen fühlte sich wohl in der grünen Oase, in die sich seine Wohnung seit ihren regelmäßigen Besuchen verwandelt hatte. Er war nur froh, die Pflanzen nicht selbst pflegen zu müssen. „Das klingt billig, aber ich weiß nicht, wie das Haar in meine Tasche gekommen ist. Ich habe nur angesichts der Alpträume einen Verdacht.“ Mit diesen Worten gab er ihr den Zettel. „Was ist das?“ fragte sie, immer noch mit brüchiger Stimme. „Eine Art... psychologisches Gutachten. Die Bestätigung, dass Teile meiner Erinnerung durch Hypnose... vergraben sind, ich aber ansonsten relativ normal ticke.“ Er schaute zu ihr rauf und zum ersten Mal fühlte es sich an, als wäre er wirklich kleiner als sie. „Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen“, sagte sie verunsichert. „Ich hab das damals machen lassen“, erklärte er, weil ich mit den Erinnerungen nicht leben wollte. „Dummerweise kommen sie zurück... Zumindest glaube ich das. In Form der Alpträume. Ich weiß nicht, ob es so abgelaufen ist, wie ich es träume, aber die Hauptperson in diesen Träumen hat goldblondes Haar. Vielleicht ist das Haar von ihr.“ Yasemin betrachtete das Schriftstück, dann wieder ihren Freund. „Dir ist klar, dass diese Erklärung verdammt wackelig ist, ja?“ fragte sie und wurde langsam wirklich sauer. „,Das hat eine Frau aus meinen Alpträumen da reingelegt’ rangiert auf der Liste der überzeugenden Ausreden auf Platz 90.“ „Auf einer Skala von 1 bis 10“, versicherte er ihr. „Ist mir klar, solang dir klar ist, dass ich mich gerade völlig vor dir entblöße und die Wahrheit fast immer am unglaubwürdigsten klingt.“ Dieser Ausdruck in seinem Gesicht... Der war neu. Was war das? „Ich hab wirklich Angst“, erklärte er. Seine Stimme zitterte, klang aber nicht flehend oder schrill, was die Äußerung nur noch schlimmer machte. „Vor ihr und davor, dich... Ach, den Mist sagen sie in den dummen Filmen immer. Du weißt schon was ich meine.“ Minuten vergingen. Keiner der beiden sprach. Yasemin überflog das Gutachten in ihren Händen. Es enthielt unter anderem eine Klausel, die darauf hinwies, wie persönlich dieser Brief war und das damit entsprechend umzugehen war. Die Methoden, mit denen verfahren worden war wurden genau erklärt und auch, dass dies auf Wunsch des Patienten und gegen den Rat der Psychologin geschehen war, die das Dokument unterzeichnet hatte. Jazz kämpfte lang mit sich, doch entschied sie sich letztendlich dafür, ihm zu glauben. Immer noch stand er ihr schweigend gegenüber, den Blick auf den Boden geheftet. „Männer“, sagte sie und seufzte, als wäre sie genervt. „Du hättest ne stinknormale Thera machen sollen, wie jeder andere Mensch auch. An deiner Stelle würd ich das nachholen, aber flott.“ Sie piekste ihn in den kitzeligen Bauch. Kori hob den Kopf und bot ihr ein Bild grenzenloser Erleichterung dar. „Ich werde drüber nachdenken. Versprochen.“ Sie grinste. „Komm her du kleiner Schisser“, stichelte sie und schlang ihm die Arme um den Hals. Er stellte sich auf Zehenspitzen und küsste sie in den Nacken. „Du bist echt... n Volltreffer“, flüsterte er dankbar. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)