Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 14 ---------- „Ohayo gozaimasu“, sagte er und verbeugte sich gerade tief genug, dass es unterwürfig, jedoch nicht kriecherisch wirkte. Der Bewegungsablauf war so fließend als wäre er in Japan geboren. Sein Gegenüber erwiderte den Gruß in autoritärerer Manier, nahm dann wieder hinter seinem kleinen, überladenen Schreibtischchen Platz und musterte den jungen Mann auf der anderen Seite. Er trug eine winzige, randlose Brille mit leicht abgedunkelten Gläsern. Die wachen Augen dahinter verbarg sie kaum. Eine sehr diskrete Sehhilfe, die ihn ganz nebenbei um schätzungsweise zwei Jahre älter machte. So sah er nicht aus wie 17, sondern wie 19. Allerdings schien sie auch schon das Teuerste zu sein, was er besaß. Das Sakko, das ihm um die Schultern hing war ihm zu groß und hätte wohl billig ausgesehen, wäre es nicht so tadellos in Ordnung gehalten worden. Ähnlich verhielt es sich mit dem Rest seiner Erscheinung. Er war unauffällig und offensichtlich arm, wenn nicht sogar mittellos, doch im Gegensatz zu den Reicheren seiner Mitbewerber wirkte er sehr bemüht und aufmerksam. Tanaka-san, seines Zeichens Personalchef und rechte Hand des Geschäftsführers von Kodansha Technologies, mochte ihn irgendwie. In vorzüglichem Englisch begann das Vorstellungsgespräch. „Ihre Bewerbung ist äußerst merkwürdig. Sie haben nicht einmal einen Lebenslauf, oder ein Zeugnis beigelegt.“ „Ich besitze weder das Eine, noch das Andere. Meine Stärken liegen eher in der Praxis“, antwortete der Andere in ebenso hervorragendem Englisch. „Ich habe mein halbes Leben vor dem Computer verbracht und viel dabei gelernt. Wenn ich eins kann, dass ist es programmieren.“ Tanaka-san war äußerst amüsiert über diesen Enthusiasmus. Er fand es direkt schade, dass er den Jungen würde ablehnen müssen, weil er... nun, weil sein Vorhaben, hier Fuß zu fassen geradezu illusorisch war. „Virgin-san, Sie haben nicht einmal einen Abschluss, ihre Adresse, wenn ich das überhaupt so nennen kann, liegt im ärmsten Viertel der Stadt und ihr Japanisch ist dürftig.“ Er kratzte sich am Kinn und sammelte die Informationen aus der handschriftlichen Bewerbung. „... Wie lange leben Sie noch gleich in dieser Stadt?“ „Seit ungefähr zwei Monaten“, war die höfliche, bestimmte Antwort. Tanaka-san merkte dem Jungen eine gewisse Routine im Beantworten derartiger Fragen an. Er seufzte kaum hörbar. „Bei wie vielen Firmen waren Sie schon?“ Kurzes Suchen in einer schwarzen Mappe. Dann wanderte ein Stapel Papiere über den Schreibtisch. Tanaka-san staunte nicht schlecht, als er die Absagen von circa 30 Konkurrenzfirmen überflog. „Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt“, erklärte er. „Was machen Sie, wenn sie gerade keine Vorstellungsgespräche führen und Einstellungstests machen?“ Ehrgeiz hatte er wirklich, aber offensichtlich keinen Realitätssinn, wenn er es nach 30 Absagen immer noch versuchte... „Lernen“, antwortete Kori Virgin immer noch todernst. Vorbildlich, dachte Tanaka-san und musste sich Mühe geben, nicht zu lachen. „Naja, und nachts arbeite ich im Supermarkt.“ „Wo bleibt denn da der Schlaf?“ „In der U-Bahn. Hierzulande ist es da so schön still, dass man gar nicht anders kann, als zu schlafen.“ Nun musste Tanaka-san wirklich lachen. Kori lächelte freundlich, aber distanziert zurück. „Sie sind also fest entschlossen.“ „Das bin ich.“ „Ich kann mich über Sie nur wundern.“ „So geht es mir mit diesem Land, mit Verlaub gesagt“, plauderte Kori. Das Lächeln in seinem Gesicht wurde eine Spur breiter. Es hatte etwas Kaltes, Berechnendes. Wo hatte er in seinen jungen Jahren nur gelernt, so genau auf sich zu achten? Der Personalchef kannte kaum Erwachsene, die sich so unter Kontrolle hatten und Virgin war ein Teenager. „Sie werden sich gleich noch mehr wundern“, sagte er und gab dem Bewerber einige Blätter. „Das ist der Einstellungstest. Sie können ihn im Büro nebenan unter Aufsicht machen. Bringen Sie mich dazu, mich noch mehr zu wundern und bestehen Sie ihn besser als die Anderen.“ Tanaka-san hielt das für einen gelungenen Scherz. Sein Gegenüber hatte nicht mal ein Abitur. Er konnte froh sein, dass der Test englischsprachig war. Zu seinem großen Erstaunen verstand der Junge diesbezüglich keinen Spaß. „Sie sagen also, wenn ich bestehe und besser bin als die anderen Bewerber, bekomme ich den Job? Egal, ob ich einen Abschluss oder Berufserfahrung habe?“ „Ja“, bestätigte Tanaka-san und musste erneut sehr an sich halten, um nicht in Gelächter auszubrechen. Was für ein Spaß! Er beschloss, noch eins draufzusetzen und fügte hinzu: „Den Job, eine riesengroße Wohnung in bester Lage, ein Auto...“ „Lieber ein Motorrad“, unterbrach Kori und schrieb eifrig mit. „Den Führerschein brauch ich dann allerdings auch...“ „Gut, wie Sie wollen!“ Das war einfach göttlich! Dieser Junge war vollkommen verrückt! „Des weiteren finanziere ich Ihnen natürlich Ihre weitere Ausbildung, inklusive Studium, wenn Sie denn eines anstreben. Sie werden die beste Universität des Landes besuchen und zuvor natürlich eine namhafte Schule hier in der Stadt. Dafür werde ich mich persönlich einsetzen. Oh, und wenn Sie ein bisschen Hacking lernen, befördere ich Sie auf der Stelle in die Sicherheitsabteilung, die hier mit Abstand am besten bezahlt wird.“ „Gern. Sehr großzügig. Vielen Dank. Da bräuchte ich aber einen wirklich guten Rechner für zuhause.“ „Das Neuste auf dem Markt!“ versicherte Tanaka-san und schlug lachend mit der Faust auf den Tisch. „Perfekt“, freute sich Kori mit ihm. „Einen Moment bitte.“ Er kritzelte auf seinem Block herum und reichte ihm seine Mitschrift des Gesprächs. „Könnte ich das hier dann von Ihnen unterschrieben, beglaubigt und in zweifacher Ausführung bekommen?“ „Aber sicher, Sie armer Irrer!“ prustete Tanaka-san, setzte sein Zeichen unter das Blatt und gab es an seine Sekretärin weiter, die es sofort kopierte und beglaubigte. Sie warf ihrem Chef einen verwirrten Blick zu, als sie mit den Papieren zurückkam. Gleich darauf erklärte sie Kori jedoch gefasst, wo er den Test machen konnte. „Ich wünsche Ihnen viel Glück. Davon werden Sie sicher eine ganze Menge brauchen“, meinte Tanaka-san. „Entschuldigen Sie, wenn ich da anderer Meinung bin“, sagte Kori höflich. „Aber ich bedanke mich trotzdem und wünsche Ihnen meinerseits, dass Ihre Bilanzen wirklich so gut sind, wie sie es der Öffentlichkeit mitteilen. Sie werden etwas Geld brauchen, um Ihre neue Arbeitskraft zu fördern.“ Tanaka-san lachte wieder. Wenn er das seinen Kollegen auf der nächsten Besprechung erzählte! Was würde das für eine lustige Sitzung werden! „Oh, und noch was... Es ist mir etwas peinlich, deswegen wollte ich es nicht in unserem provisorischen Vertrag festhalten... Ich brauche die Hilfe eines Augenarztes, um mich wieder ans das Tageslicht zu gewöhnen... und einen Psychologen. Einen, der sich auf Hypnose versteht.“ „Bekommen Sie“, garantierte ihm Tanaka-san, denn er war ganz derselben Meinung, insbesondere was den Psychologen betraf. „Danke vielmals“, sagte Kori, verabschiedete sich und folgte der Sekretärin in das benachbarte Büro, um den Test zu machen. Sein zukünftiger Arbeitgeber kugelte sich noch immer vor Lachen, als die Tür des Büros hinter ihm zufiel. Es verging dem Personalchef jedoch blitzschnell, als er den Test eine Stunde später zurückbekam. Nicht nur hatte Kori die Programmieraufgaben spielend leicht und fehlerlos gelöst; nein, er hatte auch in vielen Fällen sehr viel innovativere Lösungen gefunden, als Tanaka-san sie in seiner ganzen Laufbahn von einem seiner Mitarbeiter gesehen hatte. An sein Wort und das kopierte Schriftstück gebunden, sah er sich gezwungen, die anderen Bewerber nach Hause zu schicken. Er nahm davon Abstand, diese Geschichte seinen Kollegen zu erzählen. Nur der Geschäftsführer und Eigentümer, Kodansha-san höchstpersönlich erfuhr davon und riet seinem Untergebenen, zu seinem Wort zu stehen, wenn er etwas auf sich hielt. Das Prinzip der Ehre wurde in seiner Firma immer sehr gepflegt. Einen Monat später hatte sich Kori die erste Arbeit (und einen satten Gehaltscheck) mit in die Dreizimmerwohnung genommen, die er mit Rick teilen würde. -- Zwei Tage ließ sie mich warten. Ein Bediensteter brachte mir Wasser und reichlich zu Essen. Auch meine daraus resultierenden Dringlichkeiten durfte ich verrichten, aber das war auch schon alles. Ich verschmähte die Köstlichkeiten, trank mäßig - und wartete. Am dritten Tag, falls mein Zeitgefühl noch funktionierte, kam sie zu mir in die Dunkelheit zurück. Sie brachte die Leuchtstoffröhre mit und einen anderen Gegenstand, den ich fürchten lernen sollte: Eine Videokamera mit langlebigem Akku und besonders großem Bildschirm, auf dem man sich seine Aufnahmen direkt ansehen konnte. Gerade außerhalb meiner Reichweite stellte sie das Gerät ab. „Bisher sehe ich nichts von deiner Strafe“, spottete ich. „Lass mich lieber gehen, statt leere Drohungen auszuspucken.“ „Du siehst dich also immer noch in der Lage, Forderungen zu stellen?“ Ich antwortete nicht. „Warum tust du das? Und was waren das für Flügel?“ fragte ich so gefasst wie möglich. „Drachenflügel in deinem Fall, wie du richtig bemerkt hast. Wie du sicher weißt, gibt es viele Teile der „menschlichen“ DNS, die zwar lesbar sind, aber deren Funktion nicht geklärt ist. Wenn es einmal soweit ist, wird man feststellen, dass es einige rezessiv vererbte Gene gibt, die für die Flügel verantwortlich sind. Bringt man den Träger dieser Gene in Gefahr, oder macht man ihn wütend genug, setzt sein Körper seine Substanz frei, die den Abschnitt für die Flügel aktiviert... Der Rest ist Magie.“ „Das beantwortet nur eine meiner Fragen und ganz nebenbei klingt es nach absolutem Schwachsinn.“ „Denk ein bisschen nach und es beantwortet dir beide Fragen. Zeit dazu wirst du zur Genüge haben, wenn du dir den Film angesehen hast.“ Ein hartes, eisiges Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Vorausgesetzt, du bist danach nicht... anders beschäftigt.“ Langsam kam sie auf mich zu, brachte ihr Gesicht ganz nah an meines. „Und nun... viel Vergnügen“ flüsterte sie. „Merk dir, was du in den nächsten Stunden fühlst. So fühlt sich die Hölle an. Ich weiß es. Ich lebe darin schon...“ ein amüsierter Unterton schlich sich in ihre Stimme. „... eine kleine Ewigkeit.“ Sie drehte sich um und schaltete die Kamera im Hinausgehen ein. Schnee aus schwarzen und weißen Punkten erschien auf dem Display. „Mach dir keine Sorgen, wenn du mal was verpassen solltest“, sagte sie noch. „Der Film ist kurz und wiederholt sich, bis ich mich dazu entschließe, ihn anzuhalten. Oh, und du hättest dich besser von deinem Ziehbruder verabschiedet. Jetzt wo du ihm das hier angetan hast, wird er dich sicherlich nicht wiedersehen wollen.“ Leuchtstoffröhre aus. Film ab. Die dominierende Farbe des Filmes war blutrot. Das Blut, das floss, gehörte Lucia, Marcos Freundin. Wer auch immer sie in Lavandes Auftrag getötet hatte, war ein guter Regisseur gewesen. Mir verschwamm die Sicht als sich meine Augen mit Tränen füllten. Im zweiten Durchgang sah ich, dass der Mörder, oder die Mörderin, falls sie sich doch selbst die Hände schmutzig gemacht hatte, eine Notiz dagelassen hatte, die in meiner Handschrift geschrieben hatte. Ebenso wie einen Haufen anderer kleinerer Indizien. Es folgte eine wohl heimlich gemachte Aufnahme von Marco in unserem gemeinsamen Zimmer. In blinder Wut hatte er die Sachen in meiner Hälfte durcheinandergeworfen und alles zertrümmert, was nicht niet- und nagelfest gewesen war. Zitternd und weinend hockte er auf seinem gemachten Bett, im Gesicht einen Ausdruck völligen Unverständnisses. „Alles nur für meinen Namen?“ fragte ich hilflos in den leeren Raum. Das Licht der Aufnahme beleuchtete die Wände. Um den Film nicht erneut ansehen zu müssen, las ich die Botschaften, die andere hier hinterlassen hatten. Zwischen Strichlisten und Worten in Sprachen, die ich nicht beherrschte, fand ich nach einer Weile einen Satz, den ich verstand. Ein Aufschrei entfuhr mir. Ich las: „Die schlimmste Strafe ist nicht der Tod, sondern das Zurückbleiben.“ Der Schrei war der erste von vielen. Ich schrie meine Wut, Trauer und Fassungslosigkeit hinaus bis meine Stimme mir den Dienst versagte. Irgendwann ließ ich mich kraftlos auf den Boden fallen. „Es tut mir leid“, presste ich hervor und vergaß dabei, wer Lucia letztendlich getötet hatte. In meinen Augen war ich es gewesen, als ich meinen Namen für mich behalten hatte und mit diesem Gedanken legte ich Luv den Grundstein für alles, was folgte. -- Yasemin hasste Klassenausflüge. Noch mehr hasste sie es, mit der Klasse ins Theater zu gehen. Nichts gegen das Theater, aber musste man es ihr denn wirklich mit langweiligen Analysen und Besprechungen verleiden? Folglich war sie alles andere als begeistert, hier zu sein und nun das: Man hatte ihre Karte zweimal gedruckt. Neben ihr stand ein ca. 16 oder 17 Jahre alter Junge mit demselben Platz, den sie belegte. „Es tut mir leid“, beteuerte die Frau hinter der Kasse. „Die Vorstellung ist komplett ausverkauft. Kann ich einem von Ihnen eine Vorstellung an einem anderen Tag anbieten? Selbstverständlich kostenlos.“ „Hören Sie, ich muss mit meiner Schulklasse da rein“, sagte Yasemin entschlossen. „Glauben Sie nicht, dass ich dazu Lust habe, aber ich muss nun mal.“ Die Verkäuferin zuckte hilflos mit den Achseln. „Junger Mann, sein Sie ein Gentleman und lassen Sie der jungen Dame den Vortritt. Ich bitte sie.“ Er entschuldigte sich auf eine umständliche Weise, die er nur aus einem schlechten Reiseführer haben konnte. In gebrochenem Japanisch merkte er an: „Ich muss... hinein... Ist sehr wichtig. Ich... nach Hause... Afrika. Morgen. Nur heute Theater für mich.“ Augenblicklich tat er Yasemin leid. Im Gegensatz zu ihr wollte er die Vorstellung wirklich sehen, aber man würde sie vermissen und angesichts der Tatsache, dass sie die Matheprüfung garantiert in den Sand setzen würde, brauchte sie diese Note hier, um im nächsten Jahr weitermachen zu dürfen. Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung, die beide zufrieden stellen konnte. Möglicherweise konnte er ihr erzählen, was geschehen war...? Nein, er konnte ja kaum Japanisch. Außerdem flog er morgen zurück in seine Heimat. Und sie nahm ihm seine einmalige Chance. Sie schämte sich. Doch dann plötzlich kam ihr ein Einfall. Sie beäugte ihn genau, worauf er nervös von einem Fuß auf den anderen pendelte. Sein Blick war unergründlich, wie eine Tarnkappe, die all seine Gedanken und Gefühlsregungen verbarg, was sie ein wenig nervös machte. Trotzdem. Sie würde sich nicht wie die arroganten Gänse in ihrer Klasse benehmen und ihn einfach rausdrängeln. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Wir... äh... könnten uns den Platz teilen. Was meinst du? So furchtbar dick sind wir ja nun beide nicht.“ Eher war das Gegenteil der Fall. Yasemin war ein burschikoses Knochengestell, das die meisten asiatischen Männer zudem überragte und musste sich deswegen so einiges von ihren Mitschülerinnen anhören. Selbst der Ausländer war noch einen halben Kopf kleiner als sie, doch schien sein Auftreten ihn größer zu machen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, angesichts ihres Vorschlags, um gleich darauf wieder hinter seiner Maske aus Gleichgültigkeit zu verschwinden. Die Kassiererin betrachtete ihn Hoffnungsvoll, auch wenn man ihr ansah, dass sie die Lösung sehr ungewöhnlich fand. Schließlich nickte er und damit sollte sich für Yasemin ein langweiliger Theaterabend in Wohlgefallen auflösen. Sie schlenderten den Gang hinunter, ohne dass sich jemand traute, etwas zu sagen. „Wie viel Japanisch verstehst’n du?“ fragte Yasemin endlich. Sie machte nicht einmal den Versuch, ihn zu siezen oder irgendwelche Höflichkeitsformeln zu benutzen. Egal wen sie traf, sobald sie persönliches Interesse an ihrem Gesprächspartner hatte, vergaß sie die Höflichkeit sowieso. „Das Wesentliche“, erwiderte er freundlich. Von Unbeholfenheit und Dialekt keine Spur. „Wow, du sprichst wirklich gut“, bemerkte sie folgerichtig. „Moment mal... du hast doch nicht...?“ „Doch, hab ich“, gestand er verlegen. „Ich hab gelogen.“ „WAS?! Du Arsch!“ rief sie entrüstet, worauf sich augenblicklich alle umstehenden Leute nach ihnen umdrehten. Einige empörte Worte wurden im Flüsterton gewechselt. „Und ich naive, dumme Kuh hatte auch noch Mitleid!“ „Tut mir leid“, sagte er ehrlich bemüht und sehr viel leiser als sie. „Ich muss dort nun mal wirklich rein. Es steht ne Menge für mich auf dem Spiel.“ Es klang, als meine er es ernst. Sie schnaubte verächtlich, hatte ihm jedoch schon vergeben, weil sie selbst angesichts ihrer Größe gern solche Tricks anwendete, um etwas zu bekommen. Außerdem war er anscheinend trotz des verschlossenen Gesichtsausdrucks, den er immer noch hatte, auf seine Weise freundlich, ja vielleicht sogar sympathisch und interessant. „Also gut“, gab Yasemin gespielt pikiert nach. Wieder dieses flüchtige Lächeln. „Darf ich Euer Wohlerzogenheit dann zu ihrem Sitzplatz geleiten?“ fragte er übermäßig höflich und reichte ihr den Arm. „Wenn Sie mich nicht schon wieder bescheißen dürfen Sie, äääh... Fremder-san.“ Feixte sie zurück und hakte sich ein. „Kori“, stellte er sich knapp und ohne Umschweife vor. „Kori? Wie... Wie die Eiswürfel? Na das passt“, befand sie. „Ich bin Jazz.“ Sie hasste ihren vollen Namen und so hatte sie sich einen kurzen, bündigen Spitznamen angeeignet. „Jazz? Wie die chaotische Musikrichtung, die die Ohren beleidigt? Na unsere Eltern wussten scheinbar, was aus uns werden würde.“ Sie lachten beide. In der ersten Hälfte des Stückes quetschten sie sich noch Hinterbacke an Hinterbacke auf den Stuhl. Kori beobachtete das Geschehen auf der Bühne aufmerksam, kundschaftete aus, wer die Brosche tragen würde, die er für seinen seltsamen Auftraggeber stehlen sollte. Eines Tages war der Mann einfach in seinem Büro erschienen und hatte ihm ein Heilmittel gegen die seltsamen Krämpfe und die Hitze in seinem Rücken angeboten, die ihn seit der Begegnung mit Lavande heimsuchten. Im Gegenzug brachte er dem Mann, was dieser von ihm verlangte. In der Pause tauschte er unbehelligt den Stein in der Brosche gegen eine Fälschung aus. Fast immer hing den Gegenständen, die er stehlen sollte eine Legende über Magie und längst vergessene Zeiten an. Kori fand das amüsant. Ansonsten interessierte es ihn nicht. Die zweite Hälfte verbrachte Yasemin bereits auf seinem Schoß und von dem Stück bekamen beide nicht mehr sehr viel mit, weil sie viel lieber scherzten und sich gegenseitig anfuhren. Er war völlig entspannt und damit umgänglicher; sie hatte sich an seine Gegenwart gewöhnt und es sich in den Kopf gesetzt, mit ihm Freundschaft zu schließen. Als der Vorhang fiel, ruhte sein Kinn auf ihrer Schulter und er döste friedlich. Es sah aus, als würden sie sich beide schon sein Jahren kennen. Den gleichgültigen Ausdruck hatte sie mit ihrer ungewöhnlich offenen Art einfach von seinem Gesicht gefegt. Jazz war froh, dass er nicht morgen abflog. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)