Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 12 ---------- Ich erwachte auf dem Bett meines vorübergehenden Zimmers. Es war ausgerechnet Nicks wütende Stimme, die mich aus dem Tiefschlaf riss. „Sie können ihn doch nicht einfach mitnehmen! Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?!“ Polizisten liefen durch das Erdgeschoss. Die konnten nur meinetwegen hier sein. Blitzschnell war ich auf den Beinen und öffnete das Fenster. Was für ein Glück, dass ich in voller Montur auf das Bett gelegt worden war. Wäre es anders gewesen, hättest du auch ein paar schöne bunte, faustgroße Flecken im Gesicht gehabt, Nick. „Mischu-san“, hörte ich einen freundlichen Beamten von unten sagen. „Dies hier ist keine Hausdurchsuchung, sondern eine Festnahme. Dafür brauchen wir in diesem Fall keinen Durchsuchungsbefehl, sondern einen Haftbefehl und den sehen sie hier. Ist Virgin-san nun im Hause oder nicht?“ Nein, dachte ich. Ist er nicht. Wenn er sich von dem Gespräch lösen und aus dem Fenster klettern kann. Genau das konnte ich jedoch nicht. Der Fluchtweg lag offen vor mir, ich würde nicht einmal fliegen müssen und selbst das wäre möglich gewesen. Aber ich musste ja unbedingt dem Gespräch dort unten lauschen, ohne mich einen Zentimeter zu bewegen. Warum war es mir so ein großes Bedürfnis, zu erfahren, was Nick dem Beamten sagen würde? Nun, er sagte: „Nein, er ist nicht da. Wüsste auch nicht, warum er hier sein sollte.“ woraufhin der Polizist wahrscheinlich lächelte. „Mischu-san“, begann er. Du kannst nicht lügen, dachte ich den Satz für mich zu Ende und kletterte endlich hinaus. Ich sprang ab und rollte mich unten geschickt über die Schulter ab... direkt zu Füßen einer Gruppe weiterer Polizisten, die in diesem Moment von allen Seiten auf mich zugestürmt kamen. „Kori Virgin, Sie sind festgenommen wegen dringenden Tatverdachts des Diebstahls in 52 und des Mordes in 4 Fällen. Mord? MORD?! Wie lang hatte ich geschlafen und was war in der Zwischenzeit geschehen? Hatte Ronga mich an die Polizei verraten? Mir bei dieser Gelegenheit gleich ein paar Morde angehängt, die er und/ oder Luv begangen hatten? Verdammt, ich hatte keine Zeit, jetzt festgenommen zu werden! Unsanft zog man mich vom Boden hoch. Ein jüngerer Polizist hielt sich für komisch, als er mir auf die gute alte amerikanische Weise meine Rechte nannte. „Sie haben das Recht…“ „Loslassen, oder hier brennt’s“, unterbrach ich ihn mit einem guten Maß Gelassenheit in der Stimme. „Dann addieren wir Brandstiftung gleich zu ihren Vorstrafen. Ich denke, das kann sowohl Ihnen als auch mir egal sein, denn das Strafmaß für Mord kennen Sie sicherlich.“ „Noch habe ich niemanden umgebracht“, antwortete ich. „Ich würde höchst ungern jetzt damit anfangen.“ „Machen Sie sich nicht selbst das Leben schwer“, gab der Polizist zurück. Unsanft schob man mich auf einen Streifenwagen zu. „Oh, mein Leben wird dadurch nicht leichter oder schwerer, dass ich ein paar wildfremde Menschen in Schutt und Asche lege“, erklärte ich zynisch. „Das Strafmaß für Mord kennen Sie ja sicherlich und den hab ich ja angeblich schon begangen.“ „Ärgern Sie ihn besser nicht. Zu Ihrem eigenen Schutz“, bestätigte mich Nick. „Vielleicht sollten wir die beiden auch auf Drogen testen lassen?“ schlug der lustige Beamte mit den amerikanischen Rechten vor. Langsam aber sicher hatte ich die Schnauze voll. Ich atmete tief ein und spürte augenblicklich, wie die Hitze meine Kehle hinaufkroch. Doch mit ihr kam noch etwas anderes an die Oberfläche: Das Bild von Rick, wie er halbtot auf dem Boden meiner rußgeschwärzten Wohnung lag. Was gab mir das Recht, Menschen, die nur ihre Arbeit machten, in lebende Fackeln zu verwandeln? Kontrollierte Wut – Und unkontrollierte, sagte Ronga irgendwo in meinem Hinterkopf. Ich kämpfte das Feuer nieder in dem plötzlichen Wissen, dass ich dazu nur fähig war, weil ein gewissenloser Verräter es mir beigebracht hatte. Statt eines Feuerballs stieß ich einen heftigen Seufzer aus und ließ mich ohne Gegenwehr abführen. „Ich verklage Sie!“ drohte Nick. „Wegen Hausfriedensbuch! Ruhestörung! Diebstahl! Sie können nicht einfach meinen einzigen Freu- äh Hausidioten mitnehmen!“ „Apropos Idiot“, murmelte ich. „Wir sind keine Freunde, Idiot.“ Hätte Jazz neben mir gestanden, hätte sie mir nun wohl gesagt, dass auch ich manchmal ein miserabler Lügner war. Mein Talent zum Lügen reichte allemal, um mich durch das Verhör zu schlagen und meinen armen Vernehmer zur Weißglut zu treiben. „Vielleicht“ begann er entnervt „hören Sie ja endlich auf, den Unwissenden zu spielen, wenn wir Ihnen was Schönes zeigen. Sakamoto-san, bringen Sie mir doch bitte den Gegenstand, den wir in Mischu-sans Haus gefunden haben. Mein Gesicht blieb regungslos, obwohl ich wusste, wovon er sprach, sobald ich das fehlende Gewicht in meiner Hosentasche bemerkte. Nick musste mir das Auge des Orion abgenommen haben, möglicherweise, um mich zum Bleiben zu zwingen und somit war es den Polizisten in die Hände geraten, während ich selig geschlafen hatte. Cunno... Was war das schon wieder? War es womöglich Nick, der mich verraten hatte? Mir fiel ein, wie wütend er gewesen war, als sie mich wegbrachten. Nein, Nick konnte nicht lügen und somit konnte er es auch nicht gewesen sein. Mein Verstand bot mir eine Vielzahl von Gründen, die das Gegenteil bewiesen, aber ich ignorierte sie. Ich glaubte einfach nicht, dass er es gewesen war. Vertrauen, nun fängst du doch wieder damit an. Unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl herum. Wie erwartet brachte der Assistent meines Vernehmers das Auge des Orion und legte es vor mir auf den Tisch. „Zusätzlich zu dem hier haben wir Rick Muligan-san von der Arbeit abgeholt. Er hat versucht, sie zu decken, aber letztendlich bestätigte er, den Stein bei Ihnen gesehen zu haben.“ Andächtig senkte ich den Kopf, nahm mir eine Denkpause und hob ihn dann wieder. „Und wen habe ich umgebracht?“ Mein Gegenüber wurde noch eine Spur angespannter. Jetzt war er nicht mehr genervt, er war beinahe am Ende. Eine Weile rang er mit sich, dann antwortete er: „Halten Sie mich nicht zum Narren. Sie kennen die betreffenden Personen.“ „Sind sie kürzlich gestorben?“ Die Besorgnis in meinem Gesicht schien ihn zu irritieren. Nun war er es, der sich eine Pause gönnte, indem er einmal den Raum durchschritt und dann wieder zu mir zurückkam. „Ich denke, das reicht für heute. Wir haben genug, um Sie hier wochenlang festzuhalten. Die Zeit ist gegen Sie, Virgin.“ „Amen“, sagte ich. Wenig später saß ich in einer Zelle und starrte Löcher in die Luft. Durch das Fenster schien etwas Tageslicht hinein. Zeige einem Einzelhäftling nie die Sonne. Gedanken aus dem Nichts. Ich dachte an Luv und versuchte mich zu erinnern, was geschehen war. Zum ersten Mal seit Langem. Ich wusste, dass es einen Grund gehabt haben musste, dass ich mein Gedächtnis hatte manipulieren lassen. Ebenso war mir klar, dass Nick und Rick in Lebensgefahr schwebten und Jazz womöglich bereits tot war. „Die schlimmste Strafe ist nicht der Tod, sondern das Zurückbleiben.“ Mit fortschreitender Zeit befiel mich eine eigenartige Lethargie. Es kam mir vor als wäre ich woanders. So bekam ich kaum mit, dass die Tür meiner Zelle sich in den Abendstunden öffnete. Mechanisch folgte ich dem Uniformierten, der mich hinausführte. Man brachte mich in einen Raum, der bis auf einen Tisch und einige Stühle vollkommen leer war. Ronga stand an der Wand auf der anderen Seite. Sie hatte einen Spiegel, dessen Rückseite sicherlich durchsichtig war. Wie zwei Gladiatoren in der Arena standen wir uns gegenüber. „Schön dich zu sehen“, höhnte ich. Er schwieg, doch ich hatte den Eindruck, die Beleidigung ginge dieses Mal nicht so spurlos an ihm vorüber wie zuvor. Das zu sehen tat gut, machte mich aber auch nervös. Ich spürte einen leichten Stich in Höhe meiner Schläfen. Wütend versuchte ich, Ronga aus meinem Geist zu verbannen, doch er durchbrach meinen Schutzwall als wäre er aus Pergamentpapier und sandte mir ein Bild. Rick saß irgendwo in diesem Gebäude. Er wirkte abgekämpft, sah aus, als würde er gleich einschlafen. Wir setzten uns warteten bis mein Begleiter sich außer Hörweite zurückgezogen hatte. Dann sagte Ronga leise und mit großer Anerkennung in der Stimme: „Sie haben ihn lange verhört, aber es hat viel Zeit in Anspruch genommen, ihn zum Nachgeben zu bewegen. Ich halte ihn für sehr tapfer.“ Er ließ die Lautstärke auf pianissimo abfallen. „Wir gehen später. Und zwar zu dritt.“ „Luv, er und du“, stellte ich tonlos fest. „Nein“, erwiderte Ronga. „Rick, du und ich.“ „Macht dir das Spaß? Erst bringst du mich in diese Lage und dann spielst du den Samariter. Für so armselig hätte ich nicht mal dich gehalten.“ „Ich habe dich nicht in diese Bedrängnis gebracht.“ „Klar… Und Luv sitzt irgendwo und strickt Socken.“ Er schob mir ein Stück Papier über den Tisch, das ich auseinander faltete. 24 Stunden, las ich. Darunter Datum, Uhrzeit und Lavandes Unterschrift. Hatte ich ihre Handschrift jemals gesehen? Diese Linien passten jedenfalls zu ihr. Sie waren weit ausholend und der Stift kratzte. „Es war nicht leicht, die Herren beim Einlass davon zu überzeugen, dass dieses hier ein absolut ungefährliches Schriftstück ist.“ „Was soll das sein?“ „Ein Abkommen. 24 Stunden lang geschieht nichts. Sie schrieb es gestern Abend. Was deine Anschuldigungen angeht, habe ich eher deinen Auftraggeber im Verdacht. Den Mann, der dir regelmäßig dieses... Gebräu gab.“ Er schüttelte sich leicht. Vielleicht eine Geste, die von seinem Wolfsdasein herrührte. „Vermutest du das, oder weißt du es, weil du mit ihm unter einer Decke steckst?“ fragte ich misstrauisch. „Ich fühle mich nicht zu Männern hingezogen“, sagte Ronga und lächelte beinahe entschuldigend. Dann wechselte er das Thema. „Der Stein ist vor wenigen Stunden entwendet worden und wie du meiner Gestalt entnehmen kannst, ist es dunkel. Ich bin hier, um dich hinauszubringen… und weil das Ultimatum abgelaufen ist, das ich dir gestellt habe.“ „Ein bisschen unfair, findest du nicht? Ich hatte gar nicht die Möglichkeit, dir den Stein zu bringen.“ „Es tut mir leid, dass es so gekommen ist, aber du hättest ihn mir auch so nicht gebracht. Sei ehrlich.“ Wohl nicht, gestand ich mir ein, sagte aber kein Wort. „Ich tue das wirklich nicht gern“, verkündete er, stand auf und ließ sich von dem Wachmann eine Münze geben. „Wirklich“, fuhr ich ihn an. „Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun? Dir den Nobelpreis für Doppelzüngigkeit verleihen?“ „Die Quelle deiner Beschimpfungen versiegt wirklich nie“, antwortete er und lächelte wehmütig. Er ließ die Münze über seine Fingerknöchel tanzen. Ganz beiläufig, so schien es. Unwillkürlich senkte ich den Blick, um dem rollenden Metall zu folgen. Ich realisierte viel zu spät, dass Ronga sich nicht einfach zu beschäftigen versuchte. Tat er überhaupt jemals etwas, das nicht Sinn und Zweck hatte? Die Lethargie des Tages umfing mich erneut, begleitet von den Gedanken, die mir gekommen waren, als ich allein gewesen war. Jenen Worten, denen ich bewusst den Ursprung abgesprochen hatte und die mich dafür mit Alpträumen straften. So fühlt sich die Hölle an. Der Raum verschwamm mir vor den Augen, als Ronga in gleichmäßigem Tonfall zu sprechen begann. „Schließ die Augen, denn es ist spät und du bist müde.“ Er hypnotisierte mich. Wo war der Wachmann, wenn man ihn brauchte? Wieder dieses leichte Ziehen in der Schläfengegend. Man konnte niemanden hypnotisieren, der sich nicht dazu bereit erklärte, aber wenn man gewisse Fähigkeiten hatte und ein bisschen nachhalf… Mir fielen die Augen zu. „Du gehst hinab. Die lange Wendeltreppe in deinem Geist hinunter. Unten angekommen wirst du die Kammer öffnen, deren Schlüssel du glaubtest, der Frau gegeben zu haben, die du für dessen Aufbewahrung bezahltest. Sie hat dich gewarnt. Erinnerst du dich?“ „Schick mich nicht da runter“, flüsterte ich matt, unfähig, nicht zu gehen. Ronga stieß mich unsanft in eine gut verschlossene Kammer voll mit verdrängten Erinnerungen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)