Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Intermezzo: Drachensteigen -------------------------- Wild mit den Armen rudernd, brachte ich Stockwerk um Stockwerk im Sturzflug hinter mich. In rasender Geschwindigkeit kam der Erdboden näher. Ich überschlug mich einige Male. Das Zittern schwoll augenblicklich an, mein Rücken schien zu verbrennen. All das binnen tausendstel Sekunden. Schockiert schloss ich die Augen und wartete auf den Moment, in dem das Leben angeblich an einem vorüberzog. Jenen Teil des Todes, vor dem ich mich am meisten fürchtete. Doch plötzlich riss mich etwas in die Höhe. Alle Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Was zur Hölle war das? Der Deus ex Machina, der an schlecht getarnten Fäden auf die Bühne herabgeschwebt kam? Mit aller Kraft sog ich Luft ein und zwang mich, die Augen wieder zu öffnen. Irgendetwas zog an meinen Schulterblättern. Nein, es fühlte sich an, als hätte ich davon noch ein weiteres Paar. Und auch zwei weitere Arme. Verstört sah ich hinunter, während ich auf die Geräusche eines Hubschraubers oder eines anderen fliegenden Objektes lauschte. Die Straße unter mir entfernte sich wieder. War ich gerettet? Ich versuchte, meinen Körper zu drehen, um zu sehen, was über mir war. Das jedoch hätte ich besser gelassen. Wie ein Stein fiel ich wieder hinunter. "Nein!" brüllte ich gegen die an mir vorbeisausende Luft. "Nein, verdammt, ich will nicht!!!" Dieser Satz beschwor mir ein Bild herauf. Eisig kalte, himmelblaue Augen. Wie gründlich war ich doch darin gewesen, sämtliche Erinnerungen an sie zu tilgen. So fühlt sich die Hölle an, Kleiner, hatten die dazugehörigen Lippen zu mir gesagt. Das brachte meinen Verstand zum Aussetzen. Wie in Trance riss ich die Arme auseinander. Über mir hörte ich ein Geräusch, das ich aus Kindertagen kannte. Es klang, als würde ich einen Drachen steigen lassen. Nur war ich dieses Mal der Drachen. Und tatsächlich stieg ich. Ich flog. Zwei gigantische Drachenschwingen zogen mich durch die Luft nach oben. Kräftig schlug ich damit, um sogleich im Segelflug über die Dächer und Leuchtreklamen Tokios zu gleiten. Ich spürte den Wind, wie er sich unter meinen "zweiten Armen" sammelte und mir Auftrieb gab. Leider war mein Flug nur von kurzer Dauer. Mein Herz raste, mein Atem ging schwer und meine Seiten begannen zu stechen. Die Flügel auf meinem angenehm kühlen Rücken fühlten sich an wie meine Beine nach einem langen Arbeitstag oder einer dieser furchtbaren Nächte, in denen ich mit Kissen um mich warf: Untrainiert und schwach. Sobald ich ein Dach erblickte, dass nicht allzu tief unter mir war, ließ ich mich - extrem unbeholfen - fallen. Der Aufprall war hart. Jeder Teil meines Körpers schmerzte, wie nach der schlimmsten Kneipenschlägerei meines Lebens. Noch nie war ich darüber so glücklich gewesen. Diese paar Schrammen würde ich von Rick nicht heilen lassen. Sie bezeugten, dass ich lebte. Magie und Realität hin oder her. Ich lag hier, hörte meinen rasselnden Atem in den Lungen, berührte verdreckten Beton mit meinen Händen, roch den Gestank der Stadt. Ich lebte. Mit dieser Gewissheit wichen Todesangst und jegliche verbliebene Kraft aus mir. An Ort und Stelle schlief ich in genau der Haltung ein, in der ich gelandet war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)