Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 4 --------- Entgegen einer beunruhigend tiefroten Sonne fuhren wir zurück in die Stadt. Während der Fahrt ließ ich mir das Gesagte noch einmal durch den Kopf gehen. Mein logisches Denken befand sich im Zwiespalt. Logisch gesehen konnte Ronga all die Dinge, meinen Namen eingeschlossen, nur durch eine übersinnliche Macht wissen. Ich glaubte Rick, dass er ihn nicht vorgewarnt hatte. Und keine Quelle hatte ihm von meinen Gedanken während des Gespräches berichtet haben. Doch aus dieser logischen Erkenntnis folgte etwas für mich erschreckendes. Sie zwang mich, an Magie und Wahrsagerei zu glauben und damit meine Definition der Realität über Bord zu werfen. Um von solch philosophischen Gedankengängen fortzukommen, konzentrierte ich mich auf das, was wirklich geschah. Ich musste Rick nachhause bringen und dann zu diesem Trottel fahren, der heute in meinem Büro gewesen war. Nein, nicht fahren, denn das Zittern würde bald anfangen. Das Zauberwort hieß "öffentliche Verkehrsmittel". Deswegen wollte ich Rick ja heimbringen. Ansonsten würde ich meine Kawasaki zu Schrott fahren. Zwar erhoffte ich mir nicht viel von der Begegnung mit Mr. Monitor, doch wenn man sonst gar keine Hoffnung hatte, war "nicht viel" ja schon eine ganze Menge. Ricks Stimme riss mich aus meinen Gedanken. "Kori!" rief er hinter mir. "Falsche Ausfahrt!" Ich war auf der Stadtautobahn eine Ausfahrt zu früh abgebogen. Gerade suchte ich nach einem geeigneten Ort, um zu wenden, als ich eine hochgewachsene Bohnenstange mit einem Pizzakarton unterm Arm in ein Hochhaus rennen sah. Na das nannte ich Arbeitsmoral. Ruckartig hielt ich das Motorrad an. Ricks Kopf knallte gegen meinen Rücken, der augenblicklich im Takt meines Herzens zu pochen begann. Mir wurde warm als hätte ich Hitzewallungen. Und das als achtzehnjähriger junger Mann. "Kannst du allein nachhause kommen? Ich muss noch was erledigen", erklärte ich. Rick deutete auf die nahe Bushaltestelle und gab mir meinen Zweithelm. Ohne ein Wort des Dankes sprang ich vom Motorrad und wetzte die Treppenstufen hinter Nicholas Gary Mischu her. Mein Gott, was für ein Scheißname. Ich hatte immer gedacht, mit Nachnamen Virgin zu heißen wäre eine Strafe. Aber Gary klang wie "Gay" und Mischu eignete sich für einige anzügliche Buchstabendrehereien. Ich fand ihn im vierten Stock, wo er die bestellte Pizza einem offensichtlichen Fast-Food-Junkie übergab. Wieder stieg mir der Geruch frischer, warmer Pizza in die Nase, woraufhin mein Magen leise knurrte. Mischu kassierte und lächelte erfreut, als man ihm einen honorablen Bonus für die schnelle Lieferung dazugab. Ich musste an meine Schulzeit denken und an die bebrillten oder zumindest irgendwie immer bebrillt aussehenden Streber. Mischu hätte da voll und ganz reingepasst, fand ich. Ich leider auch, wäre es nur nach meinen Noten gegangen. Die Haustür fiel zu, er drehte sich um und stand mir genau gegenüber. Sein Atem, leicht keuchend und flach von dem Treppensprint, wurde von einem erstaunten "Du?" unterbrochen. "Ja, ich", sagte ich nur, weil mir nichts besseres einfiel. "Verfolgst du mich?" Seiner Stimme war anzuhören, dass er noch immer wütend auch mich war. Der sollte mir helfen? "Nein", gab ich kurz angebunden zurück. "Wie kommt es dann, dass du hier bist?" Immer noch der gleiche ärgerliche Unterton. "Hast du hier Bekannte?" Mein Kopf flog fast hin und her. Bekannte? Ich wusste ja gar nicht mal genau, wo ich hier hingefahren war. "Es ist mir verdammt unangenehm, das zu sagen, aber mir bleibt wohl nichts anderes übrig..." "Bist du doch schwul?" unterbrach er mich. "Nein, hattest du Hoffnungen, Hase?" feixte ich zurück. "Bloß nicht. Also, was ist dir so unangenehm?" "Ich brauch deine Hilfe." "Ach? Wirklich?" Natürlich musste er sich da erst einmal in Pose stellen. Er schien mindestens zehn Zentimeter zu wachsen und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. So konnte er wenigstens nicht die Zeigefingergeste machen. Ein sehr leises "Ja" entrang sich meiner Kehle. Unbemerkt ballte ich meine Hände zu Fäusten und löste sie wieder. Ich war wütend und beschämt, doch ich durfte nicht dem Impuls nachgeben, meine Faust in sein überlegenes Gesicht zu pflanzen. "Tja, da hast du Pech gehabt", sagte er von oben herab. "Ich hab dir ja gesagt, ich helfe dir nicht mehr." Wie auf ein Stichwort wurde mein Rücken noch ein wenig heißer. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Fehlte nur das Zittern. Panik streckte ihre Finger nach mir aus. "Doch, das wirst du", entgegnete ich scharf und griff mir Mischu, um ihn zu dem Fahrstuhl zu zerren, den wir beide links hatten liegen lassen. "Heeeh! Was soll das?!" schrie er mich an und wehrte sich, indem er sich wie eine Schlange wand und mit den Armen fuchtelte. Wenigstens tat er nicht mehr so überheblich. Ohne genau zu wissen warum fuhr ich aufs Dach. Mischu hatte ich gegen die Wand gepresst. Wenn jetzt jemand zustieg, war ich geliefert. Doch das Glück war mir hold. Die Türen glitten erst ganz oben auf und ein frischer Wind wehte uns entgegen. Der Pizzabote wurde von mir aus dem Fahrstuhl geschubst, strauchelte und schlug der Länge nach hin. "Was SOLL das?!" kreischte er wieder und drehte sich auf den Rücken. "Was willst du?!" "Ich will, dass du dir das hier ansiehst", antwortete ich überraschend ruhig und gab ihm einen der Splitter vom Auge des Orion. Innerlich sah ich mich schon auf dem Boden meiner Wohnung liegen. Verängstigt und schreiend. So wie er jetzt. Ich hatte das Bedürfnis, ihm aufzuhelfen, kam ihm aber bewusst nicht nach. Vielleicht war es für mich von Vorteil, wenn er Angst hatte. Er streckte seine Hand aus, die vom Abfangen des Sturzes verdreckt und teilweise aufgeschürft war, und nahm den Stein entgegen. Erst dann wagte er, aufzustehen. Ähnlich wie Ronga wog er den Stein in der Hand. Dann zuckte er mit den Schultern und stellte die Handfläche der freien Hand zur Schau. "Was immer das war, jetzt ist es kaputt", sagte er hilflos. "Deswegen sollst du dir das ja ansehen. Wenn ich dir die anderen Einzelteile gebe, kannst du es dann zusammensetzen?" Möglichst, ohne es hinterher auf mich fallen zu lassen, fügte ich in Gedanken hinzu. Zu meiner großen Erleichterung versuchte er nun, mich anzulügen. "Wie kommst du darauf? Du weißt wie ungeschickt ich bin. Und mit was soll ich das bitteschön zusammenbauen? Holzleim?" "Nicholas?" Ein Mundwinkel zuckte, als er mich seinen Namen sagen hörte. "Sag Nick, okay?" "In Ordnung, Nick. Warum lügst du?" Resigniert antwortete er: "Ich kann's also immer noch nicht... Okay, okay, ich weiß vielleicht, wie man das Ding wieder heile kriegt. Aber woher weißt du, dass ich es weiß? "Tut das was zur Sache? Ich will nur, dass du das Ding reparierst, wenn du's kannst." "Da, schon wieder. Eine Gegenfrage." "Du versuchst doch nicht vom Thema abzulenken?" flötete ich. "Nein" Das kam eine Spur zu laut. "Nick?" "Was?" Ebenfalls zu laut. "Du kannst nicht lügen." Er seufzte. "Also gut. Mal angenommen, du hast die anderen Einzelteile. Warum sollte ich dir helfen?" Er wird dir helfen, den Stein in seine Ursprungsform zurück zu wandeln. Gegen eine Gegenleistung, hatte der Wahrsager behauptet. "Vielleicht kann ich mich ja revanchieren", bot ich an. Er stutzte. "Dass ich nicht lache! DU?!" "Weißt du nicht mehr wie pissfreundlich ich sein kann, wenn es um mein Leben geht?" "Dann bist du das letzte Mal vor jemandem geflüchtet, der dich umbringen wollte?" "Was wäre wenn?" "Dann würd ich mich ärgern, weil ich dir geholfen hab. Immerhin wäre ich dich jetzt los." "Nick", sagte ich ernst. "Hilfst du mir nun oder nicht?" Zitterten meine Hände, weil es hier oben so kühl war, oder hatte dieses andere Zittern schon angefangen? "Was springt für mich dabei raus?" "Sag mir was du willst und ich geb es dir", sagte ich eilig. Er hob die Hand an den Mund. "Hmmm", machte er. "Man sagt doch, Frauen stehen immer nur auf Machos. Die Männer, die wirklich gut für sie sind, lassen sie links liegen... Da du so ziemlich der größte Macho bist, den ich kenne und angeblich nicht schwul..." Ich hatte tatsächlich immer gute Flirtchancen, obwohl ich fand, dass ich eher mittelklassig aussah. "Okay, ich helf dir. Wie heißt sie?" "Ich weiß nicht." Na wunderbar, dachte ich. Aber er hatte ein Foto, das er mir hinhielt. Ein schlechter Schnappschuss zeigte eine junge Frau, etwa in seinem und meinem Alter, inmitten einer tanzenden Meute. Ihr blaues Haar wehte ihr leicht um den Kopf, ihre Haut, von der sie nicht wenig zeigte, sah trotz der miserablen Belichtung zart und gesund aus. Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte selbst auf einen Griesgram wie mich ansteckend. Für Nick war sie eindeutig eine Nummer zu groß, aber eine solche Frau würde leicht zu finden sein, wenn sie sich öfter dorthin begab, wo er sie fotografiert hatte. "Okay, ist gebongt. Ich helf dir." Bemüht, die Hände ruhig zu halten, gab ich ihm die restlichen Splitter. Dann ging alles sehr schnell. Er warf sie allesamt hoch. Ich schrie entsetzt auf, erinnerte ich mich doch noch an seine Schusseligkeit. Die Luft schien sich in lauter kleinen Wirbeln zu bewegen. Nick streckte die Arme von sich, führte seine Hände kurz wie zum Gebet zusammen und formte anschließend eine Schale aus seinen vom Sturz verdreckten Handflächen. Das Auge des Orion fiel als Ganzes hinein. Es glühte eine Weile, in der ich befürchtete, es würde wieder auseinanderfallen. Doch dann hielt er es mir nur stillschweigend und mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck unter die Nase. Ich griff nach dem Stein, doch er zog seine Hände wieder weg und verstaute den Gegenstand in seiner Jackentasche. Nun war es an mir, zu fragen was das sollte. "Den bekommst du erst, wenn ich sie zu meinem ersten Date einlade." "Das geht nicht!" begehrte ich auf. "Ich muss ihn noch heute Nacht weitergeben! Wir erledigen das mit dem Mädel gleich morgen! Ich geb dir mein Wort!" "Woher weiß ich, dass du mich nicht bescheißen willst?!" "Idiot, dann eben nicht", zitierte ich ihn und packte ihn erneut. Er zappelte, schlug nach mir, traf aber nicht. Ich hatte die Hand in seiner Jackentasche (heilfroh darüber, dass er nicht die Hosentasche als Zwischenlager gewählt hatte) als er wieder versuchte, sich aus meinem Griff zu lösen. Er rutschte aus und ging zu Boden. Damit tat er das Einzige, womit ich nicht gerechnet hatte. Auch hatte ich nicht bemerkt, wie nah wir dem Rand des Daches gekommen waren. Ich kippte nach vorn und über die Brüstung. In Filmen schrie man in solchen Momenten gern. Ich war so überrascht, dass ich keinen Laut herausbekam. Ronga hatte recht gehabt. Den Stein brauchte ich jetzt nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)