Sakuya von Namako (Last Night) ================================================================================ Kapitel 1: Meine eigene Welt ---------------------------- War es Vorhersehung? Oder einfach nur mein Instinkt? Ich wusste, dass sich etwas ändern sollte... Ich hatte es schon immer geahnt... Ich wusste es, aber... Ich konnte es einfach nicht glauben... Nein... Ich... Ich wollte es nicht glauben... Oder? ... Part 1: Kazuoka 1. Kapitel: Meine eigene Welt „Airashi! Aufstehen! Du kommst noch zu spät zur Schule!“ Langsam schlug ich die Augen auf, meine Mutter hatte mich – wie jeden Morgen – pünktlich um halb acht geweckt. „Komme!“, rief ich noch etwas verschlafen, drehte mich noch einmal um und zog die Decke erneut über meinen Kopf. Ich musste wieder eingeschlafen sein, denn erneut rief mich meine Mutter, nun scheinbar in meinem Zimmer, denn sobald ich eine Antwort gab, hörte ich, dass meine Zimmertüre geschlossen wurde. Wieder drehte ich mich um, doch diesmal um Aufzustehen. Dabei fiel mein Blick kurz auf den kleinen grünen Wecker, der neben meinem Bett auf einem kleinen Tischchen stand und anzeigte, dass es gleich 8 Uhr war. >Scheiße!<, war mein einziger Gedanke, bevor ich mich schleunigst aus dem Bett bewegte und ins Bad stürmte. Dort putzte ich mir eiligst die Zähne und wusch mein Gesicht. Für Make-up würde ich heute keine Zeit haben, doch das war mir in dem Moment eher egal, zumal ich wusste, dass meine Freundin das Zeug sowieso nicht mochte. Schon wieder waren meine Gedanken bei ihr gelandet. Wieso geschah mir das in letzter Zeit so häufig? Ich meine... Klar, wir waren gut befreundet, ehrlich gesagt die besten Freundinnen, aber in letzter Zeit wanderten meine Gedanken wirklich zu oft zu ihr. Dann fiel mir wieder ein, dass ich mich eigentlich beeilen wollte, da ich sonst zu spät zur Schule käme. Ich schnappte mir meine Schuluniform, die im Bad über der Wäscheleine hing und schlüpfte schnell hinein. Noch einmal hörte ich meine Mutter rufen: „Airashi! Wir haben schon Viertel nach acht! Wenn du so weitermachst, kommst du wirklich zu spät!“ Ich gab nur eine kurze Antwort: „Ja, ja! Ich komme ja schon!“ Ich rannte zurück in mein Zimmer und blieb kurz in der Türe stehen. >Wo hab ich sie nur... Ach da...< Langsam trat ich ihn den rot gestrichenen Raum mit dunkelblauem Teppichboden ein, ging vorbei an meinen total überlasteten Schreibtisch, der fast zusammenbrach, von der Last der Blätter mit Zeichnungen, Notizen und jede Menge anderem Kram, den ganzen Büchern für die Schule und einer Menge anderen Sachen, die eigentlich nichts auf einem Schreibtisch zu suchen hatte. Neben dem Schreibtisch stand mein Bett, das meiner Meinung nach ziemlich normal war, im Gegensatz zu dem Computer, der auf einem Holztisch gegenüber an der Wand stand und einem sofort ins Auge fiel, sobald man das Zimmer betrat. Der große Monitor war mit Stickern von Schauspielern, Sängern, Bands und Manga- und Animehelden beklebt, doch ich hatte mich auch selber kreativ beschäftigt und einige Window-Color Bildchen an ihm befestigt. Der PC, die Tastatur und die Computer-Maus waren dabei auch nicht besser weggekommen. So sah das Ganze ziemlich bunt und vor allem sehr eigenartig und flippig aus. Direkt neben dem PC stand dafür der klumpige, alte und vor allem langweilig aussehende Kleiderschrank in einem tristen Braun. Ich hatte schon vorgehabt, ihn auch ein wenig zu stylen, doch meine Mutter war dagegen gewesen, da es ein Erbstück war und nicht „verhunzt“ werden sollte. So beließ ich es also bei dem Braun und beklebte dafür meinen Fernseher, der seinen Platz auf einem Regal in dem Schrank gefunden hatte, und die Stereoanlage, die direkt neben dem klobigen etwas stand, was Zimmer freundlicher erscheinen ließ. Ich war der Meinung, dass in meinem Zimmer eine ziemliche Ausgewogenheit herrschte, auch wenn meine Mutter meinte, dass ich verrückt wäre. Wieder in Gedanken versunken, hörte ich meine Mutter erneut rufen. Es waren schon wieder 5 Minuten vergangen und ich hatte – wie so oft - vergessen, was ich eigentlich hier wollte. >Ach ja, die Uhr...< Schnell griff ich nach meiner Schultasche und schnappte mir meine Armbanduhr, die direkt neben der Stereoanlage unter dem Fenster lag, dass ich – wen wundert es - auch etwas aufgestylt hatte. Ich lief die Treppe hinunter und setzte mich an den Frühstückstisch, den meine Mutter schon gedeckt hatte. Kaum hatte ich mich hingesetzt, stellte meine Mutter ein pinkes Täschchen neben mich. Mich kotzte diese Farbe schon immer an, aber meine Mutter fand es war eine schöne Farbe und von daher sah mein Lunchpaket immer aus, als wäre es dem pinken Wunderland entsprungen. Ich seufzte kurz, bevor ich mich auf die elende Diskussion mit ihr einließ: „Mum, du weißt genau das ich pink hasse.“ Das Wort pink betonte ich dabei absichtlich sehr stark. „Aber Schatz, du bist doch ein Mädchen und Mädchen haben nun einmal pinke Sachen. Außerdem ist das doch eine hübsche Farbe, ich weiß gar nicht, was du hast. Sieht doch nett aus.“ Ich seufzte erneut. „Mama, es geht hier nicht darum, dass es nett aussieht und komm mir ja nicht wieder von wegen Mädchen heißt gleich, dass sie pink lieben. Ich mag es nun einmal nicht und damit musst du dich abfinden. Und das habe ich dir schon Tausende von Malen erklärt.“ Während ich wieder ausgiebig mit ihr diskutierte, schmierte ich mir ein Brötchen, das ich auf dem Schulweg essen konnte. Pünktlich um 8 Uhr 30 klingelte es an der Haustüre. Ich hatte die Diskussion – wie immer – gewonnen, aber ich wusste, dass sich dennoch nichts ändern würde. So verabschiedete ich mich mit einem kurzen „Ciao“, nahm meine Schultasche, das Lunchpaket und mein Brötchen und lief in dem Flur, um dort noch meine Jacke zu nehmen. Die Klinke musste ich nun mit dem Ellbogen aufdrücken und dann stand ich direkt vor ihr. „Hi Shizuka! Kannst du mal kurz...“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte ich meiner besten Freundin mein Lunchpaket und die Schultasche in die Hand, während ich mein Brötchen hin und her jonglierte, um die Jacke anzuziehen. Kaum hatte ich das geschafft, zog ich die helle Haustüre hinter mir zu und nahm meine Sachen dankend entgegen. Schließlich gingen wir los, auf den weiß gefliesten Gartenweg zur Straße, während ich mit meiner rechten Hand das Brötchen hielt, welches ich genüsslich aß und in der anderen das Lunchpaket, zusammen mit der Schultasche. „Heute gar kein Make-up?“, war ihre erste Frage. „Nö, wieso?“, antwortete ich knapp, bevor ich erneut in mein Brötchen biss, welches mit Schinken belegt war. Den weiteren Weg zur Schule redeten wir eigentlich nur über die Hausaufgaben, die Schule selbst und über andere, ganz banale Dinge. Irgendwann hatte ich es dann auch geschafft mein Brötchen zu essen und es in meinem Bauch nun der Verdauung zu überlassen. In der Schule angekommen war es wie jeden Morgen: Shizuka wurde wegen der Hausaufgaben gefragt, da sie die immer ordentlich machte und die anderen glaubten, sie wäre leicht auszunutzen. Das wäre sie bestimmt auch gewesen, wenn ich nicht des Öfteren eingegriffen hätte. Als ich einige Klassenkameraden bemerkte, die auf das Mädchen zugingen stellte ich mich vor meine Freundin und machte schnell klar, dass sie von ihr keine Hausaufgaben bekommen würden. Die Kerle zogen recht beleidigt ab, während Shizuka etwas eingeschüchtert hinter mir stand und ein kurzes „Danke“ murmelte. „Keine Ursache!“ Ich lächelte sie freundlich an. Sie hatte mir schon so oft geholfen, jetzt war ich auch einmal an der Reihe. Doch zu den täglichen Ritualen gehörten nicht nur das Verhindern der Ausnutzung meiner Freundin, sondern noch viele andere Dinge. So zum Beispiel auch die Begutachtung meiner Person von der wohl oberflächlichsten Clique der ganzen Schule. Als ihre Anführerin durfte sich Ôhei Tsukasa schimpfen, das hübscheste, aber auch verdorbenste Mädchen der ganzen Schule und ein Jahr älter als ich. Sie hatte schon oft versucht, mich in ihre Clique einzuschließen, doch da ich – aus verschiedenen Gründen – nicht wollte, hatte sie es irgendwann aufgegeben. Wie jeden Tag kam sie in ihren High-Heels den Flur in Richtung unseres Klassenzimmers stolziert und wurde dabei von ihrer Clique – ebenfalls auf High-Heels – und einigen Jungs verfolgt. Vor der Klassentüre blieb sie stehen und warf einen Blick ins Klassenzimmer, wobei ihr Blick direkt meinen traf. Er verriet mir, dass das Mädchen ganz dringend mit mir reden musste, wahrscheinlich war ihr wieder klar geworden, dass der neue Typ, den sie in der Disco gesehen hatte, nichts für sie war. Auch wenn das Mädchen sehr arrogant und oberflächlich wirkte, sowie sich so schminkte, dass man nicht mehr wissen wollte, wie sie ohne den ganzen Kram aussah, war sie im Grunde doch ganz nett. Ich hatte mich einige Male mit ihr unterhalten und sie war dann zu dem Schluss gekommen, dass wir Freundinnen seien. Ich mochte sie eigentlich ganz gerne, auch wenn sie ziemlich oberflächlich war und Shizuka mich warnte, ich würde noch so wie sie. Im Grunde war sie noch ein kleines Mädchen, das unbedingt erwachsen sein wollte und nicht wusste wie sie das tun sollte. Ihre Noten waren auch nicht die schlechtesten, sie war immer im oberen Mittelfeld und wirkte eigentlich schlimmer, als sie war. Ich blickte kurz zu Shizuka, die scheinbar verstand und mir zunickte. Langsam ging ich auf Ôhei zu und blieb dann vor ihr stehen, wobei ich die Schiebetür hinter mir schloss. „Was ist denn los Ôhei?“ „Ach eh weißt du...“, begann das Mädchen vor mir und wackelte dabei beträchtlich auf ihren 10 Zentimeter Absätzen. Sie hatte blond gefärbte Haare und blaue Kontaktlinsen, da sie Brillen hässlich fand. Durch ihre Schuhe wirkte sie zwar genauso groß wie ich, doch in Wirklichkeit war sie ein ganzes Stück kleiner. Sogar noch kleiner als Shizuka und sie war immerhin ganze fünf Zentimeter kleiner als ich, dass hatten wir letzten Samstag erst festgestellt. Das Mädchen vor mir zögerte immer noch mit ihrer Antwort. Wieder stellte ich die Frage: „Ôhei, was ist los? Ich hab nicht viel Zeit, der Lehrer kann jeden Moment kommen.“ >Was verzapfe ich da eigentlich für einen Mist? Ich hab noch eine Viertelstunde Zeit, bis der Lehrer kommt...< Ich blickte Ôhei fragend und vor allem neugierig an. „Also?“ Wieder wartete ich auf eine Antwort. Schließlich atmete das Mädchen vor mir tief ein und legte los. „Also... Ich muss dich da mal was fragen...“ Ich nickte und wartete auf eine Fortsetzung ihrer Erklärung, was so wichtig sein konnte, dass es nicht bis zur Pause warten konnte. „Sorry, dass ich dich darauf ansprechen muss, aber du hast doch dasselbe Problem... Beziehungsweise du hattest es, du weißt schon...“ Sie redete zwar gut um den heißen Brei herum, doch langsam begann ich zu verstehen, was los war. Sie hatte mir schon einmal davon erzählt. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie immer im Mittelpunkt stehen wollte. Der Grund waren ihre Eltern, die es ihr nicht wirklich einfach machen wollten. Ich nahm ihre rechte Hand und zog sie in eine Ecke auf dem Flur, die ziemlich leer schien, wobei sie von dem Ruck fast stolperte, da ihre Schuhe nicht so schnell wollten wie meine Füße. Schließlich blieb ich mit einem Ruck stehen und sah sie herausfordernd an. „Es geht um deine Eltern, oder?“, fragte ich sie dann gerade heraus, ohne irgendwelche Umschweife. Sie sah sich einmal kurz um und nickte dann zögerlich, fast unmerklich. Ihr „Ja...“ war nur ein Flüstern, dass mit dem sanften Wind, der durch das Fenster in den Flur gekommen war, weggetragen wurde. Sie versuchte zwar zu vermeiden, dass ich in ihre Augen sehen konnte, doch das Glitzern der Tränen, die sich langsam darin bildeten, konnte ich trotzdem erkennen. Als hätte ich das nicht bemerkt, nur um das Mädchen nicht in Verlegenheit zu bringen, redete und – vor allem – fragte ich weiter: „Sie...“, ich zögerte einen Moment, redete dann aber trotzdem weiter: „Sie wollen... sich scheiden lassen, oder?“ Wenn sie davon redete, dass ich dasselbe Problem hätte, konnte es eigentlich nur das im Bezug auf meine Eltern sein, die sich vor 7 Jahren hatten scheiden lassen, nachdem sie sich nur noch gestritten hatten und meinem Vater auch schon einmal die Hand ausgerutscht war, nicht nur meiner Mutter, auch mir und meiner älteren Schwester Kimiko gegenüber, die mittlerweile eine eigene Wohnung hatte und sich gelegentlich bei uns blicken ließ, während ich von meinem Vater leider – oder glücklicherweise – seit der Scheidung nichts mehr gehört hatte. Ich wusste zwar, dass Ôheis Eltern oft Streit und Stress hatten und sich um das Mädchen so gut wie gar nicht gekümmert hatten, zumal sie noch nicht einmal Geschwister hatte und so keinen Bezug zu ihrer Familie bekam. Ich hatte da noch Glück gehabt, mit meiner vier Jahre älteren Schwester, die sich im Notfall immer um mich gekümmert hatte, wenn wieder ein lauter Streit losgegangen war und ich mich in eine Ecke gekauert hatte, aus Angst, dass gleich mein Vater käme und ihm wieder – ganz aus Versehen – die Hand ausrutschte. Meine Schwester hatte mich dann oft an die Hand genommen und mich entweder in ihr oder in mein Zimmer gebracht, manchmal war sie auch mit mir nach draußen abgehauen, nur um den ganzen für einen Moment zu entfliehen. Mit meiner Mutter kam ich ganz gut klar, es hatte noch nie Probleme mit ihr gegeben, auch wenn es oft schwierig mit ihr war. >Boah, was ist heute eigentlich los mit mir? Andauernd träume ich vor mich hin und schwelge in Erinnerungen... Ich bin scheinbar wirklich noch müde...< Doch Ôhei schien mein Wegschweifen von der Diskussion nicht bemerkt zu haben, denn sie nickte wieder nur leicht mit dem Kopf auf meine Frage. Dann – wie bei einem überraschenden Vulkanausbruch – brach es aus ihr heraus. Die Tränen rannen nur so ihr Gesicht hinunter und sie versuchte sie geschickt zu verbergen, da sonst wahrscheinlich die wildesten Gerüchte in die Welt gesetzt werden könnten. „Ich weiß einfach nicht was ich machen soll...“, schluchzte sie und erneut rann ein Schwall Tränen ihre Wangen hinunter. Ich kramte in meiner Rocktasche – auch bei uns gab es leider Schuluniformen, was nicht so schlimm gewesen wäre, doch mit Hosen fühlte ich mich einfach wohler, als mit diesen Faltenröcken, die aussahen, als wären sie der Marine entsprungen – nach einem Taschentuch und reichte ihr dann das weiße Stück Stoff, damit sie ihre Tränen trocknen konnte. Sie dankte mir kurz und nahm es dann entgegen. „Sei froh, dass es endlich vorbei ist. Den Stress kann auf Dauer niemand ertragen“, war das erste was ich herausbrachte, auch wenn es eher aufmunternd klingen sollte und nicht so hart, wie ich es aussprach. Doch sie schien es verstanden zu haben. Dennoch setzte sie zum Widerspruch an. „Ich bin ja auch froh, dass es nun endlich vorbei ist, aber... Jetzt fangen sie mit der Diskussion an, wo ich hin soll. Plötzlich bin ich wieder für sie da und nun bin ich auch noch für ihren Streit verantwortlich. Des Letzt kam ein Typ vom Jugendamt und hat mir so ein paar dämliche Fragen gestellt, wo ich denn lieber hinwolle und zu welchem Elternteil ich eine innigere Beziehung hätte.“ Ich wusste genau, was danach kommen würde. >Sie weiß nicht wo sie hin will und das heißt...< „Ich hab ihm schließlich gesagt, dass ich zu keinem von beiden eine innige Beziehung hätte und keine Ahnung hätte, wo ich hin wolle. Daraufhin meinte er dann, dass ich wahrscheinlich ins Heim müsste... Und dabei werde ich in zwei Monaten schon 18! Dann wäre ich weg gewesen und hätte mich nie wieder um die beiden scheren müssen! Aber nein, jetzt müssen die noch einen riesigen Tumult deswegen machen... Ich hab keinen Bock ins Heim zu gehen und da die letzten Wochen meines jugendlichen Daseins zu verbringen... Ich wäre lieber unter einer Brücke, als in einem Heim oder bei meinen Eltern...“ In diesem Moment hörte ich, dass es schellte und die ersten Schüler sich in die Klassenräume begaben. Ôhei trocknete sich noch ein paar Tränen und fragte mich schließlich, ob noch etwas zu sehen sei. Ich verneinte das und wollte mich gerade in meinen Klassenraum begeben, als sie sich erneut zu Wort meldete. „Moment mal... Du hast heute ja gar kein Make-up auf...“ Auch dies verneinte ich und wunderte mich, wie das Mädchen nur von einem auf den anderen Moment so ihr Auftreten wechseln konnte. Ich hatte aber schon damals das Gefühl, dass das alles nur eine Maske war, die sie aufsetzte, um nicht verletzt zu werden und niemandem zeigen zu müssen, was bei ihr zu Hause vor sich ging. „Moment! Das geht ja wohl nicht!“ Mit schnellen Schritten kam sie auf mich zu und zog dabei etwas auf ihrer Rocktasche, das ich schnell als einen Lippenstift identifizieren konnte. „Ach nein Ôhei, lass den Mist... Ich komme heute auch ohne Make-up aus, ganz bestimmt.“ Glücklicherweise sah ich schon den Lehrer kommen, der mich aus dieser Situation rettete, denn Ôhei musste nun verschwinden, um nicht zu spät zu kommen. >Lehrer sind also doch zu was nütze…<, war mein letzter Gedanke, bevor ich mich in den Klassenraum begab und mich hinsetzte, kurz bevor der Lehrer die Schiebetüre des Klassenraumes aufschob und mit seinem Buch unter dem Arm in den Raum eintrat, um dann langsam zu „seinem“ Lehrerpult zu schreiten und dort das Buch abzulegen, bevor er sich der Klasse zuwandte und auf etwas zu warten schien. Ich sah in der Klasse umher, doch auch die anderen Schüler schienen nicht zu verstehen, was los war, bis mir auffiel, dass unsere Klassensprecherin nicht anwesend war. Das hieß für mich – als Stellvertreterin dieser -, dass ich die Klasse heute „zu leiten“ hatte. Seufzend und etwas unsicher stand ich schließlich auf, um dem Rest der Klasse anzudeuten, dass auch sie aufzustehen hatten, um so dem Lehrer einen Morgengruß entgegen zu bringen. Ich wartete einige Sekunden vergeblich, doch niemand – außer Shizuka, die direkt neben mir saß und somit wusste, was mein plötzliches Aufstehen zu bedeuten hatte – tat es mir nach, also musste ich mich bemerkbar machen. Ich räusperte mich einmal – vergeblich. >Haben die vergessen wen sie zum Stellvertreter von Kazue gewählt haben?<, war mein Gedanke, bevor ich mich der Klasse zuwendete - da ich in der ersten Reihe saß - und nun in die Klasse sprach. Der Lehrer wartete geduldig, auch wenn ich dachte, dass ich an seiner Stelle schon lange ausgeflippt wäre, doch er schien verstanden zu haben, dass sie nicht begriffen, was passierte. Chikafusa Kazue war ein schüchternes und eher unbeliebtes Mädchen in der Klasse gewesen, doch sie war eine gute Klassensprecherin, das musste jeder zugeben – wenn auch nur ungern. Trotzdem war sie eher unbeliebt und hatte wenige Freunde, so dass niemand bemerkt zu haben schien, dass sie nicht da war. Und da ich, als ihre Stellvertreterin eher selten zum Zuge kam – Kazue war ziemlich fleißig und kam eigentlich jeden Tag in die Schule – schien auch niemandem aufgefallen zu sein, dass ich aufgestanden war. Erneut räusperte ich mich, bevor ich im Befehlston weiter sprach. „Aufstehen!“ Sie schienen endlich verstanden zu haben, denn die ersten standen auf, die anderen taten es ihnen einfach nach, so wie das halt immer ist. Sobald einer es tut, machen die anderem es ihm nach. Ich drehte mich wieder zum Lehrer und sprach erneut im Befehlston „Grüßen“, bevor meine Stimme im Schülerchor, der dem Lehrer einen „Guten Morgen“ wünschte und sich dabei verbeugte, unterging und wie eine der vielen anderen klang. Ich setzte mich wieder hin und – als hätten sie endlich verstanden, dass ich heute die Klassensprecherin bin – taten die anderen es mir nach. Der Lehrer setzte sich nun hin und schlug das Buch auf. „Schlagen Sie bitte Seite 85 auf.“ Urplötzliches hörte man in dem still gewordenen Raum lautes Umblättern von einzelnen Seiten, andere murmelten und stellten ihren Nachbarn Fragen wie „Welche Seite?“ oder „Was hat er gesagt?“, weil sie wieder einmal nicht zugehört hatten. Nach einer schier endlos andauernden Zeit hatten endlich alle ihre Bücher aufgeschlagen und sahen wieder nach vorne zum Lehrer, um ihre Aufmerksamkeit anzudeuten. Doch der kramte nur in seinen Sachen, als suche er etwas Wichtiges. Es dauerte eine Weile, bis er schließlich gefunden zu haben schien, was er suchte. Er hielt ein weißes Blatt empor, bevor er aufstand und „Ayame“, sagte. Ayame Sadao stand auf und erwiderte dem Lehrer ein lautes „Ja“. Ich verstand. Der Lehrer überprüfte die Anwesenheit und las die Namen auf seiner Liste in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen vor, da es in Japan üblich ist, den Nachnamen dem Vornamen vorzuziehen. Es dauerte noch eine Weile, bis der Name „Gaho“ fiel und auch ich aufstand und „Ja“ rief, ehe ich wieder Platz nahm. Irgendwann war der Lehrer bei „Zenshin“ angekommen und auch der Letzte hatte sich mit einem „Anwesend“ in die Liste eintragen lassen. Der Unterricht konnte nun endlich richtig beginnen und die Mathematik-Stunde nahm ihren Lauf. Nachdem der Lehrer wild einige Zahlen an die Tafel geschrieben hatte, begann er zu erklären, wie sie zusammenhingen und was man doch alles Schönes mit ihnen machen konnte. Rechnen, was sonst? Doch irgendwie interessierte mich heute herzlich wenig, was x in der Gleichung „x³=16x“ war. Meine Gedanken wanderten den ganzen Morgen wieder zu Ôhei. Irgendwie tat sie mir Leid. Aber ich wusste auch nicht, was ich hätte tun sollen, auch wenn ich dasselbe durchgemacht hatte. Vielleicht war auch das der Grund, warum ich nur noch lernte und damit Klassenbeste geworden war. Ich brauchte Abstand und hatte mich deshalb immer zurückgezogen, um nicht wieder die Streitereien erleben zu müssen, die ich auch so schon zu hören bekam. Also war mein Zimmer eine Art Zufluchtsort, wo ich alleine war, wo mir niemand etwas tun konnte. Wenn ich die Musik aufdrehte, um den Lärm von unten zu übertönen, kramte ich eines der Schulbücher heraus, um mich irgendwie abzulenken, es schien mir damals einfach am sinnvollsten und irgendwann bemerkte ich dann, dass es nicht falsch sein konnte, also machte ich weiter und las ein Buch nach dem anderen. Während ich zu Hause also sehr zurückgezogen lebte, spielte ich in der Schule ein Leben vor, das einer „heilen Welt“ entsprach. Dazu noch gute Noten und bald war ich eines der beliebtesten Mädchen der Schule, eine Sache, die ich zwar vorteilhaft fand, aber nie gewollt hatte. Wahrscheinlich wäre ich damals auch total abgehoben, wenn nicht Shizuka da gewesen wäre und mich immer mal wieder vor einem Höhenflug mit Bruchlandung bewahrt hätte. Und dann hatte ich zufällig Ôhei kennen gelernt. Nachdem ich sie ein wenig besser kennen gelernt hatte, merkte ich bald, dass sie ganz ähnlich handelte wie ich damals. Doch anstatt sich – wie ich – in Schulbücher zu flüchten, ertränkte sie ihren Frust, indem sie nie zu Hause war und nur ausging, oberflächlich wurde und versuchte die Leute nicht näher kennen zu lernen, aus Angst, wieder so enttäuscht zu werden, wie bei ihren Eltern. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie mit diesem komischen Typen zusammen war, der mehr als oberflächlich war. Und zwar ohne aufgrund eines traumatischen Erlebnisses, eher, weil der Junge keinerlei Gehirnzellen besaß, die hätten arbeiten können, um ihm zu sagen wie bescheuert er doch war. Er hatte nur eins: Augen, mit denen er sehen konnte und die Menschen sofort nach Klassen sortierte. Güteklasse A war hierbei Ôhei, soweit ich weiß zählte ich immerhin zur Klasse B. Shizuka hätte er – dank ihres Mauerblümchendaseins – eher in die D-Klasse gesteckt. „Gaho-san! Lösen Sie die Aufgabe an der Tafel!“ Prompt wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und sah den Lehrer fragend an, bevor ich die Aufgabe an der Tafel bemerkte, die immer noch nicht gelöst war. Seufzend stand ich auf und stellte mich vor die Tafel. „Mit Erklärung, Sensei?“, fragte ich den Lehrer und blickte ihn an. „Wenn Sie wollen, gerne. Ihre Mitschüler werden Ihnen danken. Also?“ Er blickte mich auffordernd an, bevor ich begann an der Tafel herumzuwuseln und wild einige Zahlen und Buchstaben aufschrieb. „Also: x³=16x. Das heißt, man muss zuerst durch x dividieren. Man kommt dann auf die Gleichung x³/x=16. Man kürzt und erhält x²=16. Nun zieht man die Wurzel und erhält x1=4 und x2=-4, denn durch die Quadrierung sind beide Zahlen mögliche Lösungen.“ Ich wandte mich um und sah in die Klasse. „Verstanden?“ Scheinbar hatten alle es verstanden, denn niemand stellte eine Frage. So blickte ich zum Sensei, der mir zunickte, was hieß, dass ich mich wieder setzen konnte, was ich daraufhin auch erleichtert tat. „Gut gemacht Gaho. Aber beim nächsten Mal muss ich Sie hoffentlich nicht aus Ihren Träumen reißen, oder?“ Verlegen blickte ich ihn erst an, bevor mein Blick zum Tisch wanderte und die doch sehr interessante Tischplatte ansah, die durch ihr helles Grau grell ins Auge stach, da die Sonne stark reflektiert wurde. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis endlich das erlösende Klingeln durch die Gänge und Räume erklang, woraufhin sich direkt eine Unruhe im Klassenzimmer breit machte. Der Lehrer packte seine Sachen zusammen und verließ den spärlich eingerichteten Raum schnell, damit er uns nicht länger ertragen musste, schließlich hätte man meinen können wir würden uns in Wilde verwandeln, kaum würde es zur Pause klingeln. Alle waren unruhig, liefen umher und taten Dinge, die ihnen verboten waren, wie das Rauchen am offenen Fenster. Ich seufzte laut auf und schloss für einen Moment die Augen, was – wie ich erst beim Öffnen feststellte – ein Fehler gewesen war. Shizuka stand direkt vor mir und wollte mich wohl gerade ansprechen, doch ich war so überrascht von ihrem plötzlichen Auftreten, dass ich vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre. „Hey, du musst wegen mir nicht gleich vom Stuhl fallen! Mich interessiert viel eher was heute mit dir los ist…“ „Hm?“ Ich blickte sie etwas überrascht an, da ich nicht dachte so durchschaubar zu sein. „Tu nicht so, man merkt sofort, dass du nicht ganz bei der Sache bist… Wegen… Ôhei?“ Sie blickte mich durchdringend an, die Neugierde stand gerade so in ihren braunen Augen geschrieben, fast als würde sie mich gleich anspringen, wenn ich dem Besitzer der Augen nicht sofort erzählen würde was los war, aber da war noch etwas anderes in ihrem Blick, das ich im ersten Moment nicht deuten konnte, bis sich ihr Gesichtsausdruck – vorher noch ein verschmitztes Lächeln - sich schlagartig änderte und ich erkannte, dass es ein sorgenvoller, fast fürsorglicher Blick war, mit dem sie mich regelrecht anstarrte. Ich war einen Augenblick lang ratlos, da ich nicht wusste, was ich nun sagen sollte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie auf die Geschichte reagieren würde; anlügen wollte ich sie aber erst recht nicht. Suchend blickte ich mich im Klassenraum um, wollte ihrem Blick entkommen, aber das half mir auch nicht dabei eine Antwort zu finden. Dennoch fixierte ich meinen Blick an der dunkelgrünen Tafel, wo immer noch die weißen Kreidestriche zu erkennen waren, die zusammen Buchstaben und Zahlen bildeten; in meiner Handschrift. Die Matheaufgabe stand immer noch da und wartete nur darauf weggewischt zu werden, was mir sehr recht kam. Langsam stand ich auf und ging an die Tafel, nahm den Lappen, der auf dem Lehrerpult davor lag und wischte mit einigen schnellen Zügen die Kreide weg, die Blicke Shizukas immer noch auf mir spürend. „Es ist nichts, dass musst du dir einbilden“, sagte ich in einem ruhigen Ton, immer noch mit dem Rücken zu ihr und die Tafel wischend. „Komischerweise sagst du das immer, wenn es um Ôhei geht...“ murmelte sie. Ich bemerkte dabei, dass sie einige Schritte gegangen sein musste, denn ihre Stimme klang näher als noch vor wenigen Sekunden. Ich wischte immer noch über die Tafel, obwohl diese mittlerweile sauber war, nur um nicht in ihr Gesicht sehen zu müssen und sie dabei auch noch zu belügen. Schließlich drehte ich mich aber doch um und legte den Lappen an seinem alten Platz zurück, wobei feiner, weißer Kreidestaub aufstieg und sich langsam in der Luft zu verteilte, bevor er wieder auf die Holzplatte des Lehrerpultes fiel und dort einen weißen Film zurückließ. Ihre Blicke waren immer noch auf mich gerichtet, dass spürte ich, auch wenn ich es nicht sehen konnte. Was sollte ich ihr jetzt nur sagen? Ich rappelte mich also auf und blickte ihr direkt ins Gesicht, das keinen Meter von mir entfernt war, wobei mir auffiel, dass wir beide allein in dem Raum waren. „Stimmt doch gar nicht! Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Ja, es geht um sie! Sie hat mich um Hilfe bei einem Problem gebeten und...“ „Was denn? Weiß sie wieder nicht, ob sie sich blauen oder grünen Lidschatten kaufen soll?“, war Shizukas sarkastische Bemerkung. Ich wusste, dass sie Ôhei hasste, aber trotzdem kassierte sie für diese Aussage einen zornigen und vernichtenden Blick, der sie sofort verstummen ließ, bevor ich meinen Satz fortführen konnte. „Auf jeden Fall hat sie mich um Hilfe in einem Problem gebeten und das hat einige Erinnerungen in mir geweckt. Das war alles. Basta...“ Ich seufzte einmal laut und ging dann schnell an meiner besten Freundin vorbei, die immer noch etwas perplex wegen meines Blickes schien, den sie von mir gar nicht gewohnt war, da ich versuchte es zu vermeiden, die Leute so vernichtend und – vor allem – hasserfüllt anzublicken. Ich wollte gerade die Tür zum Klassenraum aufschieben, deren dunkelblaue Lackierung zum neuen Schuljahr immer noch glänzte, als sie plötzlich ihre Stimme wieder fand und sich zu mir umdrehte. „Airashi, warte bitte!“ Ich hielt kurz inne, um über ihren Vorschlag nachzudenken, sagte mir dann aber, dass es keinen Sinn mache zu warten und schob die Türe auf, die leise in ihrer Schiene zurückfuhr, soweit sie konnte. Ich trat einen Schritt hinaus, als ich schnelle Schritte hinter mir vernahm, die sich mir durch das Klacken der Absätze auf dem Fliesenboden verraten hatten, bevor ich auch schon im nächsten Moment eine Hand auf meiner linken Schulter spürte, deren rot lackierten Fingernägel nur Shizuka gehören konnte. Sie hasste zwar Schminke, doch bei Nagellack machte sie eine Ausnahme, weshalb sie auch schon eine große Sammlung an Fläschchen in ihrem Zimmer stehen hatte, deren Inhalt jedes Mal eine andere Farbe hatte. Ich seufzte einmal laut und drehte mich schließlich zu ihr um. Sie sah mich mit ihren Hundeblick entschuldigend und reumütig an, da sie wusste, dass ich diesem Blick keinesfalls widerstehen könnte und ich ihre Entschuldigung so gut wie angenommen hatte. Was sie nicht wusste war, dass mir dieser Blick den Verstand zu rauben schien. Deshalb hasste ich diesen Blick, denn ich wusste einfach nicht mehr was mit mir los war. Erneut entfuhr mir ein tiefer Seufzer und ich drehte mich schließlich wieder um, um endgültig auf den Flur zu treten und die kurze Pause von zehn Minuten zu nutzen. Ich hatte diese Woche Ordnungsdienst, was hieß, dass ich noch Kreide besorgen musste, die man nur im Lehrerzimmer bekam, das im untersten Stock lag. Das hieß für mich etwa 50 Stufen Treppen steigen, um vom dritten Stock aus das Erdgeschoss zu erreichen. Irgendwie war ich aber auch froh darüber, dass mir diese Pflicht auferlegt war, denn so konnte ich große Lügen und Ausreden jemandem aus dem Weg gehen. Schließlich stand ich vor dem großen Lehrerzimmer, in dem jeder Lehrer ein Fach für seine Materialien besaß und außerdem in einer großen Lehrerbibliothek Dinge nachschlagen konnte, die er selber nicht wusste, aber dennoch verlangte, dass die Schüler ihm Antworten geben konnte. Mit dem rechten Fuß wippend stand ich vor der Türe des „heiligen Raumes“, in dem Schüler keinen Zutritt hatten, und wartete darauf, dass der von mir angesprochene Lehrer mit drei Stück Kreide zurückkommen würde, wie ich ihn darum gebeten hatte. Ungeduldig sah ich mich um und sah mehrere Lehrer in den Raum schlendern oder herauskommen, bis ich schließlich von der Seite angesprochen wurde. „Bitte, hier die Kreide.“ Etwas überrascht wich ich ein Stück zurück, fasste mich aber schnell wieder und bedankte mich mit „arigato Sensei“ und einer Verbeugung, bevor ich die Kreide – wie verlangt drei Stücke - an mich nahm und die 50 Stufen erneut erklimmen musste. Im ersten Jahr der Oberschule zu sein hatte scheinbar nicht nur Vorteile. Es war zu diesem Zeitpunkt Anfang Juni, die Sommerferien würden in nicht allzu langer Zeit anbrechen und ich hatte nun auch schon zwei Monate auf der Oberschule verbracht. Bei den Erinnerungen an die Monate vor den Versetzungsprüfungen musste ich lächeln. Ich hätte mich an jeder Schule bewerben können, meine Noten waren gut genug, sodass meine Mutter natürlich die beste Schule aussuchte. Da Shizuka unbedingt wieder auf einer Schule mit mir sein wollte, musste sie ziemlich viel lernen, was nicht nur für sie, sondern auch für mich ein Kraftakt gewesen war, schließlich hatte ich ihr Nachhilfe geben müssen. Glücklicherweise bestand sie nicht nur die Prüfung, sondern kam auch – durch Zufall – in meine Klasse. Endlich hatte ich den Flur erreicht, an den auch unser Klassenraum grenzte und stellte fest, dass SIE immer noch vor der Türe stand und aus dem gegenüberliegendem Fenster sah. Scheinbar schien sie immer noch auf meine Rückkehr zu warten. Ich verlangsamte meine Schritte und hörte dann auch schon die Klingel, die den Beginn einer neuen Stunde ankündigte und somit die Pause beendete. Ich beeilte mich, um die Kreide noch rechtzeitig auf das Lehrerpult legen zu können und setzte mich dann hin. Shizuka beachtete ich erst einmal gar nicht, ich konzentrierte mich stattdessen auf die Tafel, als stünde dort irgendetwas interessantes, was gar nicht möglich war, schließlich hatte ich sie erst vor zehn Minuten geputzt und die Kreide, die Zahlen und Buchstaben, beziehungsweise Katakana-, Hiragana- und Kanji-Zeichen, gebildet hatte sorgfältig entfernt. Ich löste den Blick wieder von der dunkelgrünen Fläche am Ende des Raumes und begann damit, die Bücher und ein Heft für die nächste Stunde aus meinem Schulrucksack zu entnehmen. Erdkunde stand als nächstes auf dem Stundenplan, das Fach, das ich am meisten hasste. Wenn es nur eine Sache gab, die ich mehr hasste, dann war das höchstens die Lehrerin, die das Fach unterrichtete. Und wie das Sprichwort so schön sagt: „Wenn man vom Teufel spricht...“ Schon trat die Lehrerin Mitte 30 ein. Sie hatte – ohne Frage – eine gute Figur, eine beträchtliche Oberweite und war bei weitem sehr attraktiv, doch genau das machte sie auch so arrogant und hochnäsig. Stolz betrat sie den Raum auf ihren fünf Zentimeter hohen Pfennigabsätzen, ihrem eng geschnittenen knielangen rot-orangefarbenen Rock und der weißen Bluse mit Spitze an den Halbärmeln. Oh, wie ich diese Frau hasste! Sie hielt sich scheinbar für die einzige, die etwas mit dem Begriff „Erdkunde“ anfangen konnte. Doch die Stunde verging sehr normal und auch in den nächsten Stunden – Geschichte und Japanisch – gab es keine besonderen Vorkommnisse. Endlich klingelte es zur großen Mittagspause, für die jeder ein Lunchpaket mitnahm, das er dann in der Pause verzehrte. Da draußen die Sonne schien und heute keinen Wolke in Sicht war, sondern ein hellblauer Himmel lockte, nahm ich die kleine Tasche mit meiner – pink gefärbten – Lunchschachtel aus stabilem Plastik und setzte mich auf eine der Bänke auf dem Schulhof. Es war angenehm warm und die Sonnenstrahlen kitzelten sanft mein Gesicht, während eine kühle Brise nicht nur die Blätter in den nahe gelegenen Bäumen zum rascheln, sondern auch meine langen braun gefärbten Haare zum Wehen brachte. Ich schloss meine Augen und genoss dieses Naturspektakel sichtlich, als ich je aus dieser entspannten Lage herausgerissen wurde. „Gut, dass ich dich treffe. Kommst du heute zur AG?“ Langsam öffnete ich die Augen und fand wieder in die Realität zurück. Natürlich wusste ich, dass Ienobu Masaki aus der 3-2 vor mir stand. Er war zwei Jahre älter als ich und trotzdem war er in mich verknallt, weshalb er damals auch derselben AG beigetreten war, in der ich mich befand – der Chemie AG. Zwar kannte er mich noch nicht lange, aber seiner Meinung nach war es Liebe auf den ersten Blick. Immer wenn ich daran dachte musste ich schmunzeln, denn mir wurde – nachdem ich allen von diesem Geständnis erzählt hatte – gesagt, dass er sehr schüchtern wäre und man ihm so etwas nicht zugetraut hätte. Ich wusste noch genau, wie er mich nach der AG abgefangen hatte und auf die Knie gefallen war, wo er stottern ein kurzes „ich liebe dich“ hervorgebracht hatte und dann weiter auf den Boden schauend auf meine Antwort gewartet hatte. Ich hatte elendig herumgestottert, schließlich wusste ich nichts darauf zu sagen. Zwar hatte ich mich darüber gefreut, dass mich jemand mochte, aber dennoch empfand ich für den Jungen nichts weiter als Kameradschaft. Wir waren schließlich nur in der gleichen AG! Ich kannte ihn doch so gut wie gar nicht! Schließlich versuchte ich ihm das klarzumachen, woraufhin er etwas verletzt abgezogen war. Ein Korb freute sicherlich niemanden, aber ich konnte halt nicht anders. Seitdem versuchte der Junge immer mehr mir näher zu kommen, sodass ich ihn einmal beinahe angeschrieen hatte, da er mich so sehr nervte. Doch das schien ihn scheinbar keineswegs zu stören. Ich hatte total vergessen, dass heute AG war und antwortete nur schnell „wahrscheinlich“, bevor ich Shizuka hinter ihm erblickte und meine Lunchpaket packend ihren Namen rief, woraufhin sie stehen blieb und nach dem zu suchen schien, der sie gerufen hatte. Keuchend kam ich bei ihr an. „Danke, jetzt bin ich wenigstens diesen Idioten los“, sagte ich schwer atmend zu ihr, doch das schien sie eher wenig zu interessieren, da sie sich umdrehte und Anstalten machen zu verschwinden. Was war denn nun mit ihr los? „Hey, jetzt warte mal!“ Ich wollte ihr gerade eine Hand auf die Schulter legen, als mir auffiel, dass die Situation von heute Morgen im Klassenzimmer sich jetzt genau andersherum abspielte. Seufzend ließ ich meine Hand wieder sinken. „Du bist also immer noch sauer... Na wenn das so ist...“ Enttäuscht und auch verletzt ging ich wieder Richtung Schulgebäude. Wie auch meine Laune sich verdüstert hatte, so zogen auch schon die ersten Wolken am Himmel auf und verdunkelten diesen. Es würde sicherlich nicht mehr lange dauern, bis es anfinge zu regnen. Ich war schon etwas verwundert über ihr Verhalten, schließlich hätte ich diejenige sein müssen, die sauer hätte sein müssen, doch momentan interessierte mich das eher weniger. Aus einem Fenster im ersten Stock konnte ich Ôhei erkennen, die mit ihren Freund über den Schulhof schlenderte. Sein Gebrüll hingegen war sogar im ersten Stock zu hören, wo zwar die Fenster offen standen aber trotzdem jedes Wort gut zu verstehen war. „Gib es doch zu du kleine Schlampe! Du betrügst mich doch, oder nicht? Denk dran, ich bin der einzige der überhaupt was mit dir anfangen würde, also verscherz es dir nicht mit mir! Sonst hast du ein gewaltiges Problem mit mir, verstanden?“ Ôhei reagierte nicht, woraufhin Juro Yoshitoki ihren Arm ergriff und feste zupackte. Er war im letzten Jahr der Oberschule und machte sich diese „Machtposition“ gegenüber den Jüngeren auch zu Nutze. Er prügelte sich oft mit Erstklässlern, die dann natürlich Schuld am Streit trugen oder ihn einfach ohne Grund geschlagen hatten, woraufhin er sich natürlich hatte wehren müssen. Scheinbar war dem Jungen einfach nur langweilig, aber anstatt einer AG beizutreten war es doch sehr viel interessanter sich zu prügeln und kleine Jungen krankenhausreif zu schlagen. Ich wusste wie sehr er das junge Mädchen, dass seine Freundin geworden war, misshandelte, er brauchte sie nur zum Angeben, während Ôhei sich damals wirklich in ihn verliebt hatte und nun nicht mehr von ihm loskam, da er sie immer wieder bedrohte. So hatte sie keine andere Wahl, als sich weiter von ihm quälen zu lassen. Ich drehte mich um und lehnte mich gegen Wand unter dem offenem Fenster, die Hände auf die Fensterbank geschützt und den Blick auf das Treppenhaus direkt vor mir liegend gerichtet. Wie in vielen Schulen war es das Zentrum der Schule, von draußen sah es auch wie eine Art Kirchturm ohne Spitze, an dem zwei lang gezogene Gebäude anschlossen, die eine Art U-Form bildeten. Am Turm war eine große Uhr befestigt worden, damit wir auch immer wussten wie viel Uhr es gerade war. Ich drückte mich von der Fensterbank ab und stieg langsam die Treppen hinauf zum Dach, wobei jeder meiner Schritte im Turm widerhallte, da ich scheinbar die einzige war, die es nicht ausnutzte, dass draußen herrliches Wetter war. Ich öffnete die Türe zum Dachgeschoss, woraufhin ein gewaltiger Wind mit entgegenschlug. Wie ich vermutet hatte schien ein Unwetter aufzukommen. Dennoch trat ich hinaus auf das Dach und lehnte mich mit dem Rücken gegen den silbrigen Maschendrahtzaun aus rostfreiem Stahl. Zwar war es uns eigentlich verboten sich dagegen zu lehnen, doch niemand beachtete diese Regeln, wie so viele andere auch. Es war schon komisch. Heute Morgen, als ich gerade aufgestanden war, war ich eigentlich der festen Überzeugung gewesen, dass dieser Tag gut werden würde. Und kaum erzählte mir einer etwas von seinen Sorgen, schien alles aus den Fugen zu geraten. In letzter Zeit stritt ich mich immer öfter mit Shizuka. Häufig wegen Ôhei. Ich schloss erneut die Augen und versuchte noch einmal alles zusammenzukriegen, was am heutigen Tag schon passiert war, als ich das Knarren der Metalltür zum Dach hörte. Neugierig öffnete ich die Augen und sah Shizuka, die mich genauso überrascht ansah wie ich sie. Ich reagierte schnell und lief zu ihr, um die Türe, die sie gerade erneut öffnen wollte, damit sie wieder runtergehen konnte, zuzudrücken, was mir - so gerade noch – gelang. Den Blick den sie mir zuwarf konnte ich nicht genau deuten. Ihre tiefbraunen Augen sahen mich flehend an, dass ich sie doch bitte gehen lassen solle, was ich auf keine Fall tun würde, aber auch wütend, fast hasserfüllt, dass ich ihren Plänen schon wieder in die Quere kam, woraufhin sie ein weiteres Mal versuchte die Türe zu öffnen, was ich aber wieder verhinderte. „Du kommst hier nicht eher weg, bis wir miteinander geredet haben“, war meine klar Ansage an sie, woraufhin sie ihren Blick von mir abwandte und dem Türknauf widmete, der immer noch von ihrer Hand umschlossen war. Meine Hand drückte ein Stück weiter oben immer noch die Türe in ihren Rahmen. Vorsichtig hob ich meine rechte Hand, um Shizukas rechte Hand vom Türknauf zu lösen. Doch kaum hatte ich diese berührt, wich sie einige Schritte zurück, wobei sie den Blick gen Boden richtete und den Beton zu betrachten schien, aus dem der Boden gegossen worden war. „Lass mich in Ruhe verstanden?“ Verwirrt sah ich sie an. Was war bloß los mit ihr? Sie war doch sonst nicht so. „Was ist denn bloß los mit dir?“, fragte ich sie besorgt und legte ihr schließlich doch eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte deutlich zusammen, bevor sie die Hand weg schlug und „es ist gar nichts“ rufend an mir vorbeizischte und im Treppenhaus verschwand. Ich konnte ihr nur noch einen verwirrten Blick hinterherwerfen. >Was ist denn bloß los mit dir, Shi-chan?<, fragte ich mich verzweifelt und starrte immer noch an die wieder geschlossene Tür, die im Schein der Sonne glänzte und mich ein wenig blendete... Kapitel 2: Tränen ----------------- Kapitel 2: Tränen Es war Nachmittag geworden und die Schulglocke hatte das letzte Mal an diesem Tag geläutet. Shizuka hatte mich nicht eines Blickes mehr gewürdigt und ich verstand die Welt nicht mehr. Es konnte doch nicht sein, dass sie nur wegen der Sache mit Ôhei so beleidigt und abweisend war. Das passte einfach nicht zu ihr, schließlich hatte ich schon oft mit Ôhei geredet, das war nicht das erste Mal gewesen. Außerdem hatte ich gedacht, dass sie sich mittlerweile daran gewöhnt hätte, was offensichtlich nicht der Fall gewesen war – oder steckte mehr dahinter? Grübelnd packte ich meine Sachen ein und schwang meinen Rucksack auf den Rücken, bevor ich mit schleifenden Schritten die Klasse verließ, den Kopf dabei immer gen Boden gerichtet und keine Anstalten machend, ihn auch nur aus irgendeinem Grund zu heben, egal wie wichtig es war. Eigentlich hätte ich Angst haben müssen, dass ich irgendwann über meine eigenen Füße stolperte, doch ich schaffte es, dies zu verhindern. Es kam mir fast so vor, als würde es mit jedem Schritt schwerer werden die Füße zu heben, als wäre mein Kopf nur auf eines fixiert: Was war mit meiner besten Freundin passiert und warum – zum Teufel noch mal – machte ich mir solche Gedanken darüber? Mir war doch klar, dass Shizuka in manchen Beziehungen gerne überreagierte und dann die Beleidigte spielte, bis man sich bis zur Unendlichkeit bei ihr entschuldigt hatte, aber da war etwas, das einfach nicht ins Bild passte. Es war, als würde mir das letzte Teil zu einem Puzzle fehlen, an dem ich schon Stunden, wenn nicht sogar Tage, Wochen oder Monate, beschäftigt war, um es endlich zu vervollständigen. Und dann musste ich feststellen, dass ein Teil fehlte. Ich kannte Shizuka nun schon lange, aber genau in diesem Fall wusste ich einfach keinen Rat, denn mir fehlte eben besagtes Puzzlestück, um das Bild zu vollenden. Wenn es sich sogar nur um ein Stück handeln würde. Wahrscheinlich hatte ich noch gar nicht festgestellt, dass nicht nur eines, sondern wahrscheinlich Hunderte von Stücke fehlten. Ich ließ einen leisen Seufzer verlauten. Die Treppenstufen nahmen ich eine nach der anderen, langsam, mit schlurfendem Gang, aber dennoch war eine Regelmäßigkeit zu erkenne, fast als würde ich in einem bestimmten Takt eine Stufe nehmen, als wäre ich beim Tanzen und die Stufen meine Tanzschritte. Eins-zwei, die erste Stufe, drei-vier, die zweite Stufe, eins-zwei die dritte Stufe und so weiter. Ich tat es ganz automatisch, ohne zu wissen warum, mein Kopf war sowieso wieder total von ihr benebelt. Wie heute Morgen auch schon. >Jetzt reiß dich endlich mal zusammen Gaho Airashi... Das kann doch nicht normal sein...<, ermahnte ich mich selbst, während ich den Stufen-Takt weiterhin einhielt. „Hey, was ist denn mit dir los? Schon wieder in Gedanken versunken?“ Im selben Moment, indem ich die Stimme vernahm, fühlte ich plötzlich, wie jemand seine Hand auf meine rechte Schulter legte. Als ich zu dieser schaute, bemerkte ich den Arm und mein Blick schweifte hoch zum Besitzer dieses Körperteils, der ein fröhliches Grinsen aufgesetzt hatte, was ich nun absolut nicht gebrauchen konnte. „Hast du vergessen, dass heute AG ist?“, fragte er, immer noch grinsend und hielt an, während ich, dem Takt folgend, weiter nach unten ging, Masaki gar nicht beachtend. Ich bemerkte, wie er begann mit der Hand vor meinem Gesicht rumzufuchteln, doch mich störte das recht wenig. Schließlich wurde es mir dann doch zuviel und ich antwortete genervt auf seine Fragen: „Mit mir ist gar nichts los; ja, ich bin in Gedanken; nein, ich habe es nicht vergessen, werde heute aber trotzdem nicht anwesend sein, weil ich noch etwas zu erledigen habe. Also, du entschuldigst...“ Verdutzt blieb er stehen und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er gerade da stand und mir verwirrt hinterher sah, weil er nicht mit einer solchen Antwort gerechnet hatte, was mir in diesem Moment nicht nur recht egal war, sondern auch – das erste Mal an diesem Tag – ein leichtes Lächeln auf die Lippen zauberte. Doch auch die Treppen fanden ihr jähes Ende und kaum hatte ich die letzte Stufe nach unten erklommen, kam mir ein Gedanken, was ich tun könnte. Ich musste auf jeden Fall noch einmal mit ihr reden und mich – wenn nötig – auch entschuldigen. Noch im selben Moment rauschte meine „Zielperson“ an mir vorbei nach draußen, fast so, als würde sie vor irgendetwas – oder irgendjemandem – flüchten. „Shizuka, warte!“, rief ich ihr noch hinterher, doch sie reagierte nicht, wahrscheinlich hatte sie ihren MP3-Player angeschaltet, den sie immer mit in die Schule nahm. Ich beschleunigte meine Schritte, bis ich schließlich das Lauftempo erreicht hatte und sie dennoch nicht so schnell einholte. Als ich es geschafft hatte, griff ich mit beiden Händen ihre Schulter und drehte das daraufhin zusammenzuckende Mädchen zu mir um, um sie direkt ansehen zu können. Als sie bemerkte, wer sie da erschreckt hatte, wollte sie sich wieder umdrehen, doch ich verstärkte den Griff, bis sie schließlich die Kopfhörer von den Ohren nahm. „Können wir vielleicht reden?“, schnaufte ich, vom Laufen angestrengt, während sie ihren Blick wieder von mir abwandte. „Mein Gott, Zu-chan, was ist denn bloß mit dir los? Du bist doch sonst nicht direkt eingeschnappt, wenn ich mit Ôhei geredet habe... Also erklär mir bitte, was die ganze Nummer hier soll! Verdammt noch mal, was auch immer ich getan habe, es tut mir Leid! Entschuldigung! Aber sag mir endlich, was los ist!“ Ich blickte sie auffordernd – oder doch nur fordernd? – an und bemerkte, dass sie ihren Kopf langsam wieder mir zudrehte. Ich bemerkte, dass sie den Tränen nahe war, obwohl sie versuchte dies zu unterdrücken. Ich lockerte meinen Griff allmählich wieder und nahm sie schließlich vorsichtig in den Arm, wobei sie wieder zusammenzuckte. „Was ist denn bloß los?“, murmelte ich – nun auch verzweifelt – leise vor mich hin. Ich selbst stand nun auch den Tränen nahe, warum wusste ich nicht und es war mir auch relativ egal, ich wusste nur, dass ich dringend mit Shizuka reden musste, denn irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Ich löste langsam meine Umarmung und legte den Arm um ihre Schulter, bevor wir schweigend den Weg nach Hause antraten. Der Weg zog sich an diesem Tag unglaublich in die Länge. Shizukas Schluchzer waren zwar unterdrückt und leise, für mich aber dennoch gut vernehmbar. War es gar nicht das Gespräch zwischen Ôhei gewesen, dass sie so sehr verletzt hatte, sondern hatte es unter Umständen nur etwas in ihr wachgerufen, was sie versucht hatte zu verbergen? Erst jetzt fiel mir auf, dass sie heute nicht viel mit mir geredet hatte, sie hatte mir einfach nur zugehört und genickt. Sie schien abwesend zu sein, aber ich hatte das nicht gemerkt. Ich dachte eines der Puzzlestücke gefunden zu haben, die mir noch fehlten, um ein ganzes Bild zu erstellen. Bei ihr stimmte das Sprichwort „Stille Wasser sind tief“ scheinbar. Sie war genauso undurchsichtig, wie Wasser es bei Trübheit war, und unergründlich, wie ein tiefer See es war, an dessen Grund noch niemand gelangt ist, da er zu tief unter der Wasseroberfläche liegt. Man wusste nie, was sie gerade denkt, was nicht unbedingt einen Vorteil bringt, denn spätestens, wenn andere merken, dass man nachdenklich ist, zerreißen sie sich die Mäuler darüber, über was man die ganze Zeit nachdenkt. Und da kommen viele auf die absurdesten Dinge, die man sich vorstellen kann. Mir war überhaupt nicht aufgefallen, dass ich gerade an diesem Tag genauso nachdenklich war, wie Shizuka sonst immer. Es war mir auch ziemlich egal, doch in meinen „Ermittlungen“ über Shizukas Gedanken wurde mir klar, dass ich genau einer dieser „anderen“ war, die sich die Mäuler darüber zerrissen, was in einem Menschen vor sich geht, den man zu kennen glaubt. Nebenbei bemerkte ich, dass wir beide schon in der Einfahrt meines Hauses angekommen waren. Ich zog den Schlüssel aus meiner rechten Jackentasche, der zu klimpern begann, als die wenigen Schlüssel miteinander oder mit den beiden Schlüsselanhängern zusammenstießen. Mein linker Arm ruhte immer noch auf ihren Schultern und sie schien sich langsam wieder beruhigt zu haben, was auch immer der Grund dafür oder der plötzliche Ausbruch ihrer Emotionen eben gewesen sein sollte. Seufzend nahm ich meinen Arm von ihrer Schulter und umfasste dafür den Türknauf mit der linken – nun freien – Hand, während ich mit meiner rechten den Schlüssel in das Schloss gleiten ließ, was ein kurzes Surren, wie bei einem sich öffnenden Reißverschluss, erzeugte, bevor ich am Ende der Schlossöffnung anstieß und den Haustürschlüssel an seinem runden Kopf in die linke Richtung drehte, bis ich ein leises Schnappen vernahm und den Schlüssel noch ein Stück weiterdrehte, damit nicht nur das Schloss aufsprang, sondern auch die Türe geöffnet werden konnte. Ich drückte vorsichtig an der gerade erst gestrichenen sonnengelben Türe, die sich daraufhin öffnete und den Weg in den Flur zuließ. Ich trat ein und drückte die Türe noch ein Stück weiter auf, bevor ich mich zu ihr umdrehte. „Wieso stehst du da wie angewurzelt? Jetzt komm schon rein!“ Ich lächelte sie aufmunternd an, doch sie schien den Boden weitaus interessanter zu finden, der im Eingangsbereich aus einer gegossenen Betonplatten bestand. >Das kann doch wohl nicht wahr sein!< Meine Geduld war langsam am Ende. Sie sprach nicht mit mir, heulte mir dann die Ohren voll und wenn man ihr dann versucht zu helfen, strafte sie einen mit Schweigen. Mein Lächeln erstarb und meine schnellen Schritte hallten auf dem Betonboden wider, immer wenn einer der nicht allzu hohen Absätze meiner schwarzen Lackschuhe auf dem Boden aufsetzte und mich so ein Stück weiter zu ihr brachte. Shizuka blickte mich dann schließlich doch noch an, konnte aber nicht mehr reagieren, bevor ich ihren Arm gepackt und sie in die Wohnung gezogen hatte. Sie versuchte zwar sich dagegen zu wehren, aber wir beide wussten, dass sie keine Chance hatte, ich war nun mal stärker als sie. Ich schubste sie in den Hausflur und schloss die Türe hinter ihr. Sie rieb sich den Arm an der Stelle, an der ich wohl, im Eifer des Gefechts, ziemlich stark zugepackt hatte, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Reuig sah ich Shizuka an und murmelte etwas, das nach einem „gomen nasai“ klang, bevor ich meine Schuhe – wie in Japan üblich – auszog und sie gegen ein Paar Hausschlappen tauschte. Shizuka jedoch schien keine Anstalten zu machen, dass sie mir folgen würde. Langsam aber sicher war mein innerer Faden, der schon sehr gut gespannt war, dabei durchzureißen. „Mann, Shizuka! Jetzt komm endlich oder sind die Wurzeln schon so tief in den Boden gewachsen, dass du nicht mehr gehen kannst?“ Ohne ein weiteres Wort meinerseits, geschweige denn einer Antwort meiner besten Freundin, ging ich in Richtung Küche – meiner Jacke und Schultasche hatte ich mich schon im Flur entledigt – wo ich geradewegs den Kühlschrank ansteuerte. Ich öffnete die, mit Magneten tapezierte, weiße Türe, die die kalte Luft im Kühlschrank festhielt und sah mich um, was es so an „nahrhaften“ Sachen gab. Doch in erster Linie versuchte ich etwas Trinkbares zu finden. „Kriegst du auch was zu Trinken, Shizuka?“, fragte ich laut in die Wohnung rufend, doch als ich keine Antwort erhielt, nahm ich mir eine Dose Cola und tappte mit den beige gefärbten Hausschlappen zurück in den Flur, wo das junge Mädchen immer noch an derselben Stelle stand und sich kein bisschen gerührt hatte, sogar ihr Gesichtsausdruck schien derselbe zu sein. Der Faden war überspannt worden und nun endgültig gerissen, er baumelte umher, in zwei Teile geteilt. Alles, was ich eigentlich nicht hatte laut aussprechen wollen, sprudelte regelrecht aus mir heraus, wie ein ausbrechender Vulkan, der seine Lava und Asche durch die Gegend warf. „Shizuka, es reicht langsam! Merkst du nicht, wie kindisch du dich aufführst? Erst bist du beleidigt, weil ich mit Ôhei rede, aus welchem Grund auch immer! Du gehst mir aus dem Weg und sprichst kein Wort mehr mit mir, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich eigentlich gemacht habe! Und zu guter Letzt heulst du dich bei mir aus, ohne auch nur ein Wort zu sagen! Entscheide dich endlich mal! Willst du beleidigt sein, kein Wort mehr mit mir reden, mir aus dem Weg gehen, mich voll heulen oder mir vielleicht doch endlich mal sagen, was eigentlich los ist?!“ Das Schreien hatte mich angestrengt und mein Atem ging nun stoßweise, während Shizuka keine Regung zeigte. Sie hatte mich bei Beginn der „Moralpredigt“ zwar kurz etwas entsetzt und überrascht angesehen, doch eine Antwort konnte ich von ihr scheinbar nicht erwarten. Also drehte ich mich um und ging ins Wohnzimmer, wo ich mich in der Mitte des Raumes auf dem bequemen Sofa niederließ, bevor ich die Dose Cola, die ich glücklicherweise noch nicht geöffnet hatte, da sie sonst wahrscheinlich nur noch halb voll gewesen wäre, auf den Glastisch vor der schwarzen Sofagarnitur stellte, der das Licht, das durch die Fenster hereinströmte nicht nur teilweise reflektierte, sondern auch im Licht der Sonne glitzerte. Es war ein schöner Anblick, doch aus irgendeinem Grund konnte ich mich darauf nicht konzentrieren. Es war einfach nur zum Haare ausraufen! Da wollte ich eine Antwort haben und anstatt die Sache ruhig anzugehen hatte ich Shizuka angeschrieen, von der ich nun erwartete, dass sie nach Hause gehen würde, ohne mir eine Antwort zu geben. Seufzend lehnte ich mich zurück gegen die Lehne des Sofas und zog meine Beine näher an meinen Körper. In mir brodelte es immer noch, was ich gar nicht von mir kannte, denn sonst wurde ich, nicht nur von mir, als ausgeglichener Mensch bezeichnet, der sich unter Kontrolle hatte. Doch mein Blut pulsierte in diesem Moment immer noch und machte keinerlei Anstalten sich zu beruhigen, um meinem Puls wieder auf Normalwert sinken zu lassen. Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und schließlich auch durch meine Haare, um mich wieder zu beruhigen. Nach einiger Zeit merkte ich, dass mein Puls nicht mehr ganz so schnell ging und auch mein Herz war nicht mehr so laut am schlagen, dass ich es selbst hätte hören können, wie es noch vor einigen Sekunden der Fall gewesen war. Meine Hand war indes wieder auf meinem Gesicht gelandet und verharrte dort eine Weile, bevor ich mich wieder richtig aufsetzte und nach vorne lehnte, um die Dose zu öffnen, die immer noch unangetastet auf dem Glastisch vor mit stand. Während ich die Dose vorsichtig in die Hand nahm und das zischende Geräusch beim Öffnen des Verschlusses hörte, sah ich mich in dem Raum um. Einige der Bilder an den Wänden waren mir zuvor noch nie aufgefallen. Es waren viele Fotos von meiner Schwester und mir, aber ich entdeckte auch eines, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Es zeigte meine Schwester und mich, aber dahinter standen meine Eltern, lächelnd, glücklich. Es musste eines der letzten Bilder gewesen sein, bis meine Eltern diese Ehekrise mit einer Scheidung als Ende hatten. Alles an dem Bild wirkte harmonisch, nichts deutete auf das Leiden hin, das nur wenige Monate später gefolgt war. Es dauerte eine ganze Zeit, bevor ich mich von dem Bild abwenden konnte und das nächste entdeckte, an dem mein Blick hängen blieb. Im ersten Moment musste ich schmunzeln, denn ich erinnerte mich noch genau an die Situation, in der das Foto aufgenommen worden war. Im Park gab es damals einen Spielplatz, wo meine Schwester und ich uns oft aufhielten. Eines Tages war mein Vater mitgekommen, da er unbedingt ein Foto machen wollte, wenn meine Schwester und ich am Schaukeln waren. Aber meine Schwester und ich kamen nicht auf die Schaukeln, da Ältere uns nie darauf ließen. Auch mein Vater war machtlos, denn die Eltern der Kinder waren auch dabei und fanden es unerhört, dass mein Vater sich da einmischen wollte: „Das müssen die Kinder unter sich ausmachen“, meinte die eine Frau damals schnippisch, die in ihrem geblümten Sommerkleid und dem schlechtem Make-up älter aussah, als sie bestimmt war. Auch die anderen Mütter waren dieser Ansicht – ihre Kinder konnten ja schließlich auch schaukeln. Wütend darüber, dass ich nicht auf die Schaukel konnte, hatte ich mich damals in den Sandkasten plumpsen lassen und mit Sand um mich geworfen, – soviel also dazu, dass ich ausgeglichen war – um meinem Ärger Luft zu machen, was auch prima geklappt hatte. Doch die Eltern der Kinder wurden plötzlich hellhörig und fingen an mich zu tadeln, ich solle sofort damit aufhören, ich würde damit anderen Kindern wehtun können. Wie man sich fast denken kann, meinte mein Vater dann einfach, dass sie das doch bitte lassen sollen, „die Kindern sollten das unter sich ausmachen“. Und obwohl meine Schwester 5 Jahre älter als ich war, setzte sie sich neben mich und fing ebenfalls an, mit Sand um sich zu schmeißen, bis plötzlich ein kleines Mädchen in meinem Alter – also fünf – auftauchte. Sie stellte sich vor mich und fragte, mit einem Finger an ihren Lippen: „Was machst du da?“ Wütend und mit blitzenden Augen sah ich sie an, was ihr sofort einen Schock versetzt hatte und sie zum Weinen brachte. Das hatte ich nicht gewollt und so schnell ich konnte stand ich auf und lief zu ihr. Ich erzählte ihr, dass die Kinder mich nicht auf die Schaukel ließen und ich deswegen mit Sand werfe, damit ein Monster käme, um sie von der Schaukel zu schubsen. Eigentlich wusste ich überhaupt nicht, warum ich angefangen hatte, die trockenen Steinchen um mich zu werfen, aber im Geschichtenausdenken war ich schon immer gut gewesen. Mein Gegenüber sah mich mit großen Augen an und die Tränen waren versiegt. „Stimmt das auch wirklich?“ Ich nickte ihr zu und im nächsten Moment ließ sie mich stehen und rannte zum Sandkasten, um sich in der Nähe meiner Schwester niederzulassen und Sand in die Luft zu werfen. Sie hatte es mir tatsächlich geglaubt! Schnell lief ich zu den beiden und begann auch wieder, den Sand um mich zu werfen. In dem Moment drückte mein Vater natürlich den Auslöser und seitdem hing das Foto an unserer Wohnzimmerwand, eingerahmt in einem Glasrahmen. Das Mädchen damals war Shizuka gewesen, ich kannte sie also wortwörtlich aus dem Sandkasten. Und erst jetzt fiel mir auf, dass ich die Türe noch nicht gehört hatte. Weder das sie geöffnet noch geschlossen worden war. Außerdem kam es mir langsam so vor, als würde sich die Szene von damals im Sandkasten wiederholen, obwohl mir noch nicht ganz klar war, wer im Sandkasten saß und wer derjenige war, der heulend davonrannte. Zuerst war es eigentlich so, dass ich wieder einmal nicht sagen wollte, was ich machte und Shizuka weinend weglief, doch genau eben war ich diejenige gewesen, die wissen wollte was los ist und die schließlich davongerannt war. Immer noch ließ mir die Frage keine Ruhe, ob sie sich noch im Flur befand oder ob sie schon lange gegangen war. Ich hörte zumindest keinen Mucks aus dem Flur, was mir zu denken gab. Den ersten Schluck aus meiner Cola-Dose trinkend stand ich auf und machte mich daran den Raum schlurfend zu verlassen. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und betrat schließlich den Flur, wobei ich direkt in Richtung der Haustüre schaute. Erst wollte ich weiter in Richtung Küche gehen, da Shizuka nicht mehr an der Stelle stand, an der ich sie eben zurückgelassen hatte, doch ich sah noch einmal hin, bevor ich die Dose auf einer kleinen Ablage stellte und immer noch langsam trottend auf die Türe zuging. Shizuka saß - oder kauerte eher - vor der Haustüre und hatte die Beine nicht nur nah ran gezogen, sondern auch die Arme darum geschlungen und ihr Gesicht zwischen ihren Knien vergraben. Ich setzte mich neben sie und sah sie eine ganze Weile an, während ich – zwar leise, aber dennoch gut hörbar – einige Schluchzer wahrnahm, die nur von ihr stammen konnte. „Hey, was ist denn los Shizuka?“ Irgendetwas konnte doch nicht stimmen und ich wollte nun endlich wissen, was dieses etwas war. Vorsichtig legte ich einem Arm um ihre Schulter und zog sie ein wenig näher zu mir, woraufhin sie zusammenzuckte und sich aus ihrer Kauerstellung löste, um mich erwartungsvoll anzusehen und mir fragenden Blick zuzuwerfen, den ich nicht recht zu deuten wusste. Vertraute sie mir etwa nicht mehr? Was war passiert, dass sie mir nichts mehr erzählen wollte, wie sie es früher doch immer getan hatte? Zum wievielten Male sah ich sie an diesem Tag wohl schon erwartungsvoll an und wartete auf eine Antwort, die ich, wie ich vermutete, sowieso nicht erhalten würde? Es war einfach zum Verzweifeln. Ich wollte gerade wieder aufstehen, als sie mich am Arm packte und wieder nach unten zog, bevor sie ein Stück näher zu mir gerutscht kam, um ihren Kopf gegen meine Schulter zu lehnen. „Es geht um meine Großmutter...“ begann sie zu erzählen. Kapitel 3: Gründe ----------------- Kapitel 3: Gründe Sofort wurde ich hellhörig. Nachdem ihre Eltern damals bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, war ihre Großmutter die einzige nahe Verwandte gewesen, bei der Shizuka hätte bleiben können und an der Shizuka außerdem sehr hing. „Na ja, sie ist ja nicht mehr die Jüngste...“ Gut sie sprach nicht im Präteritum, also konnte das Schlimmste, was ich schon befürchtet hatte, nicht eingetreten sein. „... und gestern Abend ist sie dann einfach umgekippt. Ich habe sofort den Notarzt gerufen und sie wurde ins Krankenhaus gebracht, es geht ihr auch schon wieder den Umständen entsprechend gut, aber sie wird sich nicht weiter um mich kümmern können.“ „Und das heißt?“, fragte ich, auf so gut wie jede Antwort gefasst. „Ich hab’ noch Verwandte in Kioto, von denen ich bisher nichts wusste. Ich soll jetzt dahin, damit die sich um mich kümmern können. Ist irgendeine Cousine meiner Mutter. Die ist verheiratet und hat schon einen Sohn, angeblich in meinem Alter. Und da soll ich jetzt hin. Das ist alles...“ Das war alles? Ungläubig blickte ich sie an. Mit welcher Kaltblütigkeit sie das ausgesprochen hatte, als ob es mich ja sowieso nicht interessieren würde und sie einfach mal alles runterleiern würde, damit ich endlich Ruhe gebe und sie nicht weiter belästige. Unweigerlich löste ich mich von ihr und stand auf. „Na wenn das alles ist...“, sagte ich nur desinteressiert und ging zu meiner Cola-Dose, aus der ich noch einen großen Schluck nahm, bevor ich in der Küche verschwand. Ihre Worte hallten immer wieder in meinem Kopf wider. „Das ist alles...“, flüsterte ich leise vor mich hin und schlug mir mehrmals gegen die Stirn, als wolle ich diese drei Worte, die soviel Unruhe in mir stifteten, aus meinem Kopf herausprügeln. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Sie machte ein Riesentheater und wollte nichts sagen und wenn sie dann etwas sagte, tat sie so als würde es mich nicht interessieren! Hatte sie etwa gar kein Vertrauen mehr zu mir? Auch wenn sie leise in die Küche schlich, bemerkte ich ihre Anwesenheit sofort. Ich drehte mich um und starrte geradewegs in ihre nussbraunen Augen, die mich anfunkelten und in ihren Bann zogen, um mich ja nie wieder loszulassen, bevor ich ein leises Murmeln aus ihren Mund vernahm, das ich als „Es tut mir Leid“ verstanden hatte. Oh nein, nicht mit mir! Jetzt würde ICH mal diejenige sein, die auf stur stellte. Auch wenn das Thema sehr ernst war und es mir eigentlich wichtig war mit ihr darüber zu reden, so einfach würde ich es ihr nicht machen, nachdem sie mich den ganzen Tag im Unklaren gelassen hatte. „So, es tut dir also Leid? Was genau tut dir denn Leid? Vielleicht, dass du mit mir heute so gut wie kein Wort gewechselt hast? Oder das du mir aus dem Weg gegangen bist, obwohl ich nur wissen wollte was los ist? Oder das ich solange bohren musste, bevor ich dir eine Antwort aus der Nase ziehen konnte, die mich ja dann doch nicht interessiert? Sag mir Shizuka: Was genau tut dir denn Leid?“ Was tat ich da eigentlich? Anstatt sie zu trösten, beziehungsweise über wichtigeres zu reden, machte ich sie hier gerade total fertig! Da durfte ich mich nicht wundern, wenn sie nicht mehr mit mir reden wollte und mir alles verschwieg, weil sie dachte, dass mich das eh nicht interessierte. Merkend, was ich da gerade getan hatte, schlug ich mir die Hand vor den Mund und verließ fluchtartig die Küche, das heißt: Ich versuchte es zumindest... Gerade als ich an ihr vorbei wollte, packte sie mich am Arm und zog mich näher an sich, bevor sie beide Arme um mich legte. Seit wann hatte sie so viel Kraft? Überwältig blieb ich still stehen und rührte mich nicht. Genauso plötzlich, wie sie mich an sich gezogen hatte, drückte sie mich wieder weg. Ich sah ihr immer noch nicht ins Gesicht, konnte immer noch keinen klaren Gedanken fassen und bewegte mich immer noch nicht auch nur einen Millimeter. „Alles...“, hörte ich sie flüstern und bemerkte, dass sie scheinbar zur Küchentür rausgehen und dann das Haus sofort verlassen wollte. Irgendetwas lief total schief an diesem Tag... Konnten wir nicht ein einziges Mal miteinander reden, ohne dass einer danach sofort die Flucht ergreifen wollte? Es reichte doch wohl langsam... „Hier geblieben!“, befahl ich ihr laut rufend und packte ihr rechtes Handgelenk. „Wir werden jetzt schön brav reden, ohne, dass einer die Flucht ergreift, verstanden?“ Ohne auf eine Antwort zu warten zog ich sie hinter mir her die Treppe hinauf in mein Zimmer. Das war der erste Raum, der mir für ein Gespräch geeignet schien und den ich abschließen konnte. Ich musste halt doch zu härteren Mitteln greifen, um normal mit ihr reden zu wollen. Shizuka ließ sich zwar erst nur widerwillig hinterher ziehen, doch ein Blick in mein Gesicht, das keinen Widerspruch zuließ, ließ sie auf einmal gefügig werden. Jede Stufe der Treppe knarrte unter meinen Füßen, wie es bei alten Holztreppen ja meist üblich ist. In unserer Gegend waren Häuser im westlichen Stil nichts Seltenes mehr, die großen Anwesen aus Holz und mit Papiertüren waren hier eher Raritäten. An meiner Zimmertür angekommen drückte ich die Klinke runter und zog Shizuka – jetzt wieder etwas widerwillig – hinter mir in den Raum, bevor ich mich umdrehte, die Türe schloss und den Schlüssel umdrehte, den ich sofort aus dem Schloss herauszog und in meiner Rocktasche verstaute, wo er mir am sichersten schien. Shizuka blickte mich an, als wolle ich sie jetzt foltern, dass ich ihr noch nicht einmal einen Fluchtweg ließ. Unterdessen fiel mir auf, dass ich mein Zimmer überhaupt nicht aufgeräumt hatte. Der Schreibtisch brach immer noch fast zusammen und wenn man etwas suchte sollte man sich doch sehr viel Zeit mitbringen, denn sonst würde man wahrscheinlich gar nichts finden. Shizuka schien das noch gar nicht bemerkt zu haben, sie malte sich wahrscheinlich gerade aus, was ich mit ihr vorhatte. Nachdem sie gemerkt hatte, dass es sowieso keinen Ausweg gab, ließ sie sich auf meinem Bett nieder, was ich heute – in aller Eile – vergessen hatte zu machen. Das schien sie aber genauso wenig – vielleicht auch einfach aus Höflichkeit – bemerkt zu haben. Ich hingegen ging zielstrebig auf mein Bett zu und kramte unter diesem herum, bis ich ein Sitzkissen gefunden hatte, auf das ich mich sogleich vor ihr niederließ. „Also, reden wir jetzt mal Klartext: Deine Großmutter kann sich nicht mehr um dich kümmern, dass heißt, dass du zu deinen Verwandten nach Kioto musst, damit die sich um dich kümmern können. Aber das war nicht der Grund dafür, dass du mir heute den ganzen Tag ausgewichen bist, oder?“ Irgendwie wusste ich, dass da noch mehr sein musste. Sie hätte es mir früher oder später sowieso erzählen müssen, da hätte auch das Weglaufen nichts genutzt. Das konnte also gar nicht das einzige sein! Stumm schüttelte Shizuka nur den Kopf und sah sich nun den Computermonitor an. Alles schien interessanter, Hauptsache war, dass sie mich nicht ansehen musste – so kam es mir zumindest vor. „Shizuka... bitte sieh mich wenigstens an, wenn du schon nicht mit mir reden willst...“ „Muss ich dich denn ansehen, wenn ich mit dir rede?“ Na, zumindest ihren Humor schien sie nicht verloren zu haben, was dafür sorgte, dass ein kleiner, aber feiner Stein von meinem Herzen fiel. „Tu was du nicht lassen kannst, ich will nur, dass du mit mir redest!“ Fordernd sah ich sie an. Ich wusste, dass sie das aus dem Augenwinkel sehen konnte, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte. „Worüber sollen wir denn bitte reden? Es ist doch wohl alles gesagt... Ich muss nach Kioto, weil meine Oma sich nicht mehr um mich kümmern kann. Mehr war und ist nicht!“ „Du willst mir jetzt hoffentlich nicht erzählen wollen, dass du nur aus diesem Grund heute den ganzen Tag vor mir weggelaufen bist, dazu auch erst, nachdem ich mit Ôhei geredet habe, nicht davor. Komm Shizuka, mir machst du nichts vor! Da muss noch etwas sein!“ Eine ganze Zeit lang schwiegen wir beide und Shizuka fand schließlich als erste ihre Stimme wieder. „Ich hab sie irgendwie beneidet...“, hörte ich sie leise flüstern, sie quetschte es förmlich heraus, als wäre sie kurz davor zu weinen. Ich blickte zu ihr auf und konnte die Tränen erkennen, die langsam ihre Wangen hinunterrollten. Schockiert sah ich sie an. Sie war neidisch? Auf Ôhei? Warum zum Teufel war sie neidisch auf das Mädchen, das sie angeblich so sehr hasste, wie man einen Menschen nur hassen konnte? Sie hatte mir doch immer gesagt, dass sie diese „oberflächliche Schlampe“ nicht leiden konnte. Was erzählte sie da? „... weiß du... sie schafft es irgendwie immer über ihre Probleme zu reden, mögen sie noch so unbedeutend und klein sein. Und ich? Ich schaffe es noch nicht einmal meiner besten Freundin zu sagen, dass ich bald nach Kioto muss – für die nächsten 3 Jahre zumindest!“ Sie dachte also immer noch, dass Ôheis Problem nur eine „kleine“ Sache gewesen wäre – irgendwie konnte ich das sogar verstehen. Dennoch hätte ich ihr am liebsten erzählt, was wirklich los war. Aber Ôhei hatte es mir im Vertrauen erzählt, etwas, das ich nicht enttäuschen wollte, nur weil jemand dachte, er wäre nicht „stark“ genug, um jemandem von seinen Problemen zu erzählen. „Glaub mir, Ôheis Problem ist größer als du glaubst. Es ging nicht nur um den passenden Lidschatten... Aber mal was anderes: Wann?“ Ich war mir nicht sicher, ob Shizuka verstehen würde, was ich meinte, da ich so plötzlich das Thema gewechselt hatte. Sie schniefte einmal laut, etwas von „so kaltblütig kannst auch nur du das Thema wechseln“ murmelnd und wendete sich nun endlich mir zu. „In zwei Wochen...“ Meine Augen weiteten sich. In zwei Wochen? Aber was hatte ich eigentlich erwartet? Tief im Inneren hatte ich doch wohl damit gerechnet, dass sie morgen schon weg wäre. Da schienen zwei Wochen doch eine Ewigkeit. Das Gespräch wurde an diesem Punkt nicht weitergeführt, bis ich hörte, dass die Haustüre geöffnet wurde. Meine Mutter war wohl nach Hause gekommen und das hieß, dass es schon acht Uhr war. Shizuka und ich saßen also schon Stunden in meinem Zimmer und machten uns gegenseitig das Leben schwer. Ich kramte den Schlüssel für meine Zimmertür aus der Rocktasche, fand dabei noch einige interessante Dinge wie kleine Zettelchen und eine Packung Hustenbonbons, schloss die Türe wieder auf und trat in den Flur hinaus. „Komm Shizuka...“ forderte ich sie auf und winkte ihr zu, bevor sie sich langsam erhob. Währendessen ging ich in Richtung der Treppe und begrüßte meine Mutter im Runtergehen. „Hi Mum! Sag mal, kann Shizuka heute bei uns übernachten? Morgen ist doch schließlich Sonntag! Bittend sah ich sie an.“ „Meinetwegen... Wenn ihre Großmutter nichts dagegen hat...“, antwortete mir meine Mutter. Damit war die Diskussion von meiner Seite aus erledigt. „Gut, dann holen wir nur schnell ein paar Sachen bei ihr!“ Ich schnappte mir erneut Shizukas Arm und zog sie hinter mir her, die Treppe runter in den Flur. Sie war schon dabei Widerspruch einzulegen, doch ich ließ es gar nicht erst soweit kommen und legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Kein Widerspruch, du bleibst heute hier! Deine Großmutter ist doch eh im Krankenhaus, oder? Allein kommst du nur auf dumme Ideen.“ Das Machtwort war gesprochen und der letzte Satz war auch nicht böse gemeint, dass wusste das junge Mädchen aber auch. Sie zog sich ohne ein weiteres Wort die Schuhe an und folgte mir aus dem Haus. Wir schwiegen uns den ganzen weiteren Weg zu ihrem Haus an und sahen beide zu unseren Füßen. Irgendwann begann ich laut loszulachen. Shizuka sah mich irritiert an. Was konnte denn jetzt so lustig sein? „Gomen...“, stammelte ich, immer noch lachend, „aber findest du es nicht auch komisch? Erst können wir nicht miteinander reden und nun, nachdem wir endlich alles gesagt haben, laufen wir schweigend nebeneinander her, als könnten wir nicht mehr miteinander reden... Ich muss sagen, wir sind schon komische Vögel!“ Nun musste auch Shizuka grinsen. „Wieso Vögel? Ich dachte wir wären Schafe?“ Erst blickte ich sie verwirrt an, da ich ihren Einwand nicht verstand. Doch plötzlich machte es dann doch irgendwo klick und ich verstand endlich, was sie meinte. „Das sowieso... das sowieso“, sagte ich und grinste noch breiter, während ich wieder einen Arm um ihre Schulter legte. Alles schien wieder in Ordnung zu sein – vorerst... Kapitel 4: Abschied ------------------- Kapitel 4: Abschied Auch wenn mir die zwei Wochen wie eine Ewigkeit vorkamen, irgendwann waren sie doch zu Ende und ich wusste, dass Shizuka bald gehen würde. Nach Kioto, ans andere Ende Japans. Doch keiner von uns beiden ließ sich in diesen zwei Wochen etwas anmerken, wir beide wollten es einfach nur vergessen und verdrängten es. Doch auch wenn wir es für einen Moment vergaßen, kaum dachten wir „endlich haben wir es vergessen!“, schon war es wieder fest in unserem Gehirn verankert und machte keine Anstalten wieder den Anker zu lösen und aus unseren Köpfen zu verschwinden. Doch genau diese quälenden zwei Wochen brachten viele Veränderungen mit sich. Mal abgesehen davon, dass Masaki wohl endlich aufgegeben hatte mich zu umgarnen – es schien eher so, als wolle er sich mit mir anfreunden – und mich in den Pausen zwar ansprach, aber keine Andeutungen machte, war wohl das Merkwürdigste von allem Shizukas Verhalten Ôhei gegenüber. Eines Tages ging sie einfach so zu dem Mädchen und begann sich mit ihr zu unterhalten. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, doch scheinbar hatte nicht nur meine beste Freundin gelernt, dass Lidschatten nicht das einzige Problem einer Oberschülerin sein konnten. Doch schließlich kam der Tag, an dem Shizuka ihre Sachen gepackt hatte und mit ihren Koffern am Bahnhof von Kazuoka stand, einer Kleinstadt in der Nähe Tokios. Und was war mit mir? Ich stand daneben. Natürlich schwiegen wir. Das war in den letzten zwei Wochen sowieso eine Sache gewesen, die immer häufiger und selbstverständlicher für uns geworden war. Die Uhr, die vom dunklen Bahnhofsdach herunterhing, zeigte, dass ihr Zug in weniger als fünf Minuten ankommen und sie erst einmal mitnehmen würde. Und das ich nichts dagegen tun konnte. Ich kam mir ziemlich hilflos vor, dort auf diesem Gleis. Und dann hörte ich, wie der Bahnhofsvorsteher die Leute bat vom Rand des Gleises wegzutreten, da in Kürze ein Zug einfahren würde – Shizukas Zug. Zeitgleich blickten wir uns an. „Na dann...“, begann ich und versuchte dabei möglichst nicht zu aufgesetzt oder zu traurig zu klingen. „Ja... dann...“ Shizuka senkte ihren Blick. Mal wieder lief alles nicht so, wie ich es eigentlich geplant hatte, denn ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen traten und versuchte krampfhaft diese zu unterdrücken. Doch irgendwann war zuviel der salzigen Flüssigkeit in meine Augen getreten und langsam rollten die Tränen meine Wangen hinab. Leise, aber sie rollten und hatten jetzt schon meine Mundwinkel erreicht, in denen sie es sich gemütlich gemacht hatten und keine Anstalten machten einfach zu verschwinden, zu verdunsten oder einzutrocknen, sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis Shizuka sie entdeckte. Und ehrlich gesagt, wusste ich gar nicht, warum ich nun hier stand und heulte. Logisch, meine Freundin zog nach Kioto, ziemlich weit weg, aber wir hatten doch schon ausgemacht, dass ich sie in den Sommerferien besuchen würde und diese begannen doch schon in Kürze! Also, was war mein Problem? Hatte ich einfach nur Angst, dass irgendetwas schief könnte, dass wir uns vielleicht doch nicht wieder sehen konnten, wenn die Ferien begonnen hatten? Oder gab es da ganz andere Gründe? Ich wusste es nicht und hatte auch in dieser Situation auch keine Lust mir darüber Gedanken zu machen. Stattdessen tat mein Körper sowieso was er wollte und trat wie von selbst einen Schritt auf Shizuka zu, die immer noch den Kopf, und auch ihren Blick, gen Boden gerichtet hatte, um dann, ganz automatisch, beide Arme um sie zu legen und an meinen Körper zu ziehen und daran zu drücken, als wolle ich sie nie wieder gehen lassen. Auf Shizukas Reaktion hatte ich hierbei nicht geachtet, doch ich konnte mir vorstellen, dass sie ziemlich überrascht gewesen sein musste und wahrscheinlich – schreckhaft wie sie war - zusammenzuckte. Doch das war mir nun auch egal. Die Tränen wollten nun gar nicht mehr aufhören zu fließen und immer mehr dieser lästigen kleinen Salzwassertropfen bahnten sich ihren Weg über mein Gesicht, wobei Shizukas Schulter, nur von einer dünnen Sommerjacke bedeckt, die Leidtragende war. Doch auch ich spürte plötzlich etwas Feuchtes an meiner linken Schulter, an die sich meine Freundin gelehnt hatte und nun auch ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Leise weinten wir vor uns hin, als gäbe es kein morgen mehr, und klammerten uns an den jeweils anderen. Dann wurden wir jäh gestört, als der Zug – zuerst noch mit einem rasanten Tempo – in den Bahnhof einfuhr und schließlich auf den Gleisen neben uns stehen blieb. Langsam löste ich mich von ihr, immer noch mit tränennassem Gesicht. Auch sie löste sich langsam wieder von meinem Körper und blickte mich hoffnungsvoll an, als wolle sie sagen: „Nimm mich wieder mit nach Hause, ich will nicht weg!“ Doch diesen Wunsch konnte ich ihr einfach nicht erfüllen. Schließlich legte sich ein kleines Lächeln auf mein Gesicht. „Du solltest jetzt besser gehen... Sonst fährt der Zug noch ohne dich...“ >... und ich kann für alles Weitere nicht garantieren...< fügte ich in Gedanken noch hinzu. Ich erwartete schon ein einfaches „Na und“ von ihr, doch sie nickte nur betrübt und schnappte sich ihren Koffer, bevor sie – ohne sich weiter umzudrehen – auf die Zugtüre vor sich zuging und damit den Zug betrat. Erst als sie drin war sah sie in meine Richtung und lächelte mich an. „Denk dran! Und wehe du vergisst wann dein Zug nach Kioto fährt!“ „Ich doch nicht!“, rief ich ihr grinsend zu, bevor sich die Türe langsam schloss. „Bis dann!“ riefen wir beide gleichzeitig und fielen in ein schallendes Gelächter, bevor sich die Türe endgültig schloss und der Zug sich in Bewegung setzte, Richtung Kioto. Mein Grinsen blieb auf meinem Gesicht – bis der Zug außer Sichtweite war. Kaum war dies geschehen ließ ich mich auf der nächsten Bank nieder und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß, als ich plötzlich bemerkte, dass sich jemand neben mich gesetzt hatte und mich in den Arm nahm. Im ersten Moment dachte ich es sei Shizuka und schreckte auf. Doch eigentlich war mir doch klar gewesen, dass das nicht sein konnte. Als ich nach oben sah blickte ich stattdessen in Ôheis Augen, die mich fast verständnisvoll und lieb ansahen. Was machte sie denn hier? Doch als könne sie meine Gedanken lesen, begann sie zu reden: „Du wunderst dich bestimmt, dass ich hier bin, oder? Na ja... du musst wissen, dass Shizuka vor kurzem bei mir war. Sie hat sich entschuldigt, auch wenn ich nicht weiß wofür, und hat mir außerdem erzählt, dass sie bald weg fährt, nach Kioto. Und dann hat sie mir den Auftrag gegeben ein wenig auf ihre beste Freundin aufzupassen...“ Sie grinste mich an. Doch ich verstand immer noch nicht, was sie hier machte! Was zum Teufel wollte sie hier? Selbst wenn Shizuka mit ihr gesprochen hatte, warum hörte Ôhei auf sie und war hier? Ich überlegte, ob ich sie direkt darauf ansprechen sollte, oder es lieber ließ, entschied mich dann aber das Erste zu tun. „Aber... was machst du hier? Ich mein, selbst wenn Shizuka mit dir geredet hat, warum tust du das, was sie sagt? Ihr kennt euch doch kaum und wir kennen uns doch auch nicht so ganz.“ Sie sah etwas überrascht und schließlich ein wenig gespielt beleidigt aus, bevor sie mir die Situation erklärte. „Was weiß ich, was mich geritten hat...“, sagte sie recht beiläufig und warf elegant ihr langes Haar zurück, das sanft auf ihrem Rücken landete und dort liegen blieb. „Interessant... du hörst auf wildfremde Personen. Hast du etwa wieder Stress?“, war mein einziger Kommentar auf ihre Antwort, der einen ganz beiläufigen Unterton hatte, den Ôhei aber herauszuhören schien, denn plötzlich verfinsterte sich ihre Miene und ihr Blick schweifte von mir ab in Richtung Gleis, dessen Anblick mir immer noch einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. „Er hat Schluss gemacht...“, sagte sie dann ganz ruhig und leise, ohne irgendeinen Anflug von Gefühlen in der Stimme, weder Trauer noch Freude. Langsam beugte ich mich nach vorne, um sogleich meinen Kopf auf meine Hände zu legen und die Ellenbogen auf den Oberschenkeln abzustützen. Ich blickte in dieselbe Richtung wie Ôhei, sprach sie aber dennoch direkt an. „Tut mir Leid, dass so sagen zu müssen, aber für mich wäre das eher ein Grund fröhlich durch die Gegend zu hüpfen und zu feiern, nicht um Trübsal zu blasen und auf kleine Mädchen zu hören, die einen um etwas gebeten haben, die man aber überhaupt nicht kennt.“ Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Ôheis Reaktion. Sie blickte mich erstaunt an, bevor sich ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnete. „Wohl wahr... Denke da hast du Recht, aber allein feiern macht nun einmal keinen Spaß, wen sollte ich denn mitnehmen?“ „Hm?“ Überrascht blickte ich sie an und entdeckte nun ein Grinsen in ihrem Gesicht, das von einem Ohr zum anderen zu reichen schien. >Oh nein, sie will doch nicht etwa...< Doch genau das wollte sie. Sie hatte zwar genug Freundinnen, aber eine mehr kann ja nie schaden, nicht? „Och ne, lass mal... Ich bin nicht in der Stimmung zum Feiern. Du hast doch deine Clique, will da nicht vielleicht einer mitgehen?“ „Ehrlich gesagt habe ich da noch niemanden gefragt... Außerdem musst du mal raus, dass hast du ganz dringend nötig, Mädchen. Und nicht zu vergessen, worum Shizuka-chan mich gebeten hat... Das wären...“ Sie begann an ihren Fingern etwas abzuzählen, was mich zum Schmunzeln brachte. „... eins, zwei, drei Fliegen mit einer Klappe!“ Auffordernd blickte sie mich an. Irgendwie kam mir der Blick bekannt vor, doch im ersten Moment konnte ich die Herkunft nicht deuten. Erst später fiel mir auf, dass genau dies der Blick gewesen war, mit dem Shizuka auch immer erreicht hatte, was sie wollte. Dieser Dackelblick, dem niemand widerstehen konnte, weil die Person, die ihn aufsetzte damit total unschuldig und hilflos aussah. „Ist ja schon gut! Ich komme ja mit, aber bitte, hör auf mich so anzugucken!“ „Wie Ihr wünscht! Ich hol dich um sieben ab!“ Grinsend stand sie auf und verschwand, bevor sie um Punkt sieben Uhr vor meiner Haustüre stand. Doch wir gingen nicht sofort los, erst einmal musste ich eine Stunde lang einen „Schnell-Schmink-Style-Kurs“ über mich ergehen lassen, bevor wir das Haus verließen – wobei ich das Top aus meinem Schrank anhatte, dass ich verfluchte. Der Ausschnitt war so weit, dass ich bei jeder Bewegung aufpassen musste. „Ôhei, ich glaube nicht, dass dieses Top unbedingt geeignet ist...“, gab ich meine Bedenken preis, doch sie „löste“ das Problem mit ein wenig Doppelklebeband. Ich hoffte nur, dass das Klebeband auch hielt, was es versprach. Doch Ôhei hatte Recht gehabt, ich hatte es dringend nötig gehabt mal raus zu kommen. Das merkte ich aber erst, als ich meine, nach der Nacht, mit Pflaster beklebten Füße sah, die vom Tanzen in den Schuhen mit Absätzen recht demoliert waren. In den zwei folgenden Wochen hielt ich mich ziemlich an Ôhei, die nun scheinbar auch nicht mehr soviel mit ihren „Freundinnen“ zu tun haben wollte, die ganz erstaunt darüber waren, dass Ôhei nicht um ihre „große Liebe“ gekämpft hatte, und sie vorerst abservierten und sich eine neue Anführerin suchten, die die Clique durch die Schule führte und allen Jungs den Kopf verdrehte. „Mach dir nichts draus, die sind’s absolut nicht wert...“, war mein einziger Kommentar dazu, aber ich merkte, dass es dem Mädchen ziemlich wehtat, was da geschah. Aber da gab es ja noch jemanden, der wieder um mich herum sprang und versuchte mich aufzuheitern. Nachdem Masaki seine „Annäherungsversuche“ endlich aufgegeben hatte – und ich mich normal mit ihm unterhalten konnte, ohne dass er bei einem falschen Wort losstotterte, freundeten wir uns sogar ein wenig an. In zwei Wochen kann einiges passieren und so wunderte ich mich auch nicht sehr, dass es plötzlich ein neues Paar in der dritten Klasse gab, erst als ich erfuhr, um wen es sich handeln sollte, wurde ich stutzig und entschied mich nachzufragen, schließlich kannte ich die betreffenden Personen. Wie sich herausstellte war es nun wirklich soweit gekommen, dass Ôhei und Masaki zusammen waren, was mir einmal mehr zeigte, dass die Liebe wirklich überall hinfallen kann. Dann, endlich, kam der letzte Schultag. Mein Koffer und mein Rucksack für unterwegs standen gepackt zu Hause und ich wartete nur auf das Klingeln der Schulglocke, um endlich den Klassenraum und die Schule verlassen zu können und ab ins traute Heim zu laufen, wo ich nur meine Tasche abzuholen hatte, bevor ich mich auch schon auf den Weg zum Bahnhof machen musste, um ja nicht den Zug zu verpassen. Von meiner Mutter hatte ich mich heute Morgen schon ausgiebig verabschiedet. Sie war zwar etwas verunsichert, weil ich direkt mehrere Wochen in Kioto bleiben wollte, doch sie hatte sich damit abfinden müssen, dass ich nicht mehr umzustimmen war. Dass ich zu Shizuka fahren würde, war schon vor ihrer Zustimmung entschieden gewesen, mit meinem Dickkopf hätte ich mich irgendwann schon durchgesetzt, selbst wenn ich in den Hungerstreik hätte gehen müssen, was glücklicherweise nicht der Fall war. Endlich hörte ich das Klingeln der Schulglocke und verließ als erste den Raum, rannte nach Hause und stand eine Stunde später am Bahnhof. Die Uhr, die beim letzten Mal angekündigt hatte, dass Shizukas Zug in fünf Minuten einfuhr, zeigte nun mir, dass der Zug, der mich nach Kioto bringen sollte, auch in fünf Minuten erscheinen würde. Es war wohl eine Ironie des Schicksals, dass ich nun an ziemlich genau der gleichen Stelle stand, wie vor zwei Woche, und wieder auf einen Zug wartete, der nach Kioto fuhr. Nur dieses Mal eben mich. Der Zug fuhr ein, ich betrat ihn und die Türe schloss sich hinter mir, bevor ich mich mit gemischten Gefühlen meinem Ziel Kioto näherte und Kazuoka verließ – zumindest für eine Weile. Kapitel 5: Wiedersehen ---------------------- Part 2: Kioto Kapitel 5 : Wiedersehen Ich setzte mich auf den erstbesten freien Platz, den ich erblicken konnte, und ließ mich auf dem blau gefärbten Polster nieder, das nicht sonderlich viel Bequemlichkeit zu versprechen schien. Die schwere dunkelgrüne Reisetasche fiel vor meine Füße und sorgte so zumindest dafür, dass sich vorerst niemand mir gegenüber sitzen konnte. Als weiteren Schutz gegen unliebsame Sitznachbarn ließ ich meinen hellblauen Rucksack auf den Sitz neben mir gleiten. Dort hatte ich jede Menge Kleinkram, wie MP3-Player, Handy, Portemonnaie – mit allen wichtigen Dingen wie Geld, Fahrkarte, Ausweis -, Schlüssel und einige Kleinigkeiten zum Essen verstaut, die ich beim besten Willen nicht hatte in meiner Reisetasche suchen wollen. Meine erste Aktion war es, den MP3-Player aus meinem Rucksack zu holen und eines meiner Lieblingslieder anzumachen, dessen Klängen ich leise lauschte und den Kopf im Takt bewegte. Schließlich lehnte ich meinen Kopf gegen die kalte Scheibe des Zuges und blickte hinaus. Der Zug hatte sich schon vor einigen Sekunden in Bewegung gesetzt, sodass langsam aber sicher die Häuser der Innenstadt, mit ihrer herausragenden Größe, kleineren, fast unscheinbaren Häusern wichen, die wiederum einer Landschaft mit viel grünem Gras und einigen Wälder in kilometerweiter Entfernung hatten Platz machen müssen. Noch vor einigen Minuten war ich tierisch aufgeregt gewesen, was mich wohl in Kioto erwarten würde, doch der Anblick dieser Landschaft schien mich zu beruhigen. Vielleicht lag es aber auch nur an den sanften Klängen der Musik, der ich lauschte, auf jeden Fall schien mein Herz wieder Normalfrequenz zu haben und mein Kopf schien auch wieder klar denken zu wollen. Die Frage war nur noch, wie lange das wohl anhalten würde, denn die Fahrt nach Kioto nahm einige Stunden in Anspruch. Natürlich hatte ich genau in dem Moment wieder angefangen daran zu denken, nachdem ich es fast wieder vergessen hatte und mit einem Mal spürte ich wieder, wie mein Herz anfing schneller zu schlagen. So weit war ich noch nie allein gefahren, doch ich war mir damals schon nicht sicher, ob ich nicht vor etwas gänzlich anderem Angst hatte. Wovor, das wusste ich nicht, doch irgendwie kam es mir so vor, als wäre ich nicht nur nervös gewesen aus Angst, was mich in Kioto erwarten würde. Die grüne Landschaft vor meinen Augen wich wieder einigen kleinen Häusern, bevor wieder Hochhäuser in Sicht kamen. Ich wusste nicht, in welcher Stadt ich mich nun befand, offen gestanden war es mir auch egal. Die Häuser kannte ich nicht und sie schienen mir zu kalt, als das ich sie hätte kennen lernen wollte. Anders als in Kazuoka kam es mir hier so vor, als hätten die Häuser keine Seele. In meiner Heimatstadt waren mir die Häuser bekannt, in vielen war ich schon gewesen. Ich kannte sie, wie ich Menschen kannte, die mir auf der Straße begegnete, mich aber nicht weiter mit ihnen beschäftigte. Dennoch kannte ich sie, schließlich war ich ihnen schon einmal begegnet. Und wie es Menschen gibt, die einen von Anfang an so abstoßen, dass man keine nähere Bekanntschaft mit ihnen machen möchte, so war es bei mir mit diesen Häusern. Ich wollte nicht ihre Bekanntschaft machen, denn sie stießen mich schon von weitem ab. Ich war froh, als der Zug den Bahnhof wieder verließ und wieder das beruhigende grüne Nichts vor meinen Augen auftauchte. Doch in den nächsten Stunden wiederholte sich dieses Spiel einige Male. Neue Städte zeigten sich mir, doch ich wollte sie nicht kennen lernen. Ehrlich gesagt hatte ich schon Heimweh, bevor ich wirklich aus Kazuoka raus gewesen war und wollte schleunigst irgendwohin, wo ich mir nicht so allein und hilflos vorkam – Kioto. Da kannte ich zumindest Shizuka, da würde ich mir nicht ganz so verloren vorkommen, wie ich es mir in diesem Zug vorkam. Ob meine Freundin vor zwei Wochen ähnliche Angst gehabt hatte, als sie ihrer neuen Heimat entgegenfuhr? Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und starrte weiter abwesend aus dem Fenster. Zu abwesend, wie ich nur einige Sekunden später feststellte. Ich schloss für kurze Zeit die Augen, den Kopf immer noch – oder wieder – gegen das kalte Glas gelehnt, dass mein Abbild leicht spiegelte. Als ich die Augen einige Zeit später wieder öffnete spiegelte es aber nicht nur meine Gestalt wieder. Erschrocken drehte ich mich um, um sicherzugehen, dass meine Augen mir keinen Streich spielten und die gerade gesehene Gestalt wirklich da war, vollkommen real und zum anfassen nah. „Was machst du – ähm – ihr denn hier?“, fragte ich die Gestalt überrascht, bevor ich mich, nach dem Auftauchen einer weiteren Person, korrigieren musste. „Ähm... ja... also... weißt du... wir wollten halt auch nach Kioto, so ein Zufall aber auch!“, grinste Masaki mich an, ganz unschuldig, als wäre es ein einfacher Zufall, dass wir im gleichen Zug saßen und in dieselbe Stadt wollten, von der ich in den letzten Tagen nur noch geredet hatte. Zweifelnd sah ich ihn an, dachte mir meinen Teil, sagte aber nichts. Mir war klar, dass es sich hierbei nicht um einen Zufall handelte, das war einfach zu unmöglich. Entweder wollten er und seine Freundin auf mich aufpassen, weil sie Angst hatten, dass mir etwas passieren könnte, was ich eigentlich sehr unwahrscheinlich, aber nicht für unmöglich hielt. Ich suchte auch verzweifelt nach einer anderen, weiteren Erklärung, doch mir fiel keine ein. Erst als ich Kioto sehr viel näher gekommen war, bemerkte ich, dass die Nervosität und die Angst, allein zu sein, verflogen waren. Doch kaum denkt man daran, schon ist selbige wieder da, wie ich schon erläuterte. Die Nervosität kam auch sofort wieder, als ich daran dachte, was mich nun wohl erwarten würde, doch die Angst war immer noch verschwunden. Warum sollte ich auch allein sein? Schließlich saßen nun auch Ôhei und Masaki hier bei mir im Zug und versuchten mich ein wenig aufzuheitern. Es gelang ihnen auch – teilweise. Ich hörte ihnen sowieso nicht richtig zu und bekam nur wenig von dem Gespräch mit, dass die beiden – mit mir oder ohne mich – führten. Gelegentlich kam ein einfaches „Ja“ von mir oder ich nickte mit dem Kopf, um ein wenig Interesse zu heucheln, was mir sehr gut zu gelingen schien, denn sie sprachen mich nicht auf meine Abwesenheit an. Vielleicht wollten sie mich auch gar nicht darauf ansprechen, ich habe sie nie gefragt. Das einzige, das ich von dem Gespräch noch weiß, ist, dass sie in den Zug gestiegen waren und mich die ganze Fahrt über in den einzelnen Wagons gesucht hatten, mich aber, bis eben, nicht hatten finden können, da ich fast ganz hinten im Zug saß und sie ziemlich weit vorne eingestiegen waren. Die vorderen Wagons waren laut ihrer Erzählungen auch sehr viel voller als die hinteren, in diesem waren wir beispielsweise fast allein. Nur einige Plätze hinter uns befand sich ein älterer Herr, den ich mir nicht genauer angeschaut hatte. Doch ich wusste, dass er in Kazuoka noch nicht im Zug saß, also musste er später eingestiegen sein. Des Weiteren interessierte mich dieser Herr aber recht wenig, sodass ich mich wieder auf die Musik konzentrierte, die jetzt – der Höflichkeit halber – nur noch durch einen Ohrstecker in mein Ohr drang, mich aber trotzdem beruhigte. Endlich, nach einer mir endlos vorkommenden Zeit, drang die Stimme der Dame an mein freies Ohr, die die nächsten Stationen ansagte: „Nächster Halt: Kioto. Hauptbahnhof. Ausstieg in Fahrtrichtung: links.“ Wir waren da! Ich hätte Luftsprünge machen können, verhielt mich aber stattdessen ruhig und packte alles, was ich während der Fahrt aus meinem Rucksack herausgeholt hatte, langsam wieder in selbigen, bedacht darauf, dass ich alles schnell wieder fand, wenn ich es brauchen sollte. Der Zug bremste langsam ab und kam schließlich vollständig zum Stillstand. Ich zog meinen Rucksack über die Schultern und ließ ihn auf meinen Rücken fallen, bedacht darauf, dass meine langen Haare, die ich an diesem Tag offen trug, nicht eingeklemmt wurden, bevor ich die Träger meiner Reisetasche packte und diese mit einem Ruck anhob, um sie aus dem Zug zu chauffieren. Masaki wollte gerade mit anpacken, doch ich deutete ihm mit einem Kopfschütteln an, dass das nicht nötig sei. Ôhei hatte da schon eher Hilfe nötig. Ein wenig schwankend trug ich die Tasche nach draußen und sah mich auf dem Bahnsteig um. Im ersten Moment dachte ich, dass ich wieder in Kazuoka war, denn alles schien genauso auszusehen wie in meiner Heimatstadt. Bis mir die Dimensionen des Bahnhofs klar wurden, die die von Kazuoka um einiges überschritten. Doch Shizuka konnte ich nicht entdecken. So stand ich einige Minuten auf dem Bahnsteig, mich nach meiner besten Freundin umschauend und nicht bemerkend, dass ein Junge, etwa in Masakis und Ôheis Alter, auf mich zukam. Deswegen wich ich etwas erschrocken zurück, als er mich direkt ansprach. „Hi, du bist bestimmt Gaho-san, oder?“ Ich nickte nur zögerlich und musterte ihn genauer. Wie die meisten Japaner hatte auch er schwarze, glatte Haare, jedoch waren seine schon so lang, dass er sie zu einem kleinen Zopf zusammenbinden konnte. Er sah nicht schlecht aus, dass musste ich zugeben, aber dennoch wollte ich wissen, woher er meinen Namen kannte. Doch diese Frage erübrigte sich, denn er redete schon weiter. „Shizuka hat mich geschickt, ich soll dich abholen. Ach ja, mein Name ist übrigens Matsuya Kazuhiko. Ich bin Shizukas entfernter Cousin.“ Er lächelte mich an und schließlich verbeugten wir uns voreinander. Jetzt wusste ich zumindest, warum mir dieser Blick zu bekannt vorgekommen war. Derselbe Ausdruck in den Augen wie bei Shizuka. „Gaho Airashi“, stellte ich mich nun auch vor, bevor ich zu meinen Freunden übergehen wollte. „Das sind übrigens...“ „Tsukasa Ôhei und Ienobu Masaki. Shizuka hat mir schon gesagt, dass die beiden kommen würden.“ Sie wusste Bescheid? Dann konnte ich mir ja schon fast denken, warum die beiden im Zug gewesen waren. Shizuka hatte die beiden auch eingeladen. „Interessant...“, murmelte ich leise vor mich hin, ging aber nicht weiter darauf ein, als Shizukas Cousin mich fragte, was ich gesagt hätte. „Hat Shizuka eigentlich noch mehr Überraschungen parat, oder habe ich sie mittlerweile alle durch, Matsuya-san?“ „Also, soweit ich weiß, war das alles. Außer sie hat mir etwas nicht erzählt... Übrigens kannst du mich ruhig Kazuhiko nennen, ich hasse dieses förmliche Getue.“ Mit einem Mal musste ich losprusten und ließ vor lauter lachen meine Reisetasche auf den Boden knallen, da ich sie nicht mehr hatte halten können. Irritiert blickte mich meine neue Bekanntschaft an. „Gomen...“, murmelte ich, krampfhaft versuchend nicht erneut in einen Lachanfall zu bekommen. „Es ist nur so... Als ich Shizuka das erste Mal begegnet bin, hat sie genau dasselbe zu mir gesagt, wie du gerade. Na ja.. Mit dem Unterschied, dass ich sie nicht Kazuhiko nennen sollte, aber ansonsten...“ Die beiden waren sich doch recht ähnlich, auch wenn das auf den ersten Moment nicht erwartet hätte, da sie so unterschiedlich schienen wie Tag und Nacht. So wie ich Kazuhiko in den Minuten kennen lernte, die er brauchte, um uns zu seinem Haus zu führen, schien er ein aufgeweckter, lebensfroher Mensch zu sein, der auf alle Leute zuging und leicht Bekanntschaften machte, während seine Cousine dritten Grades eher wie ein kleines Mauerblümchen wirkte, das zu schüchtern war, irgendwen anzusprechen und sich normal mit ihm zu unterhalten. Schließlich kamen wir endlich vor einem Haus zu stehen. Es war riesig, größer noch als das Anwesen ihrer Großmutter, das schon sehr groß gewesen war, da es noch im altjapanischen Stil gebaut worden war. Doch dieses Haus glich einer Villa. Es war zweistöckig, weiß und mit vielen Fenstern bestückt. Einige dieser Fenster reichten bis auf dem Boden der Balkone, die hier und da an den Wänden zu erkennen waren und bildeten Terrassentüren. Masaki bekam den Mund gar nicht mehr zu, als er das Haus vor sich sah und Ôhei musste ihrem „Liebsten“ die Kinnlade hochklappen, damit dieser endlich wieder seine Lippen versiegelte. „Wow...“, war das einzige, dass ich herausbekam. Doch viel Zeit bleib mir nicht, um mir das Haus genauer anzusehen, denn schon wenige Sekunden später betrat Matsuya das Grundstück und ich, mit Sack und Pack, sowie kleinem Anhang, folgte ihm. Er schloss die feine, weiß lackierte Türe auf, die nicht nur eine Messingklinke hatte, sondern auch noch einen dieser Türklopfer, wie sie in Europa früher an edlen Häusern befestigt worden waren. Vorsichtig öffnete der Schwarzhaarige mit dem Pferdeschwanz die Türe und ließ uns drei schließlich ein, bevor er die Türe wieder zuzog. „Zu-chan, deine Freunde sind da!“, rief er in Richtung Treppe, die sich direkt gegenüber der Haustüre befand und ins nächste Stockwerk führte. Aber Moment einmal! Hatte er sie gerade „Zu-chan“ genannt? Das war doch der Name, den ich ihr gegeben hatte! Warum nannte er sie nun so? Das war mein Privileg, ganz allein meins! Doch weitere Gedanken darüber konnte ich mir gar nicht machen, denn im selben Moment hörte ich schon Schritte die Treppe hinunter kommen, immer schneller werdend, umso tiefer sie kamen und um so lauter sie wurden. Schließlich erschien sie auf der letzten Stufe und beschleunigte ihren Schritt nochmals, wobei sie fast gestolpert wäre. So schnell sie konnte lief sie auf mich zu und fiel mir in die Arme, mich dabei fast umwerfend. „Hi!“, rief sie laut und zerdrückte mich fast, so fest umarmte sie mich. „Ja, ich freue mich auch dich wieder zu sehen, Zu-chan, aber wenn du noch was von mir haben willst, solltest du mich langsam loslassen, denn sonst zermatschst du mich wie eine Tomate!“ Ich machte mein Privileg deutlich. Ich war die einzige die Shizuka Zu-chan nennen durfte! Kaum hatte ich meinen Satz ausgesprochen ließ Shizuka mich los, was ich im nächsten Moment bereute, denn mir fehlte die Umarmung schon jetzt. Schließlich konnte ich mich dazu durchringen sie auch einmal in den Arm zu nehmen. „Ach ja, ich zerquetschte dich also wie eine Tomate, ja? Und was ist mit dir?“, fragte Shizuka gespielt beleidigt, denn scheinbar war ich bei der Umarmung auch nicht zimperlich vorgegangen. Na wenigstens das schien sich nicht verändert zu haben. „So, ich zeige euch dann mal eure Gemächer...“, meldete sich Shizukas Verwandter wieder zu Wort und lief, meine Reisetasche nehmen, die Treppe hinauf, bevor Shizuka ihn mit einer Frage aufhielt. „Wie wäre es, wenn wir erst mal klären, wer in welchem Zimmer schläft, Kazu-kun?“ Während sie sprach löste sie sich aus meiner Umarmung und sah nun ihre drei Gäste an, um uns zu erklären, was nun als nächstes passieren sollte. „Also, wir haben ein Gästezimmer mit zwei Betten und einer von euch wird bei Kazuhiko schlafen müssen. Und bevor weitere Fragen kommen, schaut euch mein Zimmer an, da kann keiner schlafen.“ Den letzten Satz hatte sie noch schnell angefügt, als sie bemerkt hatte, dass ich wohl etwas sagen wollte. Denn ich konnte mir vorstellen, dass wir beide genau wussten, worauf das hinauslief. Ôhei und Masaki teilten sich ein Liebesnest und ich musste bei Kazuhiko schlafen. Scheinbar hatte sie noch versucht zu retten, was zu retten war, jedoch erfolglos, denn schon wenige Minuten später stand ich mit Rucksack und Reisetasche im Zimmer des zukünftigen Hausherren und besah mir das Futon auf den ich wohl die nächsten Nächte verbringen musste. Ich hatte mir zuvor noch Shizukas Zimmer angesehen und war zu dem Schluss gekommen, dass es wirklich zu klein war, denn selbst das Futon hätte keinen Platz mehr gefunden. So hatte ich mich widerwillig meinen Schicksal gefügt und war in Kazuhikos Zimmer gezogen. Aber ich dachte, dass ich es schon überleben würde, schließlich musste ich nur in dem Zimmer schlafen und nicht den ganzen Tag darin verbringen! Genau diesem Motto folgend stellte ich mein Gepäck einfach in das Zimmer und trat sofort wieder aus, um ein Zimmer weiter die Türe zu öffnen. „Bist du schon fertig mit Auspacken?“, fragten mich die beiden Anwesenden sofort überrascht. Scheinbar hatte ich die beiden gerade bei etwas wichtigem gestört, denn Shizuka war erschrocken von ihrem Bett aufgesprungen, auf dem Kazuhiko nun alleine saß, mit dem Rücken zur Türe. Im ersten Moment stutzte ich. Was war denn hier los? Hatte ich die beiden etwa „ertappt“? Ach Quatsch, so etwas hätte Shizuka mir bestimmt erzählt. Obwohl... So wie die gerade aufgesprungen war... Sie blickte mich immer noch entgeistert an, die Angst in ihren Augen war mehr als gut zu erkennen, in irgendetwas musste ich also reingeplatzt sein. Und nun musste ich versuchen die Sache wieder hinzukriegen, also würde ich am besten erst einmal die Frage beantworten. „Ähm, nein, ich hab die Sachen nur hingestellt. Außerdem wüsste ich eh nicht wohin damit“ sagte ich und setzte dabei ein gespielt peinliches Lächeln auf. „Oh, tut mir Leid, komm mit, ich zeige dir, wo du deine Klamotten hinpacken kannst. Sind ja nicht allzu viele, oder?“, versuchte Kazuhiko die Situation zu retten und schritt an mir vorbei aus dem Zimmer. Ich wollte gerade hinterher, als ich noch mal zu dem Grund meines Besuchs sah, der immer noch starr an einer Stelle stand und sich nicht rührte, die Augen immer noch mit Angst erfüllt. „Also, was auch immer ihr gerade hier gemacht habt, meine Liebe. Ich habe weder etwas gehört, noch etwas gesehen, also du kannst dich wieder beruhigen.“ Erneut setzte ich ein Lächeln auf, doch dieses Mal war es ein ehrliches Lächeln, nicht wie jenes noch vor einigen Momenten. Kapitel 6: Bekanntschaften -------------------------- Kapitel 6: Bekanntschaften Kazu hatte schließlich ein Regal in seinem Schrank entleeren können, doch dort packte ich nicht alles rein, was ich mitgenommen hatte. Die Hosen und Oberteile ja, die Unterwäsche, nein. Die blieb fein in meiner Tasche liegen, schließlich ging es den Typen rein gar nichts an, was ich drunter trug. Die ersten Tage verliefen ohne weitere „peinliche“ Vorkommnisse. Shizuka und ihr Cousin zeigten uns Kioto und erklärten uns, was es mit den verschiedenen Vierteln auf sich hatte, wie etwa dem Geisha-Viertel Gion. Masaki und seine Freundin hörten gespannt zu, doch für mich war dieser Rundfahrt alles andere als spannend oder interessant, da Shizuka mir die ganzen Geschichten schon mindestens zehn Mal erzählt hatte. Diese schien meine Langeweile nach zwei Stunden Touristenführung endlich zu bemerken und ließ ihren Cousin mit den anderen beiden an der Geishaschule allein. So spazierten wir ein wenig durch das Gion-Viertel, bevor wir wieder in das Viertel kamen, in dem Shizukas neues Heim stand. Ganz in der Nähe des Hauses war ein kleines Wäldchen, von dem sie mir schon oft erzählt hatte, schließlich war sie nicht das erste Mal in Kioto! Ihre Großmutter war in den Sommerferien ab und zu mal mit ihr hierhin gefahren, einmal hatte ich sogar mitgedurft, jedoch nur für ein Wochenende. Mitten in dem Wäldchen befand sich ein großer See, an dessen Ufer an einigen Stellen meterhohe Schilfe standen, an anderen Stellen waren dafür grüne Wiesen. Meine dunkelhaarige Begleitung führte mich zu einer Stelle, an der das Schilf einen schmalen Streifen Wiese übrig gelassen hatte. Es waren nur etwa zwei Meter zwischen den beiden Schilfkolonien, aber dennoch genug Platz, um sich bequem dort niederzulassen und den Blick auf den See zu genießen. Shizuka setzte sich sofort hin, ich tat es ihr wenige Sekunden später nach. Es verging eine ganze Weile, in der keiner von uns ein Wort sprach und wir einfach nur auf das klare und ruhige Wasser vor uns starrten, ohne uns gegenseitig zu registrieren, bis Shizuka endlich das Wort ergriff. „Weißt du eigentlich, wie lange ich Kazu schon kenne?“ Was sollte die Frage denn nun? Verständnislos blickte ich das Mädchen neben mir an, die ihren Blick weiter stur auf den See gerichtet ließ. „Nein, woher sollte ich? Ich schätze mal, seit dem Zeitpunkt, seit du hier wohnst, oder?“ Tuuuuuuut, falsche Antwort, das konnte man sich ja wohl denken! Warum sollte sie wohl fragen, wenn die Antwort so simpel und logisch erschien? „Aber ich schätze, dass ist falsch, nicht? Sonst hättest du wahrscheinlich nicht gefragt, was?“, fügte ich noch hinzu und blickte sie erwartungsvoll an, während sie als Antwort nur den Kopf schüttelte, bevor sie leise weiterredete, als würde sie mir nun ein Staatsgeheimnis anvertrauen:„Du hast Recht, ich kenne ihn nicht erst seit diesem Jahr, ehrlich gesagt kenne ich ihn schon seit gut zehn Jahren.“ Ihr Blick ruhte nun auf mir, während ich sie nur überrascht ansah. Seit zehn Jahren kannten die beiden sich nun schon? „Aber ihr wusstet nie, dass ich verwandt seid, nicht?“, stellte ich sachlich fest und bekam ein weiteres Mal nur ein Nicken als Antwort. „Wir haben uns hier am See getroffen, als ich das erste Mal zusammen mit meiner Großmutter in Kioto war. Woher sollten wir auch wissen, dass wir entfernte Verwandte sind? Ich wusste ja bis zum Zusammenbruch meiner Großmutter noch nicht einmal, dass ich Verwandte in dieser Stadt habe! Tja, und wie es der Zufall so wollte, war der erste Mensch, den ich hier treffe Kazu.“ Shizuka beendete ihre Erzählung und starrte wieder auf das blau-grüne Wasser, während ich sie immer noch ansah. „Das ist aber nicht der Grund, weshalb du mit mir reden wolltest, oder?“, hakte ich weiter nach, denn um mir das zu erzählen hätten wir beide nicht an einen solchen Platz gemusst, dazu kannte ich sie nun lange genug. „Nein, du hast schon wieder recht... ehrlich gesagt geht es um diese Sache neulich, du weißt schon...“ Wie ich wusste schon? Beschäftigte sie diese Sache etwa immer noch? Dabei hatte keiner von uns dreien noch ein Wort darüber verloren. Schließlich ging es mich doch überhaupt nichts an, mit wem Shizuka was machte oder mit wem sie zusammen war. Sollte sie doch was mit Kazuhiko haben, es konnte ja sein, dass die beiden schon länger zusammen waren, als sie noch gar nichts von der Verwandtschaft wussten. Und genau das wollte ich ihr deutlich machen. „Shizuka, es ist mir ganz egal, was da zwischen euch beiden läuft, beziehungsweise, ob da etwas läuft. Ich denke, damit könnten wir das Thema abhaken, nicht?“ Sie blickte mich erstaunt an. Ihre Augen zeigten allerdings nicht die gewünschte Erleichterung, die ich erwartet hatte zu sehen, sondern eher Unverständnis und Enttäuschung, bis sie sich schließlich wieder dazu durchringen konnte, mit mir zu reden. „Ähm... Also ehrlich gesagt läuft da gar nichts zwischen uns beiden, wir verstehen uns nur super und ich wollte halt nicht, dass du etwas falsches denkst, weil wir schließlich verwandt sind, aber da läuft rein gar nichts...“ Shizuka wollte an dem Punkt noch weiter sprudeln wie ein ausgebrochener Vulkan, doch ich gebot ihr still zu sein. „Habe ich nicht gerade gesagt, dass es mit egal ist? Also, belassen wir es dabei und vergessen das Thema ganz einfach, ja?“ Damit stand ich auf und hielt ihr meine Hand hin, damit sie nach dieser greifen konnte, um sich daran hochzuziehen, doch Shizuka blieb stur sitzen. „Du glaubst mir nicht, oder?“ Ungläubig starrte ich auf ihren Rücken, während sie die Knie anzog und sich vollkommen zusammenkauerte, dabei auch noch die Arme schützend um ihre Beine schlang. Verständnislos kniete ich mich zu ihr runter und umarmte sie von hinten, was sie ein wenig zusammenzucken ließ. „Du hörst mir nicht gerne zu, was? Ich habe mit keinem Wort erwähnt, dass ich dir nicht glaube, ich habe lediglich gesagt, dass du mir keine Rechenschaft darüber schuldig bist, wie du dein Leben lebst.“ „Aber du glaubst mir trotzdem nicht, oder?“ Ich war innerlich dabei zu verzweifeln. Seit wann konnte sie so stur sein? „Ehrlich gesagt... ich zweifle schon ein wenig daran...“, murmelte ich leise vor mich hin, eher an mich selbst an als das Mädchen vor mir gerichtet, doch mir war klar, dass sie es gehört haben musste, schließlich waren meine Lippen nicht weit von ihrem linken Ohr entfernt. Wie auf Kommando drehte sie sich um und starrte mich entgeistert an, löste sich dabei ruckartig aus der Umarmung und stand schon fast im selben Moment auf ihren Beinen, um mich von oben herab anzusehen. Das Funkeln in ihren Augen konnte einem schon ziemliche Angst machen, vor allem, da man es so selten zu sehen bekam. „Also vertraust du mir nicht mehr, oder wie darf ich das verstehen?“ Okay, das war eindeutig zuviel. Genauso schnell wie sie es eben getan hatte stand ich auf und drehte mich um, bevor ich erhobenen Hauptes das Seeufer verließ und wieder in die Stadt lief, wo ich mich auch prompt verlief. „Kuso!“ Ich drehte mich um, stand jedoch in einer mir völlig unbekannten Straße Kiotos. Das hieß wohl, dass ich jemanden zu fragen hatte, wie ich ins Zentrum kam, denn von dort würde ich den Weg „nach Hause“ schon irgendwie finden. Ich sprach eine ältere Dame an, die gerade mit zwei vollen Einkaufstüten in den Händen an mir vorbeilaufen wollte. „Entschuldigen Sie bitte...“ ich wartete auf eine Reaktion, die auch kurz darauf folgte, denn die Dame wendete ihren Blick mir zu und musterte mich mit ihren tiefbraunen Augen von oben nach unten, bevor ihr Blick langsam wieder nach oben schweifte und an meinem Gesicht hängen blieb. Fragend blickte sie mich an und ich fragte sie weiter, in welcher Richtung das Zentrum läge. „Ach Kindchen, da gehst du in die komplett falsche Richtung. Das Zentrum liegt in dieser Richtung“, sie wollte gerade mit ihrer Hand in die Richtung deuten, als ihr auffiel, dass sowohl diese, als auch die andere Hand für die Tüten reserviert waren. „Am besten ist es wohl, wenn du einfach mit mir kommst, ich muss nämlich genau in diese Richtung, in Ordnung?“ Was hatte ich zu verlieren? Ich musste ja nun einmal in diese Richtung und der alten Dame nun zu sagen, „nein danke, ich suche mir jemand anders“, kam mir auch nicht nur unhöflich, sondern einfach nur kindisch vor. Also begleitete ich die Dame, wobei ich aus übertriebener Höflichkeit auch noch ihre Taschen trug, die für eine alte Frau natürlich viel zu schwer waren. Warum denkt man dabei nie an die armen Schülerinnen, die es nun einmal nicht gewohnt sind, so viele Kilos an Einkäufen durch die Gegend zu schleppen? So mühte ich mich also mit den Einkäufen einer komplett fremden Frau. War das vielleicht die Strafe dafür, dass ich mal wieder in einer Diskussion mit Shizuka abgehauen war? Das musste es wahrscheinlich sein, sonst wäre ich ja nie hier gelandet. In Gedanken versunken folgte ich der Dame mit dem leicht grauen Haaren, die sie zu einem Knoten hochgesteckt hatte. Ich weiß nicht wie alt sie war, aber ich schätzte sie auf Anfang bis Mitte 60. Das beste Alter also, um noch alleine einkaufen zu gehen und sich danach den Einkauf von hilflosen, verirrten Schülern nach Hause tragen zu lassen. „Du redest nicht viel, oder?“ „Hm?“ Die Frau hatte mich angesprochen, ich jedoch hob nur den Kopf und sah sie etwas verwirrt an. „Na, du hast schon den ganzen Weg über nichts gesagt. Normalerweise sind Mädchen in deinem Alter doch gesprächiger, oder nicht?“ Was habe ich gesagt? Sie war eine wirkliche Schülerinnen-Quälerin! „Vielleicht haben Sie auch einfach nur solche Exemplare getroffen, oder Mädchen hier in Kioto sind von Natur aus gesprächiger.“ „Oder du bist einfach nur wieder in Gedanken versunken und bekommst wieder nichts mit. Das könnte es doch auch sein, oder Ai-chan?“ Erschrocken drehte ich mich um und sah direkt in Kazus Augen, die mich triumphierend musterten. Sein Grinsen wurde beim Anblick der Tüten noch breiter, bis er schließlich langsam zwei Schritte auf mich zumachte und mir beide aus der Hand nahm. „Haben Sie wieder ein Opfer gefunden, das Ihnen die Einkäufe nach Hause tragen soll, Masa-san?“ „Ach, Matsuya-kun, schön dich auch mal wieder zu sehen. Wie geht es denn deiner Mutter?“ Die Frau, die wohl Masa mit Nachnamen hieß, hatte sich kurz zu Kazu umgedreht, setzte dann jedoch ihren Weg fort. Kazuhiko folgte ihr bei Fuß, somit hatte ich wohl keine andere Wahl, als mich den beiden anzuschließen und mit ihnen durch die Stadt zu laufen. Doch auch Masa-san fand irgendwann mal nach Hause, sodass sich Kazuhiko und ich alleine auf den Weg zurück zum Anwesen seiner Familie machten. „Zwischen mir und Shizuka läuft nichts“, sagte er plötzlich, nachdem wir beide geschlagene zehn Minuten nebeneinander gegangen waren und keiner ein Wort verlauten ließ. Ich tat, als ob ich diese Bemerkung nicht gehört hätte und besah mir die alten Gebäude der Stadt, die aus Holz und Papier gebaut waren. Es waren schöne, alte Gebäude, solche, die hier ganz normal schienen, in Kazuoka aber eine Seltenheit geworden war, die Globalisierung tat eben ihr Bestes. Aber trotzdem beruhigte mich seine Ansage, denn das hieß schließlich, das Shizuka zumindest nach Hause gegangen war und nicht noch irgendwo herumlungerte, so wie ich es getan hatte. Mich umschweifte eine leichte Brise, die mich etwas frösteln ließ. Erst als ich nun in den Himmel sah, bemerkte ich, dass die Sonne schon dabei war unterzugehen, sogar der Mond war schon zu sehen, wenn auch noch sehr undeutlich. „Vollmond...“, flüsterte ich, es war mehr ein Hauchen, als ein Sagen. Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Kazuhiko meinem Blick gefolgt war und nun auch den Mond betrachtete. „Wir sollten uns beeilen, bevor sich noch wer Sorgen macht. Das wollen wir doch schließlich nicht, oder?“ Noch bevor ich etwas erwidern konnte, ergriff er mein rechtes Handgelenk und zog mich hinter sich her. „Was…?“, konnte ich gerade noch sagen, bevor mich ein Ruck durchlief, der mich fast automatisch dazu antrieb ihm hinterherzulaufen. So liefen wir durch die Straßen Kiotos, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen irgendwann anzuhalten und uns auszuruhen. Schneller als ich dachte standen wir dann vor dem großen Tor des Anwesens und in dem Moment, in dem ich stehen blieb, fiel ich einfach so auf die Knie, schwer atmend und schnaufend. „Mach – das – nie – wieder!“, stieß ich jedes Wort einzeln aus, immer wieder dazwischen schnaufend. „Rein trag ich dich jetzt trotzdem nicht...“, antwortete er schmunzelnd und hielt mir eine Hand hin, mit der er mich hochzog, nachdem ich sie ergriffen hatte. Immer noch schwer atmend traten wir in das Haus ein und überraschten dabei prompt Ôhei und Masaki, die sich wohl unbeobachtet dachten. Doch kaum schlossen wir die Türe, fuhren die beiden auseinander und blickten uns peinlich berührt an. „Kazu-kun, hast du...“ Shizukas Frage schien sich erübrigt zu haben, als sie aus der Küche in die große Eingangshalle des Hauses trat und mich erblickte. „Hai, hab ich. Sie hat Masa-san getroffen, kein Wunder, dass sie nicht nach Hause gekommen ist.“ Wieder dieses Grinsen. Mittlerweile hatte ich das Bedürfnis ihn in die – Entschuldigung – Fresse zu schlagen, wenn ich dieses Grinsen sah. Er mochte ein netter Kerl sein, aber dieses Grinsen brachte mich noch zu Weißglut! Vor allem verstand ich meistens noch nicht einmal, warum er gerade grinsen musste, was mich zusätzlich noch weiter verunsicherte, wenn das überhaupt noch möglich war. „Du musst wissen, Shizuka hat mich ganz verstört angerufen, du wärst abgehauen und würdest dich doch in dieser Stadt nicht zurechtfinden, deswegen musste ich wieder den Retter in der Not spielen und dich aus den Klauen der Kioto-Gassen retten“, erklärte er mir und setzte dabei ein noch breiteres Grinsen auf, als ich es überhaupt für möglich gehalten hatte. „Du bist gleich auch ganz verstört, wenn ich meine Faust in deiner Fresse habe, weil ich dein Dauergrinsen einfach nicht mehr sehen kann...“ Ich glaube, bei diesen Worten, die ich laut aussprach, bekam mein Blick etwas diabolisches, zumindest musste es gesessen haben, denn Shizukas Cousin blickte mich vollkommen verstört an und schien gar nichts zu begreifen. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie ein Laser funktioniert. Normalerweise wird immer mehr Energie hinzugefügt, bis dann irgendwann ein Energiestoß das „Fass zum Überlaufen“ bringt. Ich denke, meine diabolische Ader ist so etwas Ähnliches wie ein Laser. Solange nicht zuviel Energie hinzugefügt wird, ist sie ganz harmlos. Nur diese Grenze wird – zum Leidwesen des Opfers – des Öfteren mal überschritten. Man kann mich als gereizt bezeichnen, ich nenne es eher den Trieb, nicht alles über sich ergehen lassen zu müssen, wenn es einen von vorneherein nervt. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Kapitel 7: Schweigen -------------------- Kapitel 7: Schweigen Kazuhiko und ich starrten uns einige Minuten an, wobei ich immer noch triumphierend vor ihm stand und die Arme vor meiner Brust verschränkte, bevor ich mich nach Momenten des Starrens endlich von diesem herrlichen Anblick lösen konnte, den der verdutzte Cousin Shizukas gerade bot, mich umdrehte und die Treppe emporstieg. Mitten drauf blieb ich jedoch stehen und drehte mich um, eine Hand auf das Geländer gestützt. „Ach ja, arigato fürs Nachhause-Bringen!“ Ich lächelte zuckersüß und war die Unschuld in Person, bevor sich wieder der diabolisch böse Blick auf meinem Gesicht zeigte und ich in das Zimmer trat, dass ich mir noch die nächsten Wochen mit dem Jungen teilen musste. Ich bekam nicht mehr mit, wann Kazu das Zimmer betrat, denn ich schlief recht schnell ein. Ich weiß auch nicht, ob er es überhaupt betrat, denn als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er nicht im Raum. Verschlafen rieb ich mir die Augen und streckte mich ausgiebig. Erst den rechten Arm in die Höhe, dann den linken. Dabei sollte man das herzhafte Gähnen nicht vergessen, das manchen Leuten bestimmt Angst machen konnte, denn nach Aussage meiner Mitschüler hatte man das Gefühl, dass gleich ein Löwe um die Ecke käme. Alles Dinge, die ich selber wohl schlecht beurteilen kann. Müde erhob ich mich von dem Futon, auf dem ich die Nacht verbracht hatte, und schlurfte in Richtung Balkontüre – wie gesagt, es war eine riesige Villa. Leise öffnete sich die Türe, nachdem ich den Griff herumgedreht hatte. Das matte Metall war ziemlich kalt gewesen, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was mich nach Öffnen der Türe erwartete. Ein kalter Windzug stürmte sofort in den recht großen Raum und augenblicklich konnte ich spüren, wie sich eine Gänsehaut unter meinem Pyjama bildete und sich jedes Härchen einzeln auf meinen Armen und Beinen aufrichtete. „Brrr“, brachte ich nur heraus und schloss die Türe so schnell, wie ich sie geöffnet hatte. Ich wollte mich gerade umdrehen, als ich das Herunterdrücken der Türklinke vernahm. Die Türe öffnete sich, Shizukas Cousin trat in den Raum und ging schnurstracks auf sein Bett zu, das sich direkt neben der Türe befand. Da hatte er aber allen Anschein nach gar nicht hingewollt, denn er setzte sich einfach auf das schlichte, im westlichen Stil gehaltenem Bett, mit der dunkelblauen Bettwäsche und wühlte in der Schublade seines Nachtschrankes, der aus massivem Eichenholz gefertigt worden war. Er hatte nicht ein Wort gesagt, als er in das Zimmer getreten war, scheinbar hatte ich ihn sehr eingeschüchtert mit meiner gestrigen Aktion. Erst jetzt fragte ich mich, ob ich das auch gewollt hatte, aber im Grunde war es mir egal. Glücklicherweise konnte ich mir jeglichen Kommentar verkneifen, als ich auf den Kleiderschrank des Jungen zuging, der aus demselben Holz gefertigt worden war wie auch schon der Nachttisch und das Bettgestell, das daraufhin noch mit Metallschienen umrahmt worden war. Es wirkte, wie eigentlich auch alles andere in seinem Zimmer, recht kalt, ganz im Gegensatz zu dem, was sich in Shizukas Zimmer finden ließ. Denn obwohl es so klein war und kaum Platz für ihr Bett, einen Schrank und einen Schreibtisch bot, war es in warmen Farben, wie Gelb und Rot, gehalten worden, was es sofort freundlicher erscheinen ließ. Quietschend öffnete sich die Holztüre und gab den Blick auf die Kleidung von Kazuhiko und mir frei. Ich griff nur kurz nach einem schwarzem Top, einer dünnen, roten Jacke und einer blauen Jeans, bevor ich die Türe wieder zuknallte und mich schlurfend zu meiner Tasche begab, die neben dem Futon ihren Platz gefunden hatte, der direkt unter dem Fenster lag. Schon seit ich die Türe des Schrankes geöffnet hatte, hörte ich das Gewühle Kazuhikos in der Schublade nicht mehr und konnte seine Blicke förmlich spüren, die auf meinem Rücken lagen und jede meiner Bewegungen genau musterten. Sollte er doch. Ich griff kurz in meine Sporttasche und holte besagtes Zeug heraus, dass ich – zum Leidwesen des jungen Mannes – nicht in den Schrank gepackt hatte und verließ dann, erhobenen Hauptes, das Zimmer, um das Bad zu betreten, welches schon von keinem anderen als Ôhei belegt wurde, die mir aber versicherte, sie sei in wenigen Minuten – also einer Viertelstunde – fertig. Was macht man also mit einer zusätzlichen Viertelstunde in einem Haus, in dem man nicht wohnt, bekleidet mit einem Blümchenpyjama, über den sich mancher männlicher Hausbewohner schon lustig gemacht hat, und seinen Klamotten in der Hand, in denen man sich viel besser fühlen würde? Genau, man klopft an die Zimmertüre seiner besten Freundin, wegen der man schließlich in die fremde Stadt gekommen ist und hofft bei ihr Asyl zu bekommen. Tatsächlich öffnete mir eine ziemliche verschlafene Shizuka die Türe und ich drängelte mich dreist in das – wie schon erwähnt – gelb und rot gestrichene Zimmer. „Morgen“, begrüßte ich sie fröhlich und setzte mich auf ihr Bett, das, wie das ihres Cousins, einen Rahmen aus Eichenholz besaß, der noch einmal mit Metallleisten umrahmt worden war. „Morgen“, erwiderte sie gähnend und schritt auf ihre Balkontüre zu, neben der sich direkt der Schreibtisch befand, unter dem großen Fenster, das den ganzen Raum schon jetzt, am frühen Morgen, erhellte. Shizukas Schreibtisch war wie immer aufgeräumt und ordentlich, also das komplette Gegenteil von meinem eigenen, der zu Hause wohl immer noch auf wackeligen Beinen stand und bald drohte einzubrechen. „Lass bloß die Türe zu, es ist eiskalt draußen.“ Shizuka begann zu lachen und öffnete mit einem Ruck die Türe. „Glaub mir, daran gewöhnst du dich schon noch. Morgens ist es hier immer kalt.“ Kaum hatte sie das gesagt, spürte ich schon einen kalten Luftzug an meinen Beinen, denn die Schlafanzughose war nur einen Dreiviertel-Hose und verdeckte meine Beine nicht ganz. Sofort fröstelte es mich und ich krallte mir einfach Shizukas Bettdecke, da diese gerade griffbereit war. „Also bis jetzt war es morgens nie so kalt, das weiß ich ziemlich genau!“, ließ ich anmerken und kuschelte mich in die Decke, mich im Schneidersitz hinsetzend und meine Freundin möglichst leidend ansehend, damit sie die Türe schnell wieder schloss. Doch diese dachte gar nicht daran, sondern grinste mich nur komisch an. Es war dieses „Kazuhiko-Grinsen“, weswegen ich ihn gestern noch so angemacht hatte. „Jetzt fang du nicht auch noch an so dämlich zu grinsen“, bemerkte ich weiter leidend und sah sie flehend an. „Ach ja, à propos! Wegen deiner ‚Drohung’ hat sich der arme Kazu-kun gar nicht mehr in sein Zimmer getraut und hat auf der Couch unten im Wohnzimmer genächtigt. Musst ihm also mächtig Angst eingejagt haben, Ai-chan. Der ‚Kleine’ war total eingeschüchtert.“ Sie grinste mich frech an, was nicht zuletzt an meinem Anblick liegen musste, denn ich musste einen wahrhaft köstlichen Anblick abgegeben haben, als ich vor ihr saß, in die orange, weiche und kuschelige Decke eingemummelt, im Schneidersitz auf ihrem Bett hockend und sie dann wie ein kleiner Hund anschauend, um ihr Herz zu erweichen, damit sie endlich die verdammte Türe schloss, was sie jedoch nicht tat, was ich nur mit einem Grummeln kommentierte, als sie sich neben mich setzte. „Sein Dauergrinsen hat mich nun mal genervt“, rechtfertigte ich mich kleinlaut und zog die Decke noch ein Stück höher, sodass mein ohnehin schon leiser Widerspruch nur noch ein Murmeln war, das Shizuka natürlich wieder verstanden hatte, wie es schon immer gewesen war. „Wieso hat dieses Riesenhaus eigentlich nur ein Badezimmer?“, fragte ich, um die Stille, die gerade eingetreten war, zu brechen, doch ich erhielt keine Antwort. Das Mädchen neben mir starrte nur an die gegenüberliegende Wand, auf eines der Bilder, die dort aufgehängt worden waren. Ich folgte dem Blick ihrer tiefbraunen Augen und entdeckte ein ganz bestimmtes Bild. Es war jenes, das auch im Wohnzimmer meines Elternhauses hing, auf dem Shizuka, meine Schwester und ich zu sehen waren, als wir den Sand in die Luft warfen. „Da war alles noch in Ordnung“, hörte ich Shizuka heiser flüstern und musterte sie wieder, wobei ich eine Träne bemerkte, die sich ihren Weg über die hübschen Wangen des Mädchens bahnten, während Shizuka weiter stur auf das Bild starrte. Sie hatte Recht, zu diesem Zeitpunkt war wirklich noch alles in Ordnung gewesen. Shizukas Eltern lebten noch und meine hatten noch nicht begonnen sich zu streiten, wir lebten beide in harmonischen Familien in einem idyllischen Vorort Tokios. Und dann war der Unfall passiert. Ich kann mich noch erinnern, dass Shizuka heulend vor meinem Haus aufgetaucht war. Wir waren beide sieben Jahre alt und verstanden noch nicht wirklich, was es bedeutete, wenn man tot war. Doch Shizuka hatte damals sehr wohl verstanden, was ihre Großmutter ihr erklärt hatte. Ihre Eltern würden nicht mehr nach Hause kommen und Shizuka war nun ganz allein auf der Welt. Nach dieser Hiobsbotschaft war Shizuka einfach weggelaufen und schließlich bei meiner Familie gelandet, wo sie heulend zusammengebrochen war und die ganze Zeit nur immer schluchzte: „Sie haben mich allein gelassen!“ Die nächsten Tage verbrachte sie schließlich bei uns, bis ihre Großmutter sich ihrer angenommen und sie bei sich wohnen lassen hatte. Und nur wenige Wochen später begannen meine Eltern sich zu streiten, um sich zwei Jahre später scheiden zu lassen. In dieser Streitphase hatte ich mich oft zurückgezogen, sodass Shizuka einmal zusätzlich das Gefühl bekam, sie wäre allein gelassen worden, doch damals wusste ich nicht anders mit dem Geschrei meiner Eltern umzugehen, als mich in meinem Zimmer zu verschanzen. Ich hätte es nicht geschafft anderen Leuten eine heile Welt vorzuspielen, da ich es noch weniger ausgehalten hätte mir ihre blöden Ratschläge anzuhören. Genauso wenig hatte ich genau in diesem Moment das Gefühl, dass irgendwelche Ratschläge oder Aufmunterungen fehl am Platz waren und legte Shizuka einfach nur einen Arm um die Schultern, um sie schließlich an mich zu drücken. Leise flossen die Tränen nun in Sturzbächen ihr Gesicht hinunter und sie hielt ihre Augen geschlossen, wohl in der Hoffnung, dass dadurch die Tränen versiegen würden. Stumm saßen wir einige Minuten auf ihrem Bett, sie die Augen fest zugekniffen und weinend, ich die gegenüberliegende Wand anstarrend und meine Tränen unterdrückend. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Warum ich meinen Tränen nicht freien Lauf ließ, ich tat es einfach nicht. Ich weiß nicht, wie lange wir dort nun genau gesessen haben, auf jeden Fall muss es ziemlich lange gewesen sein, denn plötzlich ließ ein Klopfen an der Türe uns beide zusammenfahren und zur Türe schauen. Schnell wischte meine Freundin sich die Tränen aus dem Gesicht und sah in Richtung Türe, wobei sie sich von mir löste, als sie den Unbekannten vor der Türe hereinbat. Und wer sollte schon in der Türe stehen, wenn nicht ihr – ach so – besorgter Cousin, der uns darauf hinwies, dass wir nun frühstücken kommen konnten. Entweder hatte er also dezent vermieden zu fragen was passiert war, oder Shizuka und ich waren einfach nur ein eingespieltes Team uns solche Gefühlsausbrüche nicht anmerken zu lassen. Wie auch immer, er sagte auf jeden Fall nichts zur Situation und schloss die Türe wieder, bevor ich mich aus Shizukas Decke schälte, um dann meine Klamotten zu nehmen und Richtung Badezimmer zu wandern, ohne mich noch einmal umzudrehen. Fertig angezogen begegnete ich Shizuka schließlich beim Verlassen des mit grünlich schimmernden Fliesen ausgelegten Raumes wieder und nebeneinander schlurften wir nach unten in das Esszimmer, dessen Wände mit allen möglichen Gemälden geschmückt waren, auf denen ausnahmslos Dinge abgebildet waren, die mit Essen zu tun hatten. Die Wände waren weiß gestrichen, jedoch waren einige braune Akzente gesetzt worden, indem man einfach Formen wie Quadrate oder Kreise an die Wände gepinselt hatte. Zugegeben, das schaffte Atmosphäre, dennoch gefiel es mir absolut nicht, genauso wie der aus dunklem Holz geschaffene Esstisch, an dem bequem zehn Leute Platz nehmen und schmausen konnten, auf den dafür eigens angefertigten Stühlen, die aus dem Holz derselben Baumart bestanden, wie auch schon der Tisch. Doch heute waren wir nur zu fünft und so saß das „Traumpaar“ auf der einen Seite mit den drei Stühlen und Kazu saß ihnen gegenüber. Shizuka ging zielstrebig auf den freien Platz neben dem freien Stuhl rechts von Kazuhiko zu, sodass sie mich vor die Qual der Wal stellte: Setzte ich mich neben oder gegenüber von Kazuhiko. Natürlich war es pure Absicht gewesen, dass ich mich nun in einer Zwickmühle befand, doch mir schien es dann doch das kleinere Übel zu sein, mich neben ihn setzten zu müssen, schließlich hieß das gleichzeitig auch, mich neben Shizuka zu setzen. Ihm gegenüber hätte ich neben Masaki sitzen müssen, der sowieso nur noch mit «seiner» Ôhei beschäftigt war. „So, und was machen wir heute feines?“, fragte mein Nachbar laut in die Runde, bekam jedoch nur eine Reaktion von Shizuka und mir. Während Shizuka nur mit den Schultern zuckte und dann noch einmal genüsslich in ihr Brötchen biss, antwortete ich mit einem knappen „schlag was vor“. Fast verschluckte ich mich vor Lachen, denn der Junge war unweigerlich zusammengezuckt, als er meine Stimme hörte. Hustend und nach Luft schnappend zappelte ich auf meinem Stuhl herum, bevor ich einige Klapse auf meinem Rücken spürte, die eindeutig von Shizuka stammen mussten, denn Kazuhiko war – mal wieder – völlig verschreckt ein weiteres Mal zusammengezuckt. Typisch Jungs eben, kaum sagt man ihnen einmal die Meinung, haben sie ewig Angst und Respekt vor einem, sollte man meinen. Nachdem ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte und normal atmen konnte, schlug Shizuka vor, heute einfach mal nichts Spektakuläres zu machen, sondern nur an den See zu gehen. Na bravo! Das war genau der Ort, an den ich nicht unbedingt wollte, nach dem, was beim letzten Mal dort passiert war! Und prompt fiel mir wieder die Geschichte von gestern ein, die Shizuka und ich heute scheinbar einfach übergangen hatten und für abgeschlossen hielten, obwohl ich immer noch nicht verstand, warum Shizuka so darauf beharrt hatte, dass ich wissen musste, was in ihrem Leben ablief. Doch damit nicht genug, denn Shizuka musste noch mehr Salz in die Wunde streuen. „Wir haben da doch gestern einen tollen Platz gefunden, nicht Ai-chan? Da könnten wir doch ein Picknick machen! Und außerdem soll es heute doch ziemlich warm werden, man könnte also ruhig mal ins Wasser springen!“ Warm? Das ich nicht lachte! Momentan lag die Temperatur doch bei höchstens fünf Grad Celsius! Doch nach einer demokratischen Abstimmung wurde ich klar und deutlich mit einer fast einstimmigen Entscheidung überstimmt. Nachdem wir also gemeinsam – also alle bis auf die Turteltäubchen – den Tisch abgeräumt hatten, gingen wir rauf in unsere Zimmer und packten einige Sachen zusammen, die man an einem See halt so benutzen kann, wie Badesachen, Handtücher, Sonnencreme, Bücher und Zeitschriften und all die tollen Sachen, mit denen man Musik hören kann. Shizuka und ich waren die ersten, die fertig waren und so machten wir uns daran, schon einmal ein paar Sachen für das Picknick zu machen, Kleinigkeiten würden wir noch unterwegs kaufen. Gut zwei Stunden nach dem Entschluss befanden wir uns nun auf direktem Wege zum See. Die Stelle zwischen dem Schilf hatten Shizuka und ich schnell wieder gefunden und so begann der Tag am See. Jeder breitete sein Handtuch dort aus, wo er Platz fand und möglichst nah am Picknickkorb, beziehungsweise an der Picknicktasche, war. Auf Masaki und Ôhei achtete ich im Folgenden gar nicht mehr so sehr, da die beiden die ganze Zeit nur mit sich selbst beschäftigt waren und unsere Konversationen wohl nicht für interessant genug hielten. So lagen die beiden die ganze Zeit in der mittlerweile doch sehr warmen Sonne und gegen Mittag ließ Ôhei ihre Klamotten fallen, um sich – mit einem knappen Bikini in dunkelrot bekleidet – von Masaki den Rücken einschmieren zu lassen. Dieser und auch Kazuhiko ließen bald darauf auch die Hüllen fallen, was ich nur aus dem Augenwinkel mitbekam. Ich war zu sehr damit beschäftigt, nicht die ganze Zeit Shizuka anzustarren, die in ihr Buch vertieft war, und stattdessen meine Zeitschrift zu lesen, während mein MP3-Player die Musik von irgendeiner japanischen Rockband spielte. Ich wusste selber nicht so recht, warum ich immer wieder zu ihr rüberschauen musste, schließlich kannte ich ihre Lesegewohnheiten mittlerweile doch ziemlich genau. Sie saß da, genau so, wie in diesem Augenblick, im Schneidersitz, das Buch zwischen ihren Beinen liegend und den Kopf nach unten hängen lassend, während sie Zeile für Zeile mit ihren Augen nachging, von oben nach unten und von rechts nach links. Hatte sie eine Seite gelesen, schlug sie die nächste Seite um, wobei sie ihre Fingerspitze kurz mit der Zunge abfuhr, wenn dies nicht sofort beim ersten Versuch klappte. Sollte jemand sie nun stören, würde sie ihn erst böse anblitzen, sich wieder auf die Seite konzentrieren, diese zu Ende lesen und ihm dann aufmerksam zuhören. Es war also sinnvoll, sie dann zu stören, wenn sie gerade eine Seite umblätterte, dann war die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie einem schneller zuhörte. Doch warum schaute ich nun die ganze Zeit immer wieder zur ihr hinüber? Erwartete ich irgendeinen Kommentar von ihr bezüglich dieses Ortes? Oder noch etwas wegen der Sache mit Kazuhiko? Oder war es vielleicht etwas ganz anderes? Ich wusste es nicht und im Moment interessierte es mich auch nicht wirklich, denn Shizuka schien eine Seite beendet zu haben, die Chance, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Doch diese besagte Chance wurde nicht von mir wahrgenommen, sondern von Ôhei, deren Massage wohl beendet war. „Kommst du mit ins Wasser? Ich denke, es sollte jetzt warm genug sein...“, sagte sie noch etwas zweifelnd, lächelte aber dennoch und sah Shizuka auffordernd an, als ließe sie gar kein „nein“ zu. So erhob Shizuka sich und zog ihre Klamotten soweit aus, dass man nur noch den dunkelblauen Bikini sehen konnte. Diesmal klebten allerdings nicht nur meine Blicke auf ihr, denn Masaki und Kazuhiko schienen auch etwas überrascht, genauso wie ich. Seit wann trug „die kleine schüchterne Shizuka“ bitte SOLCHE Bikinis? Doch plötzlich wurde mir klar, wo sie den herhaben musste. „So, so... Das war also die >ultramegawichtige< Sache, die du mit Shizuka erledigen musstest, Ôhei...“, murmelte ich leise und an keinen gewand. Ôhei war vor einer Woche plötzlich mit Shizuka verschwunden, ohne auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen und kam wieder mit den Worten, sie hätten etwas sehr wichtiges zu erledigen gehabt. Nun, für Ôhei war jede Shoppingtour eine geheime und wichtige Mission, deswegen verwunderte es mich nicht, dass sie Shizuka zu diesem Bikini hatte überreden können, auch wenn ich persönlich das für eine „Mission: Impossible“ gehalten hatte. Ôhei hatte jedes meiner Worte dennoch verstanden und nickte mir nur zu. „Denkst du, ich lasse mich mit ihr sehen, wenn sie noch nicht einmal etwas Anständiges zum Anziehen hat? Außerdem musst du ja wohl neidlos zugeben, dass sie ruhig zeigen kann, was sie hat, nicht? Sonst steht sie ja ewig in unserem Schatten“, fügte sie noch leise hinzu, während sie schon in Richtung Wasser lief. Bildete ich mir das nur ein, oder war Shizuka in den wenigen Wochen tatsächlich soviel selbstbewusster geworden? Oder lag es im Moment nur an Ôheis Einfluss, dass sie so selbstbewusst schien? Und warum zum Teufel stellte ich mir in letzter Zeit so viele Fragen, vor allem diese eine Person betreffend? Es war zum Verzweifeln und so entschloss ich mich, mich einfach hinzulegen und abzuschalten, weg von Shizuka und den ganzen Fragen, die sie plötzlich in mir wachrief. Ich schloss die Augen und drehte dabei die Musik noch ein wenig lauter, nur um nichts vom drum herum mitzukriegen. Es kam mir vor, als läge ich schon Stunden dort in der warmen Sonne, doch dank der Musik wusste ich, dass es gerade einmal ein paar wenige Minuten waren. Irgendwann musste ich dann eingeschlafen sein, denn urplötzlich schreckte ich hoch, als etwas Nasses auf mein Gesicht tropfte und hörte lautes Gekicher. „Gomen nasai, ich wollte dich nicht wecken...“ „Nein, natürlich nicht, deswegen hast du deine nassen Haare ja auch über meinem Gesicht ausgewrungen, nicht Zu-chan?“ Gespielt empört blickte ich in ihr lachendes Gesicht, das sich bald in eine unschuldige Miene verwandelte, als könne sie kein Wässerchen trüben, obwohl sie gerade das Gegenteil bewiesen hatte. Ich wollte gerade etwas erwidern, als man einen erneuten Aufschrei vernahm, diesmal von Kazuhiko, der eine Spritzwasserattacke von Masaki abbekommen hatte. Allerdings reagierte dieser nicht so gelassen wie ich darauf, denn er schrie empört auf und beschimpfte Masaki, war gar nicht mehr zu beruhigen, selbst von Shizuka, die sonst immer einen sehr großen Einfluss auf ihn zu haben schien. Verwundert blickten wir ihm nach, als er seine Sachen zusammenpackte und schon dabei war zu gehen, als Shizuka aufstand und ihm hinterherlief. In einiger Entfernung holte sie ihn ein und riss ihn zu sich herum, doch ihr Gespräch war nicht bis zu unserem Liegeplatz zu verstehen, man konnte nur erkennen, dass Shizuka auch ziemlich sauer schien, denn beide wedelten mit ihren Armen umher und schienen sich immer wieder gegenseitig zu beschimpfen. Ich war schon fast dabei auch aufzustehen und zu ihnen zu gehen, wurde jedoch noch im Aufstehen von Masaki wieder auf den Boden gedrückt. „Was soll das denn jetzt?“ Nun wahrhaftig empört blickte ich den jungen Mann neben mir an, der nur mit dem Kopf schüttelte. „Lass die beiden... du störst da jetzt bestimmt nur.“ „Inwiefern?“, fragte ich ihn überrascht und blickte ihn mit großen Augen an, dann mich wieder den beiden Streithähnen bzw. -hühnern zuwendend. „Das ausgerechnet DU das noch nicht gemerkt hast. Zwischen den beiden läuft doch was, dass ist doch unverkennbar.“ Ich begann zu grinsen und schob seine Hand langsam von meiner Schulter, an der er mich wieder runtergedrückt hatte. Nun war er derjenige, der mich verwirrt ansah. „Denkst du, da wäre ich nicht selbst schon draufgekommen? Allerdings hat mir gestern eine bestimmte Person sehr deutlich erklärt, dass da zwischen den beiden nichts läuft, auch wenn ich nicht abstreiten kann, dass es einer der beiden Personen ganz lieb wäre, wenn da mehr wäre. Ich finde es nämlich schon sehr interessant, dass sie nur mit dem Finger schnippen muss, damit er ‚bei Fuß’ steht und scheinbar alles tun würde, was sie von ihm verlangt.“ Damit war diese Diskussion für mich beendet und um das noch zu unterstreichen stand ich demonstrativ auf und begann mein Shirt und die Jeans auszuziehen, da ich nun auch die Lust verspürte ins Wasser zu gehen, schon allein, um dem ganzen zu entfliehen, was mich schon wieder eingekesselt hatte. Mit „Augen zu und durch“ schien ich keine mögliche Lösung gefunden zu haben, denn wer hatte mich unsanft aus meinem Fluchtloch gezerrt? Die Person wegen der ich mich darin verkrochen hatte, auch wenn ich immer noch nicht wusste warum. Allerdings hatte ich es vorgezogen, nicht von allen Seiten begafft zu werden, weshalb ich mir vorsorglich einen Einteiler angezogen hatte, doch das schien nicht so viel zu nützen, denn ich bemerkte Masakis Blick, aber auch den von jemandem sehr weit weg, der – warum auch immer – gerade in diesem Moment zu uns herüber gesehen zu haben schien. Aber auch ein vorwerfender Blick von Ôhei blieb mir nicht erspart, denn diese hatte bei ihrer Shopping Tour vor den Ferien auch an mich gedacht und mir am ersten Tag in Kioto einen schwarzen Bikini in die Hand gedrückt. Ihr gefiel es nun gar nicht, dass ich es tatsächlich gewagt hatte, etwas anderes anzuziehen, doch bevor sie etwas sagen konnte war ich schon ins Wasser gegangen und untergetaucht. Das Wasser war ziemlich kalt und so tauchte ich genauso schnell wieder auf, wie ich untergetaucht war und schnappte bibbernd nach Luft. Nach einigen Minuten im kühlen Nass hatte ich mich an die Temperatur gewöhnt und begann ein wenig hin und her zu schwimmen. Als mir auch das zu langweilig wurde legte ich mich auf den Rücken und ließ mich ein wenig treiben, während das Wasser mich trug. Alle Viere von mir gestreckt schloss ich ein weiteres Mal die Augen und konzentrierte mich nun auf das stille Plätschern des Wassers an meinem Ohr. Das heißt, ich versucht mich darauf zu konzentrieren. Von fern hörte ich Ôhei und Masaki, die scheinbar rumalberten, denn ihr Lachen und solche Ausrufe wie „jetzt hör schon auf damit“ drangen an mein Ohr. Des Weiteren vernahm man darüber hinaus auch das Streitgespräch von Kazuhiko und Shizuka, deren Stimme mir durch Mark und Bein ging. Es war fast so, als hätte ich einen eingebauten Shizuka-Radar, denn ich hätte mit 100%iger Wahrscheinlichkeit sagen könne, wo sie sich gerade befand und was sie sagte, als filterten meine Ohren ihre Stimme aus allen anderen Geräuschen heraus. Enttäuscht davon, erneut nicht die wollende Ruhe gefunden zu haben bewegte ich mich schließlich wieder in Richtung Ufer und stieg aus dem Wasser. Am Liegeplatz angekommen, trocknete ich mich ab und begann langsam meine Sachen zusammenzupacken, das Paar neben mir tat es mir nach. Schließlich kamen auch die beiden Streitenden zurück, jedoch schien sich an der Situation nichts verändert zu haben, denn sie hielten Abstand von einander und blickten sich – wenn überhaupt – nur aus dem Augenwinkel an. Als wir alle unsere Sachen zusammengepackt hatten gingen wir ruhig zurück, die Sonne war schon dabei unterzugehen und unsere Gestalten warfen lange Schatten auf die Straßen Kiotos. Keiner sprach auf dem Rückweg auch nur ein Wort, denn keiner traute sich etwas zu sagen, wohl aus Angst, es könnte etwas Falsches sein und die Situation zum Eskalieren bringen. Bei der Villa angekommen aßen wir alle noch zusammen eine Nudelsuppe und dann ging jeder in sein Zimmer. Auch während des Essens war es still gewesen, wenn ich an die vorherigen Abende dachte, an denen wir alle viele geredet hatten. In Kazus Zimmer setzte sich dieser an seinen Computer und schien im Internet zu surfen, während ich ein Buch las, dass ich mir mitgenommen hatte. Shizuka hatte zuvor noch deutlich gesagt, dass sie für heute lieber allein sein würde und ich war gefügig in Kazuhikos Zimmer gegangen, da ich seiner Mutter nicht schon wieder über den Weg laufen wollte, die scheinbar nicht gut auf mich zu sprechen war, zumindest hatte ich das auch ihrem Verhalten mir gegenüber gedeutet. Immer wenn ich ihr begegnete und sie grüßte bekam ich nur eine knappe und unhöfliche Antwort von ihr, aber sie schien mich auch immer sehr abfällig zu mustern – wenn sie mich denn mal ansah, was auch schon zu einer Seltenheit geworden war. Auch Shizuka konnte sich das Verhalten ihrer „Pflegemutter“ nicht erklären und so beließ ich es dabei, dieser Frau erst einmal aus dem Weg zu gehen und ihr keine weiteren Gelegenheiten zu geben mich von oben herab zu behandeln, wie sie es eines Abends beim Essen getan hatte. Ich hatte versehentlich eine Gabel und ein Messer beim Eindecken vertauscht, woraufhin man von ihr direkt etwas wie „dummes Balg“ vernehmen konnte. Nachdem ich gut 100 Seiten in meinem Buch gelesen hatte, hörte ich wie Kazuhiko seinen PC ausschaltete und bemerkte wie er mich ansah. Neugierig hob ich meinen Blick und sah ihm direkt in seine braunen Augen, doch er konnte meinem Blick nur wenige Sekunden standhalten, dann wandte er sich ab und blickte zum Fenster hinaus, das sich direkt hinter mir befand. Ich konnte es mir in diesem Moment einfach nicht verkneifen ihn ein wenig zu necken und sagte in gespielt gelangweilten Ton: „Hast du etwa immer noch Angst vor mir?“ Innerlich war ich kurz davor loszuprusten, sah ihm jedoch immer noch ernst in seine Augen und wartete auf eine Antwort. Die kam jedoch nur in Form eines Wegdrehens und Aufstehens von seinem Stuhl. „Daraus schließe ich einfach mal, dass du wirklich immer noch Angst hast, ja?“, sagte ich diesmal mit einem etwas belustigtem Unterton. Es war nie meine Absicht gewesen ihn so sehr einzuschüchtern, natürlich sollte er mich in Ruhe lassen, aber er sollte doch nicht kreischend vor mir weglaufen! Ich vertiefte mich ohne ein weiteres Wort zu sagen wieder in mein Buch und achtete nicht weiter auf ihn; ein fataler Fehler, wie sich herausstellen sollte. Denn nur wenige Augenblick später fiel ich rücklings auf den Futon, als mich etwas am Kopf traf und zu Boden drückte. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass mir schwarz vor Augen würde und ich das Bewusstsein verlöre, aber dieses Gefühl wich sofort einem kleinen Anflug von Wut, als ich bemerkte, was mich getroffen hatte. Ich richtete mich langsam wieder auf, das Wurfgeschoss – Kazuhiko Kissen – in der Hand und zu ihm zurückwerfend. Lachend und wieder sein ekelhaftes Grinsen aufsetzend fing er es zu meinem Bedauern jedoch und blickte mich schadenfroh an. „Hätte ich das gemacht, wenn ich Angst vor dir hätte?“ Kurz musste ich darüber nachdenken. „Ja, allerdings. Um mir und auch dir zu beweisen, dass du immerhin mutig genug bist um mit Kissen nach wehrlosen kleinen Mädchen zu werfen, die ahnungslos in ihr Buch vertieft sind und eine Reaktionszeit wie eine Schnecke haben, bevor sie überhaupt bemerken, was gerade mit ihnen passiert. Na ja... immerhin scheinst du dann ja doch etwas Mut zu besitzen, entschuldigst du mich bitte.“ Wenn er Krieg wollte, den konnte er haben! Noch während ich aufstand nahm ich mein Kissen und schleuderte es ihm entgegen, während ich meinen Pyjama nahm und das Zimmer schnell verließ – beziehungsweise verlassen wollte. Denn unglücklicherweise besaß Kazuhiko nicht die Reaktionsgeschwindigkeit einer Schnecke sondern eher die einer Fliege, die gerade bemerkt, dass eine Fliegenklatsche auf sie niedergesaust kommt – eine ziemlich kurze. Noch ehe ich mich versah hatte er mein Handgelenk gepackt und zerrte mich zurück in sein Zimmer, um mich dann darin festzuhalten, wie einen Vogel in einem Käfig. Nur die Käfigtüre war in diesem Falle nicht verschlossen, es stand nur ein anderer, dummer, Vogel davor und ließ mich nicht hinaus. „Du meinst also, ich sei feige?“, fragte er schnippisch, sah mir dabei jedoch immer noch nicht in die Augen. Dennoch hatte er sein Grinsen wieder aufgesetzt und blickte triumphierend in meine Richtung, als wolle er aller Welt beweisen „Ich habe sie gefangen!“. „Allerdings, das meine ich. Wenn du nicht feige wärst, dann könntest du mir zumindest in die Augen sehen, wenn du schon den triumphalen Helden spielst, der du nicht bist, Kazu-kun.“ Nun kam er einige Schritte auf mich zu, doch ich blieb starr in der Mitte des Raumes stehen und blickte immer noch in seine Augen, die den ganzen Raum nach einem Fiktionspunkt abzusuchen schienen, Hauptsache, er musste nicht mich ansehen. „Wie darf ich das denn nun verstehen?“, gab er neugierig zurück. Ohne zu wissen was ich tat sprach ich einfach meine Gedanken aus, wieder nicht darüber nachdenkend, was für Folgen sie haben könnten. „Also bitte, muss ich dir das wirklich erklären? Aber gut, wenn du es nicht anders willst, dann bitte. Also, zum ersten weichst du mir seit dem Vorfall gestern Abend aus, sei es nun, dass du mich nicht mehr ansiehst oder das du nicht mehr mir reden willst, was ich nicht weiter schlimm finde, wenn ich ehrlich bin. Ich kann schließlich nichts dafür, dass du die Wahrheit nicht vertragen kannst und glaubst, dass dein Grinsen ein Segen für die Frauenwelt sei. Zum zweiten hat mittlerweile sogar Masaki gemerkt, dass Shizuka für dich keine einfache Freundin oder eine Art Ersatzschwester ist. Das soll mich nicht stören, schließlich schaffst du es ja scheinbar nicht, ihr deine Gefühle zu gestehen, weil du einfach zu feige bist. Muss Liebe schön sein, dass man wie doof alles für eine Person tut, ohne dass es gewürdigt wird...“ Ich bemerkte plötzlich das Funkeln in seinen Augen und seinen wütenden Blick. Er sah direkt in meine Augen, nein noch vielmehr mitten hindurch direkt in meinen Kopf, sodass er einem wirklich Angst einjagen konnte. Er schien wütend, aufgebracht und zugleich ziemlich verwirrt zu sein, als er nun den Mund öffnete und mir einiges entgegen warf. „DU hast doch keine Ahnung davon, Airashi! Als ob du in deinem Leben jemanden mal so geliebt hättest, dass du alles für diese Person getan hättest! Du solltest besser den Mund halten, wenn es um Dinge geht, bei denen du nicht mitreden kannst! Du weißt doch gar nicht, was Liebe eigentlich bedeutet!“ Entsetzt blickte ich ihn an, als er sich umdrehte und das Zimmer verließ, mich mittendrin stehen lassend. Ich musste erst verarbeiten, was er mir gerade entgegengeschleudert hatte, direkt in meinen Kopf hinein, als hätte er es durch seine Augen gesandt. Ich sollte keine Ahnung von Liebe haben? Ich sollte nicht wissen, was das für ein Gefühl sei? Vielleicht hatte er damit sogar Recht, nein, ganz sicher hatte er damit Recht. Ich wusste was Liebe war, ich hätte es jederzeit definieren können, doch nicht so, wie er es wahrscheinlich erwarten würde, oder wie man es überhaupt erwarten würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die einzige Liebe von meinen Eltern erfahren und diese auch nur kurze Zeit, denn seit den Streitereien konnte ich nicht behaupten, dass die beiden mir noch etwas bedeuteten. Ich hatte Respekt vor ihnen, wie es sich für eine Tochter gehört, doch uns verband nichts mehr. Kazuhiko hatte Recht, wenn er sagte, dass ich die Bedeutung von Liebe gar nicht kannte und das tat mir weh, weher als ich es mir je hatte vorstellen können. Geschockt von dieser Erkenntnis bemerkte ich die Tränen zunächst gar nicht, die mir die Wangen hinab liefen. Erst als ich den salzigen Geschmack wahrnahm, als die Tränen meine Mundwinkel erreichten, schreckte ich auf und verließ fluchtartig das Zimmer, um ins Badezimmer zu stürzen und mich dort einzuschließen. Keiner sollte meine Tränen sehen, niemand. Ich hatte es schon bei der Trennung meiner Eltern vermieden vor anderen Leuten zu weinen, ausgenommen meiner Schwester und Shizuka. Leider hatte ich meinen Schwur, nur noch allein oder vor einer dieser beiden Personen zu weinen schon vor einigen Wochen gebrochen, als Ôhei plötzlich aufgetaucht war, doch das sollte nicht noch einmal geschehen, also schloss ich mich im Bad ein und wartete geduldig, bis auch die letzte Träne versiegt war. Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich in dem kühlen Raum verbracht hatte, in dem ich mich einfach auf den Vorleger niedergelassen und zusammengekauert hatte. Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, zog ich mich um, ließ meine Sachen im Bad liegen und schloss langsam die Türe auf. Vorsichtig blickte ich mich erst auf dem Flur um, bevor ich mich in Richtung Kazuhikos Zimmer schlich. Dabei kam ich auch an Shizukas Türe vorbei, die nur angelehnt war. Gerade als ich vorbeigelaufen war vernahm ich ein Geräusch, dass ich schon seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Erschrocken drehte ich mich um und sah durch den kleinen Spalt in ihr Zimmer. Erst jetzt bemerkte ich den Lichtschein, der mir durch den beleuchteten Flur zunächst nicht aufgefallen war. Vorsichtig öffnete ich die Türe etwas und schob meinen Kopf hinein. „Shizuka?“, fragte ich leise und schob die Türe noch etwas weiter auf. Sofort wurde es still und das Licht erlosch, sodass meine einzige Lichtquelle der Schein der elektrischen Lampe im Flur war, woraufhin ich die Türe soweit öffnete, dass ich bequem eintreten konnte. Kaum stand ich in ihrem Zimmer, schloss ich dir Tür leise hinter mir und versuchte zu ihrem Bett zu gelangen. Da sich meine Augen nicht so schnell an das wenig effektive Mondlicht gewöhnt hatten, stieß ich schon bald mit meinem Fuß gegen das Bettgestell und verzog das Gesicht kurz vor Schmerz. Vorsichtig setzte ich mich auf das Bett, tastete vorher noch einmal über die Fläche, um sicherzugehen, dass ich mich nicht auf Shizuka setzte. „Hey, ist alles in Ordnung?“, fragte ich leise und ruhig, während ich versuchte etwas zu erkennen. Dabei blieb mir auch nicht verborgen, dass das junge Mädchen zitterte. Sie gab keine Antwort und ich blieb weiter ruhig auf ihrem Bett sitzen. „Shizuka, du weißt, dass du mir alles erzählen kannst und sei es noch so schlimm, oder?“, versuchte ich etwas aus ihr herauszubekommen. Ich erhielt keine Antwort, dennoch bemerkte ich weiterhin das Zittern und tastete nach dem jungen Mädchen, das sich scheinbar komplett unter ihrer Bettdecke verkrochen hatte. Als sie meine Hände auf ihrem Körper spürte, zuckte sie wieder einmal zusammen und plötzlich hörte ich das Knipsen eines Schalters, in dem Fall der Schalter für eine Taschenlampe, die sie unter der Decke versteckt hatte und die nun ein gedämpftes Licht in das Zimmer warf, sodass ich zumindest erkennen konnte, wo sich meine Freundin befand, die sich in diesem Moment aufsetzte und mich mit einem von Tränen verschmiertem Gesicht ansah. Ihr Anblick entsetzte mich für einen Moment so sehr, dass ich sie einfach nur geschockt anblickte, so verzweifelt hatte ich sie noch nie in meinem Leben gesehen, noch nicht einmal nach dem Tod ihrer Eltern. Meine Ohnmacht schien sie aber nicht zu bemerken, stattdessen war das nächste, dass ich spürte ihr Körper, der sich einfach nur in meine Arme fallen ließ, während sie ihren Kopf an meine Schulter legte und wieder hemmungslos zu schluchzen begann, wie sie es auch schon getan hatte, bevor ich in das Zimmer getreten war. Ich schloss die Arme fest um sie und drückte sie so fest an mich, wie es nur ging, wobei ich sie wie ein kleines Kind immer hin- und herwiegte, dabei versuchend beruhigend auf sie einzureden und ihrem Weinen in irgendeiner Form durch Trösten ein Ende zu setzen, wenn ich auch nicht wusste, weswegen ich sie trösten musste. Schließlich beruhigten sie und ihr Körper sich wieder und sie löste sich vorsichtig von mir, den Blick gen Boden gerichtet und sich langsam weiter von mir entfernend, wie ein kleines Kind, dem gerade ein Glas hingefallen war und das nun Angst hatte, was die Mutter wohl dazu sagen würde, wenn sie es sah. Als ob sie etwas falsch gemacht hätte! Vorsichtig hob ich die Hand, die ihr am nächsten war und strich ihr vorsichtig über die immer noch nassen Wangen, was sie noch weiter zurückweichen ließ. „Willst du mir nicht sagen, was los ist?“, fragte ich leise und mit ruhiger Stimme. Shizuka sah mich kurz an, wendete ihren Blick dann aber wieder ab und schüttelte nur kräftig mit dem Kopf, wobei ihre Haare in alle Himmelsrichtungen flogen und einige wenige an ihrem Gesicht in den trocknenden Tränen hängen blieben. Wieder strich ich mit der Hand vorsichtig über ihr Gesicht, diesmal, um die Haare zurückzustreichen, wobei sie nun so weit zurückwich, dass sie mit ihrem Rücken an das Kopfende ihres Bettes stieß und sich entsetzt umdrehte, um sich selber noch einmal mit den Augen davon zu überzeugen, dass sie nicht weiter zurückkonnte. Ich blickte sie weiter fordernd an, bemerkte aber, dass es keinen Sinn machte und stand auf, um das Zimmer wieder zu verlassen. Im Türrahmen stehen bleibend blickte ich sie lächelnd an und wiederholte, dass sie mir alles sagen könnte. Ich wollte gerade die Türe schließen, als ich leise meinen Namen vernahm. „Ai-chan?“, kam es leise von ihr, diesmal mich anblickend. Ich erwiderte ihren Blick, um zu zeigen, dass ich ihr zuhörte, woraufhin sie weiter sprach: „Kannst… kannst du heute vielleicht hier bleiben?“ Fragend blickte ich sie an und trat wieder vollends den Raum, die Türe hinter mir erneut verschließend und auf sie zutretend. Hoffnungsvoll blickte sie mich mit Tränen erfüllten Augen flehend an, sodass ich gar nicht mehr nein sagen konnte, selbst wenn ich gewollt hätte. „Bitte“, setzte sie noch nach, doch das war gar nicht mehr nötig gewesen. Mit wenigen Bewegungen kletterte ich über sie und lehnte mich gegen die Wand, an die das Bett gestellt worden war, wobei ich nicht nur die Taschenlampe unter der Bettdecke spürte, da war noch etwas größeres, breiteres versteckt. Ich tat allerdings so, als hätte ich nichts bemerkt und sah Shizuka weiterhin in ihre großen feuchten Augen, die nun auf ihre Decke gerichtet waren, in die sich ihre Hände verkrampft hatten. Sanft nahm ich ihre Hände in die meinen und löste sie von der Bettdecke, wobei ich das junge Mädchen erneut in meine Arme schloss und sanft wiegte, was sie zu beruhigen schien, denn nach kurzer Zeit kuschelte sie sich an mich. „Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst, in Ordnung?“, flüsterte ich und strich ihr über den Kopf, der sich, wie zuvor auch schon, an meine Schulter gelegt hatte. Ihr Atem verlangsamte sich ebenso und irgendwann schlief sie an mich gelehnt ein, ruhig und gleichmäßig atmend, während ich weiterhin ihren Kopf streichelte und ihren Körper sanft hin- und herwiegte. Nach einigen Minuten bemerkte ich dabei, dass diese Haltung für mich auf Dauer sehr unbequem sein würde und so löste ich mich von dem Mädchen und legte sie vorsichtig neben mich, bevor ich die Taschenlampe und den anderen Gegenstand unter der Decke suchte und auf den Nachttisch verfrachtete, was einige Turnübungen brauchte, da ich die Schlafende nicht durch irgendwelche Bewegungen wecken wollte. Der Gegenstand war etwa so groß wie ein normales Blatt Papier, jedoch dicker und härter, fast wie ein Buch, jedoch konnte ich in der Dunkelheit nichts erkennen, da ich die Taschenlampe schon ausgeschaltet und auf den Tisch gelegt hatte. Schließlich rutschte ich selber langsam weiter nach unten und bedeckte mich und Shizuka mit der Decke, bevor ich die Arme um sie legte und sie wieder an mich zog. Dann schlief ich selbst ein. Kapitel 8: Ruhe --------------- Kapitel 8: Ruhe Wach wurde ich erst am nächsten Morgen, als die Sonne durch das offene Fenster schien und meine Nase kitzelte. Und natürlich weckte mich der Schrei von Kazuhikos Mutter, der in meine Ohren drang und mich plötzlich aus meinen Träumen riss. Mit einem Mal saß ich aufrecht im Bett und sah sie ebenso entsetzt an wie Shizuka, die gänzlich entsetzt schien und sie nur mit großen Augen ansah und wieder begann zu zittern. Ich warf einen kurzen Seitenblick auf sie und ertastete unter der Decke ihre Hand, die ich fest drückte. Ihr Körper beruhigte sich ein wenig, doch ihre Augen strahlten dieselbe Unsicherheit und Erschrockenheit aus wie zuvor. Derweil schrie die Erwachsene immer noch und hatte damit wohl auch den letzten Schlafenden im Haus geweckt. Sie sagte etwas von Unverschämtheit und was Shizuka eigentlich einfiele, wie sie es wagen könnte, lauter wirres Zeug, das ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstand und zuordnen konnte. Dann sah sie mich an und brüllte mich ebenso an, ich solle sofort den Raum verlassen und wenn sie so etwas noch einmal mitbekäme könne ich nach Hause fahren. Verwirrt stand ich auf und bahnte mir einen Weg an ihr vorbei, wobei mein Blick auf den Nachttisch fiel und ich erkannte, was letzte Nacht unter der Decke gelegen hatte: Ein altes Fotoalbum. Das war wahrscheinlich der Grund für Shizukas Verzweiflung gewesen. Als ich die Türe zu Kazuhikos Zimmer öffnete, stand der vor seinem Schrank und schien sich Kleidung für den Tag herauszusuchen. Er blickte auf und sah mich überrascht an. „Das erklärt natürlich den Lärm am frühen Morgen…“ Fragend sah ich ihn an. „Wie darf ich das denn deuten?“ „Na, du hast doch bestimmt bei Shizuka übernachtet, nicht? Zumindest habe ich dich nicht mehr wiederkommen hören und als ich heute Morgen wach geworden bin, da war keine Ai-chan da… Nicht das mich das gestört hätte, ich war nur überrascht“, meinte er schnippisch und sah mich dabei nicht an. „Und du hast immer noch Angst vor mir“, antwortete ich im selben Ton und schritt an ihm vorbei zu meiner Tasche. „Im Übrigen: Wo und bei wem ich übernachte geht dich absolut nichts an und deine Mutter ebenso wenig, wenn du mich fragst.“ „Willst du schon wieder anfangen zu streiten?“ Erschrocken drehte ich mich um, denn Kazuhiko hatte sich von hinten an mich herangeschlichen und mir die Frage ins Ohr geflüstert. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, hatte aber in dem Moment auch keine Lust und Zeit mich wieder mit ihm zu streiten, da das Geschrei nebenan immer noch nicht verstummt war und ich mir Sorgen um meine Freundin machte, der ich nicht beistehen konnte. Noch mehr in Sorge versetzte mich, dass ich nur die Stimme von Kazuhikos Mutter vernahm, die dann auch plötzlich verstummte, worauf ein Türenknallen folgte und schwere Schritte den Flur entlang stampften und die Treppe hinunterhallten. Kaum war nichts mehr zu hören, stürmte ich aus „meinem“ Zimmer zurück in Shizukas, die mich erschrocken anblickte, da sie wahrscheinlich dachte, ihre Quälerin sei noch einmal zurückgekehrt. Als sie mich erkannte begannen sofort Tränen ihr Gesicht entlang zu fließen, bevor sie aufstand und sich in meine Arme warf. „Pst, ist ja gut“, flüsterte ich ihr zu und strich ihr über den Rücken, „es ist alles in Ordnung, ich bin jetzt da.“ Es dauerte eine Weile, bis ihre Tränen versiegt waren und sie ruhig in meinen Armen lag. Dann löste sie sich vorsichtig von mir und blickte gen Boden. „Das ist alles nur meine Schuld, ich hätte dich nicht bitten dürfen hier zu bleiben… Gomen.“ Schmunzelnd blickte ich sie an und hob vorsichtig ihr Kinn mit meinem Zeigefinger an, sodass sie für einen Moment gezwungen war mir in die Augen zu schauen. „So was kannst auch nur du von dir geben, weißt du das?“ Fragend sah sie mich an und wandte ihren Blick dann wieder ab. „Hey, du hast mich vielleicht darum gebeten, aber du wurdest doch eben angeschrieen, oder? Und außerdem bin ich freiwillig hier geblieben!“ Das stimmte natürlich nur zur Hälfte, denn irgendwie hatte mich das Mädchen mit ihrer hilflosen Art dazu gezwungen bei ihr zu bleiben, doch wer weiß was passiert wäre, wenn ich nicht dageblieben wäre? Erneut fiel mein Blick auf das Album, das immer noch auf demselben Platz lag, an den ich es gelegt hatte. Mit wenigen Schritten hatte ich den kleinen Tisch erreicht und das Buch in die Hand genommen, sodass Shizuka nicht mehr reagieren konnte, um mich daran zu hindern. „Das war der Grund, warum du gestern so verzweifelt warst, oder?“, fragte ich, während ich das rot eingebundene Buch öffnete und ein wenig darin blätterte. Es waren die verschiedensten Bilder, erst welche von Shizuka als Baby und kleines Kind, dann welche mit mir, ihren Eltern, meinen Eltern, auch welche mit Kazuhiko. Es wirkte fast wie ein bildlicher Lebenslauf von Shizuka, mit allen wichtigen Personen und Stationen in ihrem Leben. Erster Tag im Kindergarten, Puppenfest, erster Schultag, all solche Dinge eben. Auffällig war, dass auf allen Bildern ausnahmslos alle Personen lächelten und glücklich aussahen. Ich blickte sie aus dem Augenwinkel an. Das junge Mädchen vor mir nickte nur mit dem Kopf und Tränen stiegen erneut in ihre Augen. „Hey, das ist doch kein Grund zu weinen, sei froh, dass du solche glücklichen Erinnerungen hast!“ Im selben Moment hätte ich mich für den Spruch ohrfeigen können. Bravo Airashi, das war sehr sensibel! Erinnere sie nur daran, dass es ihr im Moment beschissener nicht gehen könnte! „Ich… es tut mir Leid, das hätte ich so nicht sagen dürfen… Ich meinte damit eigentlich…“ „Schon gut, ich weiß wie du es gemeint hast“, flüsterte sie leise und starrte ihre Bettdecke an. „Nein, ist gar nicht gut“, sagte ich, legte das Album auf seinen alten Platz und ging auf Shizuka zu, die ich erneut in den Arm nahm, „ich hätte das so einfach nicht sagen dürfen. Ich meinte damit eigentlich…“ Ja, was meinte ich eigentlich damit? Im Prinzip doch genau das, was ich gesagt hatte… Das es ihr nun beschissen ging und sie sich nur noch an ihren Erinnerungen festklammern konnte. Ich beendete den Satz nicht und begann stattdessen einen neuen: „Hör mal, wir haben doch für heute nichts geplant und der „Drache“ ist heute Nachmittag auch nicht da, wie wäre es, wenn wir heute einfach mal ganz allein was unternehmen?“ „Geht nicht, ich muss hier bleiben und wenn der „Drache“ was mitkriegt sind du und ich so gut wie tot…“, antwortete sie nur traurig. Es blieb einige Zeit still zwischen uns, bis mir auffiel, in welchem Zustand wir uns immer noch befanden: Beide mit unseren Schlafanzügen bekleidet und ein wenig frierend, woraufhin mir die „rettende“ Idee kam. „Gut, dann bleiben wir heute halt hier…“ „Nein! ICH bleibe hier und ihr unternehmt irgendwas. Ich komme schon klar!“ „… und machen es uns unten auf der Couch vor dem Fernseher gemütlich“, redete ich unermüdlich weiter, ohne mich von Shizuka unterbrechen zu lassen. „Dennoch sollten wir uns was anziehen und frühstücken, denn SO wird das Ganze bestimmt nicht gemütlich“, setzte ich noch hinzu und verließ Shizukas Zimmer wieder. Kazuhiko würde sich heute mit einigen Freunden zum Lernen verabreden und Ôhei und Masaki planten auch schon den Tag, sodass es kein Problem darstellte, dass Shizuka und ich allein waren. Kazuhiko begegnete mir auf dem Flur und grinste mich breit an: „Wie eine Glucke…“ Böse funkelte ich ihn an, ging jedoch ohne weiteren Kommentar meines Weges und hörte, wie sich eine Türe hinter mir öffnete. „Von wegen… selber Glucke…“, murmelte ich und holte mir ein paar Sachen zum Anziehen. Der Tag verging relativ schnell, Shizuka und ich setzten uns nach dem Frühstück ins Wohnzimmer, wo wir uns ein paar alte Videos ansahen, bevor ihr die Idee kam Kekse zu backen, um ihre Pflegemutter zu besänftigen. So stellten wir uns in die Küche und schafften es nach anfänglichen Schwierigkeiten tatsächlich Schokoladenkekse zu backen, die weder verkohlt noch irgendwie angebrannt waren. Die Eieruhr klingelte und im selben Moment öffnete sich die Haustüre. Shizuka wollte nachsehen gehen und kam mit Kazuhiko im Arm zurück in die Küche, in der ich noch die letzten Kekse aus dem Ofen holte und auf den Küchentisch zum Abkühlen legte. Das war ein relativ langer Weg, denn auch die Küche war sehr groß. An den Wänden befanden sich Schränke und die Einrichtung an sich, in die Mitte war die Kochnische gestellt worden, in der sich auch der Ofen befand. Ich rutschte mit den Filzpantoffeln ein wenig auf dem weiß gefliesten Boden und sah wieder nur ein Grinsen in seinem Gesicht, als ich mich zu ihm umdrehte. „Also Ai-chan, ich muss schon sagen… Das Zeug steht dir ziemlich gut.“ Mein Blick verfinsterte sich sofort. Mir war klar was er meinte, schließlich lief ich nicht jeden Tag mit einer rosafarbenen Schürze durch die Gegend. Ich überging seine Bemerkung einfach und wir ließen den Tag entspannt ausklingen. Dennoch widerstrebte es mir, Shizuka in der Nacht wieder allein zu lassen, doch sowohl sie als auch Kazuhiko waren vollends dagegen eine weitere Konfrontation mit seiner Mutter zu riskieren: „Ai-chan, versteh das doch… Wenn sie dich noch mal in meinem Zimmer erwischt, dann kannst du dir direkt ein Ticket nach Kazuoka kaufen!“ Widerwillig gab ich schließlich nach und jeder schlief in der Nacht in seinem Zimmer. Am nächsten Tag war ich ziemlich erstaunt, wie sehr sich meine Freundin gewandelt hatte, denn von der Traurigkeit der letzten Tage ließ sie sich nichts mehr anmerken, vielmehr schien sie richtig entspannt und glücklich zu sein. Einerseits machte mich das natürlich auch froh, auf der anderen Seite jedoch war ich misstrauisch, ob dieses „Glück“, das sie zeigte, echt war und nicht nur gespielt, damit ich mir keine Sorgen mehr machte. Einige Tage später hatte sich Kazuhikos Mutter wieder aus dem Haus entfernt und jenes ihrem Sohn und ihrer neuen „Tochter“ überlassen, die gerade kochte. Vom Küchentisch aus beobachtete ich sie, während ich mein Kinn auf meinen rechten Arm stützte. Doch während des Beobachtens bekam mein Blick etwas Weiteres und ich sah schließlich nur noch durch Shizuka durch, die vor dem Herd stand und in den Töpfen rührte, dann kurz abschmeckte, noch ein paar Gewürze mehr dazugab und schließlich alles noch einmal umrührte. Ich war vollends in Gedanken versunken, sodass ich nicht bemerkte, dass noch jemand die Küche betrat, jedoch in der Türe stehen blieb, die meinem Blick verborgen geblieben war. Meinen Gedanken kreisten um alles, was bisher passiert war. Das Auftauchen Kazuhikos, der nicht nur Shizukas Cousin irgendeines Grades war, sondern sie auch noch liebte, Shizukas widersprüchliches Verhalten während der gesamten Zeit und ihr Beharren darauf, dass zwischen ihr und ihrem Cousin nichts war, was man auch nur ansatzweise eine Beziehung nennen konnte. Und ihr plötzliches Hängen an der Vergangenheit und den schlimmen Dingen, die ihr widerfahren waren und die sie nun nachdem sie nach Kioto gemusst hatte, wieder eingeholt hatten. Es war ungewöhnlich für sie, dass sie solchen Gefühlsausbrüchen erlag, wie es in der letzten Zeit häufig passiert war. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass ich immer noch nicht über alles Bescheid wusste, was hier – und vor allem in ihr – vorging. Ich schloss langsam die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus, da ich kein Stück weiter gekommen war. Was machte ich nur falsch, dass Kazuhiko mehr Ahnung von ihren Gefühlen zu haben schien als ich? „So nachdenklich Ai-chan?“, riss mich eine männliche Stimme aus den Gedanken. Noch bevor ich die Augen öffnete und in seine Richtung sah konnte ich sein Grinsen schon vor mir sehen. „Was dagegen?“, fragte ich, ihn keines weiteren Blickes würdigend und stand auf, um zu Shizuka zu gehen, die gerade den Herd ausmachte und dabei war, Teller aus einem Schrank zu nehmen, während ich zu einem anderen Schrank trat und Besteck aus einer Schublade nahm. „Masaki und Ôhei essen auswärts“, meldete sich Kazuhiko ungefragt, nicht darauf achtend, das sowohl Shizuka als auch ich nur Geschirr und Besteck für drei Personen aus den Schränken genommen hatten. „Wissen wir, Kazu-kun“, antwortete ich etwas arrogant und stieß ihn unsanft zur Seite, da er mir im Weg stand, als ich das Besteck auf den Tisch in der Küche legen wollte, da der für uns drei ausreichte. Ich merkte, dass er etwas auf die „Attacke“ sagen wollte, doch er schien es sich zu verkneifen. Nachdem ich die Messer und Gabeln ordentlich, und in der richtigen Reihenfolge, auf den Tisch gelegt hatte, drehte ich mich zu ihm um und sah kurz zu Shizuka, die gerade mit dem Beladen der Teller beschäftigt war. Das folgende Essen lief friedlich ab, nicht zuletzt weil sich Shizuka zwischen uns zwei Streithähne gesetzt hatte und sich mit ihrem Cousin unterhielt. Wieder glitt ich in meine Gedankenwelt und starrte nur vor mich hin, während ich die Spaghetti mit Tomatensoße nur notdürftig um die Gabel wickelte und immer wieder in meinem Essen herumstocherte, ohne auf die beiden zu achten, die lachend vor mir saßen. Lustlos entschloss ich mich schließlich doch noch dazu, die Nudeln in Richtung Mund zu führen, kam aber nicht dazu, denn im selben Moment registrierte Kazuhiko, dass ich auch noch am Tisch saß und sprach mich an. „Wie sieht das eigentlich mit deinen Hausaufgaben aus? Musst du die nicht auch mal machen?“, fragte er neugierig. Üblich für Schulen in Japan waren die Hausaufgaben während der Ferien. Im Grunde hatte man niemals richtig frei, immer war man mit arbeiten beschäftigt. „Weißt du, ich müsste sie machen, wenn ich sie nicht schon einen Monat vor den Ferien gemacht hätte“, antwortete ich ihm so desinteressiert wie möglich und stopfte nun endlich die Spaghetti in meinen Mund, die ich daraufhin langsam und genüsslich kaute, um ihm nicht direkt Rede und Antwort stehen zu müssen. Wie ich erwartet hatte starrte er mich ungläubig an und seine braunen Augen schienen fast aus ihren Höhlen zu quellen. „Wie vor einem Monat?“ Nun meldete sich Shizuka wieder zu Wort, die wahrscheinlich einen weiteren – meiner Meinung nach sehr amüsanten – Streit verhindern wollte: „Ich hab dir doch erzählt, dass Ai-chan ziemlich gut in der Schule ist und sich andauernd noch Zusatzaufgaben bei den Lehrern besorgt. Und da ihnen die langsam ausgingen, haben sie ihr schon im Voraus die Hausaufgaben für die Sommerferien gegeben.“ „Wie kann einer so bekloppt nach HAUSAUFGABEN sein? Als gäbe es nichts Wichtigeres im Leben, als nur Schule.“ Das war ein herber Schlag gewesen, den er mir in dem Moment verpasst hatte, denn ich wusste genau, worauf der junge Mann anspielte – auf die Situation vor wenigen Tagen, bei der ich schließlich den Kürzeren gezogen hatte. Doch wie immer versuchte ich so gut es ging meinen Schmerz hinunterzudrücken und möglichst keine Reaktion auf die Bemerkung zu zeigen. „Tja, dem einen ist das wichtig, dem anderen das“, war schließlich das einzige was mir dazu einfiel und wieder hatte ich das Gefühl, genau das Falsche gesagt zu haben. Ich behielt das letzte Wort und auch dieser Tag verging ohne weitere Vorkommnisse – mal Kazuhikos und meine kleinen „Diskussionen“ ausgenommen. Am nächsten Morgen wurde ich unsanft aus meinen Träumen gerissen – dabei war ich gerade am Palmenstrand der Bermudas auf- und abgelaufen – als ich meinen Namen laut in meinen Ohren schrillend vernahm, wie einen zu laut gestellten Wecker. Verschlafen öffnete ich kurz die Augen und sah in das Gesicht meiner besten Freundin, die immer noch an meiner Schulter rüttelte und mich zum Aufstehen zwingen wollte. „Nicht jetzt – will noch schlafen – lass mich in Ruhe“, erwiderte ich nur kurz und zog die Decke weit über meinen Kopf. „Hast du vergessen, dass wir heute in den Freizeitpark wollten? Los, aufstehen, sonst wird das wieder alles so knapp.“ Schließlich nahm ich mein Kissen und hielt es fest über meinen Kopf gestülpt, um möglichst nichts mehr zu hören, aber Shizuka ließ mir keine Ruhe. Ohne Erbarmen zog sie mir Decke und Kissen weg und ich lag nun nur zusammengerollt auf dem Futon. „Shizuka…“, grummelte ich müde und griff blind nach Kissen und Decke, die mir die Schwarzhaarige jedoch keinesfalls wiedergeben wollte. „Nichts da, aufstehen! Wenn du nicht aus den Federn kommst, weil du dich bis mitten in der Nacht mit Kazu streitest, kann ich auch nichts dafür!“ Sie klang wie meine Mutter, wenn sie mich am Wochenende dazu bewegen wollte, früh aufzustehen, was ihr so gut wie nie gelang. Doch ich wusste, dass ich gegen Shizuka keine Chance haben würde. „Das war kein Streit!“, widersprach ich vehement und setzte mich langsam auf, wobei ich meine Arme weit ausstreckte und kräftig gähnte. „Das war nur eine ‚kleine’ Diskussion“, meldete sich Kazuhiko zu Wort und sah mich grinsend an. „Ja, lach du nur! Du bist ja gestern mitten in dieser ‚Diskussion’ eingeschlafen! Und ich rede mir den Mund fusselig!“, erwiderte ich wütend und wandte mich beleidigt ab. Allerdings nicht sehr überzeugend, denn mitten im beleidigt sein musste ich erneut herzhaft gähnen. Nachdem wir alle irgendwie gefrühstückt und unsere Sachen zusammengepackt hatten, stiegen wir in den Bus, dessen Haltestelle unweit von Kazuhikos Haus lag und uns bis zum Freizeitpark bringen würde. Schon während der Fahrt lehnte ich mich müde an Shizukas Schulter und döste noch ein wenig vor mich hin. Ich hatte in der letzten Nacht wirklich nicht viel geschlafen, als ich das letzte Mal auf den Wecker gesehen hatte, war es bereits vier Uhr gewesen. Und nur vier Stunden später hatte Shizuka mich geweckt. Mit einem Mal wurde ich aber auch wieder unsanft aus meinem Döszustand gerissen, da meine beste Freundin ohne Vorwarnung aufgestanden war und ich nun fast auf den Sitz neben mir geknallt wäre, wenn ich mich nicht im letzten Moment gefangen hätte. Säuerlich blickte ich sie an, doch sie grinste nur schelmisch und sah mich entschuldigend mit ihrem Dackelblick an. Obwohl es noch recht früh war, standen vor den Kassen des Parks schon viele wartenden Kunden, sodass wir beschlossen, Kazuhiko solle sich anstellen, während wir uns in die noch wenig wärmende Sonne auf eine kleine Wiese in der Nähe der Kassen setzten. Sofort nahm ich meine Position neben Shizuka wieder ein und döste immer noch ein wenig vor mich hin, während diese sich kein Stück bewegte, sondern stattdessen ihren Kopf gegen meinen lehnte. „Wie kann ein Mensch mit solch guten Noten, der schon alle Hausaufgaben für die Ferien gemacht hat, so verschlafen sein und nicht aus dem Bett kommen?“, hörte ich Kazuhiko plötzlich wieder. Scheinbar hatte er die Karten schneller bekommen als erwartet und so öffnete ich wieder verschlafen meine Augen und sah ihn fragend an. „Das ist alles nur Shizukas Schuld…“, antwortete ich, erneut gähnend, „wenn sie mich später geweckt hätte, sodass ich Stress gehabt hätte, dann wäre ich jetzt hellwach. So brauche ich noch ein paar Minuten oder Stunden, bis da oben alles richtig in Gang gekommen ist. Du weißt doch, jedes Genie hat seine Macken…“ Ich hörte Shizuka neben mir seufzen und ich wusste auch genau warum: Ihr gingen die Streitereien von mir und Kazuhiko mittlerweile ziemlich auf den Geist, da sie sich zwischen zwei Stühle gesetzt fühlte. „Jetzt sag nicht, dass das nicht stimmt!“, sagte ich zu ihr gewandt und stand schließlich ein weiteres Mal gähnend auf, wobei ich ihr meine Hand hinhielt, um ihr aufzuhelfen, die sie dankend annahm. Loslassen tat ich ihre Hand jedoch nicht, nachdem sie neben mir zum Stehen gekommen war. Triumphierend zog ich sie hinter mir her und ging in Richtung Eingang, wobei ich neben Kazuhiko herlaufen musste, da dieser die Karten besaß. Nachdem wir durch den großen Torbogen getreten waren, konnten wir die Achterbahn und einige Imbissbuden schon erkennen, wollten aber nichts überstürzen und orientierten uns zuerst mit einem kleinen Plan des Parks. Nach ewiglangen Diskussionen und einige Attraktionen später schlug Masaki vor, endlich die „Sensation“ des Parks aufzusuchen, eine ziemlich spektakuläre Achterbahn, die „nichts für schwache Nerven“ war, wie die Schreie der Fahrgäste bewiesen, die immer wieder über unsere Köpfe hinwegrasten. Ôhei begann mit den Händen abwinkend, sich gegen die Idee, auf dieses „Ding“ zu gehen, aufzulehnen, doch Masaki wollte ihr keine Chance lassen und legte ihr beide Hände an die Taille, um sie so mit sich zum Eingang zu ziehen. Auch Shizuka wollte sich gegen das „Abenteuer“ wehren, doch Kazuhiko und ich ließen ihr keine Chance. „Kazu-kun, wolltest du nicht ein Foto machen?“, meldete sich Ôhei wieder, nachdem Masaki aufgehört hatte, sie mit sich zu ziehen, nun jedoch die Arme um ihren Körper geschlungen hatte, um sie zum einen nahe bei sich zu haben und sie zum anderen daran zu hindern, dass sie weglief. Kazuhiko nickte nur stumm und hielt immer noch Shizukas linken Arm mit beiden Händen fest, an dem er sie spielerisch gezogen hatte. „Dann tu es besser jetzt, ich würde nämlich gerne ein Foto haben, bevor ich mich hier vor all den Leuten übergeben muss!“ Wenig begeistert von dem Vorschlag, ein Gruppenfoto zu machen, stellte ich mich neben Shizuka und Masaki, der Ôhei weiterhin umklammerte, der dies jedoch zu gefallen schien, da sie sich gegen ihren Freund gelehnt hatte und ihre Hände auf seine legte, die auf ihrem Bauch ruhten. Kazuhiko sprach ein älteres Ehepaar an und bat sie ein Foto von uns zu machen. Dazu zeigte er ihnen kurz, wie die Kamera zu bedienen war und stellte sich dann auf Shizukas andere Seite. Nachdem wir alle nah aneinandergerückt waren und uns so postiert, dass jedermanns Gesicht später auf dem Foto zu erkennen sein würde, lächelten wir alle brav in die Kamera und wartete auf das „Cheez!“ des Mannes, der jene bediente. Nachdem alles erledigt war, bedankte sich Kazuhiko bei dem Mann und nahm seine Kamera wieder entgegen, während wir anderen uns aus unseren Posen erlösten und auf den Eingang der Achterbahn zuschlenderten. Denn Ôhei und Shizuka hatten mittlerweile begriffen, dass es keinen Sinn mehr machen würde, sich weiter dagegen zu wehren. So warteten wir ungefähr eine halbe Stunde, bis wir endlich die Wagen in Sichtweite bekamen und eine weitere Viertelstunde, bis wir in selbigen saßen. Es waren ganz normale Wagen, wie man sie aus solchen Achterbahnen kennt. Zwei Leute sitzen nebeneinander auf unbequemen, harten Gummisitzen und warten darauf, dass ebenso unbequeme Bügel von oben herunterfahren, die wie ein „U“ geformt sind und sich über die Schulter legen, wobei sie den Kopf dann durch die Öffnung frei lassen. An dem Bügel befinden sich dann kalte Metallgriffe, an denen man sich bei Bedarf festklammern kann. Damit auch während der Fahrt kein Bügel einfach wieder aufgeht, werden sie unten durch Gurte noch einmal zusätzlich gesichert. Shizuka saß neben mir und hatte einen angsterfüllten Blick nach vorne, während ihr bei dem Gedanken, dass es gleich losging, jegliche Farbe aus dem Gesicht wich und sie fast weiß neben mir saß. Verzweifelt versuchte ich ihr Mut zuzusprechen, doch viel half das nicht. Doch Shizuka schien nicht die einzige mit Angst zu sein, denn Masaki redete ebenso heftig auf Ôhei ein, die hinter mir saß und – für sie untypisch – kein Wort herausbrachte. Auch von Kazuhiko, der sich vor Shizuka postiert hatte, war nichts zu hören. Mit einem schrillen Pfeifton wurde der Beginn der Fahrt angezeigt und im selben Moment bewegten sich die Wagen schon langsam einen Berg hoch, während unter uns das Zahnrad ratterte. Shizuka wich die letzte noch verbliebene Farbe aus dem Gesicht, kurz bevor die Wagen losgelassen wurden und sich selbstständig ihren Weg nach unten bahnten, in einen Looping und einen zweiten. Ich hatte es kaum realisiert, da standen wir schon wieder und wurden einen weiteren Berg hinaufgezogen, bevor es wieder in einige Schrauben und Loopings hinunterging. Die Fahrt war schnell beendet, hatte jedoch bei allen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. So kamen Shizuka und Ôhei käseweiß aus dem Eingang „geschlappt“ und ließen sich auf die nächstbeste Bank fallen. Masaki setzte sich sofort neben Ôhei und legte ihr einen Arm um die Schultern, bevor er sie an sich zog, sodass die Oberschülerin sich schnell zu erholten schien und wieder Farbe bekam. Auch Shizuka erholte sich langsam wieder. Den Kopf gesenkt saß sie zusammengesunken auf der Bank und ihr Haar hing ihr wild vor dem Gesicht, sodass ich mich genau vor sie hockte und ihr meine Hand auf die Schulter legte. „Hey, alles in Ordnung mit dir?“, fragte ich besorgt und ärgerte mich, dass ich sie dazu überredet hatte, mit auf die Achterbahn zu kommen. Schließlich setzte sich auch Kazuhiko auf die Bank und sah ebenso besorgt das Mädchen vor mir an, das immer noch mit herabhängendem Kopf vor mir saß. Sie hatte meine Frage mit keiner Geste und keinem Wort beantwortet, setzte sich aber plötzlich aufrecht hin und stand ruckartig auf, sodass ich noch einen Moment vor ihr hockte und nun zu ihr aufsehen musste. Sie war immer noch blass, auch wenn nicht mehr so schlimm, wie noch vor einigen Minuten. Ohne auch nur etwas Weiteres zu sagen, ging sie los. Überrascht folgten wir ihr so schnell es ging und schon bald hatten Kazuhiko und ich sie wieder eingeholt. Einige Schritte liefen wir drei nebeneinander her, bis ich Shizuka plötzlich vor mir auf dem Boden liegen sah. Ich hatte erst gar nicht realisiert, was vor wenigen Sekunden passiert war, doch wie im Reflex hockte ich neben ihr und drehte sie auf den Rücken. Sie hatte doch nur kurz die Augen geschlossen! Und fest zeitgleich hatten einfach ihre Beine nachgegeben und sie auf den Betonboden fallen lassen, zwar sich noch mit den Händen abfangend, aber nicht mehr mit der Möglichkeit sich aus der darauf folgenden Ohnmacht zu helfen. Vorsichtig bettete ich ihren Kopf auf meinen Schoß und rief immer wieder ihren Namen, wobei ich sie immer wieder leicht auf die Wange schlug, um sie wieder ins Bewusstsein zurückzuholen. Es dauerte eine ganze Weile, doch schließlich öffnete die Schwarzhaarige unter mir vorsichtig die Augen und sah mich wehleidig an. Sie wollte sich aufrichten, doch anstatt sie gewährend zu lassen drückte ich sie langsam wieder an den Schultern nach unten und bettete ihren Kopf erneut auf meinen Beinen. Erst jetzt sah ich auf und bemerkte, dass auch Ôhei und Masaki neben Shizuka standen, während Kazuhiko sich neben ihre Beine gehockt hatte und diese mit seinem Rucksack ein wenig höher lagerte, damit ihr Kreislauf wieder in Schwung kam, der wohl für einen Moment ausgesetzt hatte. Doch irgendwann wurde es dem Mädchen zu peinlich, dass sie auf dem Boden lag und sie setzte sich mit meiner Hilfe langsam auf, wobei ich stützend hinter ihr saß. Dankbar lehnte sie sich an mich und sah mit einem „Mir geht’s gut, keine Sorge“ in die Runde. Misstrauisch legte ich ihr eine Hand auf die Stirn, die ich schnell wieder zurückzog. „Von wegen dir geht es gut!“, erwiderte ich leicht angesäuert. „Du bist eiskalt und zudem pitschnass geschwitzt! Du bleibst jetzt erstmal hier sitzen.“ Masaki und Ôhei gingen und holten etwas zu trinken für Shizuka, die nun wie ein Häufchen Elend vor mir hockte und sich immer noch gegen mich lehnte. Es dauerte einige Minuten, bevor wir uns einverstanden erklärten sie aufstehen zu lassen, um damit den Nachhauseweg anzutreten. Shizuka ging langsam neben mir, während ich eine Hand auf ihren Rücken legte und sie damit vorsichtig weiter nach vorne schob. Im Hause Matsuya angekommen verfrachteten Kazuhiko und ich das Mädchen sofort in ihr Bett und ließen sie für den Rest des Tages nicht ein einziges Mal aus den Augen, was ihr gar nicht zu gefallen schien. Immer wieder wollte sie aufstehen und umherlaufen, doch diesmal waren Kazuhiko und ich uns einig, dass es besser wäre, wenn sie vorerst im Bett liegen bliebe. Shizuka erholte sich schnell wieder, doch ebenso schnell verging auch der Rest der Ferien und schließlich kam der Tag, vor dem sie und ich uns so sehr gefürchtet hatten – der Tag der Abfahrt. Ich würde einfach wieder nach Hause nach Kazuoka fahren und sie hier in Kioto lassen müssen. Der Morgen verlief ziemlich schleppend, keiner schien Lust zu haben auch nur irgendetwas zu tun. So frühstückten wir eine geschlagene Stunde, aßen dabei aber jeder höchstens ein Brötchen. Auch das Packen fiel mir persönlich sehr schwer, sodass ich Ewigkeiten zu brauchen schien, bis alles wieder in meiner Tasche verstaut war. Leider kamen wir trotzdem eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof an, doch diese halbe Stunde schien zu vergehen wie fünf Minuten. Ich wollte nicht gehen! Ich wollte in Kioto bleiben, dass mussten alle gemerkt haben, aber ich konnte und durfte nicht. Shizuka und ich sahen uns während des Wartens oft sehr lange an. Ob die anderen es bemerkten weiß ich nicht, aber mir war es auch egal. Schließlich kam die Ansage, dass nun der Zug nach Tokio einfahren würde, der auch in Kazuoka hielt. Schnell verabschiedete ich mich von Kazuhiko, der sich daraufhin mit Ôhei und Masaki beschäftigte, die sich schon von Shizuka verabschiedet hatten. Jene fiel mir ohne große Worte zu verlieren einfach nur in die Arme und klammerte sich an mich. Es war wie eine Art stummes „Geh nicht“, doch wir beide wussten, dass ich zu gehen hatte – ob ich wollte oder nicht. Ihr Körper bebte leicht und ich bemerkte die Tränen, die ihr langsam die Wangen hinab liefen. Plötzlich griff sie mit einer Hand in ihre Jackentasche und zog ein kleines Couvert hervor, das sie mir stolz überreicht. „Aber erst zu Hause aufmachen, ja?“ Hoffnung lag in ihrem Blick, eine Hoffnung, die ich in diesem Moment nicht deuten konnte, genau wie das andere, das ich in ihrem Blick sah. „Versprochen!“ Ein weiteres Mal fiel sie in meine Arme und drückte ihren Körper fest an meinen, bevor sie sich nach Einfahren des Zuges endgültig von mir löste und sich neben Kazuhiko stellte. „Na dann, macht es gut!“, rief er uns noch hinterher, als unser Trio in den Zug einstieg. Ich drehte mich nicht mehr um, da ich wusste, dass auch Shizuka sich schon umgedreht hatte und aus dem Bahnhof lief. Wie gerne aber hätte ich mich umgedreht und wäre ihr hinterhergelaufen, mit ihr mitgekommen und hätte sie nie wieder losgelassen? Etwas verwirrt von meinen ganzen Gedanken und Gefühlen, die in den letzten Minuten meinen Körper durchfahren hatten ließ ich mich auf einen freien Platz im Zug nieder und starrte zum Fenster hinaus. „Shizuka…“ Kapitel 9: Zeit --------------- Part 3: Versprechen 9. Kapitel: Zeit Es waren zwei Wochen vergangen, seitdem ich wieder in Kazuoka angekommen war und die Schule erneut begonnen hatte. Nach einem dieser endlos langen, langweiligen Schultage kam ich nach Hause und ließ mich auf mein Bett fallen, wobei mein Blick auf den Schreibtisch fiel und dabei auch auf den weißen Couvert, den Shizuka mir in die Hand gedrückt hatte und den ich nach meiner Rückkehr zunächst an einen Bilderrahmen gelehnt hatte, der eine verkleinerte Fassung des Sandkastenbilden enthielt. Ich wusste schon was der Umschlag enthielt, nachdem mir Shizuka ihn mir in die Hand gedrückt hatte. Eine CD. Welche, das würde ich jetzt herausfinden. Langsam ging ich auf den Schreibtisch zu und nahm den Umschlag vorsichtig in meine Hand. Am liebsten hätte ich in diesem Moment sofort zum Telefonhörer gegriffen und Shizuka angerufen, doch wir hatten beide beschlossen, dass es wohl am besten wäre, so wenig Kontakt wie möglich zu haben, damit wir nicht gänzlich verrückt wurden, wenn wir so lange Zeit getrennt sein würden. Es war eine einfache gebrannte CD, auf die mit schwarzem Filzstift „Für Airashi“ gekritzelt worden war. So musste ich sie zwangsweise in meinen Computer einlegen, um herauszufinden, was nun auf sie gebrannt worden war. Ungeduldig und irgendwie auch ein wenig nervös wartete ich darauf, dass mir auf dem Bildschirm meine Dateien angezeigt wurden, bevor ich das Symbol für „CD-Laufwerk“ anklicken konnte, um die schon eingelegte CD zu öffnen und mir die darauf enthaltenen Dateien genauer ansehen zu können. Dabei stellte ich fest, dass ausschließlich Bilder auf der CD zu sein schienen. Es waren einige der Bilder darunter, die ich in Shizukas Album gesehen hatte, doch auch mir unbekannte Fotos sah ich. Langsam sah ich mir jedes Bild genau an, bis ich bei dem angelangt war, dass wir im Freizeitpark gemacht hatten. Genau wie bei den anderen Bildern sahen alle abgebildeten Personen glücklich aus und lächelten in die Kamera. Doch im Gegensatz zu den anderen Fotos wirkte es hier nicht so aufgesetzt. „Wir waren an dem Tag wohl alle ziemlich glücklich…“ seufzte ich resignierend und schaltete den Computer wieder aus, da dies das letzte Bild gewesen war – zumindest das letzte, dass ich mir ansehen konnte, denn das wirklich letzte ließ sich nicht öffnen. Die Wochen und Monate zogen ins Land und in meinem Leben änderte sich nicht viel. Masaki und Ôhei schienen immer noch das glückliche Paar zu sein, das sie seit Beginn ihrer Beziehung waren und Ôhei entwickelte sich langsam zu einer starken Persönlichkeit, die nicht nur auf Äußerlichkeiten angewiesen war. Und ich? Ich war das Mädchen, das ab und zu etwas mit den beiden unternahm, oder öfter mal mit den Mädchen aus meiner Klasse wegging, während es ansonsten nur zu Hause saß und lernte, um nicht an ihre beste Freundin denken zu müssen. War ich nur einen kurzen Moment nicht beschäftigt, wanderten meine Gedanken sofort zu Shizuka und jedes Mal stellte ich mir dieselben Fragen: Wie ging es ihr wohl gerade in diesem Moment? Was tat sie gerade? Unternahm sie etwas, etwa mit Kazuhiko? Jedes Mal, wenn ich daran dachte, wie sie glücklich neben Kazuhiko durch die Straßen wandern könnte, gerade in dem Moment, in dem ich allein war und an sie dachte, schien es so, als versetze mir jemand einen tiefen Stich in mein Herz, mit einer kleinen, feinen Nähnadel. Dieser jemand drückte sie immer tiefer in jenes und legte schlussendlich seine gesamte Handfläche auf meinen Brustkorb, wobei er immer fester zudrückte, so das ich das Gefühl bekam, nur noch schwer atmen zu können. Da ich das Gefühl nicht zuordnen konnte beschloss ich fortan, mich 24 Stunden am Tag mit irgendetwas zu beschäftigen, sodass ich schlussendlich auch Nachhilfe gab, nur um den Tag zu füllen. Die Nachhilfe war auch ein Grund dafür, dass mein Zimmer nun immer aufgeräumt war, eine weitere „Beschäftigungstherapie“, die dafür sorgte, dass meine Schüler einen guten Eindruck von mir bekamen und mich davon abhielt andauernd an Shizuka zu denken. Doch je näher die Winterferien kamen, umso nervöser wurde ich und umso mehr musste ich mich auch beschäftigen, um nicht mehr an Shizuka zu denken. Und schließlich war es nur noch eine Woche bis zu den lang erwarteten Ferien… Kapitel 10: Überraschungen -------------------------- 10. Kapitel: Überraschungen Als es an der Türe klingelte legte ich mein Mathematikbuch auf den aufgeräumten Schreibtisch und schlenderte langsam die Treppe hinunter in den Flur. Es war wenige Minuten vor fünf Uhr nachmittags, also ging ich davon aus, dass es sich um Yoko handelte, eine Mittelschülerin der dritten Klasse, die Probleme in Chemie hatte. Da sie vorhatte nach den Frühjahrsferien auf unsere Oberschule zu wechseln schien ich für sie die beste Ansprechpartnerin gewesen zu sein. Ein weiterer Grund war bestimmt auch, dass meine Nachhilfe wesentlich billiger war als eine der teuren Privatnachmittagsschulen, die nicht nur ein Fach lehrten, sondern sofort ein Komplettprogramm boten, das Yoko keinesfalls nötig hatte, da ihre Schwäche nur in Chemie lag. Ich blieb kurz vor der Türe stehen und setzte ein künstlich-fröhliches Lächeln auf, bevor ich die Türe öffnete und kalte Winterluft in den Flur drang. Davon bekam ich allerdings kaum etwas mit, denn kaum hatte ich „Konichi wa, Yo-…“ gesagt hing schon irgendetwas an meinem Hals und drückte mich so fest, dass ich kaum zu atmen wagte, da ich Angst hatte, es sowieso nicht zu schaffen auch nur einen Atemzug zu tun. Das erste was ich dann sah waren zwei braune Augen, die in einem typisch japanischen Gesicht saßen, das von mittellangen schwarzen Haaren umrandet wurde. Die Gesichtszüge waren durch das große Grinsen allerdings kaum zu erkennen. Schließlich löste sich auch das etwas an meinem Hals von mir und sah mich mit ebenso braunen Augen an, deren Blick dem eines treuen Hundes entsprach, der nicht von der Seite seines Herrchens weichen wollte. „Was macht ihr denn schon hier?“, war das einzige, das ich sagen konnte, zu überrascht war ich vom Auftauchen der beiden aus Kioto. „Tolle Begrüßung“, sagte Shizuka gespielt beleidigt und blickte zu Boden, direkt vor meine Füße. Einen Moment lang musste ich mich noch etwas sammeln, dann jedoch schien mein Körper und auch mein Geist registriert zu haben, dass Shizuka wieder hier war. Lächelnd hob ich eine Hand und fuhr ihr vorsichtig über ihre Wange, woraufhin sie mich irritiert anblickte. „Willkommen zu Hause“, flüsterte ich nur und nahm sie dann in den Arm, wobei ich sie so fest an mich drückte, wie ich nur konnte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor sich Kazuhiko räusperte und uns „störte“. „Also, ich will eure Wiedersehensfreude ja keineswegs trüben, aber ich finde es hier draußen verdammt KALT!“ Langsam lösten das Mädchen und ich uns voneinander und sahen den Kiotoer an, der zitternd mit zwei großen Koffern an seiner Seite vor der Türe stand. Grinsend zog ich Shizuka an der Hand in das Haus hinein und schloss die Türe direkt vor Kazuhikos Nase, der sich in diesem Moment in Richtung Eingang bewegt hatte, da er wohl davon ausgegangen war, dass er mit hineinkommen durfte. Was machte er überhaupt hier? Innerlich hoffte ich darauf, dass beide Koffer Shizuka gehörten und das Kazuhiko nur ihr Geleit war, der wieder nach Hause fahren würde, wenn er sie sicher untergebracht hatte. „Ähm, Ai-chan… Also, Kazu-kun wird wohl auch hier bleiben müssen und ich glaube seine Mutter wird es nicht gutheißen, wenn du ihn draußen vor der Türe stehen lässt.“ Augenblicklich war jegliche Wiedersehensfreude von mir gewichen. Er würde hier bleiben müssen? Die ganze Zeit über? Ich würde Shizuka schon wieder teilen müssen? Warum? Hatte seine Mutter wieder ihre Finger im Spiel? In welchem Spiel eigentlich? Zumindest einem, dessen Regeln ich nicht kannte, dafür aber Shizuka, Kazuhiko und seine Mutter, die mich immer wieder dezent neben das Spielbrett verlagert hatten, indem ich als einfacher Bauer von der Dame, dem Läufer und dem Turm immer wieder geschlagen wurde, bei jedem neuen Spiel aber wieder versuchte, die andere Seite des Schachbretts zu erreichen, was nie zu gelingen schien. Ein Spiel, das ich nicht gewinnen konnte. „Und wie hast du dir das vorgestellt?“, fragte ich sichtlich beleidigt und ignorierte Shizuka mit meinem Blick so gekonnt wie möglich, indem ich mich umdrehte und zum Telefon schlenderte, schließlich musste ich Yoko noch rechtzeitig absagen, damit sie nicht umsonst kam. „Wie soll…“ Shizuka wurde sofort still, als ich am Telefon begann zu sprechen und Yokos Mutter zu erklären versuchte, dass ich plötzlich einen wichtigen Termin hatte, der keineswegs verschiebbar war und mich ungefähr ein Dutzend Mal bei ihr für die ausfallende Stunde entschuldigte, die ich natürlich so bald wie möglich nachholen würde. Als ich aufgelegt hatte spürte ich immer noch ihren Blick in meinem Rücken und drehte mich seufzend um. „Wie hast du dir das vorgestellt? Erlaubt deine „Mama“ dir denn, in einem Zimmer mit Kazuhiko zu übernachten? Denn wir haben nur ein Gästezimmer und ich werde ganz bestimmt nicht noch einmal mit ihm in einem Raum übernachten, damit das klar ist. Und ich glaube auch nicht, dass ihm die Couch genügen wird, oder?“ Die Lautstärke meiner Stimme hatte sich bei jedem einzelnen Ton immer weiter gesteigert, sodass ich am Ende wohl auch im Nachbarhaus zu hören gewesen sein musste. „Also, im Moment wäre mir sogar der Boden recht, wenn du mich endlich rein lässt, Ai-chan…“, drang ein leises Flüstern gefolgt von einem zögerlichen Klopfen durch die Türe. Dabei hatte ich total vergessen, dass der Kiotoer vor der Türe geblieben war und öffnete nun schelmisch grinsend die Türe. „Na, wenn das kein Angebot ist“, freute ich mich und schubste den Jungen in die Wohnung hinein. „Die Sachen kannst du trotzdem hochbringen, einfach Treppe hoch und dann die zweite Türe rechts!“ Langsam stieg Kazuhiko die Treppe hinauf, verfolgt von meinem und Shizukas Blick. Nachdem er hinter der Wand verschwunden war suchte das Mädchen vor mir meinen Blick und sah mich betrübt an. „Also, eigentlich dachte ich…“, begann sie zögernd zu reden und wendete den Blick von mir ab, nun auf ihre Füße starrend, die immer noch in ihren dicken Winterschuhen steckten. Als sie dies bemerkte schwieg sie weiter und setzte sich kurz auf den kleinen Absatz in der Nähe der Haustüre, wo sie betont langsam begann ihre Schnürsenkel zu lockern und sich dann einen Schuh von den Füßen streifte. „Also, eigentlich dachtest du…“ Ungeduldig stand ich vor ihr, die Arme vor der Brust verschränkt und mit einem Fuß auf- und abwippend. „… dachte ich, dass es bestimmt kein Problem wäre, wenn…“ Wieder begann sie zu schweigen und zog sich den anderen Schuh aus, was meine Ungeduld noch weiter wachsen ließ und mich innerlich zum Kochen brachte. „Shizuka, entweder spuckst du sofort aus, was du willst, oder ich verfrachte dich mit Kazu in das Zimmer meiner Schwester und dann ist die Sache erledigt, egal was deine „Mama“ dazu sagt, klar?“ Wütend lief ich einige Zeit im Flur herum, bis Shizuka ihre Schuhe zu den anderen gestellt, sich ein Paar Pantoffeln genommen und ihre Jacke zu den anderen an der Garderobe gehangen hatte und mich danach wieder zögerlich ansah. „Ich höre?“ „Also…“, begann sie erneut zögerlich und flüsternd, „ich dachte, es sei vielleicht möglich, dass – also na ja – du und ich uns dein Zimmer teilen… Das ist doch eigentlich groß genug, oder nicht?“ Kurz blickte sie auf, um sich meine Reaktion anzusehen und blickte dann direkt wieder zu Boden, wie ein kleines Kind, das gerade seiner Mutter gebeichtet hatte, dass es trotz des ausdrücklichen Verbots an die Schachtel mit den Keksen gegangen war. Grinsend musterte ich nun das Mädchen vor mir und ging langsam an ihr vorüber, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. An der Treppe jedoch blieb ich stehen und wandte mich zu ihr um. „Na, was ist jetzt? Oder willst du da im Flur bleiben? Du kannst ruhig selber dein Futon schleppen, wenn du schon solche Umstände machst…“, neckte ich sie und wartete darauf, dass sie zu mir kam. Im ersten Moment zuckte sie nur ängstlich zusammen und drehte sich denn langsam um, doch mit jedem Wort, dass sie mehr vernahm, hellte sich ihr Blick auf, bis sie schließlich strahlend auf mich zugelaufen kam und mir um den Hals fiel. „Du bist die Beste“, flüsterte sie mir ins Ohr und drückte mich noch fester an sich. „Nicht mehr lange, wenn du so weitermachst“, murmelte ich und war mir dabei nicht sicher, ob Shizuka meine Worte überhaupt verstanden hatte, doch fast zeitgleich entließ sie mich ihrem festen Griff und zog mich die Treppe hoch. Augenblicklich wurden Erinnerungen in mir wach. Vor einem halben Jahr waren wir schon einmal gemeinsam diese Treppe in ähnlicher Konstellation hinaufgegangen, dabei war ich jedoch diejenige gewesen, die Shizuka nach unserem Streit die Treppe hinaufgezogen und in mein Zimmer verfrachtet hatte. Oben angekommen drehte ich mich zunächst in die Richtung, in der sich der Wandschrank mit den Putzutensilien und den Gästefutons befand. Zielstrebig ging auf ihn zu und kramte ein wenig darin herum, bevor ich mit einem dünnen Kissen und einem großen Futon beladen wieder heraustrat und Shizuka das Geholte überreichte, die damit direkt in Richtung meines Zimmers spazierte. „Hey, wer hat gesagt, dass du in die Richtung gehen sollst?“ Überrascht blieb sie stehen und sah mich leicht schockiert und angsterfüllt an, bevor sie sich umwandte und nun in die andere Richtung lief, in der sich das ehemalige Zimmer meiner Schwester befand. Sie hatte nicht gemerkt, dass ich sie hatte ärgern wollen und dachte ernsthaft, dass ich sie zu Kazuhiko „sperren“ wollte. Grinsend lief ich hinter ihr her und nahm sie so gut es eben ging in den Arm, da sie immer noch Futon und Kissen in ihren Armen hielt. „Shizuka, das war ein Scherz…“, meinte ich leise und führte sie dann in mein Zimmer, wo sie das Futon unachtsam auf den Boden fallen ließ und sich dann direkt auf das Bündel aus Stoff setzte, immer noch vollkommen schockiert von dem, was ich ihr eben gesagt hatte. „Du dachtest doch nicht wirklich, dass ich dich zu Kazu schicken würde, oder?“, fragte ich sie besorgt und setzt mich neben sie auf den Boden. Sie blickte mich überrascht an, als ob so eine Frage völlig sinnlos sei und sah schließlich wieder zu ihren Füßen. “Ehrlich gesagt doch…“ „Und weshalb?“ Seufzend legte ich einen Arm um sie und zog ihren steifen Körper an meinen. Shizuka blieb mir die Antwort schuldig, denn just in diesem Moment klopfte es an der schon geöffneten Türe und Kazuhiko beobachtete die Szenerie zu seinen Füßen neugierig. „Ihren Koffer kannst du ruhig hier abstellen“, antwortete ich ruhig auf seine unausgesprochene Frage und strich langsam mit meinem Arm über Shizukas Rücken. Kazuhiko verschwand, um kurz darauf mit Shizukas Koffer wiederzukommen und ihn in einer Ecke des Zimmers abzustellen bevor er sich dem Mädchen neben mir zuwandte. „Ist was passiert?“, fragte er ruhig und sah Shizuka besorgt an, die seinen Blick jedoch nicht erwiderte, sondern weiterhin ihre Füße anstarrte. „Gefällt dir was an deinen Füßen nicht?“, fragte ich leicht gereizt und blickte dann zu Kazuhiko. „Nein, es ist nichts passiert, Zu-chan versteht nur seit heute keinen Spaß mehr, wenn es darum geht, dass man mir nicht alles glauben sollte, was ich sage.“ Kazuhiko nickte nur und verschwand dann in „sein“ Zimmer, wahrscheinlich um seine Sachen auszupacken. „Zu-chan?“ Zögerlich blickte mich das Mädchen neben mir an und ich sah genau, wie verletzt sie war. „Hey, was ist denn los? Du bist doch sonst nicht direkt eingeschnappt, wenn ich dich was auf’s Korn nehme?“ Doch auch dieses Mal blieb mir Shizuka die Antwort schuldig, da sie einfach nur schwieg. Kapitel 11: Erinnerung ---------------------- 11. Kapitel: Erinnerung Einige Stunden später lag Shizuka ruhig atmend neben meinem Bett in ihren Futon eingewickelt und schlief. Einige Minuten nach meiner letzten Frage war sie einfach aufgestanden und hatte begonnen ihre Sachen so weit wie nötig auszupacken, bevor sie etwas von Müdigkeit erzählte und das sie nun schlafen gehen wolle. Ein Blick auf die Uhr hatte mir verraten, dass es erst achtzehn Uhr war, aber dennoch wollte ich Shizuka nicht aufhalten und ließ sie gewähren. Tatsächlich war sie eine halbe Stunde später in einen tiefen Schlaf gesunken und schnarchte leise, ein Geräusch, das ich nur selten von ihr gehört hatte. Ich hatte unterdessen Kazuhiko „eingewiesen“ und ihm erklärt, was er tun durfte und was nicht, wobei letztere Liste um einiges länger gewesen war. Im Grunde beschränkten sich seine Rechte auf Schlafen, Trinken, Essen, die normalen menschlichen Bedürfnisse und Gehorchen. Doch auch Kazuhiko hatte sich relativ früh – gegen zwanzig Uhr – in sein Zimmer zurückgezogen, da er behauptete ebenso müde zu sein wie Shizuka. Darum hatte ich beschlossen noch etwas zu lernen, bevor ich gegen zweiundzwanzig Uhr ins Bett gegangen war, was sich als komplizierter herausstellte, als ich erwartet hatte, da Shizuka sich vor meinem Bett ziemlich breit gemacht hatte. Vorsichtig stieg ich über ihre ausgestreckten und verwinkelten Beine und schlüpfte unter meine dicke, dunkelrote Bettdecke, in die ich mich sofort einkuschelte. Bevor ich das Licht ausschaltete warf ich noch einen letzten Blick auf meine schlafende Freundin und schlief dann selber relativ früh ein. Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker zur gewohnten Zeit und ließ mich unsanft aus dem Schlaf hochfahren. Meine Mutter war einige Zeit lang zu meiner Schwester gefahren und so musste ich sehen, wie ich morgens alleine aus dem Bett kam. Ein Blick neben mein Bett verriet mir, dass Shizuka schon lange aufgestanden war, denn ihr Futon lag ordentlich zusammengefaltet in einer Ecke meines Zimmers und auch ansonsten deutete nichts darauf hin, dass noch jemand in diesem Zimmer übernachtet hatte außer mir. Langsam stand ich auf und machte mich fertig, konnte es mir aber nicht nehmen lassen, vorher noch einen Blick in das Gästezimmer zu werfen, in dem Kazuhiko immer noch friedlich schlief und dabei das Kissen fest umklammert hielt, als würde er gerade von etwas anderem träumen, als ein Kissen in seinen Armen zu halten. Die knarrende Treppe hinuntersteigend hörte ich schon die Geräusche aus der Küche, die sich nach aufeinander gestapelten Geschirr und kochendem Wasser anhörten. So leise es ging schlich ich mit meinen Socken in die Küche und entdeckte Shizuka vor dem Herd, wo sie in einem kleinen Tochkopf herumrührte, in dem sie scheinbar Reis kochte. Immer noch langsam und bedächtig ging ich auf sie zu und tappte dabei auf meinen Zehenspitzen in ihre Richtung, bevor ich direkt hinter ihr stand. Mit einem Ruck packte ich ihre beiden Schultern und drückte mit ein wenig Kraft zu. „Buh“, flüsterte ich ihr dabei ins Ohr und genoss es sichtlich, wie sie vollkommen in sich zusammensackte und ihr Herz für einen Moment auszusetzen schien, da ich es wieder einmal geschafft hatte, sie zu erschrecken. Sie drehte sich mit einem Mal um und sah mich wütend und beleidigt zugleich an, während es in ihren Augen funkelte. Ich hingegen grinste nur vor mich hin, während sie mir erneut damit drohte, dass ich es noch einmal bereuen würde, wenn ich sie auch nur einmal noch so sehr erschrecken würde. Lächelnd legte ich einen Finger auf ihre Lippen und gebot ihr damit, leise zu sein. „Zu-chan, du weißt doch ganz genau, dass deine ‚leeren’ Drohungen bei mir nicht wirken, oder? Außerdem musst du mir diesen Spaß doch gönnen, wenn ich dich nur noch so selten zu Gesicht kriege, oder?“ Ein Grinsen breitete sich auf meinem gesamten Gesicht aus und schließlich seufzte Shizuka resignierend und drehte sich wieder zum Herd herum, ohne mich eines weiteren Blickes oder Wortes zu würdigen. Na bravo! Da war der Herd scheinbar sehr viel interessanter als ich. Beleidigt die Luft ausstoßend verschränkte ich die Arme vor der Brust und wollte die Küche verlassen, bemerkte dann aber, dass Shizuka wieder völlig konzentriert den Herd und ihren Kochtopf anstarrte, in dem weiter das Wasser und der Reis brodelten. „Soll ich mich jetzt gegen einen Kochtopf behaupten, oder was?“ Mir war nicht bewusst gewesen, diese Worte laut ausgesprochen zu haben, bis Shizuka sich wieder mir zuwandte und versuchte mich versöhnlich in den Arm zu schließen. Immer noch gespielt beleidigt ließ ich es geschehen und lehnte mich schließlich gegen sie. Dabei vernahm ich zwar ihre Stimme an meinem Ohr, war mir aber nicht sicher, ob ich ihre Worte richtig verstanden hatte. „Der Topf hätte eh keine Chance gegen dich.“ Lächelnd löste sie sich wieder von mir und rührte wieder in dem Blasen werfendem Wasser herum, während ich mich resignierend an den Küchentisch setzte und ihr zusah. Eine Woche musste ich noch zur Schule gehen, dann endlich hätte ich Ferien und könnte die Zeit mit ihr vollends genießen – wäre da nicht… Ich schaffte es nicht den Gedanken zu Ende zu führen, da im selben Moment ein lauter Knall und ein lautes Aufschreien uns die Treppe hoch stürmen ließ. Durch die halb geöffnete Zimmertüre konnten wir Kazuhiko erkennen, der, sich den Hinterkopf reibend, auf dem Boden saß und immer noch schmerzerfüllt stöhnte. Ja, wäre da nicht Kazuhiko gewesen, der einem tierisch die Laune verderben konnte. Doch in diesem Moment konnte ich nicht anders als laut loszulachen. „Na, Kazu-kun? Angenehme Träume gehabt?“, fragte Shizuka ihn grinsend und ich fügte noch hinzu: „Scheinbar so angenehm, dass er den Boden mit dem Bett verwechselt hat, nicht?“ Nachdem wir uns also sicher waren, dass dem guten Kazu-kun nichts passiert war, gingen wir wieder nach unten, wo ich schnell etwas Reis in mich stopfte und dann meine Jacke und Schultasche packte, um endlich den Weg zur Schule anzutreten. Was ein Glück, dass meine Mutter schon vor einer Woche zu meiner Schwester gefahren war und nicht mitbekam, dass ich die beiden ganz allein in „ihrem“ Haus ließ. Gerade als ich die Türe öffnete kamen Ôhei und Masaki um die Ecke gebogen. „Das wir das noch erleben dürfen“, spottete der junge Mann lächelnd und drehte sich sofort wieder in Richtung Schule um. „Ha, ha, ha“, antwortete ich sarkastisch und beschleunigte ein wenig, um ihn beleidigt dreinschauend, zu überholen. „Aber ernsthaft, was hat die junge Dame dazu bewogen, heute ausnahmsweise mal früh aufzustehen?“, fragte mich die blonde Japanerin, nachdem sie sich von ihrem „kleinen“ Lachanfall erholt hatte. Ich grinste nur und ging weiter meines Weges vor den beiden. „Sagen wir, ich musste heute mein Frühstück nicht alleine machen…“ Als ich mich umdrehte blickte ich nur in zwei ratlose Gesichter. „Du… hast einen Freund?“, fragte Ôhei entsetzt und blickte mich mit Glubschaugen an. Seufzend schloss ich die Augen. Woran auch sonst hätte sie denken sollen? „Nein, habe ich nicht und NEIN ich hatte keinen dieser komischen One-Night-Dinger.“ „Na und was dann? Ich mein, Shizuka wird ja wohl kaum…“ Leise pfeifend drehte ich mich wieder um und wollte meinen Weg fortsetzen, als ich an der Schulter gepackt und wieder herumgedreht wurde. „Und wieso sagst du uns das nicht?“ Empört blickten die beiden mich an. „Hätte ich ja, aber da war einfach keine Gelegenheit zu… Außerdem musste ich erstmal irgendwie damit klarkommen, dass sie nicht allein gekommen ist – leider.“ Fragende Blicke brachten mich schließlich dazu, ihnen zu erklären, dass Shizuka mit ihrem Cousin gekommen war, der nun im Gästezimmer übernachten musste, während Shizuka bei mir schlief und mir gestern Abend erklärt hatte, warum sie schon so früh aus Kioto angekommen waren. „Also, habe ich das richtig verstanden? Die Klasse von Shizuka und Kazuhiko hat eine Studienreise gemacht, die allerdings in die Ferien gehen würde und zudem nach Hokkaido geht, wo sich beide schon sehr gut auskennen, weswegen ihnen erlaubt wurde, stattdessen nach Tokio zu fahren, um dort ihre Studienreise zu absolvieren?“ Fragend blickte Ôhei mich an, wahrscheinlich genauso, wie ich Shizuka angeguckt hatte, als sie mir diese Geschichte erzählt hatte. „Ja, so hat sie es mir zumindest erzählt… Ob das jetzt stimmt oder nicht, darüber lässt sich streiten…“ Mittlerweile waren wir an der Schule angekommen und ließen uns in unseren normalen Alltagstrott fallen, aber irgendwie waren alle meine Gedanken nur auf das gerichtete, was nach dem letzten Gong der Schulglocke kommen würde. Als es nach Ewigkeiten endlich so weit war, packte ich hastig meine Sachen in meine Tasche und lief so schnell es ging die Treppen des Gebäudes hinunter, damit erst gar nicht jemand den Versuch unternehmen konnte, mich anzuquatschen. Ôhei und Masaki bildeten da keine Ausnahme, da diese beiden so langsam gehen würden, dass ich wahrscheinlich erst Stunden später zu Hause sein konnte. Fröhlich öffnete ich die Türe und ein wohliger Geruch von kochendem Reis und bratendem Fisch stieg mir in die Nase. „Bin wieder da!“, rief ich ausgelassen und stürzte in die Küche. „Shizuka, du musst wirklich nicht…“ Gerade als ich um die Ecke bog erkannte ich, dass nicht Shizuka vor dem Herd stand und das Essen zubereitete, nein, natürlich stand Kazuhiko dort. Schweigend drehte ich mich wieder um und legte meine Tasche und meine Jacke im Eingangsbereich ab, was ich voller Eifer im ersten Anlauf vergessen hatte. Erst dann begab ich mich zurück in die Küche und drängelte mich an Kazuhiko vorbei zum Kühlschrank. „Sag mal, eure ‚Studienreise’“, spöttelte ich immer noch zum Kühlschrank gewandt, „was für einen Zweck soll die eigentlich erfüllen, also, was habt ihr zu tun?“ Mit einer Dose Zitroneneistee in der Hand wandte ich mich an Kazuhiko und schloss dabei die Türe des Kühlschranks, indem ich mich gegen selbigen lehnte. „Warum fragst du nicht Shizuka?“, antwortete er ebenso desinteressiert, wie ich ihn gefragt hatte und konzentrierte sich weiter auf seine Kochtätigkeiten. „Ich hab aber dich gefragt.“ Langsam stieß ich mich vom kalten Kühlschrank ab und ging abermals an Kazuhiko vorbei, dabei die Dose öffnend, die einen zischenden Ton von sich gab, als der Druck in der Dose nachließ. „Oder gibt es vielleicht gar keine Studienreise nach Hokkaido und ihr beide schwänzt einfach die Schule? Oder was auch immer ihr sonst für eine Ausrede habt…“ Erschrocken drehte sich der junge Mann am Kochgerät zu mir um und starrte mich an. „Wie… kommst du denn bloß auf so was?“ Verlegen kratzte Kazuhiko sich am Hinterkopf und lächelte verlegen. „Genau deswegen. Weil ich einfach nicht glaube, dass eine Schule so was erlaubt. Und nun raus mit der Sprache!“ Doch alles Drängen nützte nichts, da Kazuhiko immer wieder dasselbe Argument einfiel: „Frag Shizuka.“ Aber genau das wollte ich nicht tun, da ich das Gefühl hatte, von ihr etwas Ähnliches zu hören zu kriegen: „Frag Kazu-kun.“ Außerdem war da noch eine gewisse Abneigung, da in mir irgendwo der Zweifel steckte, ob sie mir wirklich die ganze Wahrheit sagen würde. Kazuhiko, der vielleicht nicht einmal die ganze Wahrheit wusste, konnte mich also kaum anlügen, wenn es um die Gründe Shizukas ging. „Ich höre…“ Genervt lief ich einmal in der Küche auf und ab, dabei den Blick fest auf Kazuhiko, der immer noch in derselben Position vor dem Herd stand wie zu Beginn der Unterhaltung und nippte an meinem Eistee. „Sagen wir mal so…“, begann er schließlich zögerlich, würdigte mich aber keines Blickes, „wir haben ein wenig auf das Mitleid gehofft… Wir haben denen erzählt, dass es unserer Großmutter in Kazuoka sehr schlecht geht“ – was nur halb stimmte, da es ihr schon besser ging und sie mittlerweile nach Kioto verfrachtet worden war – „und dann haben sie eigentlich nur noch gefragt, wie lange wir bleiben wollen.“ Bei der Vorstellung, wie die beiden vor ihren Lehrern standen und angespannt versuchten eine ernste Miene zu machen, musste ich plötzlich laut loskichern und drehte mich schnell um, damit ich Kazuhiko nicht noch länger ertragen musste. Oben in meinem Zimmer entdeckte ich dann Shizuka, die vor meinem Bett auf dem Futon saß und ein Buch las, das sie noch intensiver zu lesen schien, als ich die Türe geöffnet hatte. „So… Dafür, dass es deiner Großmutter so schlecht geht bist du aber ziemlich entspannt, wenn du hier so ruhig sitzen und ein Buch lesen kannst, findest du nicht?“ Verlegen sah Shizuka nur zu mir hoch und beobachtete mich einfach nur, ohne irgendeinen Muskel ihres Gesichts zu bewegen. „Kazuhiko hat’s dir erzählt?“ „Ja. Aber zu seiner Verteidigung ist zu sagen, dass ich es aus ihm herausziehen musste. Und er mir nicht gesagt hat, WARUM du auf diese grandiose Idee gekommen bist. Das ist nämlich genau das, was mich brennend interessieren würde. Hätte diese eine Woche solch einen Unterschied gemacht?“ Natürlich hätte sie das! Warum stellte ich wieder Fragen, die einfach nur sinnlos waren? Und was für einen Unterschied diese eine Woche machte! Shizuka und ich waren eine Woche länger zusammen! Das allein war es schon wert gewesen. Doch im Hinblick darauf, dass Kazuhiko mit von der Partie war, sah ich die Woche noch in einem anderen Licht. Denn ob zwei Wochen mit Shizuka alleine oder drei Wochen mit ihr und Kazuhiko: Das machte für mich keinen Unterschied. „Hast du was dagegen einzuwenden? Dann fahre ich gerne noch mal zur…“ „Von wegen!“ Ich ergriff das Buch in Shizukas Händen und klappte es zu, bevor ich es auf den Boden legte. „Das hättest du wohl gerne, dass ich dich wieder zurückfahren lasse, was? Nein, ich will nur wissen: Warum?“ „Warum, warum, warum… Warum fragst du immer nach dem Warum? Sei doch einfach mal froh, dass es so ist wie es ist und hinterfrag nicht immer alles. Das könnte böse Überraschungen geben.“ Shizuka klang ernst und wandte sich schon wieder von mir ab. „Shizuka, wieso bekomme ich dann immer das Gefühl, ich müsste nach dem Warum fragen? Du lässt mir doch gar keine Wahl! Du stellst in letzter Zeit Sachen an, da muss ich einfach mal fragen, was das soll, weil ich sonst den Durchblick verliere! Mir scheint eher, dass du in letzter Zeit zu oft nach dem warum gefragt hast, so wie du dich anhörst! Zu-chan, was ist los?“ Versöhnlich wendete ich meinen ganz speziellen Kosenamen an – trotz der Tatsache, dass Kazuhiko ihn auch benutzte – und sah ihr lange in die Augen, die immer noch irgendetwas anderes im Zimmer fixierten, nur nicht meine Augen. Da ich keinen neuen Streit anfangen wollte, wie es in den letzten Monaten schon so oft passiert war, kam es mir nur gelegen, dass Kazuhiko in dem Moment von unten herauf rief, dass das Essen fertig sei. Es wurde eine sehr ruhiges Essen, denn keiner von uns dreien sprach auch nur ein Wort. Eine Stunde später klingelte es an der Türe und Kazuhiko und Shizuka wurden von Ôhei und Masaki begrüßt, was für mich erneut Zurückstecken bedeutete, sodass ich beschloss, die vier im Wohnzimmer allein zu lassen und etwas frische Luft zu schnappen, nur um mich zu beruhigen und darüber nachzudenken, was Shizuka gesagt hatte. Hatte sie wirklich Recht gehabt mit ihrer Aussagen, dass ich immer nach dem Warum fragte, wie ein kleines Kind, dass sich dann nicht mit der Antwort ‚Darum’ zufrieden gab? War ich denn im Prinzip nicht noch ein kleines Kind? Als ich eine Stunde später wiederkam, fand ich weder in der Küche, noch im Wohn- oder Esszimmer jemanden, sodass ich direkt nach oben ging. Aus dem Zimmer meiner Schwester hörte ich schließlich schallendes Gelächter, sodass ich vorsichtig die Türe zu diesem Raum öffnete und Ôhei, Masaki, Kazuhiko und Shizuka vor Kazuhikos Laptop fand, mit dem er ihnen wohl irgendetwas Interessantes und vor allem Lustiges zeigte. Später fand ich heraus, dass er ihnen dort die Bilder aus Kioto zeigte. Ich hingegen schloss mich der Truppe nicht an, sondern ging in mein Zimmer und erledigte die letzten Hausaufgaben, bevor ich mich an den Computer setzte und dort selbst noch einmal die Bilder ansah, die Shizuka mir gegeben hatte. Jemand legte mir seine Hände auf die Schultern und flüsterte mir etwas ins Ohr, woraufhin ich vorsichtig die Augen öffnete und gerade noch bemerkte, wie jemand den Bildschirm vor mir ausschaltete. Langsam regte ich mich und mir wurde nun bewusst, dass ich auf dem Schreibtisch eingeschlafen sein musste, während ich mir die Bilder angesehen hatte. Indes war die Person hinter mir stehen geblieben und ich konnte ihren Blick in meinem Nacken spüren. „Shizuka?“, flüsterte ich leise und drehte meinen Oberkörper nach hinten, konnte allerdings nur schemenhaft jemanden in meinem Zimmer ausmachen. „Hm“, kam als Antwort zurück, doch auch daran erkannte ich genau, dass es Shizuka war. „Wie spät ist es?“ Müde fuhr ich mir mit der Hand über das Gesicht und blickte wieder in Richtung Shizuka, wobei ich mich von meinem Platz erhob und verzweifelt den Schalter meiner Schreibtischlampe suchte. Fast zeitgleich betätigte Shizuka den Lichtschalter für das große Licht, sodass ich erschrocken von dem blendenden Licht sofort wieder die Augen schloss. „Kurz nach zwölf, warum?“ So spät war es schon? Dann musste ich ja schon seit Stunden geschlafen haben. „Darum“, antwortete ich nur und zog meine Klamotten aus, um in meinen Pyjama schlüpfen zu können. Shizukas Blick folgte dabei jeder meiner Bewegungen, bis sie mir schließlich den Rücken zukehrte. „Hast du noch was vor?“, fragte ich neugierig und unterbrach meine Anziehtätigkeiten mit einem Mal. „Nö, aber meine Schlafsachen sind im Bad, also muss ich sie wohl oder übel dort holen.“ Keine fünf Minuten später fand ich mich unter meiner warmen Decke wieder und kuschelte mich in selbige, als Shizuka den Raum wieder betrat und das Licht löschte, bevor sie unter ihr Futon kroch und mir eine „Gute Nacht“ wünschte, was ich zurückgab. Der folgende Tag begann wie auch schon der vorherige damit, dass ich aufwachte und Shizuka schon unten das Frühstück machte. Auch an diesem Tag wunderten Ôhei und Masaki sich darüber, dass ich Morgenmuffel schon fertig war, als die beiden ankamen, um mich zur Schule zu begleiten. Auch die übrigen Tage der Woche verliefen ähnlich. Es war einfach nichts da, was man hätte tun können, bis auf abends auf der Couch vor dem Fernseher hocken oder stundenlang irgendwelche Konsolenspiele zu zocken. Und darüber hinaus musste ich noch zusehen, wie ich die Schule nicht vernachlässigte. „Uff…“ Stöhnend ließ ich mich in den Sessel fallen, als ich am letzten Schultag nach Hause kam und meine Schultasche in die Ecke geschmissen hatte. In der Küche stand Kazuhiko, der das Essen machte, während Shizuka scheinbar wieder oben in meinem Zimmer saß und dort meiner Meinung nach ruhig über ihrem Buch saß und dieses schon fast durchhaben musste. Kurz entschlossen erhob ich mich und trottete nach oben, dabei gerade noch vernehmend, dass das Essen in wenigen Minuten fertig sein würde. Vorsichtig öffnete ich die Türe zu meinem Zimmer und spinkste hinein, doch ich konnte keine Shizuka entdecken. Als ich jedoch das Klicken der Maustaste vernahm öffnete ich die Türe einen breiteren Spalt und glaubt fast meinen Augen nicht zu trauen, als Shizuka vor meinem PC saß und in meinen Dateien zu wühlen schien. „Shizuka?“, fragte ich leise und wartete auf eine Reaktion, die jedoch nicht so war, wie ich sie erwartet hatte. Sie fühlte sich nicht ertappt oder schämte sich dafür, dass sie einfach an meine Sachen gegangen war. Sicher, wir waren die besten Freundinnen, aber auch da gibt es seine Grenzen, was Privatsphäre angeht. Doch statt Reue entdeckte ich in ihrem Gesicht rein gar nichts. Unschuldig blickte sie mich an und lächelte während sie mich fröhlich begrüßte. Doch anstatt ihre Begrüßung zu erwidern war ich kurz davor, sie anzuschreien. Nur mit Mühe konnte ich mich beherrschen und sah sie verärgert an während ich ruhig begann zu reden: „Was soll das?“ Ihr fragender Blick verletzte mich dabei noch weit mehr als ihr Lächeln einen Moment zuvor. „Was das soll, habe ich gefragt“, wiederholte ich meine Frage, nun etwas lauter. „Ai-chan, ich versteh…“ „Komm mir ja nicht auf die Tour Shizuka! Was hast du an meinem Computer verloren? Kazu hat seinen Laptop dabei, den hättest du ebenso gut nutzen können.“ „Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen, wenn ich kurz…“ „Shizuka, es hätte mir auch nichts ausgemacht, wenn du mich gefragt hättest! Aber so macht es mir sehr wohl etwas aus!“ Eine schier endlose Zeit sahen wir beide uns nur an, Shizuka nun etwas reumütiger und ich vor Wut kochend. Kazuhiko rief von unten hoch, dass das Essen nun endgültig fertig war, was wir beide nur am Rande zu realisieren schienen. Beide antworteten wir ihm, doch weiterhin sahen wir uns an. Schließlich senkte Shizuka den Blick und murmelte etwas Unverständliches in ihren nicht vorhandenen Bart. Dann sah sie mich erneut an, nun mit festem, mir fast Angst einflössendem, Blick und ging an mir vorbei aus dem Zimmer und die Treppe runter. Das Essen verlief sehr ruhig, der einzige, der ab und zu etwas sagte war Kazuhiko, der erzählte, was er an diesem Tag so alles tolles erlebt hatte, als er auf Entdeckertour in Kazuoka gegangen war und sich dabei – leider – nicht verlaufen hatte. Shizuka und ich schwiegen uns den Rest des Tages an. Ich wusste in diesem Moment einfach nicht, wie ich auf die Situation reagieren sollte und war froh als keine Stunde nach meiner Ankunft Ôhei und Masaki vor der Türe standen. Zu fünft brachen wir gegen neunzehn Uhr auf und zogen etwas durch die Gegend, nur so aus Spaß, ohne jedes Ziel und ohne jeden Grund. Danach setzten wir uns in ein kleines Café und redeten noch über Gott und die Welt, bevor ich mit meinen beiden „Untermietern“ um Mitternacht wieder zu Hause ankam. Nach und nach verschwand jeder im Badezimmer und kam im Pyjama wieder heraus, bevor sich jeder in seinen Schlafraum begab. Ich war immer noch sauer und Shizuka merkte das sehr wahrscheinlich auch, besonders als sie schließlich allein mit mir in einem Raum „eingesperrt“ war. „Airashi, das wegen eben, also…“ Sie druckste herum und ich merkte, dass sie wusste, dass ich noch sauer auf sie war, denn sonst hätte sie mich nicht mit meinem vollen Namen angesprochen. „Ja, was ist wegen eben?“ Mir war erst bewusst, wie von oben herab das hatte klingen müssen, als Shizuka den Kopf wieder einer Wand zuwandte und den Kopf dabei leicht senkte. „Es tut mir Leid…“, flüsterte sie so leise, dass ich Mühe hatte, es zu verstehen. Mit Tränen in den Augen blickte sie mich dann an. „Ich, ich wollte das wirklich nicht! Ich dachte es wäre okay für dich, wenn ich deinen Computer schnell benutze, weil Kazu ja auch nicht da war und der hat mir oft genug zu verstehen gegeben, dass ich an seinem Laptop rein gar nichts zu suchen habe und die Sache, die ich erledigen musste war wirklich so dringend und es, es tut mir wirklich Leid…“ Zum Ende ihrer Rede hin war ihre Stimme immer leiser und erstickte geworden, denn mittendrin hatte Shizuka plötzlich begonnen zu weinen und den Kopf gen Boden gewandt, wohl in der Hoffnung, dass ich es dann nicht mehr sehen würde. Seufzend ging ich die zwei Schritte auf sie zu, die zwischen uns lagen und nahm sie in den Arm. „Zu-chan, Zu-chan… Was mache ich bloß mit dir, mh?“ Vorsichtig löste ich mich von ihr und drückte sie ein wenig von mir, meine Hände auf ihren Schultern behaltend und sah in das von Tränen verschmierte Gesicht. Sie hatte sich scheinbar wirklich nichts dabei gedacht, an meinen Computer zu gehen und wenn ich ehrlich war ging es mir auch gar nicht darum, sondern dass sie mein Vertrauen missbraucht hatte. Bedacht nahm ich eine Hand von ihren Schultern und strich ihr damit eine Träne aus dem Gesicht. „Du weißt, dass es nicht darum geht, ob es für mich okay gewesen wäre oder nicht, oder?“ Als ich keine Antwort erhielt, redete ich einfach weiter. „Shizuka, es geht darum, dass du mein Vertrauen missbraucht hast! Natürlich kannst du jederzeit an den Computer, aber ich will wissen, dass du daran gehst! Es geht nicht um Kontrolle oder weil ich dir nicht trauen würde, aber das ist meine Privatsphäre und die hast sogar du zu akzeptieren!“ Ich wartete gar nicht lange auf eine Erwiderung Shizukas, ihre Tränen schienen mir schon Antwort genug, sodass ich nicht anders konnte als sie wieder in die Arme zu schließen. Es dauerte dieses Mal sehr lange, bis sie sich schließlich von mir löste, auf ihr Futon zuging und sich unter die Bettdecke legte. Ich hingegen kletterte zu meinem Nachttisch, schaltete dort das Licht an, turnte dann zurück zum Lichtschalter für die große Lampe, um jene auszumachen, und wieder zurück zu meinem Bett. Gerade als ich unter meine Bettdecke gekrochen war und das Licht komplett löschen wollte, bemerkte ich, dass Shizukas Körper immer wieder zuckte, als würde sie still weinen. Nach kurzer Zeit jedoch erstarb jede Bewegung ihres Körpers und sie lag ganz ruhig mit dem Rücken zu mir. Leise rief ich ihren Namen und wagte es dann schließlich auch sie sachte anzustupsen, doch sie reagierte auf nichts. Kurz entschlossen packte ich daraufhin mein Kissen und meine Decke und rutschte runter zu ihr. Da ich wieder keine Reaktion erhielt, ging ich davon aus, dass sie eingeschlafen war und nahm sie vorsichtig in die Arme, damit sie nicht aufwachte. An sie gekuschelt schlief auch ich kurze Zeit später ein und wachte erst wieder am nächsten Morgen auf. Wie auch die schon in den letzten Tagen, so vernahm ich auch heute, dass sich jemand unten in der Küche befand. Da niemand mehr in meinen Armen lag, ging ich stark davon aus, dass es sich bei diesem Jemand um Shizuka handeln musste. So entschloss ich mich dazu auch aufzustehen, zog mich an, wusch mich und ging langsam die Treppe hinunter. Unten angekommen wendete ich mich direkt in Richtung Küche. Shizuka saß mit dem Rücken zu mir auf einem Stuhl und blätterte in einer Zeitschrift. Vor ihr stand ein halbvolles Glas mit Wasser. Um sie nicht wieder zu erschrecken ging ich ganz normal auf sie zu und umarmte sie von hinten, während ich den Kopf auf ihre Schulter legte und die Zeitschrift betrachtete, die vor ihr auf dem Tisch lag. „Guten Morgen“, gähnte ich und löste mich langsam von ihr, um gegenüber meinen Platz am Tisch einzunehmen und sie eindringlich anzuschauen. „Zu-chan?“ Keinerlei Reaktion kam von ihrer Seite, sodass ich seufzend aufstand und mich neben ihren Stuhl hockte. „Hey, es tut mir Leid, wie ich gestern reagiert habe, wirklich.“ Immer noch reagierte sie nicht und ich legte eine Hand auf ihre Schultern, um so eine Reaktion zu erreichen, was mir jedoch kläglich misslang. „Mann, was soll ich denn noch machen, außer mich auf Knien vor dir zu entschuldigen?“ Wütend von ihrem Nichtstun stand ich auf und drehte mich beleidigt um. Als ich jedoch die Treppe laut hinaufgestapft war und die Türe meines Zimmers hinter mir geräuschvoll geschlossen hatte, überkam mich tiefste Verzweiflung, weil wieder einmal alles schief lief und ich einmal mehr nach dem Warum fragen wollte. War ich denn nicht im Recht gewesen? Wofür hatte ich mich denn entschuldigt? Meiner Meinung nach hätte ich mich gar nicht entschuldigen müssen, so wie die Dinge gelesen hatten. Aber nein, Madame meint dann noch einen auf armes Mädchen machen zu müssen, dass total ungerecht behandelt wurde und andere es deswegen auch nicht wert waren, dass man deren Entschuldigungen annahm. Ich bekam das Gefühl, dass seit Beginn des Sommer unsere Freundschaft auf einen riesigen Wasserfall zuraste, und wenn sie diesen hinunterfallen würde, wäre sie am Ende total zersplittert und zersprengt worden durch den harten Aufprall auf das Wasser. Zwar gab es ab und zu einzelne Felsen und Gräser des Ufers, an die sich die Freundschaft klammern konnte, doch immer wieder ließ ihre Kraft nach und immer wieder rissen die Halme, die eine Rettung hätten darstellen können. Dazu kamen noch die verletzenden Baumstämme, die die Freundschaft noch mehr schwächten, sodass sie nun fast unaufhaltsam auf den Wasserfall zuraste. Tief in dieses Bild versunken sah ich mich in einem reißenden Fluss auf einen Wasserfall zurasen, während Shizuka und Kazuhiko am sichern Ufer standen und mich nur mitleidig ansahen. Immer näher kam ich dem Abgrund, bis ich schließlich keinen Meter mehr davon entfernt war… „Ai-chan?“ Mit einem Mal saß ich aufrecht auf meinem Bett und wäre beinahe mit Shizuka zusammengestoßen, die auf der Bettkante saß und mich verwirrt und ängstlich zugleich anschaute. Erst jetzt fühlte ich ihre Hand, die meine fest umklammert hielt und bemerkte dabei auch, dass ich meine Hand in das Laken gekrallt hatte. Als Shizuka meinen Blick bemerkte, der zu meiner Hand geglitten war, zog sie augenblicklich ihre eigene Hand zurück und wendete mir nur ihren Rücken zu. „Du hast eben laut geschrieen, deswegen wollte ich nachsehen, ob alles in Ordnung ist… Du hast dich die ganze Zeit nur im Bett umhergewälzt. Hattest du einen schlimmen Traum?“ Nicht halb so schlimm wie der Albtraum in dem ich mich nun gefangen fühlte. Die Distanz zwischen Shizuka und mir schien mit jeder Sekunde zu wachsen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon Mittag war, so beschloss ich, endgültig aufzustehen und etwas zu essen. Um drei Uhr würde ich ohnehin erstmal mit Ôhei und Masaki ins Kino gehen. Zwar würden Shizuka und Kazuhiko mit dabei sein, dennoch war mein einziger Gedanken nur, die Distanz, die Shizuka zu mir hielt auf für mich zu beanspruchen. Es war schon später Abend, als wir fünf wieder einmal bei mir ankamen. Das verliebte Pärchen hatte beschlossen, dass der Abend noch viel zu jung war, als das man sich schon verabschieden sollte und so saßen wir noch bis nach Mitternacht alle zusammen im Wohnzimmer und plauderten über Gott und die Welt. Da niemand etwas dagegen einzuwenden hatte, wollten Ôhei und Masaki die Nacht auch im Hause Gaho verbringen. Während ich also mit den beiden nach oben ging, um auch für sie Futons rauszusuchen, nutzten beide die „Gunst der Stunde“ um mich zu fragen, was los sei. „Was soll schon sein?“, fragte ich desinteressiert weiter im Schrank wühlend. „Wie was soll schon sein? Was ist zwischen dir und Shizuka vorgefallen, dass ihr euch den ganzen Tag nicht angeguckt habt, geschweige denn miteinander gesprochen?“ Immer noch wühlte ich in den tiefen der Regalen, da ich dort einen weiteren Futon vermutete. „Ôhei, ich weiß nicht was du meinst. Heute Morgen haben Shizuka und ich uns angeguckt und auch miteinander gesprochen.“ Von einer wütenden blonden Japanerin an der Schulter gepackt wurde ich herumgewirbelt und mit dem Gesicht zu ihr zum Stehen gebracht. „Heute morgen, ja? Und was ist mit dem Rest des Tages?“ „Frag sie, ich habe mir jedenfalls nichts vorzuwerfen! Ich habe mich schließlich heute Morgen dafür entschuldigt, dass ich sie ausgeschimpft habe, weil sie an meinem Computer war! Du musst schon sie fragen, wenn du wissen willst, warum sie daraufhin kein Wort mehr mit mir geredet hat! Und jetzt lass mich einfach mit dem Thema in Ruhe, ja? Langsam kotzt es mich nämlich wirklich an, dass alle meinen mehr zu wissen als ich! Zumindest scheinen sie das alle zu glauben!“ Wütend schnaufend drehte ich mich um und fand endlich den zweiten Futon, den ich Masaki, zusätzlich zum ersten, in die Hand drückte und ihn damit in Richtung Schlafzimmer meiner Mutter schickte. Ôhei, die scheinbar keine Argumente mehr hatte, die sie mir an den Kopf werfen konnte, folgte ihm etwas eingeschnappt. Als sie die Schlafzimmertüre hinter ihnen geschlossen hatte drehte ich mich um und ging in mein Zimmer, wo Shizuka schon bettfertig auf ihrem Futon lag und mich überrascht ansah, als ich das Zimmer betrat. Ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, schnappte ich mir meinen Pyjama und ging damit ins Badezimmer. Bettfertig begab ich mich dann wieder in mein Zimmer, kletterte über Shizukas Futon und kuschelte mich unter meine Decke, Shizuka den Rücken zuwendend. Natürlich hatte Ôhei Recht, wenn sie sagte, dass etwas zwischen uns beiden nicht stimmte. Nur wie konnte ich der jungen Japanerin erklären, was ich selber nicht verstand? Shizuka löschte das Licht und ich versuchte so schnell es ging einzuschlafen. Ich war gerade ein wenig weggedöst, als ich hörte, wie Shizuka sich neben mir bewegte und sich jemand auf mein Bett setzt. Da ich niemand anderen im Zimmer wusste, musste es Shizuka sein, die sich da auf mein Bett gesetzt hatte. „Ai-chan?“ Ich spürte, wie sie mir eine Hand auf den Arm legte und sich leicht abstützte, wohl um zu sehen, ob ich schon schlief. Ich antwortete ihr genervt, ohne mich auch nur ein Stück zu drehen:„Was ist?“ Ich merkte sie sie zögerte und schließlich ihre Hand zurückzog. Sie nahm dieselbe Pose ein, die sie schon am Mittag eingenommen hatte. „Nichts“, antwortete sie schließlich und bemerkte dabei nicht einmal, wie wütend sie mich damit wieder machte. „Dann weck mich nicht“, grummelte ich in mein Kissen und drehte mich noch ein Stück von ihr weg, mich dabei noch mehr in meine Decke kuschelnd. „Tut mir Leid“, flüsterte sie leise und ich begann mich zu fragen, ob diese Entschuldigung nur auf das hier und jetzt oder auch auf andere Dinge bezogen war. Ich reagierte nicht weiter darauf und versucht wieder einzuschlafen. Es dauerte nicht lange und ich merkte, wie Shizuka sich hinlegte, direkt neben mich und sich an mich kuschelte, wie ein kleines Kind, das sich an seinen Lieblingsteddy drückt. Überrascht riss ich die Augen weit auf und wagte nicht mich zu rühren, auch nicht als ich bemerkte wie Shizuka erneut weinte. Irgendwann musste ich dann doch eingeschlafen sein und wachte am nächsten Morgen mit Shizuka im Rücken wissend auf. Langsam drehte ich mich um, um sie nicht zu wecken, falls sie noch schlief, was auch der Fall war. Die Spuren der Tränen der gestrigen Nacht waren noch deutlich sichtbar auf ihrem Gesicht zu sehen, trotzdem schlief sie friedlich. Vorsichtig strich ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, die durch die getrockneten Tränen an ihrer Wange festgeklebt war. Ihre Züge verkrampften sich kurz, als die Haarsträhne sich von ihrer Haut löste, entspannten sich gleich darauf aber wieder. „Wie ein kleiner Engel, der kein Wässerchen trüben kann“, seufzte ich vor mich hin und war mir nicht bewusst, dass ich die Worte laut ausgesprochen hatte. Eine ganze Weile lag ich nur da und beobachtete sie, während sie schlief, ohne, dass sie etwas geahnt hätte. Als sie endlich wach wurde, sah sie mich nur verschlafen an und wendete ihren Blick dann sofort erschrocken weg von meinem Gesicht. „Morgen.“ Erstarrt lag sie vor mir, als ich erneut mit der Hand über die Wange fuhr. „Ich… ich…“, begann sie zu stottern und versuchte hastig aufzustehen, was ich jedoch nicht zuließ. Stattdessen zog ich sie zurück in nahm sie in den Arm. „Pscht. Schon gut, es ist alles in Ordnung, ja?“, flüsterte ich ihr ins Ohr und streichelte ihr dabei über ihr dichtes, schwarzes Haar, das zerzaust auf ihrem Kopf lag. „Alles?“, fragte sie ungläubig. „Alles“, antwortete ich nur und hielt sie noch ein wenig fester an mich gedrückt. Etwa eine Stunde später standen wir auf. Shizuka war die Erste, die fertig gewesen war, weshalb sie wie bisher jeden Morgen nach unten ging und das Frühstück machen wollte. Wenige Minuten später war ich ebenfalls fertig und lief die Treppe runter, mir gerade noch eine Strickjacke anziehend, als ich Kazuhiko vor der Küche stehen sah. „Na pi-pingutomu?“ Ertappt drehte er sich erschrocken um und sah mich schließlich wütend an. „Dir auch einen guten Morgen Ai-chan.“ Auch ich blieb kurz stehen und sah Shizuka zu, wie sie herumwerkelte. Als ich einen Seufzer von der Seite hörte blickte ich ihn fragend an. „Wie ein kleines fleißiges Engelchen, nicht?“, grinste ich nur und betrat die Küche, gerade noch seine Worte hörend, die er nur flüsterte: “Nur die Frage, wessen…“ Eine fröhliche Shizuka kam uns strahlend mit einem Lächeln auf dem Gesicht entgegen und stellte für jeden von uns einen gefüllten Teller auf den Tisch. Was genau auf den Tellern lag vermochte ich in jenem Moment nicht zu identifizieren, vielmehr wiederholte ich Kazuhiko Satz noch einmal im Kopf; später erfuhr ich, dass es sich um Reis mit Rührei gehandelt hatte. Wir ließen uns das Essen schmecken, wenn ich auch das Gefühl nicht los bekam, die ganze Zeit eingehend von Kazuhiko beobachtet zu werden. „Hab ich was auf der Nase?“, fragte ich ihn schließlich etwas säuerlich, doch anstatt mir eine klare Antwort zu geben nickte er mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer und stand auf. Neugierig stand ich auch auf und begab mich ins Wohnzimmer, wo Kazuhiko schon auf einer Couch saß und mich erwartungsvoll anblickte. „Sag mal, zwischen dir und Shizuka, was ist da?“ Überrascht und verwirrt blickte ich ihn an und verstand in diesem Augenblick überhaupt nicht, was er nun von mir hören wollte. „Wie, was läuft da? Sieht doch so aus, als sei soweit wieder alles in Ordnung, oder nicht?“ Die Arme vor der Brust verschränkend setzte ich mich schließlich mit übereinander geschlagenen Beinen ihm gegenüber in den Sessel und lehnte mich zurück, ihn die ganze Zeit fixierend. „Oder was meinst du?“ „Die CD“, was alles was er sagte. Einen Moment lang überlegte ich, was er damit meinte und schließlich fiel mir nur eine CD ein, die er meinen könnte: die, die Shizuka mir bei unserem Abschied in Kioto gegeben hatte. „Die mit den Fotos?“, fragte ich ungeduldig und begann mit einen Fuß auf und ab zu wippen. Er nickte nur zur Bestätigung. „Was sollte damit denn sein? Ich hab mir die Fotos angeguckt. Oder hab ich irgendwelche Nacktfotos übersehen, mit denen du mir meine Nachmittage versüßen wolltest?“ Fordernd setzte ich mich auf und stützte mich mit den Ellenbogen auf meine nun nebeneinander liegenden Oberschenkel. Kazuhiko hingegen setzte eine für mich unverständliche Miene auf. Anstatt über meinen Witz zu lachen, sah er mich einerseits lachend, andererseits aber auch sehr nachdenklich an. „Das nicht gerade, ab…“ „Es war noch etwas auf der CD außer den Fotos?“ Mittlerweile wurde ich ziemlich ungeduldig und unruhig, da mich verwirrte, dass sich gerade Kazuhiko darum bemühen zu schien, dass ich erfuhr, was sich auf der CD befand. Schließlich blickte er mich sehr ernst an und auch er beugte sich nach vorne, wo er sich mit den Ellenbogen auf seinen Beinen abstützte. „Weißt du, ich will nur nicht, dass sie von etwas falschem ausgeht…“ „Kazu, red’ Klartext, ansonsten gibt’s Ärger! Von was soll wer ausgehen und überhaupt, was war jetzt so wichtiges auf der CD, dass du es für nötig befindest mit mir zu reden?“ Doch anstatt mir zu antworten stand er nur auf und schlug vor, dass wir uns die CD in meinem Zimmer mal anschauen sollten. Wenige Minuten später saßen wir beide vor meinem Computer und sahen uns die Daten an. „Was ist denn mit der da?“, fragte er schließlich und deutete auf die Datei, die sich nicht hatte öffnen lassen. Einmal mehr versuchte ich sie zu öffnen, aber wieder streikte mein PC und wollte die Datei nicht öffnen. „Die ging nicht…“ antwortete ich nur und sah Kazuhiko erwartungsvoll an. Doch wie schon zuvor stand er ohne ein Wort auf und ließ mich allein vor dem Computer sitzen. Was konnte so wichtig an dieser kleinen Datei sein, dass Kazuhiko so einen Wind darum machte? Nur wenige Augenblicke später erschien Kazuhiko wieder im Zimmer, mit einer CD in der Hand, die er nun in mein Laufwerk einlegte. „Wovon geht Shizuka aus?“, fragte ich ihn nun direkt, während mein PC die Daten lud. „Sie geht davon aus, dass du diese Datei kennst“, war die knappe Antwort, die mich nur noch mehr zum Nachdenken brachte. „Kazu, was ist das für eine Datei?“ „Eine ziemlich wichtige würde ich behaupten, aber Madame schaffte es ja nicht, dir die richtige CD zu geben. Und nun geht sie davon aus, dass alles in Ordnung ist, aber ich bin mir da nicht so sicher, da du die Datei nicht kennst.“ Schließlich öffnete ich die Datei und Kazuhiko ließ mich allein im Zimmer sitzen. Die Nachricht, die ich da vor mir sah hätte eindeutiger nicht sein können und erklärte mir klar und deutlich, warum alles so gekommen war, wie es gekommen war. Mit jedem Wort musste ich entsetzter ausgesehen haben, als ich jede Zeile des Textes, der dem Bild angehangen war, las. Schließlich warf ich einen letzten Blick auf das Bild und schaltete dann den Computer aus. „Und gestern hast du ihr noch gesagt, dass alles in Ordnung sei…“ flüsterte eine kleine Stimme in meinem Kopf. „Zumindest ist mir jetzt klar, warum du in letzter Zeit so panische Angst hattest“, murmelte ich, als ich den Bildschirm nach Herunterfahren des Computers ausschaltete. Kapitel 12: Geheimnis --------------------- Kapitel 12 Geheimnis „Seit wann wusstest du es?“ Überrascht blickte Kazuhiko zu mir hoch, als ich mich, immer noch geschockt, an den Türrahmen lehnte. „Seit wann weiß ich was?“ „Kazu, treib keine Spielchen! Du weißt ganz genau was ich meine und ich will jetzt wissen, seit wann du es weißt! Und jetzt komm mir auf keinen Fall mit ‚ich weiß gar nichts’, dann hättest du nämlich nicht so darauf bestanden, dass ich mir die CD angucke! Also, seit wann?“ Eindringlich sah ich ihn an und prompt wich er meinem Blick wieder aus. „Kazu!“ „Seitdem sie es auch weiß…“, murmelte er fast unverständlich. „Und das heißt?“ Ungeduldig trat ich in das Zimmer und schloss die Türe hinter mir. Ich drehte mich kurz um, um die Türe leise zu schließen und erstarrte sobald ich Kazuhiko ansah, denn wie schon einmal in Kioto schien er direkt in meinen Kopf gucken zu wollen. „Ungefähr seit das neue Schuljahr angefangen hat…“ In diesem Moment musste ich mich irgendwo hinsetzen. „So lange schon? Und sie hat nie auch nur ein Wort gesagt…“ Aber dafür hatte sie sich seltsam benommen und das wie mir jetzt klar wurde zu Recht. „Hey, das ist ja wohl kein Weltuntergang, oder.“ Kazuhiko hockte sich vor mich und sah mich fest aufmunternd an. „Nein, die Welt geht davon bestimmt nicht unter, wenn Shizuka mich liebt, das allerdings nicht. Allerdings könnte ich mir gut vorstellen, dass ihre kleine Welt in sich zusammenbricht, wenn sie erfährt, dass ich sie nicht liebe! Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, was das bedeutet?“ Ja, Shizuka hatte mir mit der CD klarmachen wollen, dass sie sich in mich verliebt hatte. Und ich wusste absolut nicht, wie ich damit umgehen sollte, da ich ihr keinesfalls solche Gefühle entgegenbringen konnte. Mir wurde in dem Moment klar, dass Kazuhiko sich sehr wohl darüber im Klaren war, was das bedeutete. Und endlich verstand ich auch, was er mir in Kioto hatte sagen wollen. Er tat alles für sie, obwohl er sich im Klaren darüber war, dass sie ihm nicht die gleichen Gefühle entgegenbrachte wie er ihr. „Sie weiß es nicht, oder?“ Kazuhiko schüttelte nur den Kopf. „Aber du hast ihr geraten, es mir zu sagen, oder?“ Es war nur eine flinke Idee gewesen, aber irgendwas in mir wollte das ich diese Frage stellte. Kazuhiko nickte nur. „Warum?“ „Du fragst wirklich gerne nach dem Warum, nicht?“ Kazuhiko lächelte und stand auf, blieb aber mit dem Rücken zu mir stehen. „Das hast du heute Morgen mit ‚wessen’ gemeint, oder?“ Ich blickte auf und sah wie er erneut nickte. „Willst du mich eigentlich total bloßstellen?“, begann ich vorwurfsvoll und blickte gen Boden. „Erst erzählst du mir in Kioto klipp und klar, dass du sie liebst und alles für sie tun würdest, ganz im Gegensatz zu mir, die zu so einem hohen Gefühl wie Liebe gar nicht fähig ist und dann rätst du ihr zur selben Zeit sie soll sich ein Bild von zwei sich küssenden Frauen raussuchen und darunter drei Zeilen schreiben von wegen ‚Ai-chan tut mir ja Leid, aber Freundschaft genügt mir nicht mehr?’ obwohl du genau weißt, dass ich auf gar keinen Fall derselben Meinung bin? Oder war genau das der Grund, wolltest du sie möglichst schnell für dich haben, sie trösten? Dann hast du was falsch gemacht, Kazu! Dann hättest du ihr sagen sollen, dass sie es mir noch in den Sommerferien sagen soll, dann wäre die Sache gleich erledigt gewesen! Oder hast du das vielleicht sogar, nur sie hat es nicht über sich gebracht es mir persönlich mitzuteilen? War’s so, ja? Du kotzt mich ja so an, weißt du das eigentlich?“ Aufgebracht stürmte ich aus dem Zimmer die Treppe runter und suchte meine Jacke an der Garderobe, was wohl Shizuka, die im Wohnzimmer gesessen hatte, hatte aufmerksam werden lassen, woraufhin sie in den Flur kam. „Ai-chan, alles in Ordnung?“ Besorgt sah sie mich an, während ich mir die dicke Winterjacke anzog. „Ja, ja, alles klar, ich brauche nur etwas frische Luft…“ „Soll ich…“ „Nein, ich würde lieber was alleine sein. Tut mir Leid Shizuka.“ Worauf sich der letzte Satz genau bezog war mir nicht klar. Meinte ich damit dass ich sie nicht bei mir haben wollte oder dass ich ihre Nähe im Moment einfach nicht ertrug, weil ich ihr Geheimnis erfahren hatte? Als ich die Haustüre hinter mir geschlossen hatte atmete ich die kalte Winterluft kräftig ein und begann einen kleinen Spaziergang in den nahe gelegenen Park. Nachdem ich ziellos durch ebenjenen gewandert war ließ ich mich schließlich auf einer Bank direkt vor einem kleinen zugefrorenen See fallen und zog meinen Schal noch weiter über das Gesicht, da ich bemerkte, dass ich die Tränen, bedingt auch durch die kalte Luft, nicht mehr zurückhalten konnte. Als ich auf meine Uhr schaute bemerkte ich, dass ich etwa eine Stunde lang nur so dagesessen hatte und die Tränen langsam hatte fließen lassen, ohne auch nur einen Ton von mir zu geben. Und ich hatte in dieser einen Stunde auch einen Entschluss gefasst. Langsam ging ich nach Hause und versuchte im Kopf die Wörter zurecht zulegen, die ich gleich würde sagen müssen. Müssen? Von müssen konnte doch keine Rede sein, aber mir schien es eine Pflicht zu sein, genau das zu sagen, was ich Shizuka etwa eine halbe Stunde später mitteilte. Zu Hause angekommen rief ich kurz nach Shizuka, die mir aus dem Wohnzimmer antwortete. Während ich mich meiner Winterbekleidung entledigte und jene an die Garderobe beförderte, kam sie aus jenem Raum und sah mich fragend an. „Was ist denn?“ „Wir müssen reden…“, sagte ich nur bevor ich sie am Arm packte und sie neben mich auf das Sofa zog. Eine ganze Weile lang starrte ich nur auf die gegenüberliegende Wand und ging die Worte wohl schon zum einhundertsten Male in meinem Kopf durch. Schließlich atmete ich einmal tief ein und wandte mich ihr zu. „Also gut, hör zu Shizuka. I… Ich…“ Ach scheiße verdammt! Ich druckste herum wie ein kleines Kind – und so benahm ich mich auch. Ich rutschte nervös hin und her und suchte Punkte im Raum, die ich anschauen konnte – bloß nicht Shizuka! Nervös knetete ich meine Hände und druckste immer weiter rum, bis Shizuka schließlich meine Hände ergriff und damit meinen Blick nach oben zu ihrem Gesicht lenkte. Vollkommen ruhig sah sie mich an und schien fast ein wenig zu lächeln. Einmal mehr wurde mir klar, dass ich genau jetzt darüber sprechen musste, weil sie sonst wahrscheinlich wirklich von etwas Falschem ausging – wenn sie nicht schon davon ausging. „Shizuka…“, wieder fiel mein Blick auf meine Hände, „ich kann das einfach nicht. Ich meine, das, was du von mir erwartest. Ich… Mann, du hast mir die falsche CD gegeben und Kazu hat mir eben die richtige gezeigt.“ Ich sah kurz auf und bemerkte, dass jegliche Gelassenheit aus ihrem Gesicht gewichen war, sich eher in Panik verwandelte. „Was soll das heißen?“, fragte sie mit einer kaum hörbaren Stimme, die aber unendlich nervös klang. „Das soll heißen, dass ich das erst seit heute weiß.“ Vorsichtig zogen sich ihre Hände zurück und gaben mir damit die Gelegenheit vom Sofa aufzustehen. Ohne sie weiter anzuschauen ging ich direkt zu einem der Fenster und stellte mich mit verschränkten Armen direkt vor die kalte Glasscheibe, an die ich mich schließlich mit der Stirn lehnte und für einen Moment die Augen schloss. Es vergingen einige Momente, bevor ich hörte, wie Shizuka sich wieder bewegte und sich vom Sofa erhob. Ihre Schritte hallten auf dem Holzboden wieder und es dauerte nicht lange, da hatte sie die Treppe erreicht und diese erklommen. Ein langer Seufzer war von mir zu hören, als auch ich diesen Weg antrat und sie auf dem Futon sitzend in meinem Zimmer vorfand. All meinen Mut zusammennehmend setzte ich mich neben sie und zog sie ein wenig zu mir. „Das heißt, alles in den letzten Tagen…“ „… habe ich unabhängig davon gemacht, ja“, beendete ich ihren flüsternd angefangenen Satz. Doch direkt darauf begann ich wieder herumzudrucksen: „Shizuka ich… du weißt, dass du wirklich wichtig für mich bist, aber… Es tut mir Leid, Shizuka, aber das kann ich dir einfach nicht entgegenbringen. Das geht über das hinaus, was ich kann.“ Shizuka murmelte etwas und ich meinte zu verstehen, was sie gesagt hatte. „Kazu hat damit rein gar nichts zu tun. Wäre ja noch schöner.“ Wieder eine reine Lüge, wie mir später bewusst wurde. Hatte Kazuhiko mir nicht klar und deutlich gezeigt, dass ich zu Liebe nicht fähig war? Das ich nie alles für einen Menschen tun würde, nur weil er mir so viel bedeutete? Aber in diesem Moment glaubte ich, dass Shizuka der Meinung war, ich hätte mich in Kazuhiko verliebt und könnte deswegen ihre Gefühle nicht erwidern. Schließlich stand Shizuka auf und ging zu ihren Sachen, die sie alle schleunigst in ihre Tasche packte. „Shizuka, was wird das?“, fragte ich, immer noch vor meinem Bett sitzend und sie beobachtend. „Wonach sieht es denn deiner Meinung nach aus? Ich packe, weil…“ Sie war einen langen Moment lang vollkommen ruhig und führte ihren Satz dann traurig zu Ende: „Ich kann das einfach auch nicht, Airashi. Ich kann nicht hier bleiben und einerseits so tun, als sei alles in Ordnung, wenn… wenn alles was von dir kommt für mich wie Mitleid aussieht. Das tut mir zwar weh, aber, das ist immer noch besser, als wenn ich hier bleibe und das ertragen müsste. Kazu-kun?“ Schleunigst verließ sie mein Zimmer und sagte ihrem Cousin, dass dieser packen solle, weil sie heute noch abführen. Entsetzt saß ich einfach nur da. Als Shizuka wieder ins Zimmer kam, starrte ich sie nur ungläubig an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Als ich keine Antwort erhielt stand ich auf und ging auf sie zu, doch sie gebot mir mit einer einzelnen Handbewegung stehen zu bleiben. Diese Geste sah ich als klare Antwort für meine Frage. „Ach, wird es dir mal wieder zu schwierig? Hast du mir eben eigentlich zugehört, als ich versucht habe dir etwas zu erklären? Shizuka, du bist mir wichtig! Wahrscheinlich sogar der wichtigste Mensch in meinem Leben, aber ich kann dich einfach nicht so lieben, wie du es gerne hättest!“ Shizuka hielt in ihrer Bewegung inne und ich sah Tränen in ihren Augen glitzern, die sie jedoch aus einer mir unbekannten inneren Stärke heraus zurückhalten konnte. „Wieso redest du die ganze Zeit von Können? Es geht hier nicht darum, ob du es kannst, sondern ob du es tust, Airashi. Aber dieses „Können“, das macht alles schwierig – zu schwierig für mich.“ Es hatte mir schier die Sprache verschlagen, was sie mir da an den Kopf warf und es dauerte eine Weile, bis ich meine Sprache wieder fand. „Aber genau darum geht es doch gerade. Shizuka, ich kann dich einfach nicht lieben, genauso wie ich Kazuhiko nicht lieben kann oder Ôhei oder Masaki oder sonst wen! Ich kann einfach nicht lieben, verstehst du das denn nicht?“ Verzweifelt sah ich, wie sie immer mehr Sachen in ihre Tasche packte. „Willst du jetzt wirklich gehen, nur weil ich dir nicht dieselben Gefühle entgegenbringe?“ Wieder hielt sie in ihrer Bedingung inne und starrte nur nach vorne gegen die kahle Wand unter meinem Schreibtisch. „Wie stellst du dir das denn vor? Sag mir, wie du es dir vorstellst, dass du mich nicht lieben kannst. Das du es nicht tust, ich weiß nicht, ob ich damit klargekommen wäre, vielleicht, es war ja immer eine Möglichkeit und ich bin die letzten Monate schon damit ausgekommen, aber du sagst, du kannst es nicht und damit kann ich einfach nicht umgehen. Weißt du, Kazu weiß ganz genau, dass ich dich liebe…“ In diesem Moment war es als schlüge ein Blitz in meinen Körper. Sie hatte es tatsächlich ausgesprochen. „… und das ich ihn nicht lieben werden – ja, ich weiß, was er für mich empfindet – aber weißt du, ich behaupte nicht einfach, dass ich ihn nie lieben könnte. Und dennoch hat er am Anfang etwas Abstand von mir genommen, einfach nur, um wieder runterzukommen. Und zumindest die Zeit werde ich auch brauchen, tut mir Leid. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Hoffnungen ich hatte, seit ich hier war, weil ich glaubte, dass du es weißt und dich mir gegenüber trotzdem noch so verhältst wie vorher? Ich brauche erstmal etwas Zeit um meiner Wolke oben im siebten Himmel wieder auf den Boden der Tatsachen runterzukommen. Na ja, ich muss mich wohl eher von dem harten Aufprall erholen, als die Wolke unter mir sich einfach in Regen verwandelt hat und ich den Halt verloren habe. Ach ja, das mit deinem Computer, es tut mir Leid, aber… ich wollte eben wissen, ob du dir die CD angesehen hast. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich dir die falsche gegeben habe und du keine Ahnung hast. Und warum auch immer Kazu dir die richtige CD gezeigt hat – nenn es meinetwegen Eigennutz, weil du ihn sowieso nicht leiden kannst und sofort daran denkst, dass er mich dann besitzen könnte, weil er mich trösten darf – aber sieh es doch ein. Er hat uns beiden damit einen Gefallen getan.“ Es trat eine kurze Pause ein, bevor sie unbeirrt weiter sprach: „Stell dir doch mal vor, ich wäre tatsächlich auf die Idee gekommen dich zu küssen! Da ist dieses Auseinandergehen doch wahrscheinlich eine angenehmere Sache, oder? Natürlich war es Eigennutz gewesen, was denn sonst, schließlich wusste er genau, dass ich Shizuka nicht lieben würde. Und nun hatte er freie Bahn bei ihr. „Zu-chan?“ Kazuhiko stand mit seiner Tasche vor meiner Zimmertüre und starrte uns beide perplex an. „Ist was?“, fragte ich hochtrabend und schnaubte einmal laut. Ich wäre garantiert nicht traurig, wenn dieser Idiot gar nicht hier wäre, gar nicht erst gekommen wäre, denn dann wäre Shizuka gar nicht erst auf die Idee gekommen abzuhauen. „Bin fertig.“ Shizuka schloss den Reißverschluss ihrer Reisetasche und trug diese, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, nach draußen. „Meinetwegen können wir gehen.“ Kazuhiko nickte nur und warf mir noch einmal einen perplexen Blick zu. „Dann mach’s gut Ai-chan. Sayonara“ Schließlich folgte er Shizuka und ich hörte die beiden die Treppe hinuntergehen. Ohne ein weiteres Wort schloss sich schließlich die Haustüre und es war totenstill im gesamten Haus. Nur der Wind heulte in diesem Moment um das Haus und ließ mich allein schon durch sein Geräusch frösteln. Es dauerte einige Sekunden, bevor ich wirklich realisiert hatte, was gerade geschehen war. Wie oft ich an diesem Tag tief ein und ausatmete ist mir nicht mehr bewusst, aber in diesem Moment tat ich es und fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht. Und mit einem Mal war mir klar, warum Kazuhiko mich so komisch angeguckt hatte. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich begonnen hatte zu weinen. Ich hatte es nicht bemerkt und Shizuka genauso wenig, denn sie hatte mich während des gesamten Gesprächs nicht einmal angesehen. Ich drehte mich um und ließ mich einfach auf mein Bett fallen, sodass ich quer auf der Matratze lag. Den Kopf tief in die Decke vergraben lag ich dort und versucht an nichts zu denken. Doch immer wieder wiederholte sich das Gespräch von Shizuka und mir und als ich nach einer halben Stunde schließlich aufstand bemerkte ich, dass ich wieder geweint hatte. Und darüber hinaus hatte ich einen Entschluss gefasst, den ich nun nur noch zu erfüllen hatte. Ich ging ins Bad und spritze mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht, starrte aber noch lange in den Spiegel, beide Hände auf den Rand des Waschbeckens gestützt und das Geräusch des fließenden Wassers im Ohr. Dabei sah ich meine vom Weinen verquollenen Augen und die unnatürlich rote Farbe meiner Augäpfel. Wieder kam mir mein Entschluss in den Sinn und ich stellte das Wasser ab, trocknete mein Gesicht und schaute dann noch einmal in den Spiegel. Viel besser sah mein Spiegelbild auch nach dem endgültigen Entschluss nicht aus, aber immerhin fühlte ich meine Entschlossenheit. „Der Zug fährt jeden Tag am Nachmittag und am Abend. Um vier Uhr und um halb zehn.“, murmelte ich vor mich hin und suchte auf dem Bahnhof das Gleis für den Zug nach Kioto. „Gleis drei.“ Es war schon kurz vor vier Uhr, als ich das Gleis erreichte, das von vielen Menschen besetzt wurde. Und zu allem Überfluss fuhr der Zug nach Kioto schon ein und ich hatte weder Shizuka noch Kazuhiko irgendwo entdecken können. Als der Zug schon fast stand entdeckte ich sie schließlich etwa dreißig Meter von mir entfernt und lief so schnell es mir möglich war. Shizuka stieg gerade hinter Kazuhiko ein, der ihre Tasche entgegennahm, als ich die beiden erreichte. Ohne weiter darüber nachzudenken packte ich Shizuka am Arm und zog sie an mich. „Bitte, du darfst nicht gehen Shizuka. Du darfst mich nicht alleine lassen.“ Im Hintergrund ertönte das Signal zur Abfahrt des Zuges. „Weißt du, auch wenn ich dich vielleicht nicht liebe oder lieben kann, ich hab dir doch gesagt, du bist der wichtigste Mensch für mich. Und ohne dich bin ich einfach allein…“ Die Türen schlossen sich und Shizuka versuchte sich aus meinem Griff zu befreien. „Und wenn ich die jetzt gehen lasse, dann sehe ich dich nie wieder, oder? Das weißt du so gut wie ich und deswegen, ka… will ich dich nicht gehen lassen.“ Der Zug fuhr an und war nach wenigen Sekunden verschwunden. Genau wie die Wärme Shizukas, die es schlussendlich geschafft hatte sich zu befreien, vielleicht auch, weil ich meinen Griff gelockert hatte, als der Zug losgefahren war. Fast im selben Moment klingelte ihr Handy mit dem gewohnten Klingelton – der Anfangsmelodie ihrer Lieblingsserie. „Ja Kazu, mir ist klar, dass du meinen Koffer hast. Ich komme mit dem nächsten Zug heute Abend nach, tut mir Leid. Aber du hast es ja auch nicht für nötig befunden mir zu helfen, oder? Also, bis heute Abend, nein eher bis heute Nacht dann. Und denk dir irgendwas aus, warum ich den Zug nicht genommen habe…“ Shizuka packte ihr Handy wieder in ihre Jackentasche und sah sich auf dem Bahnsteig um. Doch noch bevor sie einen Entschluss hätte fassen können, ergriff ich ihre Hand und zog sie über den Bahnsteig, jedoch nicht lange, da sie sich nach wenigen Schritten von mir losriss und stehen blieb, mich wütend musternd. Doch da war noch irgendetwas anderes in ihrem Blick, dass ich nicht zu deuten wusste. Erleichterung? Freude? „Airashi, was sollte das jetzt? Ich hab’ dir doch eben versucht zu erklären, dass es so einfach nicht funktioniert…“ „Aber… du hast was bei mir vergessen“, flüsterte ich eingeschüchtert und sah sie von unten herauf an. „Das du mir nicht nachschicken oder mit zum Bahnhof bringen konntest?“ Ich hörte ein wenig Belustigung in ihrer Stimme, die mir wehtat, was ich mir aber gleichzeitig auch nicht ansehen lassen wollte. „Auf jeden Fall hast du jetzt die Wahl. Kommst du mit zu mir bis heute Abend oder willst du hier den ganzen Nachmittag warten? Es könnte sehr kalt werden, das sage ich dir direkt!“ Shizuka schien einen Moment über meine Worte nachzudenken und ging schließlich mit verschränkten Armen voraus zum Ausgang des Bahnhofs. Den ganzen Weg über lief sie immer einige Meter vor mir her und vermied es mit mir zu reden. Als wir schließlich bei meinem Haus ankamen, erwarteten uns dort Ôhei und Masaki. „Hey, wo… Alles in Ordnung?“ Ôhei musterte zuerst mich und dann Shizuka, die mit dem Rücken zur Türe stehen blieb und mich drängend ansah. Stumm lehnte Shizuka sich gegen die weiß gestrichene Außenmauer des Hauses direkt neben der Haustüre und blickte in die entgegengesetzte Richtung von mir. „Sagen wir so: Airashi hat es mit ihrem Dickkopf wieder geschafft, alles so zu verändern, wie sie es gerne hätte. Denke mal, für sie wird dann wohl alles in Ordnung sein.“ Ängstlich kramte ich in meiner Tasche und holte meinen Haustürschlüssel heraus. „Mal was anderes Airashi, was habe ich eigentlich vergessen?“ Immer noch blickte sie mich nicht an und ich zögerte mit der Antwort. „Deinen Schlüssel, der…“ „Ich hatte keinen dabei“, flüsterte sie nur und drängelte sich an mir vorbei ins Haus, direkt auf die Treppe zulaufend. „Trotzdem werde ich noch mal nachsehen, vielleicht habe ich ja wirklich was vergessen.“ Ohne sich ihrer Jacke und Schuhe zu entledigen stürmte sie die Treppe hoch. Doch wahrscheinlich nicht, um – wie sie gesagt hatte – etwas zu suchen, sondern viel mehr um mir aus dem Weg zugehen. Ich hingegen wartete noch bis auch Ôhei und Masaki hineingegangen waren, bevor ich die Haustüre hinter mit schloss und meine Jacke und die Schuhe auszog. „Alles in Ordnung, ja?“, meinte Masaki nur arrogant und sah mich von oben herab an. „Ja, es ist alles in Ordnung! Was wollt ihr überhaupt hier?“ Wütend schmiss ich meine Schuhe in die Ecke und spielte Elefant als ich ins Wohnzimmer ging. „Ai-chan, was ist passiert?“ Ôhei war mir gefolgt und führte mich nun an den Schultern festhaltend zum Sofa, auf das ich mich im Moment gar nicht setzen wollte. Als ich die Treppenstufen knarren hörte dachte ich erst es wäre Shizuka, als ich allerdings ein Klopfen gegen eine der Türen oben vernahm, wurde mir bewusst, dass Masaki wohl nach oben gegangen war. Die junge Frau hinter mir drückte mich auf das Sofa und setzte sich neben mich, wobei sie einen Arm um mich legte und mich an sich zog. Immer noch vollkommen steif lehnte ich an ihr und entspannte mich erst ein wenig, als sie auch den anderen Arm um mich legte und mich fest umarmte. „Hey, so gestritten habt ihr euch…“ „… doch lange nicht mehr?“ Ich musste auflachen, als ich darüber nachdachte. „Ôhei, in Anbetracht der Zeit, die Shizuka und ich im letzten Jahr miteinander verbracht haben, haben wir uns nur gestritten. Und ich weiß bei der Hälfte der Zeit gar nicht mehr, wieso eigentlich!“ Vollkommen verzweifelt und die Tränen unterdrückend, die ich hochkommen fühlte, drückte ich mich an die Ältere, die mir beruhigend über den Rücken strich. „Und was war heute der Grund?“ Heute, was war schon heute? Heute war so viel passiert, dass es für ein ganzes Jahr gereicht hätte, wenn nicht sogar für zwei. Schließlich löste ich mich ein wenig von ihr, um sie ansehen zu können, während ich ihr alles erzählte. „Erinnerst du dich an die CD? Die, die sie mir in Kioto gegeben hat, mit den Fotos?“ Ôhei nickte nur zu Bestätigung. „Da war noch was anderes drauf… Shizuka, sie… sie liebt mich. Also, so richtig, halt als…“ „… Frau, ja?“ Diesmal nickte ich nur und lehnte mich danach sofort wieder an den wärmenden Körper. „Und wo liegt das Problem?“, fragte die Blondine ernst, während sie mir weiter über den Rücken strich. „Das ich sie nicht lieben kann.“ Nun war es Ôhei, die die Umarmung löste und mich nur fragend ansah. „Wieso kannst du nicht?“ Wie nur wenige Stunden zuvor stand ich auf und ging zum Fenster, an das ich mich diesmal mit der ganzen rechten Seite lehnte, wobei ich meinen rechten Arm um meinen Körper schlang und meinen linken Arm festhielt. „Weil das einfach nicht geht. Nicht weil sie ein Mädchen ist, sondern einfach nur, weil ich einfach nicht in der Lage bin jemanden zu lieben.“ Ôheis darauf folgendes Lachen ließ mich aufschrecken und verletzte mich ein wenig, es war fast wie ein Stich ins Herz, dass sie lachte, obwohl ich tief traurig und verzweifelt vor ihr stand. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ „Natürlich ist das mein Ernst! Ôhei, das geht einfach nicht, ich kann das nicht. Das hat nichts mit Shizuka zu tun, sondern einfach nur damit…“ „Das du es nicht willst. Du willst doch einfach nur niemanden lieben, weil du Angst hast, dass es schief gehen könnte, weil es bei deinen Eltern so in die Brüche gegangen ist und du bei Shizuka gesehen hast, dass Liebe unheimlich wehtun kann, wenn derjenige nicht mehr da ist.“ Ôhei war auf mich zugekommen und hatte mich an beiden Schultern gepackt und sah mich fest an. „Du hast dich doch längst schon in sie verliebt. Und versuch es gar nicht zu leugnen, das ist nämlich mittlerweile schon Masaki klar geworden.“ Überrascht sah ich sie an. Und im selben Moment kam eine Erinnerung an Kioto zurück. „Schau mich nicht so an, Ai-chan… Du würdest doch so ziemlich alles für Shizuka tun, oder nicht?“ „Weißt du, was daran verrückt ist? Das mit Masaki, das hab ich erst vor ein paar Monaten erst zu Kazu gesagt und der meinte daraufhin, ich wüsste überhaupt nicht, was Liebe eigentlich bedeutet.“ „Der hat dir also den Floh ins Ohr gesetzt, mh? Komm mal her.“ Ohne Gegenwehr ließ ich mich in ihre Arme fallen und blieb einfach nur still stehen. „Ôhei?“ „Was?“ Vorsichtig löste ich mich von ihr und sah sie irritiert an. „Woran bitte soll ich merken, dass ich sie liebe? Ich wäre schon früher für sie bis ans Ende der Welt gegangen und ich wollte sie auch schon vor etlichen Jahren bei mir haben. Wieso sollte ich sie plötzlich lieben?“ „Du willst es einem nicht leicht machen, oder? Weißt du, seit ich dich kenne, wart ihr beide unzertrennlich, wie Pech und Schwefel. Aber diese Veränderung, ich glaube, die hat etwas in die ausgelöst, etwas was schon lange da war, aber vielleicht nicht nach draußen konnte oder wollte, aus Angst vielleicht, aber vielleicht auch, weil es gar nicht nötig war. Nur als Shizuka gegangen ist, warst du tot unglücklich – und versuche es gar nicht erst zu leugnen! Ai-chan, es gibt kein Freundschaftsstoppschild, dass dir sagt, hier endet die Freundschaft und dahinter befindet sich die Liebe, das ist ein fließender Übergang! Nur du musst auch zulassen, dass du von weiß über grau ins schwarz gehen kannst, damit du erkennst, was der Unterschied ist. Und ich habe dich ehrlich gesagt noch nie glücklicher gesehen als an dem Tag, an dem du Masaki und mir gesagt hast, dass sie wieder hier sei – bei dir. Du musst außerdem zugeben, dass du von Anfang an ziemlich eifersüchtig auf Kazuhiko warst, kann sogar sein, dass er ein weiterer Grund dafür war, dass diese Gefühle an die Oberfläche gekommen sind. Konkurrenz schadet bekanntlich nie. Und ob du es glaubst oder nicht, eigentlich verdankst du es ihm, dass du dir endlich darüber klar wirst – wenn du auch ein wenig Hilfe brauchst.“ Überrascht sah ich Ôhei an. „Du wusstest es schon längst?“ „Was? Das Shizuka dich liebt, oder was auf der CD ist?“ „Nein, vielmehr, dass Kazuhiko mir geholfen hat, dass ich über Shizukas Gefühle aufgeklärt worden bin.“ Ertappt blickte die junge Japanerin mich an und schaute sich daraufhin sehr interessiert im Wohnzimmer um. Ihrem Blick folgend landete ich schließlich bei einem Bild, das für mich in den letzten Stunden total in Vergessenheit geraten war. „Er hat uns angerufen, während ihr beiden euch eben lautstark im Nebenraum gestritten habt. Er würde es genauso wenig zugeben wie du, aber ihr liebt euch wirklich abgöttisch, nicht?“ Grinsend blickte sie mich wieder an und warf ihr langes Haar zurück, das geschmeidig auf ihrem Rücken landete. „Ich und Kazu lieben? Auch nur ansatzweise mögen? Lieber schließ ich mich die nächsten zehn Jahre in meinem Zimmer ein.“ „Das wirst du eh tun, wenn du nicht langsam mal nach oben gehst und mit jemandem redest, der da hockt, denn Airashi, wenn du nicht endlich offen mit ihr über alles redest, dann ist sie weg. Ich will es zwar nicht so sagen, aber du weißt bestimmt genauso gut wie ich, dass Kioto nicht um die Ecke ist und das auch bedeuten kann, dass ihr euch nie wieder sehen werdet.“ Aufmunternd sah sie mich an und schubste mich schließlich aus dem Wohnzimmer direkt die Treppe hoch vor meine Zimmertüre. „Denk an das Foto“, flüsterte sie mir noch zu, bevor sie mich in mein Zimmer schubste und Masaki herauswinkte, sodass ich nicht einmal mehr dazu kam sie zu fragen, welches Foto sie meinte. „Ôh…“ Im selben Moment vernahm ich nur, wie die Zimmertüre hinter mir ver- und abgeschlossen wurde. „Hey!“ Laut gegen meine Türe hämmernd versuchte ich das Paar davor dazu zu bringen jene wieder aufzuschließen, erhielt jedoch keinerlei Reaktion. Wütend darüber drehte ich mich schließlich um und erblickte Shizuka, die auf meinem Bett saß und sich die Wand ansah, die immer noch voll mit Postern beklebt war. „Warum musste Kazu dir nur die CD zeigen…“, fragte sie und blickte auf das Futon zu ihren Füßen, das ich noch nicht weggeräumt hatte. Es hatte einfach die Zeit gefehlt. Und dieser eine Satz, in dem so viel Enttäuschung und Bitterkeit mitschwang trieb die Wut in mir an. „Hast du mir nicht eben noch gesagt, dass er uns damit einen Gefallen getan hat? Schließlich ist dir ja nicht klar, dass er damit genau das hier erreichen wollte! ‚Wessen Engel’ fragt dieser Idiot mich dann auch noch total naiv, obwohl er genau weiß, was noch passieren wird! Wie naiv bist du eigentlich, dass du auf ihn reinfällst? Und wenn man versucht dich davor zu beschützen, dass du enttäuscht wirst, was machst du dann, weil es ja viel einfacher ist? Ach ja, richtig, du haust einfach ab! Das ist ja auch das einfachste! Ist dir mal aufgefallen, dass wir in letzter Zeit mehr streiten als sonst irgendetwas zu tun? Nein? Mir schon! Weißt du, ich glaube mittlerweile wirklich dass es besser ist, wenn du gehst! Das tut mir nicht mehr weh und wenn es dir wehtut ist es schließlich egal, du willst dir ja scheinbar selber wehtun. ÔHEI! ICH WILL SOFORT RAUS HIER!“ Ich hatte mich nur einen kleinen Moment umgedreht und erneut gegen die Türe gehämmert, kam allerdings gar nicht mehr dazu mich wieder in Shizukas Richtung zu drehen, da ich auf halben Weg schon ihre Hand auf meiner Wange spürte, die meinen Kopf zurück in Richtung Tür schleuderte. „Kommst du vielleicht mal wieder zur Besinnung? Warum hackst du immer auf Kazu rum? Sag mir mal, was er dir getan hat, dass du nur schlechte Worte über ihn verlierst, seit du ihn kennst! Immerhin ist er immer ehrlich zu mir gewesen und redet nicht so einen Mist, wie du es im Moment tust.“ „Was soll das denn bitte heißen?“ Immer noch geschockt hielt ich mir mit der Hand die schmerzende Wange und sah Shizuka entsetzt an, in deren Augen Entschlossenheit schimmerte, zugleich aber auch so viele negative Gefühle, sodass die Entschlossenheit immer mehr zur Nebensache zu werden schien. Spielte sie gerade nur die Starke, setzte sie eine Maske auf, die ich nicht herunterreißen konnte, weil ich es nicht schaffte, die Maske zu ergreifen? „Weißt du denn überhaupt, was du willst, Airashi? In den letzten Monaten habe ich immer das Gefühl gehabt, dass du mich wie ein Haustier behandelst, dass du mal magst und mal in die Ecke stellst, weil du es nicht magst. Und das tut mir weh! Aber ehrlich, wem würde es wohl mehr wehtun, wenn ich ginge? Ich habe deine Augen eben am Bahnhof gesehen, ich habe gesehen, dass du wieder einmal geweint hast. Und ich kann dieses hin und her einfach nicht mehr mitmachen, weil es mir zu weh tut. Und dir auch, wie du zugeben musst. Airashi, ich glaube einfach, es ist das Beste für uns beide, wenn wir uns nicht mehr sehen.“ Ob sie noch mehr sagen wollte, weiß ich nicht, denn im selben Moment beugte ich mich nach vorne und küsste sie unter Tränen. Vollkommen perplex spürte ich nach einer Schrecksekunde Shizukas plötzlich, wie sie den Kuss erwiderte, zwar nur zögerlich, aber ich spürte, dass eine Erwiderung da war. Es dauerte einige endlose Sekunden, bis ich mich schließlich von ihr löste und sie erwartungsvoll ansah, während sie mich nur einen perplexen Ausdruck hatte und mich ihrerseits wahrscheinlich ebenso erwartungsvoll ansah wie ich sie. Ich spiegelte mich in ihren Augen wider und starrte sie einfach nur an. „Und wenn ich nicht will, dass du gehst? Was muss ich dann tun?“ Ich ließ mich gegen die Türe fallen und drückte meine Handflächen fest auf die Türe, das glatt lackierte Holz unter meinen Fingern spürend. Schließlich schaffte ich es nicht mehr ihrem Blick standzuhalten und wendete meinen Blick gen Boden. „Zuerst solltest du lernen zuzuhören“, flüsterte Shizuka und wandte sich von mir ab, sich vor eines der beiden Fenster stellend und hinausschauend. „Du trampelst einfach auf anderer Leute Gefühle rum, ist dir das eigentlich bewusst? Kannst du dir vorstellen, was das eben für mich bedeutet hat? Und was hat es dir bedeutet? Was hast du gefühlt, Airashi?“ Entsetzt ließ ich meinen Blick nach oben schnellen und starrte ihren Rücken an, der mir zugewandt war. Ich zögerte lange, irgendetwas zu sagen, da die Antwort mir selber ebenso wehtat wie sie Shizuka wehtun würde. „Nichts…“, flüsterte ich nur und ließ mich an der Türe nach unten gleiten, bis ich auf dem dunkelblauen Teppichboden saß. „Und genau darum muss ich gehen… Wir tun uns gegenseitig einfach nicht gut. Auch wenn ich lange gebraucht habe, um das einzusehen und mich immer noch nicht ganz dazu durchringen kann es wirklich zu tun.“ Ihre Worte drangen nicht zu mir vor, sie prallten an einer unsichtbaren Wand vor mir ab und verschwanden im Nichts der Luft. Ich hatte nichts bei dem Kuss gespürt, außer der Berührung an sich. Da waren keine aufschäumenden Emotionen in meinem Inneren gewesen, die Ôheis These in irgendeiner Art und Weise unterstützt hätten, vielmehr hatte es mich noch mehr davon überzeugt, dass ich zu keinem solchen Gefühl fähig war. Ich hatte diesen Kuss nur erzwungen, um Shizuka bei mir zu behalten und nicht, weil ich sie liebte. Ich zog meine Beine an meinen Körper und schlang meine Arme um sie. So zusammengekauert blieb ich vor der Türe sitzen und vergrub mein Gesicht zwischen meinen Knien. Als ich meine Augen das nächste Mal öffnete stand Shizuka nicht mehr vor dem Fenster, wo sie sich befand konnte ich aber nicht erkennen, da nur das fahle Mondlicht das Zimmer erhallte und mir nur Schemen zeigt. Jedoch ließ sich etwas auf meinen Bett ausmachen, darum ging ich davon aus, dass Shizuka sich hingelegt hatte, um ein wenig zu schlafen. Ich hingegen war an der Türe eingeschlafen, was mir auch mein gequälter Rücken verriet, der sich nach meinem warmen Bett sehnte. Doch kein einziger meiner Muskeln wollte sich so bewegen, wie ich es wollte. Kein Befehl aufzustehen schien durchzudringen und so saß ich weiter zusammengekauert an der Türe und wartete darauf, dass sich etwas auf dem Bett regte. Ich schien ewig darauf zu warten, dass sich etwas regte, bis sie sich auf dem Bett umdrehte. Das schien auch meinen Muskeln endlich den Impuls zu geben, sich wieder so zu bewegen, wie ich wollte und ich griff nach der Türklinke, um mich an ihr hochzuziehen. Da mir dabei aber die Türe entgegenkam, landete ich laut quiekend wieder auf meinem Hintern und auf dem Teppichboden, der in der Dunkelheit schwarz aussah und nun auf einem schmalen Spalt, der von der Türe erzeugt wurde, hell in seinem dunklen Blau leuchtete. Ôhei und Masaki hatten die Türe wohl endlich aufgeschlossen und dabei das Licht im Flur vergessen auszumachen. Shizuka hingegen hatte sich nicht geregt, weswegen ich so leise wie möglich aufstand und mich auf den Weg nach unten machte. Schon im Flur sah ich, dass Ôhei und Masaki nicht mehr hier waren, da sowohl ihre Schuhe, wie auch ihre Jacken fehlten. Doch auch hier war das Licht angelassen worden. Anders in der Küche, die vom Licht im Flur schon schemenhaft ausgeleuchtet wurde, weswegen ich den Lichtschalter für diesen Raum nicht zusätzlich betätigte und mich zum Kühlschrank vortastete, wo ich eine Cola aus dem hell leuchtenden Innenraum entnahm und diese zischend im Licht des Kühlschranks öffnete, bevor ich seine Türe schloss und dem hellen Licht im Flur entgegenging. Dieses ausschaltend betrat ich das Wohnzimmer, das ich sofort hell erleuchtete. Wie einige Monate zuvor stellte ich die Dose auf dem Glastisch vor dem Sofa ab und ließ mich auf jenes fallen, den Blick auf das Foto gegenüber gerichtet. „Verdammt… alles läuft seit dem Tag nur noch schief!“ Ich ließ mich zurückfallen bis mein Rücken von der Lehne gebremst wurde und schloss erneut die Augen. Ich rief mir alles noch einmal in Erinnerung, was am heutigen Tag geschehen war. Es war zuviel, um glauben zu können, dass alles innerhalb von 24 Stunden geschehen war. Heute Morgen noch hatte ich geglaubt, dass alles in Ordnung sei. Shizuka war bei mir und wir hatten es geschafft uns – vorerst – zu vertragen und nicht mehr wegen irgendwelchen Kleinigkeiten zu streiten. Es war doch alles perfekt gewesen! Und dann hatte Kazuhiko mir diese verhängnisvolle CD gezeigt, die mir Shizukas innerste Gefühle offenbarte: sie liebte mich – und zwar als das was ich war. Und dann hatte ich ihr erklärt, dass ich sie nicht lieben könnte, weil ich nicht fähig sei, dieses Gefühl zu empfinden. Oder hatte ich Angst, es nicht weitergeben zu können? Hatte ich Angst, dass Shizuka mich irgendwann nicht mehr lieben könnte und mich einfach verließ? Und hatte ich damit nicht genau das erreicht, was ich vermeiden wollte? Das sie ging mich allein ließ? Hatte ich sie deswegen geküsst? War ich sogar bereit, Gefühle vorzutäuschen, nur um sie nicht zu verlieren? Wäre ich sogar fähig zu mehr gewesen, nur um sie bei mir zu behalten? Meine Finger fuhren vorsichtig über meine Lippen. Es war, als würde ich Shizukas Erwiderung des Kusses dadurch wieder spüren. Plötzlich wurde mir kalt und ich begann zu frösteln. Mit einem Mal bekam ich eine Gänsehaut. Sie hatte den Kuss erwidert. Doch das war nicht das, was mir eigentlich damit klar wurde: Ich hatte sie geküsst! Der Kuss war von mir ausgegangen! Aber warum? Wäre ich wirklich so eiskalt berechnend gewesen und hätte sie nur geküsst, damit sie bei mir blieb? In diesem Moment sehnte ich mich danach, jemanden neben mir sitzen zu haben, der mir eine Antwort darauf geben konnte. Doch viel mehr wünschte ich mir in jenem Moment, dass Shizuka neben mir säße und mich festhielt, damit ich mir keine Fragen mehr stellen musste, sondern die Antwort auf eine andere Frage bekam: Würde sie bei mir bleiben oder morgen die Stadt verlassen – und damit mich – für immer? Ich wusste, dass ich diese Antwort erst morgen erhalten würde, weshalb ich die weiche, schwarze Decke von der Rückenlehne des Sofas zog und mich in sie kuschelte, bevor ich mich irgendwie bequem auf das Sofa legte, dabei das Licht noch ausschaltend. Wach wurde ich erst wieder, als es hell war. Und sofort vernahm ich die vertrauten Geräusche aus der Küche, die ich die letzten Tage jeden Morgen gehört hatte. Und wie nur wenige Stunden zuvor durchfuhr mich dieses Kältegefühl, das ich so schnell wie möglich loswerden wollte. In die Küche schleichend entdeckte ich dann auch tatsächlich Shizuka vor dem Herd und mein Herz schien fast aus meinem Brustkorb hüpfen zu wollen. Zumindest war sie noch hier. „Morgen“, murmelte sie nur leise, als sie mich bemerkte. Ich erwiderte nichts, viel zu weh tat es mir, ihre Stimme so schmerzverzerrt zu hören. Wie fröhlich hatte sie in den letzten Tagen jeden Morgen geklungen? Vielleicht nur, weil sie dachte, ich würde sie lieben, aber sie war glücklich gewesen! War es das, was ich mit dem Kuss hatte bezwecken wollen? Und hatte ich nun nicht das genaue Gegenteil erreicht? Immer noch fröstelte es mich und erneut fuhren meine Finger über meinen Lippen, ohne dass ich sie bewusst dort hingelenkt hätte. „Shizuka, ich… Das gestern Abend, der Kuss… Das hätte ich nicht tun dürfen, es tut mir Leid. Ehrlich.“ Und jetzt komm her verdammt noch mal und beachte mich! Haben wir uns in den letzten Tagen und Wochen, Monaten nicht oft genug wehgetan? Kann das nicht endlich ein Ende haben, ohne dass wir uns nicht mehr wieder sehen? So ähnlich müssen meine Gedanken wohl geklungen haben, die in meinem Kopf umherspukten und nach außen dringen wollten, was ich ihnen jedoch verbot. Und genau wie diese Worte stauten sich auch Tränen in meinen Augen, die ich nicht nach außen dringen lassen wollte. Als mir das jedoch nicht gelang wandte ich mich ohne ein weiteres Wort um und lief hoch in mein Zimmer, wo ich meine Türe schloss und erneut an dieser zusammensackte, mich den Tränen ergebend, die mich trösten wollten. Ja, meine Tränen ließen mich nie allein. Sie hatten mich noch nie im Stich gelassen. Sie waren immer zur Stelle gewesen, wenn es mir schlecht ging, wenn ich verwirrt war oder wenn ich mich einsam fühlte. Manchmal waren sie sogar da gewesen, wenn ich mich gefreut hatte, aber vor allem waren sie an den schlechten Tagen bei mir. Sie wollten den Schmerz wegwaschen, doch dazu war es mittlerweile zu spät. Zum ersten Mal waren meine Tränen zu spät gekommen und konnte den Schmerz nicht mehr lindern, der langsam von meinem ganzen Körper Besitz zu ergreifen schien. Und wieder war da dieses Warum in meinem Kopf. Warum schafften sie es nicht? Als mir die Antwort dazu endlich einfiel, glaubte ich, dass es dafür schon längst zu spät war und schleppte mich zu meinem Bett, auf das ich mich einfach fallen ließ. Und dort kauerte ich mich genauso zusammen, wie ich mich vor der Türe zusammengekauert hatte. Das Klopfen an der Türe hörte ich nur, aber ich nahm es nicht wahr, ebenso wenig wie Shizuka, die langsam eintrat und die Türe leise wieder schloss, bevor sie auf mich zukam und sich neben dem Bett niederließ, dabei eine Hand auf meinen Arm legend, der ihr zugewandt war. Erschrocken blickte sie in meine Augen, die sie nur leer anstarrten und schüttelte mich ein wenig. „Airashi?“ Ich reagierte kaum, dennoch fühlte ich eine gewisse Wärme, die von dem Punkt ausging, an dem Shizuka mich berührte. „Ai-chan?“ Sie sprach mit Tränenerstickter Stimme und sah mich noch dringlicher an, doch noch immer schaffte ich es nicht, aus diesem Nichts zu entfliehen, das so tröstlich schien. „Shi-chan?“, fragte sie noch flehender und nannte mich bei dem Spitznamen, den sie sich eigens für mich ausgedacht hatte. Vorsichtig strich sie mit ihrer Hand über meine Wange und sofort breitet sich dieses wohlige Gefühl von diesem Punkt aus weiter aus, wenn auch mein Arm mit einem Mal erkaltet war. Und auch die Verschwommenheit wich langsam wieder der Klarheit der Realität. Und schließlich sah ich Shizuka vor mir kniend, ihrerseits ebenfalls den Tränen freien Lauf lassend. Als sie meine Klarheit bemerkte, lächelte sie kaum merkbar und zog ihre Hand mit einem Mal zurück. Sofort wich die wohlige Wärme der Kälte von eben, die ich nie wieder hatte spüren wollen. Shizuka wollte schon aufstehen, doch ich hielt sie am Handgelenk fest, was mir einen wütenden Blick ihrerseits einbrachte. „Bitte warte“, flehend blickte ich sie an und zog sie mit sanfter Gewalt wieder neben mich, mich selbst dabei aufsetzend, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein. „Tust du mir nur einen Gefallen noch, bevor du gehst?“ Fragend blickte sie mich an und nickte dann zögerlich, wenn auch nicht überzeugend. „Könntest du… mich nur ein letztes Mal noch in Arm nehmen und festhalten?“ Skeptisch blickte sie mich an und zögerte. Sie sah lange in meine Augen und schien dort irgendetwas zu suchen, das sie nicht finden konnte. Dann schien alles ganz schnell zu gehen. Sie ergriff meine Handgelenke, zog mich vom Bett und ließ mich in ihre Arme fallen. Ich tat nichts, viel zu überwältigt war ich von dem Gefühl, das mich mit einem Mal durchströmte. Das war nicht einfach nur ein wohliges, warmes Gefühl, es war das Gefühl. Es war genau das wovor ich soviel Angst hatte und das mir soviel hätte geben können, wenn ich es schon zuvor zugelassen hätte. Doch würde sie mir jetzt noch glauben, wenn ich ihr sagte, dass ich es fühlte? Würde sie nicht glauben, ich wolle sie nur hier behalten wollen? Doch aussprechen musste ich es, um es selber vollkommen zu glauben. „Aishiteru, Zu-chan.“ Eine Weile geschah nichts, dann spürte ich, wie sie mich vorsichtig von sich drücken wollte. Ich hingegen drückte mich dabei noch enger an sie und schlang meine Arme um ihren Körper, meinen Kopf auf ihrer Schulter liegend. „Bitte, lass mich nicht los“, flüsterte ich nur und versuchte verzweifelt ihr noch näher zu kommen. Dabei spürte ich aber auch sogleich wieder eine Distanz, die sich langsam zwischen uns aufzubauen schien. Und ich schaffte es nicht, es zu verhindern, dass die Distanz so weit wuchs, dass Shizuka es schließlich schaffte sich von mir zu lösen. Die Spuren der Tränen waren noch deutlich auf ihrem Gesicht zu erkennen, wenn sie auch aufgehört hatte zu weinen. „Airashi, das bringt nichts. Mein Zug fährt gleich und – “ Gleich? Wieso gleich? War nicht eben erst Morgen gewesen? Ein Blick auf die Uhr ernüchterte meine Gedanken aber sofort. Ich hatte stundenlang apathisch in meinem Bett gelegen. „Ich wollte dir eigentlich nur ‚Lebewohl’ sagen, deswegen bin ich hier. Airashi, ich werde den Zug heute nehmen, egal was dir noch einfällt.“ Es war als hätte sie mir einen Dolch in Herz gestoßen und würde diesen nun noch ein wenig tiefer in die Wunde drehen wollen. So weh tat es, diesen Satz von ihr zu hören. Gegen die schon wieder kommenden Tränen ankämpfend stieß ich mich von ihr und blickte sie mit fest an. „Du hast doch selbst gefragt, was du tun müsstest. Und du weißt genau, dass ich genau diese Worte zu gerne von dir gehört hätte. Aber Airashi, das mit uns beiden, das würde nicht funktionieren!“ „Du willst wieder weglaufen“, flüsterte ich feststellend. „Wieso weglaufen?“ „Du willst schon wieder weglaufen! Du willst mir schon wieder nicht den Grund nennen, du willst wieder weglaufen und mich einfach stehen lassen, ohne dass ich den Grund weiß! Mit einem Unterschied: Ich weiß, dass du weggehen wirst. Aber ansonsten weiß ich nichts. Ich weiß nicht, warum du weinst, ich weiß nicht, was eigentlich hier passiert und was los ist. Aber ich weiß, dass du gehen willst und mich dann hier zurücklässt.“ Perplex blickte sie mich an. Wahrscheinlich erinnerte sie sich an die Situation im Sommer, als sie mir erst nach ewigem Nachfragen davon berichtet hatte, dass sie nach Kioto ziehen müsste. „Wie stellst du dir das denn bitte vor? Wie soll das jetzt noch funktionieren?“ „Wie soll was funktionieren?“ „Wie soll es funktionieren, dass wir beide noch normal miteinander umgehen können, wenn du glaubst, dass du mich liebst und ich dich liebe.“ Vollkommen überfordert von dieser Frage sah ich Shizuka an. Wieso „glauben“? Ich wusste doch, dass ich sie liebte. Es war mir vollkommen bewusst. Es hatte lange Zeit gedauert, bis es mir selber eingestehen konnte und wollte, aber ich wusste es doch. Dachte sie vielleicht, dass ich mir immer noch nicht sicher war? „Hältst du mich für so berechnend? Denkst du wirklich ich würde so etwas sagen, nur damit du nicht gehst? Meinetwegen geh’ doch! Vielleicht hast du wirklich Recht, wenn du sagst, dass wir uns gegenseitig nicht gut tun!“ Die Tränen waren nicht aufzuhalten gewesen und strömten nun unaufhaltsam meine Wangen hinunter. „Aber, wenn das so wäre, Shizuka – warum habe ich dann eben etwas gefühlt, das ich noch nie zuvor gefühlt habe und was mir gut tat? Was mich aus einem Loch gezogen hat, aus dem ich alleine nicht mehr herausgekommen wäre? Denkst du, mir wäre es leicht gefallen, das eben zu sagen? Glaubst du, ich würde es selbst vollkommen verstehen? Alles, was in den letzten Monaten passiert ist schwirrt momentan in meinem Kopf herum und ich bin total verwirrt, weil ich nicht mehr weiß, was ich tun soll. Ich will bei dir sein, das weiß ich. Aber wenn du glaubst, dass es das Beste ist, wenn wir nicht mehr zusammen sind… dann muss ich das akzeptieren. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Ich wollte dich nicht belügen oder dir etwas verheimlichen, aus Angst mich selber dabei noch mehr zu verletzen, als ich es ohnehin schon getan habe. Was ich gesagt habe, war von Anfang an die Wahrheit! Ich hab mich gegen dieses Gefühl gewehrt! Ich wollte es nicht, aus Angst, dass es alles kaputtmachen könnte! Und als ich es dann gebraucht hätte, wollte das Gefühl nicht mehr nach außen kommen, aus Angst, wieder unterdrückt zu werden! Aber wie heißt es noch so schön? Wer liebt, der muss auch loslassen können, nicht? Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du jetzt gehen willst.“ Von den Tränen übermannt schaffte ich es nicht mehr noch irgendetwas zu sagen oder sie weiter anzusehen. Dennoch bemerkte ich, dass sie aufstand und ihre Schritte sich von mir entfernten. „Shizuka!“ Immer noch unter Tränen stand ich auf und lief zu ihr. Das Mädchen drehte sich nur perplex um und im nächsten Moment drückte ich mich wieder an sie. „Ich hab gelogen… Ich- ich kann dich nicht gehen lassen. Bitte. Zu-chan.“ Verzweifelt klammerte ich mich an sie, während sie nur starr vor Schreck dastand und mich schließlich wieder langsam von sich drückte, mir tief in die Augen schauend. Erst jetzt fiel es mir auf, dieser Blick. Sie hatte mich schon vor Ewigkeiten so angesehen, aber jetzt erst bemerkte ich die ganzen Gefühle, Fragen, Gedanken, die in diesem Blick lagen. Und dann, ohne das einer von uns beiden etwas getan hätte berührten sich unsere Lippen und die Zeit schien einfach nur dahinzuschwinden, ohne das es einen von uns beiden interessiert hätte. Doch schließlich endete auch dieser endlos scheinenden Moment sein trauriges Ende zu finden, denn Shizuka packte mich an den Schultern und drückte mich von sich. Mit einem leisen „Es tut mir Leid Shi-chan“ wandte sie sich und verließ fluchartig den Raum. Und wieder war da dieser Tränenschleier, der mir nicht nur die Sicht, sondern auch jegliche andere Sinne raubte und mir verbot ihr einfach hinterherzulaufen. Schließlich formte mein Mund nur tonlos zwei Worte: „Mein Engel…“ Überwältigt von allem was in den wenigen Sekunden eben passiert war ließ ich mich einfach auf mein Bett fallen und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Der Enttäuschung – über mich selbst, da ich es nicht geschafft hatte das Wichtigste in meinem Leben bei mir zu behalten – und auch der Trauer über den Verlust meines geliebten Wesens, das ich glaubte für immer verloren zu haben. Und irgendwo tief in mir spürte ich auch Wut aufbrodeln – heiße, unnatürlich große Wut über mich selbst, dass ich mich bis zu diesem Zeitpunkt so angestellt hatte und nicht gemerkt hatte, was um mich herum geschah, was der Auslöser dieser ganzen Misere zu sein schien. Ohne einen Blick auf die Uhr geworfen zu haben setzte ich mich schließlich irgendwann in Bewegung und schwankte erschöpft und ein wenig benebelt die Treppe hinunter gehen wollte, jedoch schon am Treppenabsatz anhielt, da ich Shizuka unten erblickt hatte, die an der Garderobe stand und sich die Schuhe und ihre Jacke anzog – oder zog sie sie gerade aus? Die Frage beantwortete sich von selbst, als Shizuka Sekunden später die Jacke an die Garderobe gehängt und die Schuhe abgestellt hatte und ins Wohnzimmer schlich. Mit einem Mal schienen meine Sinne wieder vollkommen klar zu sein, denn ich schlich ebenso leise die Treppe hinunter und lehnte mich weit in den Türrahmen des Wohnzimmers, um einen Überblick zu bekommen. Shizuka saß auf dem Sofa und blickte direkt auf das Foto gegenüber, fast so wie ich am Tag zuvor getan haben musste. „Shizuka?“ Flüsternd trat ich in den Raum ein und bewegte mich ungewohnt langsam zu dem Sofa, um in einiger Entfernung davon stehen zu bleiben, sie immer noch anblickend. Shizuka hingegen hatte ihren Blick weiter stur auf das Bild gegenüber gerichtet und ich erschrak, als sie plötzlich begann etwas zu sagen. „Weißt du, ich war eben beim Haus meiner Großmutter… und da ist mir einiges klar geworden, was mir noch nie so bewusst war.“ Gespannt lauschte ich auf eine Fortsetzung ihrer Worte, als plötzlich ihr Handy klingelte, das sie mit einem schnellen Griff aus ihrer Hosentasche zog, den Blick jedoch keinen Millimeter in eine andere Richtung wendend. „Nein, du hast mich vollkommen richtig verstanden, klar? Kazu, ich diskutier’ mit dir jetzt nicht darüber, es ist so, wie ich es dir auf die Mailbox gesprochen habe und damit basta!“ Wütend packte sie ihr Handy wieder weg und stand schließlich auf, sich in meine Richtung bewegend und vor mir stehen bleibend. Dabei sah sie so tief in meine Augen, dass ich das Gefühl hatte sie würde direkt in meinen Kopf gucken können. „Ich habe immer gedacht, dass mein Zuhause da ist, wo meine Familie ist… Also erst bei meinen Eltern und bei meiner Oma im Haus und schließlich dachte ich, dass ich mein neues Zuhause in Kioto fände, da schließlich dort meine Familie ist. Aber… als ich eben vor diesem Haus stand, da war mir klar, dass es nicht das Haus oder die Familie war, die diesen Ort zu meinem Zuhause gemacht haben. Im Grunde war nie das Haus mein Zuhause…“ Sie schien zu zögern, ob sie fortfahren sollte und in ihren Augen bildeten sich plötzlich Tränen, als sie versuchte weiter zu sprechen. Immer wieder versuchte sie von neuem zu sprechen, aber ihre Tränen ließen ihr keine Chance, sodass sie schließlich einfach nur in meine Arme zu fallen schien, mit denen ich sie in diesem Moment liebend gern auffing und schließlich umarmte. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, löste sie sich ein wenig aus der Umarmung, um erneut den Versuch zu unternehmen, etwas zu sagen. Doch zunächst war ihre Stimme immer noch so zittrig, dass sie kaum ein Wort raus brachte. „Mein Zuhause, Airashi, das warst immer nur du… Ich… habe das einfach nicht gemerkt, weil du immer da warst, aber in Kioto, da war einfach alles so anders und fremd, dass ich mich auch dort nicht darauf besinnen konnte, was mir fehlt. Ich könnte doch nie allein lassen, egal wie sehr ich es wollte, weil ich damit auch mich allein lassen würde. Und ich will nicht allein sein, niemals mehr!“ Sie kam nicht dazu mich anzusehen, denn in dem Moment hatte ich sie schon wieder fest an mich gedrückt und spürte, wie erneut Tränen meine Wangen hinab liefen. Ihre Worte hatten mich zutiefst gerührt und darüber hinaus meine größte Angst verjagt: Sie würde mich nicht allein lassen! Selbst wenn ich sie gehen lassen könnte, sie würde nicht gehen! „Wenn du wüsstest was für eine Angst ich hatte, dass du mich allein lassen könntest, Zu-chan…“, flüsterte ich ihr ins Ohr, als wir wenige Momente später in enger Umarmung auf dem Sofa saßen oder eher lagen. Shizuka hatte die Augen geschlossen und schien es sichtlich zu genießen, dass ich ihr mit der Hand über den Rücken fuhr. Ich hatte die Erwartung, dass sie jeden Moment anfangen könnte zu schnurren wie eine kleine Katze, doch bevor etwas Derartiges geschehen konnte, entspannte sich ihr Körper in meinen Armen und sie war eingeschlafen. Da diese Position aber auf Dauer sehr unbequem für mich wurde, weckte ich mein Dornröschen mit einem kleinen Kuss auf die Stirn wieder auf und deutete ihr an, dass wir besser nach oben gingen. In meinem Zimmer angekommen blieb Shizuka im Türrahmen stehen, fast wie ein Vampir, den man hereinbitten musste, damit er den Raum betreten konnte. Doch anstatt sie hereinzubitten zog ich sie einfach mit in den Raum und schloss die Türe hinter ihr, immer noch ihre Hand haltend, die ich ergriffen hatte, als wir vom Sofa aufgestanden waren. „Ai-chan?“ „Mh?“ „Ich… ich wollte dir nur sagen, dass es mir Leid tut, wie das alles hier gelaufen ist und wie ich mich – “ Ihr einen Finger auf den Mund legend, um sie zum Schweigen zu bringen sah ich sie an und sah genau den gleichen Blick wie zuvor, als ich die ganzen Fragen in ihren Augen gesehen hatte. Und eine Frage leuchtete besonders hell in ihren Augen. „Keine Sorge, das ist schon vergessen. Aber nur wenn du ganz schnell vergisst, was in den letzten achtundvierzig Stunden passiert ist!“ Shizuka blickte mich fragend an. „Alles?“ „Ja, alles und zwar mit sofortiger Wirkung!“ „Aber…“ Shizuka wollte einen Einwand bringen und ich wusste auch genau, welchen. „Vergiss es einfach auf der Stelle, ja?“ Einen Moment wartend fuhr ich schließlich fort: „Alles vergessen?“ Sie nickte nur widerstrebend und mit einem enttäuschten Blick und ich konnte schon wieder Tränen in ihren Augen aufsteigen sehen. „Und alles ab jetzt solltest du nie wieder vergessen, verstanden?“ Wieder nickte sie nur und ihre Augen waren feucht von den unterdrückten Tränen darin. „Aishiteru Shizuka, und ich werde dich nie alleine lassen, denn du bist mein Zuhause, so wie ich dein Zuhause bin und wenn du mich allein lassen würdest, dann würdest nicht nur einfach du gehen, sondern ich würde einfach verschwinden, da du alles in meinem Leben bist, und alles darstellst was ich bin und liebe.“ Noch bevor sie zu einer Antwort ansetzen konnte legte ich meine Lippen auf ihre und drückte ihren ganzen Körper an mich. Den warmen Körper, den ich – wie mir in dem Moment klar wurde – schon immer auf die eine oder andere Art hatte besitzen wollen. Als sie sich schließlich von mir löste und mich nun mit freudestrahlenden Augen ansah ließ ich sie endlich auch zu Wort kommen: “Ich liebe dich Airashi und…“ Lächelnd legte ich ihr wieder einen Finger auf die Lippen und flüsterte nur „Ich weiß, denn ich habe nichts vergessen“ bevor ich sie wieder an mich zog und erneut küsste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)